Das Gewissen der Tauben - Reinhold Bilgeri - E-Book

Das Gewissen der Tauben E-Book

Reinhold Bilgeri

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Beschreibung

Poetisch und politisch Eine Wiener Familie in den frühen 50er-Jahren: Die lebensfrohe Gerda rebelliert auf der Suche nach ihrer Bestimmung gegen ihre streng katholische Mutter, eine Religionslehrerin und Dollfuß-Anhängerin, die ihre vier Kinder alleine großzieht. Auf dem Weg in den Tanzkurs lernt die junge Frau den charmanten, aber undurchsichtigen Schweizer Piero Burkhardt kennen, der in einer Fluchthilfeorganisation des Roten Kreuzes beschäftigt ist. Aus anfänglicher Neugier und Verliebtheit wird Leidenschaft – und die unerfahrene Gerda in den ersten Liebesnächten schwanger. Doch zur kurzfristig angesetzten Hochzeit erscheint statt des Bräutigams die Polizei – mit einem Haftbefehl für Piero. Gerda macht sich auf die Suche nach ihrem verschwundenen Geliebten und stößt auf seinen Spuren in eine noch immer vom Zweiten Weltkrieg gezeichnete Welt vor, die sie und ihre Mutter nie für möglich gehalten hätten.

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Seitenzahl: 486

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Reinhold Bilgeri

Das Gewissen der Tauben

REINHOLD BILGERI

DAS GEWISSENDER TAUBEN

ROMAN

Gefördert von der Stadt Wien Kultur

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Trotz Namensgleichheiten bzw. Ähnlichkeiten sind die hier beschriebenen Charaktere Romanfiguren, also zu einem großen Teil fiktiv.

© 2024 by Amalthea Signum Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Anna Haerdtl und Barbara Reiter, Bureau A/O

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz, Erding

Gesetzt aus der Alegreya 10,9/13,66 pt

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-279-2

eISBN 978-3-903441-36-1

FÜR LAURA

Ain’t no one gonna find me

Inhalt

I.

II.

III.

IV.

V.

VI.

VII.

VIII.

IX.

X.

XI.

XII.

XIII.

XIV.

XV.

XVI.

XVII.

XVIII.

XIX.

XX.

XXI.

XXII.

XXIII.

XXIV.

XXV.

XXVI.

XXVII.

XXVIII.

XXIX.

EPILOG

Literatur:

I.

Als hätte der Tag geahnt, was kommen würde, begann er zögerlich.

Es war am Morgen des 25. Februar 1959. Ein Mittwoch. Noch keine Geräusche im Haus, bis auf das Knarzen der Eiche im Treppenaufgang. Die Art, wie Gerda die Stiege hinunterlief, ließ vermuten, dass Schlimmeres passiert sein musste. Das beschwingte Tadam Tadam fehlte.

Jede Stufe mit gleichförmiger Bedächtigkeit, das war nicht ihr Rhythmus; der saloppe Sprung über die letzten drei Tritte war ausgeblieben und auch die Schlussgrimasse in den Spiegel am Treppenaufgang. Ihre fast fahrlässige Sorglosigkeit schien beim Teufel.

Sie tastete sich im Halbdunkel durch Mamas verkrustete Frühstücksreste im abgestellten Geschirr, lutschte kalten Kaffee von den Fingern – Mama hatte es wieder eilig gehabt und war wohl sehr durch den Wind gewesen. Schmutziges Geschirr konnte dann lange liegen bleiben, wie das Herbstlaub draußen vor der Tür. Die kleine Grübel-Villa, umkränzt und versunken in dichtem Efeu, dämmerte inmitten vornehmer Häuser aus der Gründerzeit– aufgereiht an einer ehemaligen Schlossstraße in Wien-Döbling, die einst direkt zum Schloss Pötzleinsdorf geführt hatte und noch dessen Namen trug. Als wäre das Haus nach zwei Weltkriegen in ein trübes Nachdenken verfallen und hätte seine Bewohner damit angesteckt. Die Innenausstattung, ein Sammelsurium an ererbten Möbeln verschiedenster Epochen und Stile, die hinten und vorne nicht harmonierten. Das Loslassen fiel der Familie schwer. Die Gebäude und Gärten ringsum schwärmten vom Rückzug in biedermeierliche Idylle, die sich mit Gerdas Temperament und ihren Sehnsüchten nicht wirklich vertrug. Architekten, Diplomaten, Beamte, Bauunternehmer, Theaterdirektoren, Kriegsgewinnler, Profiteure der Nazizeit – etliche der Villenbesitzer waren enteignet und ermordet worden – und natürlich Privatiers, die sich’s nach dem Krieg wieder richten konnten, lebten hier ihre Leben, in stiller Ordnung. Lasst uns in Frieden, sagten die Häuser.

Kurz nach sechs. Übelkeit stieg ihr vom Magen hoch. Sie ließ den Wasserhahn laufen, führte den Strahl über Teller, Tasse und Besteck und trank schließlich aus der hohlen Hand zwei kräftige Schluck, um den Brechreiz zu vertreiben. Vergeblich. Nur Galle. Sie säuberte, was zu säubern war, ließ den Kopf auf die Brust sinken und beugte sich über den Abwasch. Die schlaflosen Nächte der letzten Tage begannen an ihrer Kraft zu zehren. Das morgendliche Erbrechen nicht weniger.

Vom französischen Fenster im oberen Stock floss erstes Tageslicht ins Untergeschoß und machte den Staub auf Kommode und Esstisch sichtbar. Trostlos sah das aus, passend zu ihrer Stimmung. Dabei galt sie in aller Augen als sorglose Frohnatur. Wenn sie lauthals loslachte, warf sie gleichzeitig den Kopf in den Nacken und klatschte ausgelassen in die Hände – angeborener Übermut, dem man zutraute, auch den Tod eines Tages auszulachen.

Von feierlichem Ernst aber heute keine Spur. Sie wollte nichts wissen vom Tag, sie sah einen Ausnahmezustand heraufziehen, der sich allmählich in allen Lebensbereichen breitmachen würde. Mama war schon auf dem Weg zur Schule – früher als gewohnt, schlaflos wie Gerda – bepackt mit ihren Sorgen und biblischen Geschichten – Sodom und Gomorra, Turmbau zu Babel, die Arche Noah samt Sintflut usw. Die wusste sie so fesselnd zu erzählen, dass sogar Kinder aus der Brigittenau ihre Ohren spitzen würden.

Die Kleinen zwängten sich dann eins nach dem andern aus den engen Sitzbänken, um sich nah bei Frau Lehrerin zu platzieren, die mit einer Backe ihres mächtigen Hinterns am Pult klebte und die wispernde Herde genoss, die sich um sie scharte. Andacht allerseits. Sie war beliebt. Alle mochten sie. Respekt und Wärme waren, wo sie war. In dieser Reihenfolge.

Gerda kannte all die Geschichten, war ja selbst Mamas Schülerin gewesen, vor vielen Jahren. Sie erinnerte sich an die erzieherischen Details des Unterrichts, ihre noble Strenge und ihre sturen Deutungen religiöser Gleichnisse. Wenn seitens der Kinder mal eine vorsichtige Frage zur Plausibilität des Erzählten auftauchte (… am siebten Tag der Schöpfung ruhte der Herr … Warum musste der ruhen, als Allmächtiger?), wurde sie mit der gewagten Logik beantwortet, die den Geschichten selbst zugrunde lag. Ohne die Krücke der Allegorie war sie unsicher, ja verletzlich. Hartnäckiges Nachfragen oder gar Widerrede waren nicht erwünscht. Ein Ärgernis, das sich aus Gerdas Leben nie wirklich verflüchtigen sollte.

