Die Buchwanderer - Britta Röder - E-Book

Die Buchwanderer E-Book

Britta Röder

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Beschreibung

Ein Blick auf die schöne Unbekannte und schon hat Ron die Verabredung mit seinem Cousin Magus vergessen und folgt ihr durch die Stadt. Doch in der Bibliothek verliert er ihre Spur - oder hat sie ihm mit Shakespeares "Romeo und Julia" eine Botschaft zuspielen wollen? Sofort beginnt Ron mit der Lektüre und findet sich im selben Augenblick mitten in Verona wieder … Was wie eine romantische Liebesgeschichte beginnt, wird nicht nur für Ron zu einer literarischen Reise durch die Weltliteratur - von Verona in das Russland Puschkins, wo Ron plötzlich nicht mehr nur eine Randfigur ist, sondern in die Rolle Eugen Onegins schlüpfen muss - und weiter zu Cervantes "Don Quijote". Schon bald bemerkt Ron, dass er nicht der einzige Wanderer zwischen den Bücherwelten ist. Doch der Ausweg bleibt verschlossen und die Ereignisse mysteriös. Ist die schöne Rosalia der Schlüssel zu diesem Geheimnis? Und welche Rolle spielt der heimlich in seine Nachbarin Charlotte verliebte Magus, der die eigenen Gefühle stets hinter seiner Kunst versteckt? Immer fließender werden die Grenzen zwischen Lesen und Erleben. Und immer stärker rückt die existentielle Frage in den Vordergrund, wo zwischen Realität und Fiktion jeder einzelne seine eigene Wirklichkeit (er-)findet.

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Seitenzahl: 364

Veröffentlichungsjahr: 2011

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Britta Röder

Die Buchwanderer

Röder, Britta: Die Buchwanderer, Hamburg, ACABUS Verlag 2011

Originalausgabe

PDF-ebook: ISBN 978-3-86282-018-4

ePub-ebook: ISBN 978-3-86282-117-4

Print (Paperback): ISBN 978-3-86282-017-7

Lektorat: Annika Bauer, ACABUS Verlag

Umschlaggestaltung: Annika Bauer, ACABUS Verlag

Covermotiv: © magann - Fotolia.com, © Sergej Razvodovskij - Fotolia.com

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der ACABUS Verlag ist ein Imprint der Diplomica Verlag GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg.

© ACABUS Verlag, Hamburg 2011

Alle Rechte vorbehalten.

http://www.acabus-verlag.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

Für meine zwei Lieblingsmenschen

„Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf,

er existiert nur in dem Maße, in welchem er sich verwirklicht.“

Jean-Paul Sartre

franz. Schriftsteller und Philosoph, 1905-1980

Teil I: Verona

1

uf dem Weg zu einer Verabredung, die er an diesem Tag jedoch nicht mehr einhalten sollte, saß Ron in der Straßenbahn und sah aus dem Fenster. Er war neu in der Stadt und kannte daher noch niemanden. Gerade deshalb war ihm das unverhoffte Angebot seines Cousins Magus, mit ihm zu Mittag zu essen, sehr gelegen gekommen.

Die letzte Begegnung mit Magus lag mehr als fünfzehn Jahre zurück und hatte auf dem Geburtstag irgendeiner gemeinsamen Großtante stattgefunden. Wohl hatten sein gutmütiger Charakter und ein unbestimmtes familiäres Pflichtgefühl Magus dazu veranlasst, den inzwischen erwachsen und völlig fremd gewordenen Ron einzuladen, um ihn zuerst durch die opulente Speisekarte seines Lieblingsitalieners und anschließend durch das überschaubare Zentrum seiner Heimatstadt zu führen. Ron erinnerte sich nicht besonders gut an Magus und befand, dass dies im Augenblick eindeutig zu dessen Gunsten sprach, da sich schlechte Eigenschaften in der Regel stärker ins Gedächtnis brannten als vermeintlich gute.

Etwas müde ließ Ron seinen Blick durch die große Fensterscheibe der Straßenbahn gleiten. An den Anblick der fremden Häuser würde er sich schnell gewöhnen. Städte glichen einander in vielerlei Belangen so sehr, dass man sich überall fremd oder heimisch fühlen konnte, unabhängig davon, ob man wirklich darin zu Hause war oder nicht. Der Umzug in diese Stadt war reibungslos verlaufen. Seine neue Wohnung war klein, aber zentral gelegen. Die Umgebung war reizlos, aber obwohl er sich vorgenommen hatte, sie nur als eine Übergangslösung zu betrachten und die Probezeit seines neuen Jobs abzuwarten, wusste er bereits, dass er hier länger hängen bleiben würde als „vorübergehend“ eigentlich bedeutete. Denn Gewohnheit und Bequemlichkeit konnten selbst die offensichtlichste Reizlosigkeit entwaffnen, wenn sie, wie in diesem Fall, mit „praktisch“ und „preiswert“ einherging.

Die Zeiger seiner Armbanduhr verrieten ihm, dass er bis zum Treffen mit Magus noch genügend Zeit haben würde, sich selbst ein wenig in der Stadt umzusehen. Überhaupt verfügte er über Zeit, wie schon lange nicht mehr. Seine Wohnungssuche war so schnell verlaufen, dass er mühelos noch einen dreiwöchigen Urlaub bis zum Beginn seines neuen Jobs hätte planen können. Doch dazu verspürte er nicht die geringste Lust. Umzug und Jobwechsel sollten vorerst einen Schlusspunkt unter eine Reihe ständiger privater Veränderungen setzten. Er wollte endlich wieder das Gefühl haben, an einem Ort anzukommen und sich fest einzurichten.

Ohne festen Halt glitt sein Blick ins Wageninnere. Gedankenverloren musterte er die mitreisenden Fahrgäste, die wie er an diesem vorgerückten Vormittag mitten in der Woche keine besondere Eile zu haben schienen. Schüler und Rentner, Hausfrauen auf Shoppingtour, Gesichter, Jacken, Taschen, Plastiktüten, Arme, Schuhe und Frisuren reihten sich bedeutungslos aneinander. Uferlos trieben alle diese Eindrücke an ihm vorüber ohne sich zu einem bestimmten Bild zu verdichten. Erstaunt stellte er fest, wie unsympathisch und gleichgültig ihm diese fremde Umgebung mit ihren Menschen erschien. Die feindselige Kühle, mit der die Anderen seine Anwesenheit quittierten, traf ihn plötzlich empfindlich. Erschöpft schloss er die Augen, um in der dunklen Abgeschiedenheit seiner einsamen Gedanken ein wenig Halt zu finden.

Ruckelnd beschrieb die Straßenbahn gerade eine unharmonische Kurve, als ein äußerst unsanfter Rempler ihn zurück in seine Realität stieß. Ein kantiger Rucksack hatte seine Schulter hart gestreift. Um Entschuldigung bittend drehte sich die junge Besitzerin des Rucksacks zu ihm um. Leuchtend grüne Augen trafen ihn schutzlos bis auf den tiefsten Grund seiner Seele. Smaragdaugen.

„Tut mir leid.“ Ihre Stimme klang hell und klar.

