1
So nah waren sie dem Himmel noch nie gekommen: Die makellose Unendlichkeit über der Piazza del Campo, darunter die Stadt Siena in ihrem Festgewand aus Gotik und Renaissance und mittendrin er mit Sybille an einem kleinen runden Caféhaustisch.
Die Luft erfüllt vom babylonischen Stimmengewirr der Touristen, ein ständig auf und ab brandendes Plaudern, Lachen und Rufen, dazwischen italienische Popmusik. Der klare Klang der Kirchenglocken hebt sein Herz empor. Wie auf einer Insel außerhalb der Zeit sitzen Sybille und er inmitten des Gewimmels, gut behütet unter den strengen Blicken der Kellner. Alles zusammen eine beeindruckende Choreografie durch die Hand eines großen Meisters, der keinen Aufwand gescheut hat, um genau diesen Moment perfekt zu erschaffen.
Das ist ihr Moment. Der Moment, in dem sich die ganze Welt nur um sie dreht, weil sie sich in diesem Moment selbst die ganze Welt sind. Ein Moment ohne Angst und Sorgen, ohne Kriege und Gefahren, ohne Krankheit und Tod, ohne das Böse in der Welt, das Gierige, das Rachsüchtige und Hartherzige. Ein Moment, in dem alles um sie herum im Einklang steht. So perfekt wie nur eine Illusion es sein kann.
Überwältigt wagen sie kaum sich zu bewegen, zu sprechen noch weniger. Wortlos reichen sie einander über das Mamorrund hinweg die Hände, als bräuchten sie Halt in so schwindelerregender Höhe. So nah waren sie dem Himmel noch nie gekommen.
»Deine Idee mit der Reise war wundervoll«, flüstert Rolf vorsichtig, um das perfekte Schweigen zwischen ihnen nicht zu verletzen. Doch obwohl der Zauber dieses besonderen Moments noch immer andauert, hat er durch die Verwendung des kleinen Wörtchens war unbewusst bereits damit begonnen, diesen in eine Erinnerung zu verwandeln. Vielleicht, weil nur in der Erinnerung das perfekte Glück auf Dauer zu ertragen ist?
Auch Sybille entzieht sich dem Augenblick. Unbekümmert lässt sie ihre Gedanken vorauseilen.
»Wir könnten noch ein paar Tage dranhängen«, flüstert sie zurück. »Zu Hause läuft uns nichts davon.«
Er lächelt nur.
Inzwischen hat der Nachmittag seinen goldenen Zenit überschritten. Es wird Zeit, Pläne für den Abend zu schmieden.
»Wollen wir in der kleinen Trattoria essen, an der wir gestern vorbeigefahren sind?«, fragt Rolf.
»Was hältst du von einem kleinen Umweg?« Sybilles Blick funkelt vielsagend. »Wir könnten einen Stopp auf der Wiese einlegen, auf der wir gestern unser Picknick hatten. Um diese Zeit sind wir sicher allein dort.«
Ein zarter Sog erfasst beide, umspielt sie wie eine sanfte Dünung. Genüsslich schieben sie ihren Aufbruch vor sich her, kosten ihre Erwartungen aus. Dann, ohne ein Wort, nicken sie einander zu und erheben sich einvernehmlich.
Auf einmal haben sie es eilig. Sie können es kaum abwarten, die Stadt hinter sich zu lassen. Ungeduldig wirft Rolf einen Geldschein auf den Tisch und ohne das Wechselgeld abzuwarten, eilen sie zum Wagen und fahren los.
Wie im Traum fliegen sie in ihrem Cabrio über die zypressengesäumten Hügel und Täler. Ein Sommerwunderland nur für sie. Der Wechsel von Schatten und Sonne in den langgezogenen Alleen wirft ihnen verspielte Lichtreflexe in die Augen. Völlig benommen erreichen sie einen einsamen Feldweg und laufen Hand in Hand in das blühende Wiesengrün. Laut auflachend, werfen sie ihre Kleidung von sich und sinken nackt auf ein Bett aus Gräsern und Blumen. Liebkosungen und Küsse auf ihrer Haut. Wieder und wieder. So nah waren sie dem Himmel noch nie gekommen.
Erst als die Sonne sich matt dem Horizont zuneigt, spüren sie die aus dem Grund aufsteigende Kühle, die nach ihnen greift. Hastig schlüpfen sie zurück in ihre Kleider.