Im Gegenteil. In den letzten Tagen war es zwischen den beiden zu lauten Streitereien gekommen und immer wieder hatte sich Gerda dazu hinreißen lassen, Worte nicht mehr zu wägen, sondern ihrer Wut freien Lauf zu lassen. Jetzt, ein paar Tage vor ihrem zwanzigsten Geburtstag, fühlte sie sich »Autoritäten« gegenüber, und Mama im Besonderen, weniger aufgeschlossen als früher. Neuerdings kreisten die Themen kaum noch um ihre unausgegorenen politischen Standpunkte oder Mamas katholisches Regelwerk als vielmehr um tadellose Lebensführung und das Ansehen der Familie, im Licht der Verwandtschaft, der Nachbarn, der Tugend und ja, vor Gott natürlich.

Gerda – und das war der Punkt – war schwanger. Ledig und schwanger. In der fünften Woche. Ihr Zustand unterlag, auf Mamas Rat, höchster Geheimhaltung. Im Umkleidezimmer im ersten Stock lag ein weißes Hochzeitskleid bereit, auf ihre schlanke Taille angepasst, mit bodenlangem Schleier übers Sofa drapiert. Unschuld. Makellos. Mutter wollte das so. Allabendlich, wenn ihre Hand über die Vorarlberger Spitze des Dekolletés strich und den Schleier glatt zupfte, gab sie sich der Illusion hin, ein hastig anberaumter Hochzeitstermin könnte den außerehelichen Fauxpas noch erfolgreich vernebeln. So bekam der Faktor Zeit täglich eine größere Bedeutung. »Wie konntest du mir das nur antun?«, ihre erste Reaktion aufs Gerdas Beichte. Aber dann: »Was soll’s, der Herr hat’s gegeben, hätt’s der Himmel nur verhüten mögen!«

»Ja, der Herr hat’s gegeben, genauso war’s!«, rotzte Gerda, sie hatte etwas Ähnliches erwartet, aber andererseits auf eine verzögert einsetzende Erinnerung an Mamas Muttergefühle gehofft, allein – kein Hauch von Vorfreude auf das Enkelkind, keine großmütterliche Sorge um ein heranwachsendes Leben, denn unehelich Entstandenes verletzte einen Kodex, der gnadenlos war: Todsünde. Außerdem können ledige Kinder nicht in den Himmel kommen, hieß es.

»Stell dir das Gerede vor, ich bin Religionslehrerin, Kind Gottes, eine Moralinstanz, die ihre eigene Tochter nicht im Griff hat!«

Mag sein, im ersten Schock war die Sorge um ihren untadeligen Ruf größer als die Freude auf Nachwuchs, und natürlich würden auch Empörung und Urteil des Pfarrers den Ton vorgeben für künftige Schuldsprüche. Aber Gerda schluckte den ersten Groll – Mama hatte zwei Weltkriege überlebt, vier Kinder großgezogen, zwei Buben, Roland und Raimund, zwei Mädchen, Agnes und Gerda, in lebensgefährlichen Zeiten – die letzten 14 Jahre ganz auf sich allein gestellt, ohne Papas starke Hand, selbstlos und verlässlich wie die Schwerkraft. Gleichwohl, oder gerade deshalb, empfand sie Mamas Reaktion als Kränkung, die noch nach Worten suchte. Sie trug immerhin ein Gottesgeschöpf unterm Herzen, das Besseres verdient hatte als diese eisige Reaktion.

In solchen Momenten, wenn alles über ihr zusammenschlug, hielt sich Gerda an ihren tröstlichen Notnagel: Wir werden eines Tages sowieso alle so gut wie nie gewesen sein. Half auch nicht immer. Sei’s drum – es galt nun, ein Geheimnis zu bändigen, das den Schatten lebenslanger Schmach über die Familie werfen könnte. So stand es zumindest in Mutters Augen geschrieben, und was dort geschrieben stand, war von testamentarischer Konsequenz. Das Geheimnis hatte selbst vor Gerdas Geschwistern lange standgehalten. Die Hochzeit sollte jedenfalls mit schlanker Taille über die Bühne gehen. Die Leute. Der Ruf. Die Schande.

Entscheidungen standen an. Die eine war schnell gefällt: »Das Kind ist meins, ich werde es behalten« – anderes wäre sowieso nie zur Debatte gestanden, zumal eine Abtreibung nicht nur den Tod ihres eigenen Fleisch und Bluts, sondern auch Mutters Vernichtung bedeutet hätte, selbst wenn die Geheimhaltung gelungen wäre. Von wegen Heimlichtuerei, ein lächerliches Theater im Hinblick auf das Offensichtliche: Gott sieht alles. Da war sich Mutter sicher. Die zweite Entscheidung stand für Gerda noch in den Sternen, für Mama aber bereits am schwarzen Brett des Pfarramts in Wien-Währing, Maynollogasse 3. Aufgerufenes Paar: Piero Burkhardt und Gerda Fässler, am Dienstag den 5. Mai, im Jahr des Herrn 1959. Ohne Gerdas Wissen angeschlagen. Übrigens, den Hochzeitstag gleich mit Gerdas Geburtstag zusammenzulegen, war auch Mutters Idee gewesen – aus budgetären Gründen.

Das Haus in der Pötzleinsdorfer Straße war ja ein Erbstück der Großmutter mütterlicherseits, Lintschi Maastrich, die alleine den ersten Stock bewohnte. Sie stammte aus Böhmen, hatte einen Klimatologen und späteren Wiener Universitätsdozenten geheiratet und mit ihm die kleine Villa in der Pötzleinsdorfer Straße erstanden. Er war zeitlebens ein sehr kränklicher Mann gewesen und schon im vierzigsten Lebensjahr einer Tuberkulose erlegen, also beschränkten sich die finanziellen Mittel der Familie künftig auf ein dürftiges Lehrergehalt und die Mieteinnahmen, die sie von einem ungarischen Ehepaar lukrieren konnte, Flüchtlingen aus dem Ungarnaufstand 1956, die man in der Dachmansarde, die über eine Außenstiege erreichbar war, einquartiert hatte. Mama hatte also alle Hände voll zu tun, ihre vier Kinder durchzubringen. Auch Gerdas Papa fehlte. Seine Kraft und seine trockene Autorität versuchte sie durch besondere Strenge wettzumachen, nicht immer mit Erfolg, weil es zu Ungerechtigkeiten führte. Eine Frauenstimme hatte für die Kleinen einfach weniger Nachhall als ein Männerorgan. Die Dinge wuchsen ihr über den Kopf und oft genug war sie der Verzweiflung nahe. So empfand es Gerda, wenn sie Mama beobachtete, wie sie hoffnungsvoll zwei mit Klosterfrau Melissengeist durchtränkte Würfelzucker in den Mund schob und bei geschlossenen Augen, wie eine Hostie, zergehen ließ, ein stummes Stoßgebet auf den Lippen. Ruhe bitte und Frieden. Auch für den Papa selig. Manchmal reichte sie den Geist der Melisse an Gerda weiter, mit einem aufmunternden Nicken, so wie man in Mangelzeiten einen Zigarettenstummel die Runde machen lässt. Herzenstrost. Aber es war nicht nur die Endgültigkeit von Papas Abwesenheit, die einem die Luft nehmen konnte, sein noch immer nicht geklärter Tod in einem britischen Kriegsgefangenenlager, sondern auch Mamas Weigerung, endlich ans Licht zu rücken, was vor über elf Jahren in Ägypten geschehen war.

Gerda hatte sich schon vor langer Zeit über Mamas abweisenden Schmerz gewundert, den sie von Anfang an nicht als Sehnsucht nach einem »Vermissten«, der eines Tages wiederauftauchen und heimkommen würde, sondern als Trauer ausgelegt hatte. Zu lange hatte Mama ihr Wissen um seinen Tod mit abstrusen Lügen verheimlicht.