„Nichts passiert“, antwortete er und sprach, ohne es zu wissen, die größte Lüge seines Lebens aus. Benommen sah er ihr nach, wie sie ihm wieder den Rücken zukehrte, um ihren Weg zu einem freien Platz im vorderen Teil des Wagens fortzusetzen. Noch ein weiteres Mal stieß sie mit einem anderen Fahrgast zusammen, verschenkte ihr mädchenhaftes Lächeln, strich sich eine rotblonde Locke aus dem fein geschnittenen Gesicht und nahm schließlich mit dem Rücken zu ihm Platz. Einzelne Strähnen ihres langen Haares hatten sich aus dem locker geflochtenen Zopf gestohlen und fielen auf ihren schmalen Rücken. Sie trug Jeans und eine dunkelgrüne Bluse und Ron konnte sich gut vorstellen, dass sie auf dem Weg zu einer privaten Vormittagsverabredung oder zu einer Vorlesung in der nahe gelegenen Universität war.

Mit einem Schlag war seine ganze Antriebslosigkeit verflogen. Seine gesamte Aufmerksamkeit richtete sich nun darauf, jedes weitere Detail der Fremden zu erhaschen. Ungeniert starrte er in ihre Richtung.

Mit anmutiger Nachlässigkeit hob sie das schmale Gelenk ihrer Hand und schüttelte in einer fließenden, kaum sichtbaren Bewegung den weiten Ärmel ihrer Bluse nach unten, um einen Blick auf ihre Armbanduhr zu werfen. Hatte sie wirklich einen Termin oder eine Verabredung? Geduldig hob sie ihr ebenmäßiges Profil in Richtung Fenster und sah konzentriert nach draußen. An der Art, wie sie ihre schlanken Beine in Richtung Gang stellte und ihren Rucksack fester gepackt hielt, erkannte er, dass sie nun bald aussteigen würde.

Eine leise Traurigkeit stellte sich bei ihm ein. Er wollte ihren Anblick jetzt noch nicht verlieren. Viel lieber hätte er ihre Stimme noch einmal gehört und die regelmäßigen Züge in ihrem wunderschönen Gesicht, das ihn an ein Botticelli-Gemälde erinnerte, noch eingehender studiert.

Als die Straßenbahn anhielt und die Fremde durch die Tür nach unten auf die Straße stieg, sprang er auf und eilte ebenfalls nach draußen. Sein Entschluss, ihr zu folgen, kam so überraschend über ihn, dass er sich davon selbst völlig überrumpelt fühlte. Ausnehmend ungewöhnlich fand er sein Verhalten. Was lag da näher, mischte sich herzklopfend seine übertölpelte Logik ein, die das Geschehen noch immer etwas unbeteiligt beobachtete, wie die unerwartete Wendung in einem phantastisch-absurden Roman, als wenigstens konsequent zu bleiben und das begonnene Vorhaben (welches Vorhaben eigentlich?) ebenso konsequent fortzusetzen?

Zielstrebig hatte die Fremde bereits die gegenüberliegende Straßenseite erreicht und war in einen schmaleren Fußgängerweg eingebogen. In dem Bewusstsein, dass seine Handlung nun sowieso nicht mehr rückgängig zu machen war, ergab Ron sich ohne zu Zögern in sein Schicksal und folgte ihr in angemessener Entfernung. Diskret um Abstand bemüht, betrat er kurz nach ihr durch eine gläserne Eingangstür die städtische Bibliothek. Aus ihrem prallen Rucksack zog sie lächelnd einen sperrigen Stapel Bücher und legte ihn mit dankendem Kopfnicken auf die Theke am Rückgabeschalter.

Ron schob seine lästige Befürchtung, sie könne seine Verfolgung bemerkt haben, bang beiseite und schlenderte ihr hinterher in die Romanabteilung. Zwischen den büchervollen Regalen verlor er sie immer wieder aus den Augen, denn es boten sich nur schmale Durchblicke an, durch die er ihren Weg erspähen konnte. Einer nur ihr bekannten unsichtbaren Spur folgend, schritt sie die zahlreichen Gänge ab, blieb immer wieder unerwartet stehen, zog mit ernstem Interesse einzelne Bücher hervor, um sie einer kurzen aber gewissenhaften Prüfung zu unterziehen. Nur selten zögerte sie und kam rasch zu ihrem Urteil. Egal ob Taschenbuchformat oder fester Einband, buntes Cover oder schlichte Aufmachung, unbeeindruckt von solchen Äußerlichkeiten vollzog sie gleich an Ort und Stelle ihren Richtspruch, schob die für uninteressant befundenen Werke mit hochgezogenen Augenbrauen rasch zurück in die Vergessenheit des Regals oder ließ die auserwählten Exemplare mit einem leichten Lächeln auf den Lippen in ihren Korb gleiten.

Um keine Aufmerksamkeit zu erregen, tat er es ihr nach, gab vor, die Titel und Autoren zu studieren, bevor er sie in die Hand nahm, und stellte sie jedes Mal wieder schnell zurück auf ihren angestammten Platz, um ihr mit seinen Blicken und Schritten weiter nachzulauern, sobald sie sich wieder in Bewegung setzte.

Konnte er es jetzt noch wagen sie unbefangen anzusprechen? Es wäre ein Leichtes, das Gespräch auf die Begegnung in der Straßenbahn zu lenken. Mit einer Bemerkung über das zufällige Wiedersehen in der Bibliothek wäre allerdings die erste Lüge gefallen und hätte seiner Geschichte vom Neu-in-die-Stadt-Gezogenen einen schalen Beigeschmack verliehen. So gut kannte er ihr Gesicht bereits, dass er sich vorstellen konnte, wie sie geringschätzig ihre Augenbrauen hochziehen und ihn mit der gleichen vernichtenden Kühle wie einen ihrer für langweilig befundenen Schmöker in die hinterste Ecke ihrer Aufmerksamkeit schieben würde.

Ein glockenhelles Lachen riss ihn aus seinen Grübeleien. Seine Fremde hatte offensichtlich eine Bekannte getroffen, der sie ausführlich flüsternd einiges mitzuteilen hatte. Wispernd und tuschelnd flogen die Sätze hin und her, ohne dass er ihren Sinn erfassen konnte. In der verzweifelten Hoffnung besser lauschen zu können, wenn er alle visuellen Eindrücke ausblendete, schloss er für einige Sekunden die Augen.

Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Ungläubig sah er sich wieder und wieder um. Keine Spur von ihr. Er lief in den Gang, in dem er sie vermutete. Nichts. Er eilte in Richtung Ausgang. Nichts. Er rannte zurück zu der Stelle, an der er sie eben noch sprechen gehört hatte. Nirgends war sie zu sehen. Aber auf dem Boden, mitten im Gang, lag direkt vor seinen Füßen ein Buch. Ganz sicher hatte sie es in der Hand gehabt. War es ihr heruntergefallen? Hatte sie es liegen lassen? Vielleicht sogar absichtlich? Er bückte sich, hob es auf und hetzte zurück zum Ausgang, um ihr das Buch zu bringen.

War das nicht ihre grüne Bluse, die eben durch die Tür nach draußen verschwand? Ron rannte hinterher und wurde freundlich aber sehr bestimmt zurückgerufen.

„Sie müssen mir erst Ihren Bibliotheksausweis zeigen, bevor Sie das Buch nach draußen mitnehmen können!“

Eine junge Büchereiangestellte mit burschikosem Kurzhaarschnitt deutete streng auf das Buch, das er noch immer fest in seiner Hand hielt. Kopfschüttelnd erkannte sie, dass ihr mit Ron ein besonders begriffsstutziger Besucher gegenüberstand.