Ihr Hunger meldet sich und erinnert sie daran, dass sie noch weiterfahren wollen. Also eilen sie zum Auto und setzen ihren Weg fort.
Der Empfang in der Trattoria ist so herzlich, als habe man sie erwartet. Unaufgefordert bringt man ihnen Essen und Wein. Ein Abendmahl von himmlischer Fülle, reichhaltig und zugleich exquisit. Bis spät in die Nacht hinein tafeln sie, kosten Oliven, Käse und frisches Brot, probieren verschiedene Pasta-Gerichte, Fleisch und Gebäck, bis ihre Sinne völlig erschöpft sind.
Später würde Rolf sich fragen, ob ihn so viel Glück nicht hätte misstrauisch machen müssen. Ob er nicht hätte wissen müssen, dass man sich nicht so leichtfertig in die Nähe des Himmels begeben darf. Dass man niemals aufhören darf, achtsam zu sein.
Kalter Schweiß tritt Rolf auf die Stirn, denn er weiß, was jetzt gleich passieren wird: Die Fahrt zurück ins Hotel auf der nachtschwarzen Straße. Sie beide im Wageninnern, vom blauen Licht der Armaturen zärtlich eingehüllt. Sybille am Steuer, da sie keinen Wein getrunken hat. Ihr müdes verträumtes Lächeln, in einer leichten Rechtskurve das grellgelbe Aufblitzen zweier Scheinwerfer direkt vor ihnen, das betäubende Dröhnen des Aufpralls. Und dann, noch entsetzlicher, die urplötzliche Stille.
Ein Riss ist durch den Himmel gegangen. Nirgendwo gibt es Halt. Er fällt und fällt. Ein Sturz ins Nichts. Ein nicht enden wollender Sturz.
Das erste Geräusch, das Rolf wahrnimmt, ein sanftes stetes Tropfen. Er kann es nicht zuordnen. Benzin, Kühlwasser, Blut?
Rolf erwacht in einem Albtraum. Sein Blick fällt auf Sybille, die er neben sich am Steuer weiß. Ein schmaler Streifen Blut läuft über ihre Stirn und in den noch immer offenen Blick hinein. Blut in den Haaren. Blut, das aus ihrem Leib sickert oder dem, was davon noch zu erkennen ist. Das Lenkrad hat sich tief in ihren Bauch gegraben. Ihre Beine sind in einem Knäuel aus Blech verschwunden.
Rolf will jetzt endlich aufwachen.
Er versucht sich zu bewegen, aber sein Körper gehorcht ihm nicht.
Sein Körper? Ein Gefäß ohne Boden, in dem nichts haften bleibt. Fassungslos, leer, taub.
Stimmen tauchen aus dem Dunkel auf, laute und hektische Gesichter, Blaulicht, Hände.
Nun müsste er doch endlich erwachen, sich bewegen und sprechen können.
Ohne etwas zu fühlen, steht er da und beobachtet, wie man sie aus den Trümmern zieht. Ein zerrissener Leib, unterhalb der Brust nur blutiges, matschiges Fleisch. Nur ihr Blick noch immer offen und fassungslos. Die Blutspur auf ihrer Stirn, fast getrocknet, verwischt kaum, als man die schwarze Plastikhülle über ihrem Kopf schließt.
Das Surren des Reißverschlusses.
Schließt für immer.
Nie wieder dieser Blick.
Auf immer und ewig dieser Blick.
Auf ihn gerichtet in seinen Träumen.
Jede Nacht.
Immer und immer wieder.
Rolf fuhr schweißnass in die Höhe. Sein Pyjama klebte am Körper. Frierend verließ er das Bett. Langsam tastete er sich durch die dunkle Wohnung voran bis ins Bad. Erst im grellen Neonlicht des Badezimmerschränkchens fühlte er sich wieder sicher. Die Fliesen unter seinen Füßen waren kühl und hart. Es tat gut, diese klare Grenze zu spüren. Er warf sich kaltes Wasser ins Gesicht und atmete erleichtert auf. Wartete, bis er sich wieder an sein Spiegelbild gewöhnt hatte, bis er wieder der Mann war, dem er ins Gesicht sah. Wach, lebendig, ruhig. Dann wartete er noch etwas ab, ließ den Wunsch, ins warme Bett zurückzukehren, anwachsen und gab ihm schließlich nach.