»Wir haben jetzt anderes zu tun, als uns um Warums oder Wies zu kümmern. Er ist tot. Fertig.« Es müsse wieder vorangehen mit dem ohnmächtigen Österreich und all das. Überforderung – die Krankheit der Zeit. Dabei war ihre materielle Situation nicht hoffnungslos. Dem Mangel an Barmitteln stand nämlich als kleiner Rettungsanker eine Immobilie in Vorarlberg gegenüber, ein geschindeltes Häuschen in Hohenems, das Papa schon vor Jahren von seiner Schweizer Mutter als Schenkung erhalten hatte. Ein von allen geliebtes Nest. Vor allem die Kinder hatten das Haus zum Kleinod verklärt, trotz der kümmerlichen Einrichtung und bescheidenen Infrastruktur. Für sie war’s ein »Knusperhaus«, in dem sie öfters ihre Sommerferien und manchmal die Weihnachtstage verbringen durften, meist ohne Papa, denn der war ja im Krieg. Als dann die Russen im April 45 in Wien auftauchten, zur »Endschlacht«, und sich am Ende vielleicht für immer festsetzen würden, war das kleine Haus im Westen sogar als Fluchtpunkt angedacht, im Fall der Fälle. Als dann der Krieg zu Ende war, bestätigte sich Hohenems tatsächlich als die angenehmere Besatzungszone, hinterließen doch die französischen Soldaten einen geradezu freundlichen Eindruck im Gegensatz zu den Russen in Wien, die nicht alle so nett waren, sondern öfters Stiefel voraus in die Häuser drangen, um Wodka, Frauen oder anderes zu holen. Unter denen waren auch klobige Mongolen, wie Mama sie nannte, die ihr Angst machten. Da hielten die Franzosen in Hohenems buchstäblich mit farbigem Charme dagegen. Nicht alle, aber einige. Im 55er-Jahr war’s, da hatten sich Gerda und Agnes, beide schon hübsche Teenager, in einen dunkelhäutigen marokkanischen Offizier verschaut, Bastien Nafissa hieß er. Ein Colonel. Er hatte ihnen, in vornehmer Zurückhaltung, die ersten Französischvokabeln beigebracht und kreuzte, nachdem er erfahren hatte, dass Papa ein Deserteur war, alle paar Tage mit einem halben Kilo Salz oder Zucker auf, abgefüllt in seinem Stahlhelm, um ihn der Mama feierlich zu kredenzen. Fraternisierung. Kurz vor dem Abrücken hatte er, als Abschiedsgeschenk, einen Weihnachtsstern in seinem Helm eingetopft. Eine Friedensgeste, die nicht nur die Mama rührte, sondern vor allem in Agnes’ Kopf einen schwärmerischen Hang zu exotischen Franzosen auslöste, was sich erst später verfestigen sollte – egal ob braun oder schwarz, ob aus Marokko oder Guadeloupe, sie hatte ein Bild vom Franzosen-Mann gefunden, den sie ins Herz schließen wollte. Versöhnung war allseits angesagt damals – ein gutes Jahr, auch ganz oben – und sie wurde im selben Jahr mit dem Staatsvertrag besiegelt.

Gerda lehnte noch immer über dem Abwasch und wartete, bis die Übelkeit sich legte.

Es wurde heller, ein Streifen Sonnenlicht traf den Spülhahn und zeigte deutlich, dass hier Arbeit anstand. Sie begann das Geschirr zu waschen, besonders gründlich und mit einem neuerdings flüssigen Spülmittel, Lux. Licht. Mal sehen. Die Konzentration auf diese Verrichtung brachte sie in die Spur zurück. Sie war trotz der finanziellen Engpässe, die sie selbst gar nicht als solche empfand, nicht unzufrieden mit ihrer Lage, hatte die Lehrerbildungsanstalt mit gutem Erfolg abgeschlossen, träumte von einem Leben, in dem Bücher einmal ihre wichtigsten Gefährten sein sollten, und sah sich imstande, alle Weichen selbst zu stellen, auf eigene Faust, wäre nicht diese verstörende Geschichte passiert, die nun ihr Leben und das aller anderen auf den Kopf stellte.

Dabei standen die Dinge, insbesondere die Verwicklungen in ihrer Familie, wie sich herausstellte, auf merkwürdigste Weise in Verbindung. Was die Quantenphysik längst wusste und was Gerda, wie die meisten, nicht verstehen konnte (ihr Physiklehrer hatte selbst seine liebe Not damit), dass nämlich tatsächlich alles irgendwie in Verbindung stehe (was selbst Einstein »spukhaft« erschienen war), diese verschworene Verschränkung aller Teilchen über Raum und Zeit, das wirkte plötzlich auch in allem, was sich gerade in ihrem kleinen Leben abspielte, nicht nur als Metapher, plausibel. Das Gewirr zu entflechten, erforderte nicht nur gute Nerven und Menschenkenntnis, sondern auch detektivischen Spürsinn, denn das »Mysteriöse« bündelte sich in einer einzigen Person, deren Herkunft und Gegenwart sich nur lückenhaft klären ließen – ihrem Bräutigam: Piero Burkhardt.

II.

Seine Spur führt zurück in den Herbst des Vorjahres. Am 24. November 1958 hatte ein hartnäckiger Eisregen die Margaretenstraße in ein gefährliches Pflaster verwandelt. Ein Eisfilm auf dem Asphalt reflektierte die armselige Leuchtreklame eines Etablissements, die zum »Ersten Südamerikanischen Tanzkurs« nach dem Krieg einlud, von Samba bis Cha-Cha-Cha. Wiens 5. Bezirk hatte sich schon recht gut erholt, die Bombentreffer im Herbst 44 hatten hier geringere Spuren hinterlassen als in Floridsdorf, in Simmering oder sonst wo im verletzten Wien. Das Leben hatte längst wieder Einzug gehalten, zerbombte Häuser waren abgetragen, neue hochgezogen worden, der öffentliche und der normale Verkehr geizten nicht mit neuen Erfindungen und Automarken, das Wirtschaftswunder kam in die Gänge – statt politischem Gebrüll bahnten sich bescheidene Sehnsüchte den Weg, leichte Musik von Strauss bis Kálmán – »Tanzen möcht ich, jauchzen möcht ich«, und lateinamerikanische Sinnlichkeit lockte die Hungrigen aus der Reserve.

Gerda ging bester Dinge auf den Eingang zu, tat sich aber schwer, sich am eisglatten Asphalt aufrecht zu halten. Mit weit ausgestreckten Armen versuchte sie, ihr Gleichgewicht zu halten, vergeblich, sie drehte unfreiwillige Pirouetten auf dem Eis, glitt mit fuchtelnden Armen, nach hinten gebeugt, Richtung Gehsteigkante und schon flogen beide Beine himmelwärts. Sie wäre wohl mit dem Hinterkopf aufgeschlagen, wäre nicht, welch diskreter Zufall, ein kräftiger Männerarm dazwischengefahren:

»Sie verzeihen, Signorina, den Griff habe ich gelernt.«

»Oooh … mein Lebensfilm lief grade vor mir ab!«, rief sie. Alles ging so schnell. Er zog sie geschickt mit einem ausladenden Schritt auf den Bürgersteig. Ein hochgeschossener Bursche, dunkles Haar, spitzes Kinn, eine scharf gewinkelte Kieferpartie wie aus einem Egger-Lienz-Bild, ein forscher Typ um die dreißig, der so sprach, wie er aussah – mit italienischem Akzent.

»Italiener?«

»Schweizer, Ticino, aber Schwyzerdütsch geht auch.«

»Ah – Tourist.«

»Nein, nein, im Moment sind wir Wiener, Mama gebürtig, ich assimiliert.«

»So viel wollte ich gar nicht wissen«, sagte sie, verwundert über sein Mitteilungsbedürfnis. »Aber danke, Sie haben mich gerettet.«

»Con piacere.«

Sie wollte sich wieder zum Gehen wenden, hielt dann aber doch inne – wäre ja undankbar und unhöflich dazu, sich einfach aus dem Staub zu machen. Also blieb sie stehen und musterte ihn mit einem aufgesetzten Lächeln.