„Haben Sie überhaupt einen Bibliotheksausweis zum Ausleihen?“

„Ausleihen?“ Ron warf einen letzten sehnsüchtigen Blick nach draußen. Von seiner Fremden fehlte inzwischen jede Spur. Nur widerwillig wandte er sich der jungen Frau hinter der Theke zu, die geduldig darauf wartete, dass dieser Traumtänzer wieder zu sich kam. Rons felsengroße Hoffnung, die Fremde jemals wiederzusehen, schrumpfte in Sekundenschnelle zu einem mikroskopisch kleinen Staubkorn zusammen. Sie war ihm entwischt.

„Okay, dann leihe ich mir wenigstens das Buch aus“, dachte er und ergab sich resigniert der notwendigen bürokratischen Prozedur, füllte ein Formular aus, zeigte seinen Personalausweis vor und leistete mehrere Unterschriften auf verschiedenen Dokumenten.

Allmählich verschwand alle Strenge aus dem sommersprossigen Gesicht der Bibliothekarin. Verschmitzt lächelnd überreichte sie ihm seinen nagelneuen Bibliotheksausweis.

„Willkommen als Leser in unserer Stadtbücherei, Herr Ron Hiker.“

Mit einer feierlichen Geste legte sie ihm das Buch in die Hände. Erst jetzt las Ron den Titel, den ihm der Zufall in die Hände gespielt hatte. Eine hoffnungsvolle Millisekunde lang schlugen sein Herz und sein Verstand im Gleichtakt. Nein, an einen Zufall konnte er jetzt nicht mehr glauben. Er hielt Shakespeares Romeo und Julia in seinen Händen.

„Auf Wiedersehen“, zwinkerte ihm die Büchereiangestellte verschwörerisch zu. „Und viel Spaß bei Ihrer Lektüre.“

Nun hatte er mit der schönen Unbekannten wenigstens eine Gemeinsamkeit. Die Ausleihfrist der mitgenommenen Bücher würde auch sie an den Ausgangspunkt des Geschehens zurückführen. Dies war unbestreitbar seine Chance auf ein Wiedersehen.

Darauf, dass sie ihm mit dem Titel Romeo und Julia eine besondere romantische Botschaft zuspielen wollte, wagte er kaum zu hoffen und tat es deshalb umso mehr. Wenn seine „Julia“ ihn bemerkt und ein wenig interessant gefunden hatte, dann konnte dieser literarische Wink doch das unverfängliche Einverständnis zu einer weiteren Begegnung bedeuten.

Oder hatte sie in diesem schmalen Buch etwa eine konkrete Botschaft versteckt, vielleicht einen Zettel mit ihrer Telefonnummer hinterlassen? Sein Herz unternahm den nächsten hoffnungsvollen Luftsprung. Hektisch begann er das schmale Bändchen durchzublättern, zerrte an den einzelnen Seiten, packte es an seinem Rücken und schüttelte es rücksichtslos hin und her. Aber der so grob misshandelte Delinquent schwieg beleidigt und gab weder einen Zettel noch irgendein anderes Geheimnis preis. Vielleicht verbarg sich in dem Bühnenstück selbst eine geheime Botschaft? Bedeutete ihr dieses Werk persönlich besonders viel und sie hoffte, er würde diese sehr private Bedeutung erkennen?

Zerstreut fiel sein Blick auf seine Armbanduhr. Über all dem hatte er völlig die Zeit und den auf ihn wartenden Magus vergessen. Selbst wenn sein Cousin ein Musterbeispiel an Geduld und Verständnis wäre, inzwischen hatte er sicher das Restaurant schon wieder verlassen. Ron gelobte, sich ausgiebig bei Magus zu entschuldigen und ihn in Form einer großzügigen Gegeneinladung für sein erfolgloses Warten zu entschädigen. Er nahm die nächste Straßenbahn und fuhr zurück in seine Wohnung.

Hatte er Romeo und Julia jemals selbst gelesen? Das Drama gehörte zu den Klassikern, die man allgemein hin kannte, ohne sie wirklich lesen zu müssen. Das Wissen um die tragische Liebesgeschichte war Allgemeingut und hatte bereits zahlreiche Kinofilme gefüllt. Plötzlich begann er daran zu zweifeln, dass diese Geschichte für ihn eine wünschenswerte Botschaft enthalten konnte. Romeo und Julia endeten tragisch. Es gab kein Happy End.

Hatte sie ihm mit diesem Buch einen Korb zugespielt? Doch dann lag ihr zumindest so viel an ihm, dass er ihr den Aufwand einer Botschaft wert war. Es half nichts. Um eine Antwort auf diese quälenden Fragen zu erhalten, musste er sich in die Lektüre begeben und herausfinden, was Shakespeare wirklich geschrieben hatte. Zögernd schlug er das Buch auf, das er an diesem Tag schon so oft hinund hergedreht hatte, und begann zu lesen.

2

Zwei Häuser in Verona, würdevoll,

Wohin als Szene unser Spiel Euch bannt,

Erwecken neuen Streit aus alten Groll,

Und Bürgerblut befleckt die Bürgerhand …

eine Augen flogen über die bekannten Zeilen. In seinem Kopf verwandelten sie sich in den Klang fremder Stimmen, die desto deutlicher zu ihm sprachen, je tiefer er den Sinn des Gelesenen erfasste. Immer dichter wurde die Atmosphäre, die die Worte um ihn herum erschufen. Immer konkreter wuchs das Bild einer neuen Umgebung heran. Ein Luftzug streifte ihn. Hatte er in seiner Wohnung ein Fenster offengelassen? Plötzlich fühlte er sich beobachtet. Er spürte es ganz deutlich und hob überrascht den Kopf. Die Stimmen waren verklungen und er stand auf einem hell gepflasterten Platz inmitten einer fremden Stadt.

Wach und zufrieden lag die sorglose Betriebsamkeit eines ruhigen Vormittags auf der Piazza und den mehrstöckigen Gebäuden, die sie umsäumten. Die weitgeöffneten Fenster der oberen Etagen atmeten noch die klare Kühle des frischen Vormittags ein. Kinderstimmen und lachende Rufe entschlüpften taubengleich den hohen Mauern und umflatterten den sonnigen Platz. Fassungslos betrachtete Ron die Renaissancepracht der Fassaden, die stolzen Türme und Giebel der Palazzi, er hörte den klaren Glockenschlag einer nahen Kirchturmuhr, die freundlichen Zurufe sich grüßender Nachbarn, das hohle Echo von Hufgeklapper auf dem steinernen Pflaster als ein Junge ein ungesatteltes Pferd vorüberführte. Das Schnauben des edlen Tieres und die sanfte Stimme des Jungen, der beruhigend auf es einflüsterte, klangen Ron noch im Ohr, als sich langsam eine bizarre Gewissheit in seinem Kopf breitmachte. Wo war er? War das etwa Verona?

Sein Blick in das Blau des sich unendlich über ihm ausdehnenden Himmels ließ ihm keinen Zweifel. Das hier war keine Theaterkulisse. Er befand sich wirklich in Italien.

Aber was war geschehen? Wer oder was hatte ihn hierher gebracht? Lag in diesem Shakespeare-Stück ein solcher Zauber? Konnten die Worte eines Dichters so mächtig sein? Oder lag es an ihm selbst? War er ein Opfer seiner eigenen Phantasie?