Der Albtraum war vorüber. In dieser Nacht würde er nicht wiederkehren.
Seit über einem Jahr quälten ihn die nächtlichen Bilder und hinderten ihn daran, in Ruhe um Sybille zu trauern. Bestrafte ihn sein Unterbewusstsein? Büßte er so für seine Schuld? Dafür, dass er lebte und sie tot war? Dafür, dass er ihren Tod noch immer nicht akzeptierte? Dafür, dass er sich noch immer nach ihr sehnte? Überhaupt war ihm völlig unklar, wie das gehen sollte, dieses Frieden schließen mit dem, was geschehen war. Wie sollte er seinen Frieden machen mit einem Ereignis, das absolut kein Sinn ergab? Heißt Frieden machen nicht akzeptieren? Einverstanden sein? Wenn das der Preis für seinen inneren Frieden war, dann war er ihm zu hoch. Er hatte diese Sinnlosigkeit vor einem Jahr nicht akzeptiert, er akzeptierte sie noch immer nicht. Es würde keine Zeit kommen, in der er sich dazu herablassen würde.
Der Unfallbericht kam ihm wieder in den Sinn. Dieses völlig absurde Dokument, mit dem die italienische Polizei das Geschehen zusammenfasste, als könnten sauber zu Papier gebrachte Worte dem Ereignis nachträglich einen Sinn verpassen. Ein Lastwagen war an der Unfallstelle ins Schlingern geraten, hieß es darin. Für das entgegenkommende Fahrzeug ein unerwartetes Hindernis, das bei der vermutlich übermüdeten und ortsfremden Fahrerin eine schreckhafte Reaktion hervorgerufen hatte. Während der Lastwagen sich mühelos wieder gefangen hatte, war das Cabrio über die Straße hinausgeschossen und gegen einen Olivenbaum geprallt. Nur einem seltenen Zufall sei es zu verdanken, dass die Beifahrerseite fast unbeschädigt geblieben war, während die Fahrerseite zertrümmert wurde. Ein Wunder, dass der Beifahrer unverletzt aus dem Unfallgeschehen herausgekommen war. Der Tod der Fahrerin bedauerlicherweise unvermeidlich.
Als Rolf den Bericht las, geriet er außer sich. Nichts daran war unvermeidlich gewesen. Er hätte den Wagen steuern müssen. Es war unverzeihlich, schrecklich, unfassbar tragisch und sein Überleben ganz bestimmt kein verdammtes Wunder. Am liebsten hätte er dem italienischen Beamten den Bericht in die kaltschnäuzige Fresse geprügelt.
Seine verbalen Entgleisungen, die man auf der italienischen Behörde nur dem Tonfall nach verstand, hatte man glücklicherweise dem emotionalen Stress zugeschrieben, unter dem er stand. Sein Freund und Anwalt Jochen, eilig nach der Unfallnacht herbeigerufen, hatte ihm geraten, den Bericht zu unterzeichnen, was nötig war, um alle weiteren Formalitäten zu regeln. An der Sache war nichts zu rütteln. Sybille war tot und ihr verstümmelter Leichnam so gut wie auf dem Weg nach Deutschland zu ihren Eltern.
Ohne wirklich begriffen zu haben, was vor sich ging, hatte Rolf sich schließlich Jochens Autorität gefügt und sich kaum vierundzwanzig Stunden später zu Hause wiedergefunden, in der Wohnung, die er nur wenige Tage zuvor noch mit Sybille geteilt hatte.
Ihre gemeinsame Wohnung, der Mittelpunkt ihres Lebens. Als sie sich vor sieben Jahren auf einer Party begegnet waren, hatten sie sofort gewusst, dass sie zusammengehörten. Keine zwei Wochen später war sie bei ihm eingezogen.
Sybille und er waren wie zwei ruhige Flüsse, die zusammengeflossen waren, um gemeinsam einen großen Strom zu bilden. Eine Beziehung wie ein Naturgesetz, elementar und unaufhaltsam. Sybille war eine feste Größe in seinem Leben gewesen, so zuverlässig wie der morgendliche Sonnenaufgang oder der Lauf der Jahreszeiten.
Nichts hatte diesem Weltbild etwas anhaben können. Auch ihre einzige Krise nicht. Im Gegenteil.