Er war nicht attraktiv im landläufigen Sinn, aber doch ein stattliches Mannsbild.

Koteletten, rauchblaue Augen, krause Brauen, die sich bewegen konnten wie Tausendfüßler.

Das Leninkinn verlieh ihm einen rabiaten Grundton, um seine Stirn eine Witterung von Resolutheit. Gerda schwankte zwischen Dankbarkeit und Verblüffung. Und es schien, als beruhte das Wohlwollen auf Gegenseitigkeit. Der Kavalier erbat sich jedenfalls für die Lebensrettung einen kleinen Dankesdrink, und versprach ihr, gleich nebenan in der »Cine Bar« geduldig zu warten, denn Tanzen sei nicht sein Ding. Gerdas Neugier vertrug sich irgendwie mit seinem frechen Charme. Aber dieses Tempo war sie nicht gewohnt. Seine Unverfrorenheit schien echt zu sein, er war kein Schauspieler. Oder doch? Er küsste ihre Hand, bacio la mano, und weg war er. »Ich bin Piero, ich kann warten«, rief er nach ein paar Metern, ohne sich umzudrehen, hob dabei seine rechte Hand und ließ vier Finger winken.

Die hungrigen Tänzer in diesem Kurs waren in der Mehrzahl, Frauen mittleren Alters und eine Gruppe jüngerer Mädchen, alle geschminkt und aufgemascherlt, eine attraktive Garde, in einer strengen Parfumwolke. Ein Tanzlehrerpaar und ein Taxitänzer waren vom Haus gestellt. Vier, fünf verunsicherte Herren, darunter auch Kriegsversehrte, hatten es vorgezogen, dem Treiben lieber zuzusehen als mitzumachen. Sie hockten am Rand der Tanzfläche auf dem Parkett, zwei Einbeinige lehnten, auf ihre Krücken gestützt, an der Eingangstür. An den Kragenspiegeln der Sakkos, wo einst Rangabzeichen prangten, waren notdürftig gestopfte Löcher zu erkennen. Armselig sahen sie aus, ausrangiert. Ihr Anblick machte Gerda verlegen. Ob auch der Papa so ausgesehen hat, am Ende?

Die Räumlichkeit war offensichtlich ein herausgeputzter Sportsaal und zu anderen Tageszeiten von Geräteturnern benutzt worden, denn es hingen zwei Ringe von der Decke, an der Rückwand standen Sprungpferde, ein Reck und ein Barren unter Tüchern verstaut, an den Wänden hingen noch Girlanden aus Tannengrün und geplatzte Luftballons, wohl Reste einer Ballnacht.

Aber sobald die Musik einsetzte, bekam der kuriose Ort einen Hauch von Würde und Feierlichkeit und so vertiefte sie sich, noch aufgewühlt von der merkwürdigen Begegnung im Eisregen, mit unterschiedlichen Partnerinnen ins Regelwerk von Samba, Rumba und Cha-Cha-Cha. Frau an Frau. Und ehe sie sich’s versah, war sie Teil eines Ereignisses, das sich anfühlte wie ein kleiner Wettersturz, der eine vom Schicksal zusammengewürfelte Frauentruppe heimsucht und augenblicks eine solidarische Wohligkeit entfacht – das wird ein Spaß, Mädels! Man raufte sich zusammen. Fremde Schenkel zwischen die eigenen geklemmt, nachgiebige Brüste, große, kleine, straffe, weiche; Hände an schlanken Taillen, an schwitzenden Speckröllchen, Paso Doble, viel Schminke und viel Gelächter in der Luft. Buenos Aires. Sie hatte noch nie, außer mit gleichaltrigen Mädchen in der Kindheit, mit Frauen getanzt, nicht in dieser Art und fand sich auf dem falschen Fuß, was ihren Gemütszustand zusätzlich verunsicherte, als wäre ihre sinnliche Ausrichtung noch nicht ganz justiert, jetzt mit bald zwanzig. Berührungen und Umarmungen, die die Choreografie verlangte, hatten in ihrem Bauch etwas in Gang gesetzt, das sie nicht wirklich verstand, aber trotzdem genoss. Ja, auch Lust, aber anders als das, was sie bei Männern gespürt hatte, in ähnlichen Situationen. Sie fühlte sich behütet und beschützt, ohne Absichten und Kalkül. Mancher Blick war ernst und verunsichert. Ein bisschen Verwirrung allerseits, aber in den Zärtlichkeiten lag etwas Verlässliches, kein Schabernack.

Als hätte man sich kurz gefunden, verboten zwar, und ein bisschen schamlos, ohne sich preiszugeben. Eine kleine Irritation der Kompassnadel, mit der sie nicht gerechnet hatte.

Auch das noch – schlechtes Gewissen. Es war nicht leicht, sich den Rhythmen sorglos hinzugeben, zumal ihr auch noch dieser Kerl durchs Hirn spukte.

Wie soll ich das alles IHR erzählen? Hab mich verrannt, liebe Mama, weiß der Kuckuck …

Nach einer Stunde hatte sie entschieden, genug, es reicht, sie war verschwitzt, erschöpft und aus der Spur, musste sich mit einem Seifenrest vor dem zersprungenen Spiegel einer Toilette zurechtmachen für eine Begegnung, die sie einerseits reizte und ihr, andererseits, im Magen lag. Was sie zwischen den Sprüngen und tauben Flecken des Spiegels sah, hielt sie aufrecht. Ihr langes braunes Haar trug sie hochgesteckt, wellige Strähnchen, um die hohe Stirn drapiert, die schmale Nase, nicht ganz im Lot, würzte die Symmetrie ihres blassen Gesichts. Chanel-Rot auf die Lippen und ein Kussmund in den Spiegel.

*

Piero Wer?

Eine ältere Empfangsdame am Eingang wies sie in eine verwegen designte Café-Bar. An der linken Wand Filmplakate aller großen Hollywoodklassiker, von »All about Eve« bis »Citizen Kane«, darunter über die ganze Länge eine rote Sitzbank, davor aufgereiht runde Tischchen und Thonetstühle mit farbigen Sitzpölsterchen, Art-déco-Lämpchen an der Wand, die für Schummerlicht sorgten. Am hintersten Ende eine Spiegelwand mit Getränkeregalen, darüber wölbte sich eine Tapete mit Motiven exotischer Flora und Fauna, tropische Pflanzen, fliegende Fische, Paradiesvögel mit aufgefächertem Federschmuck und all das gerahmt von einer halbkreisförmigen Theke. Hier sprang sie Gerda ins Auge: die Moderne. Seht her, ich bin’s – die neue Zeit!

ER saß ganz hinten. An einem der runden Tischchen, lässig ins Eck gepflanzt und machte keinen Muckser, als er sie hereinkommen sah. Für einen Moment fühlte sie sich fast beleidigt, hätte sich zumindest jene kleine Geste der Höflichkeit erwartet, wenn sich der Körper kurz seiner Haltung besinnt, um jemandem Respekt zu erweisen. Aber nichts. Ach ja, eine Braue zog er hoch, den Tausendfüßler.

Als er kurz seinen Arm hob, um nach der Kellnerin zu schnippen, schwappte ihr sein Duft in die Nase. Old Spice …? Jedenfalls frisch aufgetragen, was ihre verdrießliche Sekunde milderte und im Gegenteil einer gewissen Verheißung wich. Warum sollte er sich auch Duftwasser ins Gesicht klatschen, wenn er kein Interesse hätte.

Sie waren schnell wieder im Gespräch oder besser, sie stellte Fragen, die ihm Zeit gaben, sich zu erklären und ihr die Zeit, ihn zu studieren. Jetzt erst bemerkte sie eine Narbe, die sich von seinem linken Nasenflügel bis zum Ohransatz zog.