Mit einem lauten Knall wurde ein Fensterladen über seinem Kopf zugeschlagen, um die steigende Hitze des Tages auszusperren. Erschrocken fuhr er zusammen. Nein, das war kein Traum. Was immer auch gerade hier mit ihm passierte, war real. Absolut real, auch wenn er dafür nicht die geringste logische Erklärung besaß.

Noch immer völlig durcheinander beobachtete er, wie Geschäft um Geschäft gerade geöffnet wurde und die Kaufleute ehrerbietig ihre ersten Kunden begrüßten. Die heimlichen Blicke vorbeigehender Passanten streiften Ron mit abwägendem Interesse. Doch offensichtlich war man den Anblick Fremder gewohnt und so verflüchtigte sich die erste Neugier schnell zu einem nachlässigen Blick und man wandte sich interessanteren Dingen zu.

Erleichtert atmete er auf. Seine Anwesenheit, so ungeheuerlich sie ihm selbst vorkam, erregte offenbar niemandes Misstrauen oder Unbehagen. Eigentlich seltsam, dachte er und wagte einen prüfenden Blick an sich herunter. Doch was er sah, verwirrte ihn noch mehr. Seine Kleidung war völlig verwandelt. Mit zittrigen Fingern betastete er das, was eben noch ein graues T-Shirt gewesen war. Verblüfft zupfte er an dem seidigen Kragen eines weitärmeligen, weißen Hemdes. Darüber trug er ein hellgraues, mit zahlreichen dunkelgrauen Applikationen gestepptes Wams, das er an der Hüfte ungewohnt eng tailliert fand, das aber an den Schultern bequem weit geschnitten war. Anstelle der blauen Jeans schmiegte sich ein strumpfhosenähnliches blaues Beinkleid um seine Waden, das sich auf der Höhe der Oberschenkel zu einem kürbisförmigen Stoffballon aufzubauschen begann. Aus seinen schwarzen kunstfasernen Sneakern waren schwarze Schuhe aus Leder geworden, deren weiche, flache Sohlen das Laufen angenehm machen würden.

Ungläubig griff er sich ans Kinn und zuckte sofort zurück. Anstelle der glattrasierten Haut berührte er einen schmalen, kurzen Bart. Nervös hielt er Ausschau nach einer Möglichkeit, sein Spiegelbild im Ganzen zu betrachten. Völlig benommen stakste er umher und blieb vor dem Fenster eines Tuchgeschäftes stehen. Der sonnige Morgen glänzte im blanken Fensterglas. Leuchtend warf ihm die Scheibe sein neues Ebenbild zurück. Die Verwandlung in einen jungen italienischen Edelmann Shakespearescher Zeit war so perfekt, dass er ebenso verwundert wie restlos fasziniert war.

„Eine Kamera“, stammelte er tonlos, „ein Königreich für eine Kamera.“ Das unbeabsichtigte Wortspiel ließ ihn schmunzeln. Mit seinem Humor kehrte allmählich auch seine Selbstsicherheit zurück. Nun gut, dachte er. Was immer ihn zum Teil dieser neuen Realität hatte werden lassen, wollte sicher, dass er umherging, um nach seiner schönen Unbekannten zu suchen. Wenn jemand eine Erklärung für all das parat hatte, dann ganz sicher sie, der er dieses unglaubliche Abenteuer zu verdanken hatte.

Das auffällig laute und hochmütige Gebaren zweier jugendlicher Gecken unterbrach die Beschaulichkeit der Szene. Ausgelassen wie zwei junge Hunde tollten sie so ungestüm umher, dass ihnen zwei ältere Kaufleute gerade noch ausweichen konnten und ihnen kopfschüttelnd nachsahen. Die Mienen der Ladenbesitzer verdüsterten sich schlagartig. Die jungen Männer schienen gut bekannt und ihre Absicht, zu ihrem Vergnügen einen Händel vom Zaune zu brechen, ebenso.

Mit großspuriger Selbstsicherheit schritten sie einher und boten mit jedem ihrer frechen Blicke eine Einladung zum Streit. Mit dem Mut der zahlenmäßigen Überlegenheit hatten sie schnell ihr Opfer ausfindig gemacht, einen jungen Kerl, der sich ihnen gedankenverloren näherte und ihren Weg bereits in wenigen Schritten kreuzen sollte.

Sich gegenseitig in die Seiten stoßend und boxend verlangsamten sie ihren Schritt und kamen an ihn heran. Unschuldig wie zum höflichen Gruße blickten sie ihm ins Gesicht und hielten ihm plötzlich feixend eine kindische Geste unter die Nase. Was folgen musste, folgte. Es kam zu einem Wortgefecht, in das sich, wie aus dem Nichts auftauchend, weitere junge Männer mischten. Ein Handgemenge entstand und ehe Ron sich’s versah, befand er sich inmitten einer bluternsten Auseinandersetzung, die mit Fäusten, Messern und Degen ausgetragen wurde.

In hektischer Eile rafften die umstehenden Kaufleute ihre Waren zusammen und schlugen ihre Läden zu. Die wenigen unbeteiligten Passanten stoben fluchtartig davon. Türen wurden verriegelt. Ron, der nicht wusste, in welcher Richtung er das Heil seiner Flucht am ehesten finden konnte, drückte sich schützend gegen einen Hauseingang, der ihm nur ungenügend Deckung bot.

Mit ausladenden Bewegungen schlug der streitende Haufen aufeinander ein. Hart wurde Ron vom Ellenbogen eines dunkelhaarigen Degenkämpfers an der Schulter getroffen.

„Verzeiht!“, stieß der junge Edelmann eine kurzatmige Entschuldigung hervor. Erstaunte braune Augen trafen Ron kurz. „Sucht Deckung, Fremder, dies ist nicht Euer Streit!“

Dem aufmerksamen Blick seines tückisch grinsenden Gegners war diese Sekunde der Ablenkung nicht entgangen und mit gestrecktem Degen stürzte er auf den Dunkelhaarigen zu. Ron konnte diesen gerade noch mit einem beherzten Tritt ins Hinterteil zur Seite stoßen, sonst hätte sich der feindliche Degen tief in dessen Seite gebohrt. Ohne Zeit für ein weiteres Wort stürmte der Gerettete mit wildem Gebrüll zurück ins Gemenge.

Der Tumult wuchs weiter an, bis endlich eine Gruppe beherzter Bürger, mit Knüppeln bewaffnet, zwischen die Streithähne drang. Unsanft wurde auch Ron zur Seite gestoßen. Eine Gasse öffnete sich, durch die ein auffallend reich gekleideter Herr mit seinem Gefolge geschritten kam.

„Der Prinz, macht Platz für den Prinzen“, murmelten die umstehenden Leute erleichtert.

„Aufrührer! Friedensfeinde!“, tobte der eilig von seinem Frühstückstisch herbeigerufene Fürst, außer sich vor Wut. „Wilde Tiere!“ Mit hochrotem Kopf und perlendem Schweiß auf der Stirn rang der hochgewachsene Mann schweratmig um die ihm angemessene stadtväterliche Würde.

„Dreimal habt ihr bereits den Frieden unserer Straßen gebrochen“, empörte er sich zornig. „Verstört ihr jemals wieder unsere Stadt, so zahl’ eur Leben mir den Friedensbruch.“

Widerwilliges Gemurmel breitete sich unter den jungendlichen Kontrahenten aus. Doch schließlich ließen sie müde und zerschlagen ihre Köpfe hängen.