Sybille hatte gerade ihr Studium beendet und war für einen Zeitvertrag nach München gegangen. Wie Tausend andere Paare begannen also auch sie, eine dieser aufreibenden Fernbeziehungen zu führen, bei denen man sich die rare gemeinsame Zeit am Wochenende damit verdarb, den fehlenden Alltag krampfhaft kompensieren zu wollen. Eine Weile hatten sie sich die Situation schöngeredet, hatten sich mit wachsendem Bemühen und schwindender Aufrichtigkeit versichert, wie wichtig die neu gewonnenen Freiräume für ihre Karrieren seien und wie problemlos sie mit der Situation zurechtkämen. Am Ende hatte Rolf nicht mehr gewusst, was ihn mehr zermürbte: Ihr vorzuspielen, wie wenig sie ihm unter der Woche fehlte, oder sich selbst.
Bis dahin hatte er immer verschmäht ›Ich liebe dich‹ zu sagen. Diese Formel war ihm wie eine billige Allzweckwaffe erschienen, derer man sich bediente, um Beziehungsrisse und Unebenheiten zu übertünchen, also zu kitten und zu glätten, ohne an die Ursachen zu gehen. Plötzlich hatte er jedoch genau diese Worte empfunden, stärker noch in Sybilles Ferne als in ihrer Nähe. Aber aus Furcht, seiner eigenen Sentimentalität zum Opfer zu fallen, hatte er nicht gewagt, sie auszusprechen, obwohl er gespürt hatte, wie wichtig sie zu diesem Zeitpunkt gewesen wären. Damals war ihm das erste Mal bewusst geworden, wie sehr sie dabei waren auseinanderzudriften.
An einem Freitagabend hatte Sybille dann die Botschaft mitgebracht, dass ihr eine Professur in London angeboten wurde. Sofort hatten sie begonnen, waghalsige Szenarien zu entwerfen, wie sie ihr zukünftiges Leben gestalten würden. Ein verkrampftes Unterfangen, welches am Sonntagabend plötzlich in der Einsicht gemündet war, in Wahrheit nicht ihr Zusammenleben zu organisieren, sondern eine Trennung auf Raten vorzubereiten. Auf einen Schlag war die jahrelang überstrapazierte Selbsttäuschung wie ein riesiger Ballon geplatzt.
Der angestaute Frust war groß gewesen und schließlich war er in einem heftigen Wortgefecht eskaliert, der nur dadurch unterbrochen wurde, dass Sybille aufgesprungen war, um ihren Sonntags-Intercity nach München zu erwischen.
Im Streit waren sie auseinandergegangen. Nie zuvor war ihnen so etwas passiert. Die darauffolgenden Tage waren Rolf unerträglich erschienen. Unaufhaltsam war in ihm die Vorstellung gereift, Sybille verlieren zu können, ja sie vielleicht bereits verloren zu haben.
Doch schließlich hatte ihm seine Angst die Augen geöffnet. Auf einmal war ihm klar geworden, was er zu tun hatte. Nichts und niemand war ihm je wichtiger gewesen als Sybille. Seine bisherigen Bedenken waren ihm plötzlich völlig lächerlich erschienen. Er würde sie einfach begleiten, notfalls auch nach London. Dies zu denken und entsprechend zu handeln, war eins gewesen. Nie zuvor war ihm eine Entscheidung so einfach und natürlich erschienen.
Rolf erinnerte sich noch genau. Es war am Donnerstagabend nach ihrem Streit gewesen. Er hatte erfreut festgestellt, dass er mit etwas Glück und Eile den letzten Intercity nach München noch würde erreichen können. Was er Sybille zu sagen hatte, hatte zu schwer für ein Telefonat gewogen. Er war sich der Dramatik eines spätnächtlichen Auftritts in ihrem Einzimmer-Appartement absolut bewusst gewesen, hielt einen solchen Effekt aber für völlig angemessen. Er hatte sich vorgenommen, ihr noch in dieser Nacht einen Antrag zu machen.
Als er gerade zum Telefon gegriffen hatte, um sich ein Taxi zu bestellen, hörte er das Drehen des Wohnungsschlüssels an der Tür. Müde und abgekämpft und auch ein wenig verlegen hatte Sybille vor ihm gestanden. Nie würde er diesen Moment vergessen, den er fortan zu den kostbarsten seines Lebens zählte.