»Ein Schmiss?«, fragte sie geradeheraus. Es sah tatsächlich aus wie das Ergebnis einer ausgepaukten Mensur. »Schlagende Verbindung?«

»Oh nein, ich habe zwar eine Zeit lang Jura studiert in … äh, Zürich und wieder abgebrochen, war aber nie Mitglied in einer dieser … come si dice: Männergesellschaften. Nein, nein, nichts Schlagendes.« Das hier, er deutete auf seine Narbe, habe er sich in Taiwan geholt und es hat auch ohne Salz gehalten.

»Mein Vater war dort kurze Zeit in einem Bankhaus beschäftigt und ich vertrieb mir die Zeit mit asiatischen Kampfsportarten.«

»Ah …« Sie gab sich wenig beeindruckt.

»Ich sagte ja, den Griff hab ich gelernt.« Pause.

»Und das Jurastudium haben Sie abgebrochen. Das konnten Sie sich leisten?«

»Ich muss gestehen, das Schicksal hat’s gut mit mir gemeint. Meine Mutter stammt aus einer alten Bankiersfamilie, in die mein Vater vor dreißig Jahren eingeheiratet hat. Damals bin ich entstanden. Hat nicht allzu lange gehalten … die Ehe meiner Eltern, meine ich.« Er zündete sich eine Zigarillo an, hüstelte vor sich hin und wurde richtig redselig.

»Mein Vater ist jetzt im diplomatischen Dienst in Bern, viel Beamtenkram, er hat mich eingeschult, ich werde wohl auch dort Fuß fassen. Das mache ich jetzt seit ein paar Jahren.«

»Das heißt, Ihre Eltern sind geschieden?« Er nickte und zerdrückte seine Zigarillo wieder im Aschenbecher.

»Piero Burkhardt mein Name.«

»Gerda Fässler.« Noch ein Handkuss.

»Jetzt pendle ich zwischen den beiden. Im Moment ist Mutter dran.«

»Sie pendeln also zwischen Wien und Bern?« Er nickte.

»Mutter und Vater.«

Wieder nestelte er in seinem Sakko, Flanell aus feinstem Tuch, um diesmal ein goldenes Zigarettenetui herauszufischen. Er schien irgendwie nervös und verlor seine anfängliche Gelassenheit. Welches Thema genau ihn aus der Bahn zu werfen schien, war ihr nicht ganz klar. Wohl der Krieg der Eltern, aber da war noch etwas anderes. Er musterte sie genau, berührte sie nicht, aber es fühlte sich so an. Offensichtlich hat er keine Freundin, dachte sie, oder wenigstens nichts Aktuelles am Laufen, wie man so sagt, sonst gäbe es keinen Grund, eine Stunde lang auf ein wildfremdes Mädchen zu warten. Wenn wenige Augenkontakte schon genügten, Interesse in ihm auszulösen, und sie, als wohlerzogene, anständige Frau, ohne Zögern einwilligte auf ein Treffen, dann muss es einen Grund geben, gestand sie sich ein – welchen auch immer. Sie nippte an ihrem Pfefferminztee, wunderte sich über die vergangenen neunzig Minuten und die wallenden Ereignisse, die ihr Herz und Hirn verdreht hatten. Eine Unsicherheit stieg hoch in ihr und weckte eine Traurigkeit, die ihr eigentlich fremd war. Wohin geht’s mit mir? Noch schaffte sie’s nicht, die Befürchtung hinunterzuschlucken, sie könnte nicht ganz normal sein. Eine Sünderin sowieso. Mit wem sollte sie darüber sprechen? Mama wäre die letzte, die ihre Sorgen verstünde.

»Und Ihre Eltern haben den Kontakt untereinander abgebrochen?«, fragte sie abwesend.

»Ja, wie gesagt, das klappte nicht mehr.« Er zündete sich eine Parisienne an und blies den ersten Zug taktvoll auf seine Wildlederschuhe. Mit seiner Linken fuhr er durch die Stirnsträhne, die nun das ganze linke Auge bedeckte.

»Kennen Sie Elvis?« fragte er. Ach ja, die Koteletten.

»Ach, äh … dieser …«

»Ja, dieser Amerikaner, der sich die Hüften verrenkt – It’s alright, Mama.«

»Ich mag Harry Belafonte«, sagte sie und dachte was ganz anderes.

Er spürte, dass sie noch nicht bereit war, Privates preiszugeben und holte nun weiter aus, ließ anklingen, dass es durchaus Ideale gebe in seinem Leben. Die Nachkriegsjahre hätten ihn geprägt und all die Gespenster, die seit Kriegsende durch den Kontinent irrten, die Heimat- und Obdachlosen, die Vertriebenen, die Um- und Aussiedler, die Pässe und Identitäten verloren hatten auf der Suche nach der Brücke in ein anderes Leben. Seine Worte.

»Was genau sind das für Leute, ehemalige Soldaten? Zivile? Kriegsflüchtlinge? Zigeuner gibt’s ja fast keine mehr, geschweige denn Juden.«

»Alles Mögliche ist dabei: Heimatlose, auch Juden natürlich, alle Sorten von Gestrandeten.«

»Und was genau ist Ihre Tätigkeit?«

»Das Rote Kreuz hilft diesen armen Leuten, Papiere zu beschaffen, das Ausreisen zu ermöglichen, Gelder und Adressen aufzutreiben für Bedürftige, solche Dinge. Die Hilfsorganisationen meines Vaters sind eng verflochten mit Botschaften außerhalb Europas, deshalb auch stets überlaufen mit Bittstellern aus aller Herren Länder.«

Ja, und zugegeben sei es teilweise auch ein gutes Geschäft, fügte er noch an, achselzuckend, weil Letzteres ja den sozialen Anstrich der Sache schmälerte. Er wolle immer wieder mal hinaus in die Welt und nicht in einer Kanzlei versauern, sagte er, dazu sei er noch zu jung. Gerdas interessierter Blick schien seinen Erzähldrang zu befeuern. Sein Bericht kreiste um Lebensmodelle, um Empathie, worin er den wahren Sinn sehe usw. Er war wirklich bemüht, den Eindruck zu erwecken, soziales Engagement sei sein eigentlicher Lebenszweck. Warum erzählte er das alles? Durch all die Beteuerungen, ein ordentlicher Mensch sein zu wollen, schimmerte nämlich auch die Abgebrühtheit eines weltgewandten Gentlemans, der sich jeder Umgebung anzupassen wusste, wie ein Chamäleon. Der Mama jedenfalls wäre er mit diesem Vortrag im Handumdrehen auf den Schoß gesprungen und sie hätte ihn wohl gebeten, ihrer Tochter doch bitte den Weg zurück zur Kirche zu weisen, denn die Entfremdung ihres Kindes vom Mutterschiff sei die größte Sorge ihres Lebens.

»Und Sie? Sie sind so schweigsam?«, stellte er fest.

»Ich höre Ihnen gerne zu und habe nun ein erstes Bild.«

»Eine Skizze«, schmunzelte er. »Ich kenne nur Ihren Namen, ist auch schon was.«

»Mit Ihrer Weltläufigkeit kann ich leider nicht mithalten«, sagte sie kokett.

»Sie lassen mich auflaufen. Ist das ein Spiel?«

Um den Mundwinkel ein Grinser, der wie eine gewinnende Geste wirkte, auf den zweiten Blick. Der seltsame Rhythmus zwischen seriös und schurkisch war tatsächlich gewöhnungsbedürftig. In allem, was er bislang sagte und tat, seine Bewegungen eingeschlossen, lag eine gewisse Geschmeidigkeit, fast Erlesenheit, und gleichzeitig wurde Gerda das Gefühl nicht los, dass er ein gerissener Schlawiner sein könnte.