„Für jetzt begebt euch, all ihr Andern, weg!“ So als wollte er lästige Fliegen vertreiben, fuchtelte er mit seiner Rechten höchst ungehalten durch die Luft und verlieh damit seinem Befehl an die Menge sich zu zerstreuen den angemessenen königlichen Nachdruck. Die Leute begannen auseinanderzustreben. Die bedrohliche Spannung löste sich in friedliche Erleichterung auf. Mit strengem Auge hatte der Fürst jedoch die Häupter der blutigen Fehde ausgemacht und hielt sie nun mit herrischem Blick zurück. Kühl befahl er ihnen näher zu treten.

Zwei grauhaarige ältere Herren, offensichtlich adligen Standes, traten zögernd wie zerknirschte Knaben näher.

„Ihr aber, Capulet, sollt mich begleiten“, bedeutete er herrisch dem einen der beiden. Mit gesenktem, leichenblassem Haupt nahm der hagere Graf den freien Platz an der linken Seite des Prinzen ein.

„Ihr, Montague, kommt diesen Nachmittag zur alten Burg.“

Demütig versank der rundbeleibte gräfliche Gegenspieler Capulets in eine zierliche Verbeugung und tänzelte rückwärts gewandt in den schützenden Kreis der Seinen, um sich den zornigen Blicken des Prinzen zu entziehen.

Von dem schützenden Hauseingang aus, in den er sich zurückgezogen hatte, beobachtete Ron den Abzug des Prinzen. Mit ihm leerte sich der Platz und es kehrte wieder Ruhe ein.

Keine Frage, auch für ihn bestimmte ein Mindestmaß an Spannung und Aktion die Qualität der Unterhaltung, die er sich von einer Lektüre versprach. Aber die physische Intensität, mit der ihn diese Lektüre vereinnahmte, ging eindeutig zu weit. Ungläubig fuhr er sich über die schmerzhaft pochende Schulter. Die unsanfte Begegnung mit dem Ellenbogen des Degenkämpfers begann einen waschechten Bluterguss zu hinterlassen. Das Vernünftigste schien ihm jetzt, zuerst nach einem Ausweg aus diesem Phantasiegebäude zu suchen, bevor er sich erneut in eine unübersichtliche und gefahrvolle Lage gedrängt fand.

Hatte er in seiner Hast und Ungeduld auf dem Klappentext einen warnenden Hinweis auf die Gefahren dieser Lektüre überlesen? Er dachte an das vielsagende Lächeln der sommersprossigen Bibliothekarin. Sie immerhin hätte ihn doch warnen müssen. Verwirrt schüttelte Ron den Kopf. War es nicht verrückt von ihm, dieses phantastische Abenteuer wie eine reale Begebenheit zu betrachten? Das alles hier konnte doch gar nicht real sein. Aber sogar sein Wissen darüber, dass alles um ihn herum reine Fiktion sein musste, bewahrte ihn nicht davor, alles als völlig real zu empfinden. Wie sollte er bloß wieder aus dieser Geschichte herauskommen, wenn er die Grenzen zwischen Fiktion und Realität nicht mehr unterscheiden konnte?

Ratlos sah er sich um. Hilfe war von niemandem zu erwarten. Die inzwischen heiße Mittagssonne verkürzte die von den Häusern geworfenen Schatten zusehends und das alltägliche Leben in den Geschäften und auf der Straße stellte sich mit der ursprünglichen Beschaulichkeit wieder ein. Nur dass die Leute an diesem Tag mit der erneut entbrannten Fehde zwischen den beiden Häusern Capulet und Montague einen aufregenden Stoff für ihre lebhaften Gespräche gefunden hatten, deren Faden mit den Namen der beiden Familien und der des Prinzen immer wieder erregt aufgenommen wurde.

Ron wandte sich um und bog in eine stillere Seitengasse. Wenn dies nur ein Traum gewesen wäre, dann hätte er jetzt einfach erwachen können. Doch so verwirrt er auch sein mochte, dass dies kein Traum war, daran hatte er keinen Zweifel. Er konnte keine symbolhaften Bilder erkennen, die ihm ein Zerrbild seiner Wirklichkeit vorgaukelten, keine Außenansicht seiner eigenen Person, die ihn sich selbst betrachten ließ, als wäre er ein anderer und er selbst zugleich. Was er sah, hörte, spürte und roch, konnte nur sehen, hören, spüren und riechen wer wie er hellwach und bei vollem Bewusstsein war. Das ihn umgebende Geschehen war so real wie er selbst. So real wie sein Umzug in die neue Stadt, so real wie die Begegnung mit der schönen Unbekannten in der Straßenbahn und sein anschließender Besuch in der Bibliothek. Und für den panischen Bruchteil einer Sekunde durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass, wenn er an der Echtheit seines Abenteuers keinen Grund zu zweifeln hatte, er genauso gut an der Echtheit seiner ursprünglichen Wirklichkeit zweifeln konnte.

Eine grün gekleidete Frau erschien wenige Meter vor ihm und verschwand ebenso plötzlich wieder in der Menge. Nur einen Wimpernschlag lang konnte er ihr zartes Profil, ihre schmalen Schultern und den schlanken, sehr geraden Rücken sehen und doch wusste er sofort, wer diese Gestalt war. So stark hatte sich ihr Bild in sein Bewusstsein eingebrannt, dass ihm der kleinste Hinweis zum Wiedererkennen ausreichte. Jeden möglichen Einwand verdrängend folgte er ihrer wendigen Gestalt mit schnellen Schritten und angehaltenem Atem durch das dichte Menschengewühl.

An einer Abbiegung blieb sie unverhofft stehen und wandte sich zu ihm um. Eine Locke ihres kupferfarbenen Haares war ihr aus dem sorgfältig aufgesteckten Kopfputz entwischt. Mit nachlässiger Geste strich sie sie zurück und schenkte Ron ein wiedererkennendes Lächeln, bevor sie ihm den Rücken kehrte und nun völlig in der Menge aufging.

Auf einen Schlag hatten alle seine Zweifel keine Bedeutung mehr für ihn. Sie war hier. Das alleine zählte und war Grund genug für ihn ebenfalls hier zu sein. Er hatte sie gesucht und gefunden. Also hatte er bis hierhin alles richtig gemacht.

Und doch hatte sie sich ihm entzogen. Ohne einen Hinweis ließ sie ihn zurück. Der hellen Freude über seinen kleinen Erfolg folgte die pechschwarze Ernüchterung darüber, völlig im Dunkeln zu tappen. Dieses Katz- und Mausspiel verdross ihn zunehmend. Wenn sie ein Spiel spielen wollte, so verlangte er als ebenbürtiger Partner in die Regeln eingeweiht zu werden. Vielleicht würde er dann auch begreifen, was tatsächlich mit ihm passierte. War es nicht unvernünftig, ja sogar gefährlich, sich auf dieses Spiel einzulassen, dessen Gesetzmäßigkeiten er nicht durchschaute?

„Ihr seid’s, mein unverhoffter Freund“, grüßte ihn ausgelassen der angenehme Bariton einer bekannten Stimme. Neben ihm stand der dunkelhaarige Degenkämpfer vom Vormittag und beeilte sich, ihn kameradschaftlich auf die Seite zu ziehen.