»Ich wollte dich nicht anrufen. Aber bis Freitag warten wollte ich auch nicht«, hatte sie gesagt. »Wenn London für dich nicht akzeptabel ist, dann lassen wir es eben.«
Wie zwei Überlebende waren sie einander in die Arme gestürzt. Überglücklich hatten sie sich festgehalten. Zwei, die sich gegenseitig gerade noch gerettet hatten. Später, als sie längst zu Bett gegangen waren, hatte sich Sybille ganz dicht an ihn geschmiegt, um ihm ins Ohr zu flüstern: »Ich wünsche mir, dass unser Kind hier groß wird.«
Wie einen tiefen Stich direkt ins Herz hatte Rolf das Glück in diesem Moment empfunden. Ein heftiger Schmerz, dem er völlig schutzlos ausgeliefert war. So fest er konnte, hatte er Sybille in seine Arme gezogen, um sie zu halten und nie wieder loszulassen.
Ihr den Antrag zu machen, war nun nicht mehr nötig gewesen. Die Reise nach Italien wurde zu ihrer vorgezogenen Hochzeitsreise. Noch nie zuvor war er dem Himmel so nah gekommen. Nie mehr wieder würde er es.
2
Es gab viele trostlose Flecken in Frankfurt, aber dieser war einer der trostlosesten. Vor einigen Jahren von gelangweilten Städteplanern aufs Papier geworfen, kurz darauf auf den Mittelstreifen einer mehrspurigen Allee gepflanzt, war die Grünanlage ein Paradebeispiel dafür, welche Hässlichkeit menschliche Gleichgültigkeit produzieren konnte.
Kurz vor Sonnenaufgang erreichte die Trostlosigkeit dieses Ortes ihren Höhepunkt. Das Morgengrauen entzog der Grünfläche den letzten Rest an Farbe. Alle Spuren der Verwahrlosung, die die Straßenbeleuchtung eben noch überglänzt hatte, traten nun zu Tage: Das vor Dreck und Hundekot starrende Rasenstück, die verknöcherten Bäume, die ihre Stümpfe in den Himmel reckten, und die durch die Autoabgase ergraute Hecke, in der sich Plastiktüten verfangen hatten. Der einzige Mülleimer hatte keinen Boden mehr. Die Sitzbank aus Stahlrohr stand verwaist am Rand verwitternder Gehwegplatten. Selbst den Junkies und Obdachlosen der Stadt bot dieser vom Leben vergessene Flecken nichts, das sie anzog.
Doch dann ging die Sonne auf.
Rosig ergoss sich das Licht über die Erde und tauchte alles in zartes Pastell. Die schroffen Konturen des Astwerks verwandelten sich in einen filigranen Scherenschnitt. Das Grün der Blätter erglühte. Der Schmutz auf der Bank erschien als Patina, die der Raststatt eine rührende Vergänglichkeit verlieh. Eine Amsel sang ihr Lied. Der hässliche Fleck wurde zur Oase, zu einem Ort der Hoffnung, zu einer Idylle mitten im urbanen Dickicht.
Das Ganze geschah innerhalb weniger Sekunden. Kaum länger, als ein Atemzug dauert. Unbemerkt, so wie meistens, wenn ein Wunder passiert. Denn ein Wunder war es, weil etwas völlig Neues begann.
Der Platz auf der Bank war nun nicht mehr leer. Ein Mädchen schlief darauf. Eher eine junge Frau, die soeben erwachte. Sie trug nur ein helles Kleid, das ihr kaum bis zu den Knien reichte. Wie ein Kind rollte sie sich noch einmal zusammen, um sich schützend in sich selbst zurückzuziehen, in den Traum, der soeben noch ihre Welt gewesen war. Zögernd setzte sie sich auf und sah sich um.
Das Unkraut, das zwischen den verwitterten Gehwegplatten spross, erzitterte leicht. Oder waren es ihre Füße, die sie unsicher auf den grauen Beton setzte? Klamm stand die Morgenkühle zwischen den borstigen Sträuchern und Bäumen. Das graue Stahlrohr unter ihr war kalt. Es fröstelte sie.
Behutsam erhob sie sich und lenkte ihre Schritte in Richtung Straße. Der erwachende Berufsverkehr floss an ihr vorbei.
Kreuz und quer begann sie, die Stadt zu erkunden, beobachtete, hörte, schaute und staunte. Alles war neu. Alles war fremd. Mit jedem weiteren Schritt wuchs ihre Neugier.
Wer waren all diese Menschen? Woher kamen sie? Wohin gingen sie? Was war ihr Ziel?