»Gewisse Schnittmengen gibt es ja in unserm Leben«, sagte sie mit einem freundlichen Lächeln.

»Und die wären?«

»Mein Vater ist auch gebürtiger Schweizer, aber am Tag nach seiner Geburt hat’s ihn schon nach Österreich verschlagen, aufgewachsen ist er im Bregenzerwald.«

»Dann verstünden Sie sogar meinen Dialekt?«, wobei er das »k« schon mit dem schweizerischen »ch« verbrämte. Das brachte sie zum Lachen.

»Oh ja. Ich denke schon. Wir haben schon viele Sommer in Vorarlberg verbracht.«

»Alemannen sind nicht jedermanns Sache.«

»Ich kann ganz gut mit ihnen«, sagte sie, fast schon ein Schäkern war das.

Er wurde wieder ernst und schien sich jetzt wohlerzufühlen.

»Und Ihre Eltern? Ich meine beruflich?«

»Eine Lehrerfamilie, wie man so sagt – fast alle, liegt bei uns in der DNA: Vater, Mutter, meine Schwester, ich habe die Ausbildung gerade abgeschlossen.«

»Was unterrichtet Ihr Vater?«

»Französisch, Geschichte und Bildnerische Erziehung hat er unterrichtet.«

»Hat?«

»Ja, er ist tot.«

»Krieg?«

»Gefangenschaft.«

»Oh … das tut mir leid. Das ist besonders traurig, den Krieg überlebt und dann …«

»Ja, das ist traurig. Er fehlt uns sehr.« Noch während sie den Satz sagte, sank wieder der Kropf in die Kehle. Er spürte ihre Verlegenheit und wechselte in weniger verfängliche Themen, indem er Sitzstellung und Tonfall änderte und den Italiener parlieren ließ. Es war weniger der Schliff eines Diplomaten als die Gewandtheit eines Spitzbuben. Sie ließ sich gerne ablenken und fand sich in Geschichten wieder, die haarsträubend, abstrus und zum Totlachen waren, dabei wunderte sie sich weniger über die merkwürdigen Inhalte als über die Art des Vortrags. Kasperltheater wäre übertrieben, aber er war imstande, mit Worten und Gesten zu jonglieren, was Gerda im Laufe des Abends in eine behagliche Stimmung versetzte, ähnlich der Gänsehaut, die ihr als Kind aufgestiegen war, wenn Papa ihr aus seinen Büchern vorgelesen hatte. Minutenlang saß sie stumm wie ein Stein, versuchte einerseits den Merkwürdigkeiten zu folgen, um passende Antworten parat zu haben und gleichzeitig in ihrer inneren Kammer auszuloten, was gerade mit ihr geschah.

Seine Antennen hatte er weit ausgefahren, der Herr Piero, war also nicht nur auf seine Erzählung bedacht, sondern auch wach genug, in Gerdas Haltung und Gesicht zu lesen.

»Verzeihen Sie, ich habe zu viel geredet, aber …«

»Nein, nein, schon gut. Sie müssen verzeihen – das war weniger ein Gespräch als ein Interview und das ist meine Schuld, ich stelle Ihnen indiskrete Fragen … und Sie reden sich freundlicherweise den Mund fusselig.«

»Ich wollte nicht … ermüdend wirken«, und dann ganz entschlossen: »Erlauben Sie mir, für Sie ein Taxi zu rufen?«

Er drückte die letzte Zigarette im Irish Coffee aus, denn er wähnte sich kurz unbeobachtet (dabei gab’s Spiegel hier), was Gerda kurz aus dem Konzept brachte, eine Sekunde, die sich nicht mit seinem moralischen Eifer vertrug.

Die Luft draußen war immer noch kalt und feucht, Bürgersteig und Straße nach wie vor ein Eislaufplatz. Er bot ihr den Arm und sie klemmte sich zu ihm unter den Schirm, um sich vor den einfallenden Schauern zu schützen.

Er half ihr galant in den Wagen, bezahlte üppig im Voraus und bekam noch die Adresse mit, die Gerda dem Fahrer in den Rücken rief: Pötzleinsdorfer Straße 43.

*

Als sie aus dem Taxi stieg, hatte sich der Regen wieder gelegt, nur der Wind schlug noch um sich. Im Haus brannte Licht, die Vorhänge nicht vorgezogen, freie Sicht. Gerda kannte dieses Zeichen, es sollte der Nachteule vermitteln, dass hier jemand sorgenvoll wartete. Seit Stunden. Vergeblich. Mama sah sich noch immer als verantwortliche Instanz der erhellenden Jahre ihrer Kinder (ihre Worte), vor allem der Mädchen, zumal sich Gerda längst als Abtrünnige erwiesen hatte. Die beginnende Abkehr ihrer Tochter von der Kirche und damit vom »christlichsozialen Fundament«, dem sie ihr ganzes Leben gewidmet hatte, empfand sie als Respektlosigkeit gegenüber ihren Bemühungen, rechtschaffene Menschen und Staatsbürger aus ihren Kindern machen zu wollen. Man war sich oft genug in den Haaren gelegen in dieser Sache. »Frontgespräche« nannte sie das. Gerda hartnäckig verzweifelt um Vernunft bemüht, statt blinden Glaubens. Wer ist denn ein ordentlicher Staatsbürger? Nur Katholiken? Protestanten? Oder auch die Zweifler? Gerda hatte sich immerhin schon eine kleine Bibliothek zugelegt, war schließlich Aushilfskraft in einer Buchhandlung an der Fischerstiege im 1. Bezirk und hatte sich bereits an einschlägigen Philosophen versucht wie Kierkegaard, Sartre oder Nietzsches »Gott ist tot« in »Also sprach Zarathustra«, um endlich zünftige Argumente gegen Mama in der Hand zu haben. Die beiden kamen ohnedies nie auf einen grünen Zweig, denn Gerda nahm seit längerer Zeit kein Blatt mehr vor den Mund, sie hielt, und das sagte sie frei heraus, die Verdrehungen der Frohbotschaft für so alt wie die Botschaft selbst. Sie habe größtes Misstrauen gegenüber dem kirchlichen Bodenpersonal, da seien unbedarfte Fälscher am Werk gewesen, vor 2000 Jahren, mit dem kargen Wissen ihrer Zeit, fromme Fälscher natürlich, was Mutter als persönlichen Affront empfand und deshalb in Hinkunft ein größeres Augenmerk auf Gerdas Umgang legen wollte, um etwaige Querschüsse von der falschen Seite rechtzeitig auszuschalten. Woher kamen nur diese Einsager, wer waren die Verführer, die ihrer fehlgeleiteten Tochter den falschen Weg wiesen?

Als Gerda aufs Haus zuging, aufgewühlt und müde, den Schatten ihrer Mutter im Blick, überkam sie doch ein Schauer schlechten Gewissens und sie verwarf die zornigen Sätze, die ihr schon auf der Zunge lagen. Von wegen, ich bin kein Kind mehr usw. Trotz aller Gegensätze in ihren Weltsichten war sie sich der Liebe zu ihr genauso sicher wie ihres Standpunkts in den strittigen Fragen und nahm sich deshalb einen versöhnlichen Ton vor. Sie ging auf Zehenspitzen, um Agnes, die im ersten Stock schlief, nicht zu wecken. Raimund war längst ins Internat abkommandiert und Roland zu der Zeit bereits im Studentenheim in der Pfeilgasse untergebracht. Das einzige Geräusch von oben, ein dumpfes, unrhythmisches Klopfen, rührte vom Gehstock, der Großmas Nachtwandern stützte, wenn sie keinen Schlaf finden konnte. Gerda öffnete die Salontür einen Spalt.

Mutter saß eingeknickt im Morgenmantel mit blutleerem Gesicht am Tisch und strickte an einem Schal, einem langen Schal. Sie drehte sich nicht um, hatte die Maschen im Fokus, obwohl das auch blind ging. Das satte Rums der Taxitüre muss sie gehört haben, war also vorbereitet.