„Erlaubt, dass ich meine Dankesschuld, wenn auch verspätet, abtrage und Euch frage, wie ich Euch gefällig sein darf.“

In dieser Fremde ein freundliches Gesicht wiederzuerkennen, war für Ron kein unbeträchtlicher Trost und so strahlte er den dunklen Mann mit offener Sympathie an.

„Meine Tat war klein“, entgegnete Ron mit nicht geringem Stolz.

„Da will ich widersprechen.“ Der junge Edelmann rieb sich mit gespielt schmerzverzerrtem Gesicht die Rückseite und grinste jungenhaft wie über einen gelungenen Streich.

„Der Tritt war groß und groß war Eure Tat. Habt Ihr mir nicht sogar das Leben, so doch mindestens die Gesundheit gerettet. Wie ist Euer Name?“

„Ron … Ronaldo“, hörte Ron sich selbst sagen.

„So erlaubt, dass ich Euch, Ronaldo, meinen Freund nenne und Euch zum Essen einlade. Ihr seid fremd hier?“

„Das kann man wohl sagen.“

„So nennt mich Benvolio, den Freund Ronaldos. Denn wo man einen Freund hat, wird man als Fremder zum Gast erhöht.“

Noch während dieser Rede hatte sich Benvolio mit starkem Griff eingehakt, war vom belebten Marktplatz in eine ruhigere Straße eingebogen und führte nun Ron zu einem kleinen hübschen Platz, auf dem ein blumengeschmückter Brunnen klares Wasser spendete und mit seinem kühlenden Geplätscher eine benachbarte Taverne höchst musikalisch unterhielt. Sie setzten sich gegenüber an einen der Tische.

„Bringt vom besten Wein! Und das beste Essen, das Ihr heute zu bieten habt, für meinen Freund hier.“

Eiligst kam der geschäftstüchtige Gastwirt angetrabt und rannte sogleich wieder davon, kam zurück mit einem riesigen Tonkrug von kühlem roten Wein, hüpfte wieder davon, brachte frisches, noch warmes Brot und versprach mit der unterwürfigen Beflissenheit eines Mannes, dem das Schicksal einen spendierfreudigen Auftraggeber zugespielt hatte, in der Küche auf besondere Eile zu drängen.

Ron, der seit Stunden nichts gegessen hatte, bemerkte nun, wie hungrig er war. Ein weiteres Indiz dafür, dass dies kein Traum sein konnte. Und auch die leicht berauschte Stimmung, in die ihn der Wein auf nüchternen Magen nach dem ersten kräftigen Schluck versetzte, war ihm ein deutliches Zeichen dafür, dass er weiterhin den Gesetzmäßigkeiten der Realität unterworfen war. Er nahm sich vor, erst auf das Essen zu warten, um eine Grundlage zu schaffen.

Zufrieden betrachtete er seinen Gastgeber. Sein Gegenüber war jung, aber nicht mehr jugendlich. Sein schmales Gesicht trug einen sehr gepflegten, kurz geschnittenen schwarzen Bart, der das hell aufblitzende häufige Lachen vorteilhaft betonte. So kräftig und drahtig er im Kampfgeschehen gewirkt hatte, so schlank und besonnen war jetzt seine Erscheinung. Im Selbstbewusstsein seines edlen Standes war er es gewohnt, sich vornehm zurückzuhalten ohne dabei seiner angenehmen Präsenz etwas von ihrer gewinnenden Wirkung zu nehmen. Es fiel Ron nicht schwer, ihn auf den ersten Blick zu mögen und ihm zu vertrauen.

„Sagt, Ronaldo, was führt Euch in unsere schöne Stadt?“, begann Benvolio das Gespräch, nachdem der Wirt sich ins Haus zurückgezogen hatte.

„Das ist schwer zu sagen“, seufzte Ron und fuhr sich mit einer nachdenklichen Geste an seinen neuen Bart. „Ich glaube, ich bin hier wegen einer Frau.“

„Ach, mein Freund“, Benvolios Miene verdunkelte sich mitfühlend als spräche er mit einem Kranken. „Ihr seid verliebt?“

„Verliebt? Es muss wohl so sein. Sonst wäre ich nicht hier.“ Die Einsicht, das Opfer eines ebenso seltsamen wie mächtigen Zufalls geworden zu sein, trübte Rons Stimmung schlagartig.

Benvolio, der seinen neuen Freund nicht so mutlos lassen wollte, erhob eilig seinen Becher.

„Dann trinken wir auf die baldige Erfüllung Eures Liebesglücks.“

Doch Ron fehlte die rechte Überzeugung den Trinkspruch zu erwidern.

„Mein Liebesglück? Dazu müsste ich sie erst einmal finden. Ja, ich müsste erst einmal wissen, wer sie überhaupt ist.“

Benvolios sehnige Rechte umschloss mit zuversichtlichem Druck Rons Arm. „Wenn sie hier in Verona ist, dann werden wir sie finden. Glaubt mir, ich kenne mich aus mit den Schönen dieser Stadt.“

Der Wirt brachte Teller, Besteck, riesige Schüsseln mit gut gewürztem Fleisch und delikaten Saucen, in die Benvolio genüsslich das frische Brot tunkte, ehe er es sich in den Mund steckte. Das Essen war vorzüglich und mit dem guten Gefühl eines satten Bauches empfand sich auch Ron bald wieder in seiner Zuversicht gestärkt.

„Seht Ihr, Ronaldo, das Schicksal meint es gut mit Euch. Als Fremder kamt Ihr in die Stadt auf der fast aussichtslosen Suche nach einer schönen Unbekannten. Nun seid Ihr Gast in Verona, fandet einen treuen Freund, habt wohl gespeist und auch die Schöne werdet Ihr bald wiedersehen. Ja, ich glaube, ich kann es Euch fast sicher versprechen.“

Beherzt lachte Benvolio über Rons überraschte Miene. Kopfschüttelnd schob er die leeren Teller zur Seite und näherte sich über den Tisch gebeugt verschwörerisch Rons ungläubigem Gesicht.

„Ihr erinnert mich an meinen Freund Romeo. Ihr solltet, ja, Ihr werdet ihn sicher bald kennenlernen. Ein guter Mann. Eine Seele von einem Mann. Und ein Mann mit verletzter Seele. Auch ihn traf Amors Pfeil.“

„Romeo? Ihr seid ein Freund Romeos?“

Sofort waren Fiktion und Realität wieder zu einem dichten Nebel verwirbelt, der Rons Sinne taumeln ließ. Gerade erst hatte er kurz die Sicherheit gespürt, einen festen Weg gefunden zu haben, der es ihm erlaubte, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden. Nun schwand ihm wieder der Boden unter den Füßen.

„Ihr kennt Romeo bereits?“ Benvolios Überraschung war voller Freude.

„Oh nein, ich kenne ihn nicht, leider, noch nicht“, bemühte sich Ron, die Sache klarzustellen. Er wollte den vorgegebenen Ablauf der Handlung nicht behindern. Hoffentlich hatte er nicht schon viel zu viel durcheinandergebracht. „Ich hörte nur von ihm und seiner traurigen Liebesgeschichte“, fügte er voreilig hinzu und bereute bereits diesen letzten Satz, kaum dass der Ton seiner Stimme verklungen war. Wie unvorsichtig von ihm, das tragische Ende vorweg auszuplaudern, ohne den genauen Stand der Handlung zu kennen.