Die Welt um sie herum war unfassbar groß. Eine Fülle, die ihre Sinne überflutete. Die sie berauschte. So viel auf einmal. Was war Antwort? Was war Frage? Was war was? Die Frau geriet leicht ins Taumeln.
Da drängte sich etwas in ihr Bewusstsein, das klarer war als alle anderen Eindrücke. Erst leise und dann immer fordernder. Wie an einem Seil klammerte sie sich daran fest. Es lenkte sie in sich selbst hinein. Es stach und biss. Ein Schmerz in ihrer Mitte. Auch ihr restlicher Körper machte sich bemerkbar. Ihre Beine waren schwer, die Füße wund. Doch der Schmerz in ihrer Mitte überlagerte alle anderen Empfindungen.
In einer Fußgängerzone blieb sie stehen. Aus der geöffneten Ladeklappe eines Lieferwagens wehte ihr ein köstlicher Duft entgegen. Warm und lebendig hüllte er sie ein. Kiste um Kiste trug ein Mann ofenfrische Ware in einen Laden, während sie nur dastand und roch.
Der Schmerz brandete erneut in ihr auf. Wie ein Messer fuhr er ihr in die Eingeweide, sodass sie sich hilflos gegen die nächste Hauswand stützen musste.
Der Lieferant wandte sich erschrocken um. Er fühlte sich beobachtet. Hinter ihm stand eine junge Frau und starrte in seine Richtung. Ihr seltsames Verhalten weckte sein Misstrauen. Ein grobes Wort lag ihm auf der Zunge. Er hasste es, angebettelt zu werden. Wütend taxierte er sie, bereit, sie fortzujagen.
Da traf ihn ihr Blick und er erschrak erneut. Doch diesmal war es anders. Etwas Tröstendes ging von der Fremden aus. Ihr Gesicht erinnerte ihn an seine Schwester. Die gleichen grünen Augen. Das gleiche braune Haar, das offen über ihren schmalen Schultern lag. Sie hatte sogar die gleichen verspielten Sommersprossen über Nase und Oberlippe.
Natürlich war die Fremde nicht seine Schwester, das konnte ja auch gar nicht sein, denn seine Schwester war schon seit vielen Jahren tot. Gestorben, als sie fast noch ein Kind war. Und wenn man genauer hinsah, dann bemerkte man auch, dass die Haare dieser jungen Frau heller waren, die Augen etwas weniger grün, die Sommersprossen nicht so zahlreich. Aber nun war es zu spät. Seine Zuneigung war erwacht, die Besorgnis um ihr Wohlergehen konnte er nicht mehr rückgängig machen.
Er musterte das dünne Sommerkleid und die nackten Füße auf dem Straßenpflaster und schüttelte sogleich seinen Kopf. Wie eine Obdachlose sah sie nicht aus, dachte er erleichtert. Eher wie jemand, der eine durchfeierte Nacht hinter sich hatte und auf dem Weg in sein Bett war. Sicher hatte sie ihre Schuhe nur ausgezogen, weil sie sie beim Tanzen gestört hatten und sie dann vergessen. Allerdings trug sie auch keine Handtasche bei sich. Erneut schüttelte er den Kopf über so viel jugendlichen Leichtsinn. Das ersehnte Frühstück würde sie sich so nicht kaufen können.
»Hunger?«, fragte er.
Sie nickte.
»Geht aufs Haus«, sagte er und reichte ihr ein Brötchen.
Zaghaft nahm sie sein Geschenk entgegen, betrachtete es von allen Seiten, atmete tief den Duft ein und schlug ihre Zähne in die knusprige Kruste. Der Mann verfolgte, mit welcher Lust sie abbiss und wie die goldene Hülle zwischen ihren Zähnen splitterte.
In Sekundenschnelle hatte sie alles verschlungen, wischte sich zufrieden die letzten Krümel vom Stoff ihres Kleides und strahlte ihn an.
»Danke«, sagte sie und noch ehe er etwas erwidern konnte, war sie bereits weitergegangen.
Wie auf einem langsamen Fluss trieb sie voran. Schaute und staunte. Die Zeit zerrann. Immer besser gelang es ihr, sich die Dinge einzuteilen. Nicht ihr Schauen sollte sie lenken, sondern sie ihr Schauen. Vorausschauen. Planen. Der Hunger hatte sie eine wichtige Lektion gelehrt. Sie besaß einen Körper, dessen Bedürfnisse sie nicht übergehen konnte. Es galt nicht nur, die vielen offenen Fragen zu stillen, sondern auch einen vernünftigen Weg zu finden, um zu überleben.