»DU leistest dir ein Taxi?«

Gerda verharrte eine Weile hinter ihr und beendete schließlich die Stille mit einem resignierenden Seufzer.

»Wieso hast du so wenig Vertrauen zu mir, Mama? Könntest schon stundenlang schlafen.«

»Wie soll ich denn ruhig schlafen? Wie soll ich dir vertrauen, Mädel, wenn mir keiner sagt, mit wem du umgehst?« Ohne sie anzublicken kam das, in die Strickerei hinein.

»Ich hab doch gesagt, ich bin in einem Tanzkurs, ganz harmlos, Paso doble, Rumb – mein Gott!«

»Bin ich auf der Brennsuppe daherg’schwommen?« Jetzt nahm sie ihre Tochter ins Visier:

»Es ist zwei Uhr früh, Fräulein, kein Tanzkurs dauert bis zwei Uhr früh!!«

»Ich ging halt noch auf einen … kleinen Drink.«

»Was sind denn das für Ausdrücke – Drink. Kleiner Drink!?« Sie packte die ganze Strickerei und warf sie samt Nadeln und Knäuel über den Tisch. Eine Träne, oder war es kalter Schweiß, rann ihr bis zum blassen Mund.

»Ich hab mir erlaubt, einen Tee zu trinken, Herrgott noch mal.«

»Lass gefälligst den lieben Gott aus dem Spiel! Mit wem hast du getrunken?« Sie hatte sich wieder gefangen.

»Mit einem Mann.«

»Na bitte.«

»Ich bin bald zwanzig, Mama. Ich bin ein erwachsener Mensch.«

»Nach Mitternacht mit einem Wildfremden in einer Absteige … Du bist eben nicht erwachsen.«

Sie stand auf, stützte sich am Tisch ab, um einen kleinen Schwindel zu parieren und ging schließlich zum französischen Fenster, breitete beide Arme weit aus, zog mit einer einzigen rabiaten Bewegung beide Vorhänge zu und drehte sich wieder zu ihr, in Erwartung einer Antwort.

»Und?«

»Er ist ein höflicher, g’scheiter Mann, mit Anstand und Manieren«, sagte Gerda, dabei zuckte ihr die im Irish Coffee ausgedrückte Zigarette durchs Hirn.

»Irgend so ein Sozialistenlümmel?«

»Nein, kein Sozialistenlümmel.«

»Ausländer?«

»Ja.«

»Gütiger Gott, ich sag’s ja.«

»Ein Schweizer, Mama. Sohn einer begüterten Bankiersfamilie.« Ein langer Augenblick.

»Ach …« Als würde in der Sekunde ein Schalter in ihr umgelegt, glätteten sich ihre Stirnfalten und ihr Blick wurde weicher. Dennoch hob sie die Brauen. »Bankier also.«

»Ja, und seine soziale Ader würde jedem Katholiken gut zu Gesicht stehen.«

»Was soll das denn heißen?«

»Er arbeitet mit dem Roten Kreuz und angesehenen Hilfsorganisationen zusammen.«

»Als Bankier?«

»Nein, er ist mehr im … diplomatischen Dienst tätig, zusammen mit seinem Vater. In Bern.«

Mutter begann ihre Nadeln, das Wollknäuel und das Gestrickte zusammenzuklauben, sortierte alles, fasste sich und setzte sich ans Tischende. Ein aufgeräumter Blick, als würden diese Informationen ein neues Kapitel im Lebensplan aufschlagen, den sie sich für Gerda zurechtgedacht hatte.

Ein seriöser, charakterlich einwandfreier Mensch könne jedem Leben eine neue Richtung geben … kam es butterweich, so einer wäre imstande viel Verstörendes zu glätten und für klare Sicht zu sorgen. Pause.

»Ist er gläubig?« setzte sie nach.

»Weiß ich nicht. Bin ich vielleicht verstört?«

»Jedenfalls führungslos, mein Kind.«

»Du meine Güte, Mama! Ich will mein eigener Herr sein, ist das so schwer zu begreifen?«

»Was ist denn das für hochtrabendes Zeug, ›mein eigener Herr‹! In welchem Heftl steht denn so was?«

»Ich will jedenfalls nicht versauern … in irgendeinem … einem … Schulbetrieb … und ich lass mir nicht in meine … meine …«

»Flausen, nix als Flausen und in die red ich dir noch lange drein. Von wegen freie Journalistin, eigene Buchhandlung … Das ist doch Kokolores und Blödsinn. Ich hab zwei Weltkriege und x Wirtschaftskrisen überlebt, also sag mir nicht wie’s Leben geht. Was du brauchst, ist Sicherheit! Und die kriegst in einer pragmatisierten Stellung, Punktum!«

Gerda setzte sich ans andere Ende des Tisches, leicht vorgebeugt und fixierte Mutters Gesicht, mit einer seegrünen Sturheit in den Augen. Aufgeben war nie eine Option. Soweit käm’s noch, sie war fest entschlossen, das wankelmütige Herz ihrer Teenagerjahre hinter sich zu lassen.

»Ich will nicht dauernd auf Ereignisse warten, die von anderen in Gang gesetzt werden, Mama, begreif das endlich!«, sagte sie, entschlossener als die Sätze zuvor.

»Du solltest gefälligst froh sein, dass andere dir eine Spur gelegt haben, ich mach mir, seit ich denken kann, Sorgen um dich, um euch! Agnes ästimiert das sehr wohl!«

»Du zerbrichst dir dauernd meinen Kopf … auch wenn’s aus Liebe ist, wie du sagst, aber ich will das nicht und die Agnes würde ich nicht unterschätzen, das wirst noch erleben!«

Mutter atmete tief ein und lange aus.

»Du lieber Gott … Wenn bloß der Papa noch wär«, seufzte sie.

»Ja … wenn er bloß da wär«, wiederholte Gerda, legte ihren Kopf in beide Hände, fuhr sich über Stirn und Haare, die Ellbogen fest im Tisch vernagelt.

Die Beklemmung würde anhalten. Patt. Mama packte ihr Strickzeug zusammen und ging wortlos in ihr Zimmer.

In den letzten Jahren hatten Erfahrung und einschlägige Lektüre immer effektivere Argumente geliefert, um Mamas Standpunkten wenigstens intellektuell auf Augenhöhe zu begegnen, und oft genug hatte Gerda versucht, sich dieses Rondo als übliche Quengeleien zwischen den Generationen zu erklären, die halt um ihre Welten kämpften und sich eines Tages ohnehin versöhnen oder wie ein Spuk auflösen würden, in alle Wolken zerstäubt. Aber es zeichnete sich einfach keine Lösung ab.

Todmüde lag sie im Bett und schaute zur Decke. Die Schatten der Stores spielten dort, sie hatte das Fenster einen Spalt geöffnet und hoffte auf eine beruhigende Wirkung der Novemberluft. Die kahlen Äste des Birnbaums ächzten wie die Takelage eines Seglers, der sich hob und senkte in der Dünung.

Vereinnahmt von den Eindrücken eines Tages, der irgendwie auch berauschend war und eigentlich an ihr Innerstes gerührt hatte, wollte sie nicht so nüchtern davonschleichen. Was sollte sie tun? Mama klein beigeben, um des Friedens willen? Oder sich in ein Arrangement fügen, ein Stillhalteabkommen. Darunter schwelt dann alles weiter … Ein Rückgrat wie ein Gartenschlauch, hätte Papa gesagt.

Aber was wäre geschehen, hätte Gerda diesen Abend einfach auf den Tisch gelegt, ohne Vorbehalte, wie man das bei Vertrauenspersonen so macht, salopp erzählt: Ich hatte heute kurz gleichgeschlechtliche Anwandlungen und traf dann einen Schweizer Samurai, der Gutes tut und in der Freizeit herumsäbelt. Aus nervenschonenden Gründen blieb nur eine neutrale Variante, über den Rest den Mantel des Schweigens, um des Friedens willen.