Aber Benvolio schien keine Ungereimtheiten in Rons Rede bemerkt zu haben und nickte nur traurig.

„Ja, die Spatzen pfeifen es bereits von den Dächern. Doch Romeo will einfach nicht zur Vernunft kommen und von Rosalia lassen.“

„Rosalia?“

„Die schöne Rosalia. Schön und kalt zugleich. Man sagt, sie schwor der Liebeab und nun ist dieses Gelübde der Tod für meinen Freund Romeo, der sie so sehr liebt und so sehr deswegen leidet.“

„Sie schwor der Liebe ab?“

„Und nun spielt sie mit Romeo. Wie sie zuvor auch mit den Herzen anderer

Verehrer spielte. Die glühende Bewunderung eines Mannes, die verzehrende Leidenschaft eines brennenden Herzens, die blinde Gefolgschaft einer Seele, das alles zählt ihr nichts. Sie lacht nur und vergrößert dadurch die gefährliche Waffe ihrer Schönheit, um damit ihr nächstes Opfer zu vergiften.“

„Wow“, gab Ron beeindruckt von sich.

„Weib?“ Benvolio hatte sich so in Rage geredet, dass er Ron nur mit halbem Ohr zuhörte. „Ja Weib! Da habt Ihr recht, Ronaldo. Ein Weib, wie es im Buche steht. Und noch viel mehr, das ist sie.“

Rons nachdenkliches Schweigen erinnerte Benvolio daran, dass er eigentlich seinem neuen Freund versprochen hatte, ihm bei der Suche nach der schönen Unbekannten zu helfen.

„Der gleiche Weg, der Romeo heilen wird, wird auch Euch die passende Medizin zuführen“, zwinkerte er listig. „Wollt Ihr meinen Plan hören?“

Ron nickte.

„Also hört, mein Freund. Durch Zufall erfuhr ich von einem Fest, das heute Abend im Hause der Capulets gegeben wird. Der halbe Adel dieser Stadt wird dort zusammenkommen. Denn wie Ihr sicher schon bemerkt habt, ist die Stadt durch eine Fehde in zwei Parteien gespalten. Das Haus des reichen Capulet ist das Haupt der einen Partei. Die andere Seite, das sind wir, die Familie Montague. Doch das tut nichts zur Sache. Dieses Fest versammelt die Hälfte der schönsten Frauen Veronas unter dem Dach des alten Hagestolzes Capulet. Eine gute Chance auch Eure schöne Unbekannte dort zu entdecken. Und meine letzte Hoffnung Romeos Herz vom Leiden an Rosalia zu heilen. Denn wenn er im Glanze dieses fürstlichen Festes die Schönheit so vieler heißblütiger Frauenherzen sieht, dann sollte ihn dies endgültig von der gefühlskalten Schönheit Rosalias heilen.“

Ron erkannte nun nur zu gut, an welcher Stelle in diesem Drama er sich befand. Die Geschichte stand noch völlig am Anfang und er beschloss, sich rechtzeitig wieder aus dem Staub zu machen, bevor sie sich weiter zuspitzte. Wie gefährlich dieser Konflikt zwischen den Häusern werden konnte, hatte er für sein persönliches Dafürhalten bereits ausreichend erfahren. Darum nahm er sich auch zusammen und behielt seine Bedenken an diesem Plan, für Romeo ein neues Objekt der Begierde ausgerechnet im Haus seines Feindes zu suchen, für sich. Doch die Idee, im Hause Capulets nach seiner eigenen Schönen zu suchen und auch Zeuge einer solch erlesenen Festivität zu werden, reizte ihn sehr.

„Sagtet Ihr nicht, Benvolio, das Fest sei im Hause Eures Feindes? Man wird Euch kaum einladen.“

Benvolio lachte sein unbekümmertes Jungenlachen.

„Wir werden um nichts bitten, was man uns nicht bieten möchte. Ungebeten laden wir uns selber ein. Im Schutz von abendlicher Dunkelheit und Maskenspiel ist unser beherztes Eintreten selbst die Einladung, die wir uns geben.“

Erleichtert fiel Ron in Benvolios Lachen ein. Ein Kinderspiel würde es werden, da dieser eben entworfene Plan in Wahrheit bereits längst beschlossene Sache war. Vertrauensvoll gab er seine Zustimmung, bei diesem Streich dabei zu sein.

Benvolio warf zur Bezahlung einige Münzen auf den Tisch und erhob sich. „Kommt, mein Freund, ich zeige Euch nur noch, wo wir uns heute Abend treffen und dann werden sich unsere Wege vorerst trennen, denn ich habe noch einige Geschäfte zu erledigen.“

Seite an Seite kehrten sie zurück an den Schauplatz ihrer ersten Begegnung. Benvolio deutete mit einem dezenten Blick auf das prächtigste Gebäude am Platze, ein mit reichverzierten Fresken geschmückter Palazzo, der Ron bereits am Morgen aufgefallen war.

„Hier ist das Haus der Capulets. Dort drüben seht Ihr die Pforte einer kleinen Kirche. Wendet Ihr Euren Schritt nach links in den schmalen Durchgang daneben, so gelangt Ihr zum Seiteneingang derselben. Dort werden wir uns treffen noch ehe die Uhr zehn geschlagen hat.“

Sie reichten einander die Hände und Benvolio schlug Ron kameradschaftlich auf die Schulter. Ein letztes verschwörerisches Zwinkern aus seinen braunen Augen und ein munteres Lächeln aus seinem schön geschnittenen Gesicht, und Benvolio war im nachmittäglichen Trubel verschwunden.

3

ls Magus an diesem Nachmittag das ‚Verona‘ verließ, hatte er drei vergnügliche Stunden in Gesellschaft seines Lieblingsweins und einiger besonders delikater Speisen verbracht. Angesichts der großen Fülle an kulinarischen Verheißungen, die allesamt hielten, was er sich von ihnen versprochen hatte, wäre seine Verärgerung über Rons Ausbleiben selbst dann längst verflogen, wenn sie mehr als einen rein formellen Charakter gehabt hätte. Magus hatte es sich längst abgewöhnt, sich über das Fehlverhalten seiner Mitmenschen zu ärgern. Darauf hatte er keinen Einfluss und daher fühlte er sich dafür auch nicht verantwortlich. Er hielt es für vernünftiger die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen und aus der jeweiligen Situation das Beste zu machen. Und wenn die Dinge seinen Weg in Form sinnlicher und kulinarischer Annehmlichkeiten kreuzten – worauf er selbst ja immerhin einen gewissen Einfluss hatte –, dann war ihm dies sowieso lieber. Bereits mit dem ersten Glas Chianti hatte er sein Unbehagen darüber, dass Ron die Verabredung offensichtlich vergessen hatte, ad acta gelegt.

Obschon sich der Himmel zugezogen hatte und das Grau der Wolken heftig mit Regen drohte, beschloss er nach dieser üppigen Mahlzeit zu Fuß nach Hause zu gehen. Magus lief gerne. Er genoss die Stille beim Gehen, denn da die meisten seiner Mitmenschen diese Leidenschaft nicht teilten, war ein Spaziergang oft eine Sache, die er ganz mit sich allein genoss; und angeregt durch die Bewegung der Füße kamen meist auch die Gedanken in seinem Kopf in Gang und am Ende fühlte er sich nicht nur körperlich wohlig erschöpft, sondern auch geistig angenehm aufgeräumt und befreit.