Die Passanten, deren Weg sie kreuzte, schenkten ihr kaum Beachtung. In einer so großen Stadt wie dieser fiel der Anblick verlorener Seelen nicht weiter auf. Neugier und Anteilnahme waren die Ausnahme. Wie blind rannten die Leute an ihr vorbei zum Bus und zur Bahn. Die Gedanken fest verhaftet mit dem Unsichtbaren. Vielleicht wurden auch sie vom Schmerz gedrängt. Oder vielleicht durch etwas Wichtiges gelenkt? Vielleicht fehlten ihnen aber so wie ihr auch die Antworten auf die vielen Fragen, die das Gesehene aufwarf?
Schließlich mündete ihr erster Tag in den Abend.
Auf einer Brücke hinter dem Bahnhof sah sie hinunter auf die Schienen, ein verwirrendes Netz aus Gleisen und Weichen. So viele Wege, dachte sie. Ein wenig ratlos nahm sie auf den glatten Stufen einer Treppe Platz und streckte erschöpft die Beine von sich.
›Ich werde Schuhe brauchen‹, dachte sie und merkte dabei nicht, wie sie diese Worte tatsächlich vor sich hin flüsterte.
»Du siehst so aus, als seien Schuhe dein geringstes Problem.«
Die Stimme, die ihre Einsamkeit unterbrach, war rau. Aus dem Schatten eines Mauervorsprungs tauchte eine graue Gestalt auf, das Gesicht halb verborgen hinter einer Sonnenbrille. Die Sonnenbebrillte, eine Frau mittleren Alters, kam näher.
»Hat man denn nirgends mehr seine Ruhe?«, schimpfte sie und nahm ihre schwarzen Gläser vom Gesicht, um der jungen Frau einen wütenden Blick zuzuwerfen.
»Guck nicht so blöd!«, fuhr sie verärgert fort. »Das ist ganz alleine meine Sache, was ich hier mache. Und wenn ich springen will, dann springe ich halt.«
Sie stützte sie sich erschöpft auf das Brückengeländer.
»So geht das nicht«, murmelte sie. »Ich muss allein sein. So geht das einfach nicht.« Sie weinte.
Das Mädchen zu ihren Füßen schwieg.
»Hau endlich ab!« Erneut machte sie einen Schritt in Richtung der ungebetenen Zuschauerin, die nur dasaß und sie ansah. Voller Wut beugte sie sich über das junge Gesicht und erstarrte. Es war wie der Blick in einen Spiegel.
Dieses unschuldige Gesicht wiederzuerkennen, war ein Schock. Die braunen Augen, die schmale, etwas zu lange Nase, das blonde Haar, die ungleichmäßig geröteten Wangen.
Fassungslos taumelte sie zurück.
Natürlich war das Mädchen da zu ihren Füßen nicht sie selbst. Wie sollte das auch gehen? Und wenn man genauer hinsah, dann bemerkte man auch, dass die Augen nicht wirklich braun waren, die Nase kürzer war und das Haar dunkler. Aber nun war es zu spät. Wer immer auch diese Fremde sein mochte, nichts änderte sich daran, dass sie gerade eben sich selbst erblickt hatte, so wie sie früher einmal gewesen war. Eine Ausreißerin auf der Straße.
Konnte es einen solchen Zufall überhaupt geben? An Wunder glaubte sie schon lange nicht mehr. Aber ein bisschen wie ein Wunder war diese Begegnung, ausgerechnet jetzt, in diesem Moment. Und mehr noch. Ein Ausweg. Ihr Selbstmitleid verwandelte sich in Mitleid für das fremde Mädchen. Plötzlich war da ein Sinn, nach dem sie greifen konnte. Denn die junge Frau im hellen Kleid schwebte in Gefahr. Niemand wusste besser als sie, wie schnell man aus der Verzweiflung heraus in der Kriminalität, in der Prostitution und am Ende in einem ruinierten Leben stranden konnte. Niemand wusste das besser als sie und darum konnte auch niemand besser helfen.