Bestimmt war seinem Cousin Ron etwas Wichtiges dazwischen gekommen. Magus hatte nicht das dringende Gefühl sofort erfahren zu müssen, was Rons Ausbleiben verursacht hatte. Wenn er wollte, dann konnte er sich später nach dem Grund dafür erkundigen und alles würde sich aufklären.

Dabei war Magus durchaus nicht oberflächlich oder gleichgültig. Im Gegenteil, nur hatte er als ein außergewöhnlich empfindsamer Mensch schon früh erfahren, dass offen zur Schau getragene Gefühle ein enormes Verletzungsrisiko bargen. Um Verwundungen vorzubeugen, machte er es sich daher zur Gewohnheit, alle seine Empfindungen nur äußerst sparsam zu zeigen. Die wirklich gefährlichen Gefühle aber, die, welche echten Schmerz und Kummer verursachen konnten, wenn sie in die falschen Hände gelangten, vergrub er in den hintersten und geheimsten Kammern seines Herzens, so tief, dass er sie dabei selbst fast vergaß.

So groß diese verborgenen Leidenschaften auch waren, die in seinem Inneren tobten, brausten, brodelten, kochten und gegen die klammen Gefängnismauern aus Unsicherheit und Vorsicht anrannten ohne jemals zu ermüden, so sehr spezialisierte sich Magus darauf, diese überschäumende Energie zu bändigen. Diese Energie war es, die seine unermüdliche Ausdauer und eiserne Disziplin nährte, durch die er sein Leben jeden Tag aufs Neue zu einem wahrhaft beeindruckenden Beispiel an Ausgewogenheit und Ausgeglichenheit, an Kultiviertheit und Bildung, an Lebensstil und beruflichem Erfolg werden ließ. Magus war ein Mensch, von dem man sagte, dass er es wirklich geschafft hatte. Er gehörte zu den Auserwählten, die ihre Berufung auch ihren Beruf nennen konnten und damit auch noch ein kleines Vermögen verdienten. Er galt durchweg als begehrt und beliebt. In großer Gesellschaft glänzte er durch seine Eloquenz. Kleinen Zusammenkünften verlieh er stets eine exklusive Note. Seine Erscheinung war exquisit, seine Umgangsformen waren angenehm, ebenso wie der gepflegte Klang seiner Stimme. In Kollegenkreisen bewunderte man neidlos seine Erfolge, die er sich allesamt durch harte Arbeit und mit gnadenlosem Drill an seinem Talent erworben hatte. Man schätzte ihn und als ein Mann gänzlich ohne Allüren war er auch bei seinen Angestellten beliebt.

Magus hatte einen enormen Bekanntenkreis. Professionell pflegte er seine zahlreichen Kontakte, erfüllte gewissenhaft alle täglichen Verabredungen, führte geschickt seine Verhandlungen, erschien immer pünktlich und gut vorbereitet zu seinen Meetings. Tagsüber war er ein Mann der vielen Gespräche. Abends kehrte er erleichtert heim, um die Ruhe und Erholung zu suchen, die er nur in der stillen Abgeschiedenheit seiner eigenen vier Wände fand. In diesen Stunden dämmerte ihm manchmal, dass er vielleicht der einsamste Mann der Welt war.

Der Regen war bereits sehr heftig geworden, als er den Haustürschlüssel aus seiner Jackentasche zog. Sehnsuchtsvoll dachte er an die belebende Gesellschaft eines warmen Tees, als ihn von der Seite eine leise Stimme aus seinen Gedanken rief.

„Lässt du mich mit rein?“ Der kleine Junge schien bereits seit einiger Zeit unter dem Vordach gewartet zu haben. Magus erkannte Florian, den etwa siebenjährigen Sohn seiner Nachbarin, einer jungen Frau, die in der kleinen Wohnung im Souterrain wohnte.

„Flo, ist denn deine Mutter nicht zu Hause? Hast du keinen Wohnungsschlüssel dabei?“, fragte Magus, während er das durchnässte Kind in den Hausflur schlüpfen ließ.

„Nö, vorhin zu Haus vergessen. Aber Mama kommt bald heim. Heute ist Samstag und da arbeitet sie nur bis vier.“

Magus warf erst einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, deren Zeiger auf kurz nach Drei standen, und dann zurück auf das nasse Kind.

„Komm mit rein. Ich geb dir was zum Abtrocknen und wir hängen deiner Mama einen Zettel an die Tür, damit sie weiß, dass du bei mir wartest. Ich mach uns inzwischen einen heißen Tee.“

„Mit Schokokeks?“, fragte Flo erwartungsvoll.

„Mit Schokokeks“, versprach Magus. „Mit allem, wie beim letzten Mal“. Er ging voran und Flo sprang behände hinterher. Unaufgefordert stellte der Junge seine lehmverschmierten Schuhe neben Magus’ Eingangstür, bevor er in die Wohnung hüpfte. Magus brachte ein großes Handtuch, half dem Jungen aus den nassen Kleidern und verpackte ihn in seinen viel zu großen Bademantel.

„Darf ich Bilder gucken, bis du so weit bist?“, fragte Flo artig und als Magus nickend in die Küche ging, um seinen Gastgeberpflichten nachzukommen, zog er auch schon mit gezieltem Griff einen riesigen Bildband über ausgestorbene Tiere aus dem Regal und machte es sich damit auf der Couch gemütlich.

„Die Saurier waren ganz doll gefährlich, nicht wahr?“, rief er Magus in die Küche hinterher.

„Ja, vor allem der Tyrannosaurus Rex, der größte Jäger, der je auf der Erde gelebt hat“, antwortete Magus und kam aus der Küche zurück. „Sag mal, hast du schon lange gewartet? Hast du überhaupt zu Mittag gegessen? Ich mache dir lieber erst mal ein Brot, damit du zuerst etwas Vernünftiges isst, bevor du die ganzen Kekse futterst.“

„Das sagt Mama auch immer“, stimmte Flo zu und blätterte ungerührt weiter.

Mit zärtlicher Fürsorge dachte Magus an Florians Mutter, Charlotte, seine Nachbarin. Die alleinerziehende junge Frau kam oft in letzter Minute nach Hause, um zu kochen, ihre Einkäufe zu erledigen oder Flo aus der Tagesstätte abzuholen. Und heute war offensichtlich mal wieder etwas schiefgelaufen. Magus war heilfroh, dass er Flo von seiner unbequemen Warterei hatte erlösen können. Das war doch nichts, so ein Kind alleine auf der Straße.

Der heranwachsende Flo rief immer häufiger Bilder seiner eigenen Kindheit in ihm wach. Was die hübsche Charlotte in ihm wachrief, das war mehr, als er in Worte fassen konnte. Und immer wenn er zu oft an sie dachte, dann war er peinlichst schnell bemüht, es vor allem vor sich selbst in den tiefsten Abgründen seines Herzens zu verbergen.

Charlotte war nicht die Frau, die sich für einen Mann wie ihn interessiert hätte. Ihre Freunde waren praktisch veranlagte Leute, Handwerker, Arbeiter, Techniker. Männer, die zupacken konnten und denen man das auch ansah. Leute, die ohne Umstände geradeaus dachten und sprachen und die stets wussten, was zu tun ist. Leute, für die Bildung etwas in barer Münze Messbares bedeutete und die