»Haste dich verlaufen?« Ihre Worte klangen fast wie ein Vorwurf. Im Freundlichsein war sie völlig aus der Übung. Selbstlose Freundlichkeit war keine Währung, mit der man in ihrer Welt zahlen konnte. Um ihre gute Absicht zu betonen, versuchte sie sich an einem Lächeln.
Plötzlich fühlte sie sich nackt. Der Blick des fremden Mädchens durchdrang sie schonungslos. Doch sie hielt mit aller Kraft stand. Nun war sie sich sicher. Sie würde die Kleine retten. Das war sie sich selbst schuldig.
»Hab keine Angst.« Behutsam beugte sie sich der Ausreißerin entgegen. »Du kannst mit mir kommen. Dich ausruhen. Was essen.« Mit einer leichten Kopfdrehung deutete sie in Richtung Stadt.
»Übrigens, ich bin Maria«, sagte sie und hatte auf einmal das Gefühl, der Fremden mit ihrem Namen ihr Leben zu Füßen zu legen. So wie man einem Kind die Hand entgegenstreckt, hielt sie der Fremden die Hand entgegen. Ohne zu zögern, griff die Ausreißerin zu.
»Und wie heißt du?«, fragte Maria, während sie durch eine schmale Gasse liefen.
Es überraschte sie nicht, dass die Fremde schwieg. »Du musst es mir nicht sagen. Ist schon okay.«
Nur wenige Straßen weiter erreichten sie ein dichtbebautes Wohnviertel. Graffitibesprühte Hauswände, aber auch Blumenkästen an den Fenstern. Sie betraten ein Mehrfamilienhaus. Vor dem Gebäude befand sich ein Spielplatz. Ein Rosenbeet zierte den Eingangsbereich.
Marias Wohnung wirkte wie ein gut gehütetes Geheimnis. Sie war winzig, aber sehr gepflegt. Ein Ort, an dem man sich sofort geborgen fühlte.
In der Küche setzte Maria Wasser auf und deckte den Tisch.
»Setz dich«, bat sie ihren Gast. »Ich weiß ja nicht, was du so magst.«
Eine tiefe Zufriedenheit erfüllte sie – das fast vergessene Glück, etwas uneigennützig Gutes zu tun. Nachdem sie gegessen hatten, führte sie die Fremde in ihr Schlafzimmer zum Kleiderschrank.
Schnell fand sich ein passendes Outfit. Eine Jeans, ein T-Shirt, eine Strickjacke und ein paar flache Schuhe.
Noch immer hatte die junge Frau kaum gesprochen, hatte außer ›danke‹ so gut wie kein Wort hervorgebracht. Dafür sprach Maria umso mehr. Schon lange hatte ihr keiner mehr richtig zugehört. Und Zuhören, das konnte diese Fremde. In ihren Augen lag etwas, das ihr nahezu grenzenlos Trost schenkte.
Inzwischen war es Nacht geworden und Maria deutete auf die Couch. »Du kannst hier übernachten«, sagte sie und bereitete ihrem Gast mit einem Kissen und einer Decke ein Bett.
»Ich war auch mal in so einer Situation wie du. Wäre froh gewesen, wenn mir jemand geholfen hätte.« Seufzend nahm Maria neben dem fremden Mädchen Platz. »Ich bin von zu Hause weg, weil ich mit dem neuen Freund meiner Mutter nicht klarkam.«
Plötzlich war alles wieder da. Die Wut, die Angst, die Verzweiflung, die Scham. Ihre Hände zitterten, Tränen schossen ihr in die Augen. Maria nahm ihre ganze Kraft zusammen. Es war ein Kampf gegen sich selbst. Ein letztes Aufbäumen gegen die Flut lang angestauter Erinnerungen, aufgewühlt durch den Anblick der Fremden. Ein Wirbel in ihrem Innern, ein Tosen, ein Sturm. So sehr sie sich auch wehrte, jetzt brach der Damm.
»Ich war vierzehn, als er mich das erste Mal angefasst hat.«
Abwartend, fast unbeteiligt, sah die Fremde sie an. Ihre Zurückhaltung verlieh Maria Sicherheit. Vor ihr musste sie sich nicht beherrschen und so sank sie schluchzend in sich zusammen. Minutenlang heulte sie hemmungslos, den Kopf im Schoß der Fremden, die ihr mit mechanischen Gesten übers Haar strich. Zwischen ihr und ihrem Gast war nichts, das sie trennte. Marias Vertrauen war grenzenlos. Wie von alleine flossen ihr die Worte von den Lippen.