Schonung war in Bezug auf Mutter eine wichtige Formel, um Krankheiten zu vermeiden. Wie oft hatte sie vom gebrochenen Herzen ihrer Großmutter erzählt, die, nachdem sie der Großvater wegen einer Jüngeren verlassen hatte, tatsächlich an einer Myokarditis gestorben war. »Ein fröhliches Herz bringt gute Besserung, aber ein zerschlagener Geist vertrocknet das Gebein«, sprach König Salomon im Alten Testament. Mutter hatte den weisen König oft genug zitiert, und ja, mag sein, dass sie strategisch vorgebaut hatte, bei Gerda jedenfalls hatte das Menetekel gründlich verfangen. Was also Salomon schon wusste – bloß keine Langzeitkonflikte, die an Herz, Magen, Nieren oder an die Leber gehen könnten, alle Karzinome haben ihre Ursache, heißt es, und Gerda wollte bestimmt keine davon sein. Obwohl sie, wie gesagt, eine Frohnatur war, sollte die Angst um Mamas Gesundheit wie auch ihre Schuldgefühle zu einem leisen Kummer in ihrem Leben wachsen, der durch ein schwarzes Telefon (ein Viertelanschluss, aber immerhin), das seit zwei Wochen im Haus installiert war, eine weitere Dimension bekommen hatte. Denn sobald Mama aus dem Haus war, in der Schule, zum Einkaufen oder sonst wo, wuchs in Gerda die Angst vor diesem schrillen Ton, der wie ein Brüller durchs Haus fuhr, um potenziell eine Hiobsbotschaft zu verkünden. Fräulein Fässler? Mit großem Bedauern müssen wir Ihnen mitteilen … Noch war’s nicht so weit, aber aufs Klingeln war sie konditioniert wie ein Pawlowscher Hund. Statt Speichelfluss und Freude aufs Fressen Herzklopfen und Sorgen.

III.

Als sie am folgenden Tag am Fenster stand und zwischen den vereisten Bäumen ein Taxi vorbeischleichen sah, an dessen halbgeöffnetem Fondfenster eine Silhouette zu erkennen war, die keinen Zweifel zuließ, war sie nicht sonderlich überrascht. Es hätte sie auch nicht gewundert, wenn noch in der Nacht Kieselsteine und Gute-Nacht-Wünsche an ihr Fenster geflogen wären. So weit hatte sie ihn richtig eingeschätzt. Bei diesem Kerl war mit allem zu rechnen.

Wundersamer war schon Mamas Verhalten am nächsten Tag. Der Groll schien verflogen, über den Graben hinweg hat man sich wieder zugelächelt, die Dinge mit vernünftigem Abstand gesehen. Keine Revierverteidigung heute. Als hätte Mama durch dicke Mauern Selbstzweifel gewittert, jedenfalls schien ihr die diplomatische Karte vernünftiger.

Sie hatte gerade ihre Schulbücher im Arbeitszimmer abgelegt und nun den Kopf frei, um sich der Zukunft ihrer verirrten Tochter zu widmen.

Agnes hatte sich ja scheinbar schon in ihr Schicksal gefügt und unterrichtete an einer Hauptschule am Alsergrund. Aber auch das konnte sich schnell als Staffage herausstellen. Die jungen Frauen waren fest entschlossen, sich auf die Hinterbeine zu stellen; jenseits von Mamas Vorstellungen. Papa war ja tot.

Gerda stand noch am Fenster und spürte die freundlichen Wellen hinter ihr.

»Ein Schweizer also«, sagte Mama.

»Ja, wie der Papa.« Dagegen war nun wirklich nichts einzuwenden.

»Ein Schweizer!«, wiederholte sie.

»Und einer, der mich zum Lachen bringt«, ergänzte die Tochter trotzig.

»Kann ja nicht schaden in Zeiten wie diesen. Und aus gutem Hause wie’s scheint.«

»Begütert jedenfalls«, präzisierte Gerda. Sie genoss das Spiel.

Mutter schien lange wach gelegen zu sein, Zeit genug, um verschiedenste Szenarien durchzuspielen. Auf eine Kurzformel gebracht – sie sah Gerda an einem entscheidenden Punkt, an dem sich die Möglichkeit auftat, materielle Sicherheit und – Gott geb’s! – potenzielle Bekehrung einzufordern, anstatt in ein existenzielles Fiasko zu irren, denn das soziale Engagement des Schweizers ließ immerhin auf ethische Grundsätze schließen. Der Franken steht gut, wie stehen die Sterne? Das flog der jungen Frau so beiläufig durch den Kopf, ohne Mamas Sorgen kompromittieren zu wollen, aber von der Hand zu weisen war es nicht. Jede Mutter macht sich Sorgen um ihre Kinder, vor allem um die Mädchen, erst mal pragmatisch, dann ideell, »erst das Fressen, dann die Moral«. Es schien jedenfalls, als stünden für diese kleine Affäre, die nicht mal das war bis jetzt, alle Ampeln auf Grün. Dieses Blitztempo war Gerda gar nicht recht, und – was, wenn der Kerl irreversibel verdorben ist? Sie machte sich eher lustig über die Situation.

Eine Stunde später wieder das vorbeischleichende Taxi und klar erkennbar der Mann im Fond.

»Der Schweizer schon wieder«, sagte Gerda. Das hatte dann doch Mutters Neugier gereizt, sie kam vor zu ihr ans Fenster und konnte ein Grinsen nicht vermeiden.

»Wieso schon wieder?«

»Weil er vor einer Stunde schon mal vorbeigefahren ist.« Mutter nickte.

»Wer sich’s leisten kann …«

Das Taxi blieb kurz stehen, da kniff Mutter sie in den Unterarm, als wären sie schon unter einer Decke. Das Taxi rollte langsam wieder an, gab schließlich Vollgas und verschwand mit quietschenden Reifen.

Wie schnell der Wind doch drehen kann. Als hätten sich die Prioritäten plötzlich verschoben.

Offensichtlich sah Mutter einen sicheren Hafen am Horizont, der Gerdas waghalsige Arbeitssituation ein für alle Mal lösen konnte. Sie hatte ja, trotz abgeschlossener Ausbildung, nur eine Teilzeitanstellung angenommen, montags und dienstags je vier Stunden Englisch und Deutsch in einer Hauptschule in Währing, um die restlichen Tage Zeitungskolumnen schreiben zu können, Buchrezensionen und sogar politische Artikel, die immer häufiger auch veröffentlicht wurden, im »Kurier« und, unter wechselnden männlichen Pseudonymen, in der »Arbeiter-Zeitung« (Mama hätte ihr die Ohren langgezogen, hätte sie’s gewusst). Die übrigen Tage half sie in der Buchhandlung an der Fischerstiege aus. Eine Weder-Fisch-noch-Fleisch-Situation, die Mutter große Sorgen machte.

»Siehst du, hartnäckig der Bursche.« Schon wieder schlich es vorbei, das Taxi mit derselben Fracht.

»Er fährt um die Häuser«, konstatierte Gerda trocken.

Mutter stellte sich wieder zu ihr ans Fenster.

»Jetzt geh halt raus, Mädel, bevor die Leut hinter den Gardinen reden.«

Sie schien sich augenblicks und taktsicher in Gerdas Stimmung zu finden. Ein Stück Opportunismus, den sie von Großma übernommen hatte – das Herz habe sein eigenes Gedächtnis, heißt es ja. Das Hirn wohl auch.

Als Gerda vors Haus eilte – sie trug vor dem Gangspiegel noch etwas Lippenstift auf – hielt das Taxi an. Er stieg aus, beide Arme hinterm Rücken versteckt und präsentierte seine weißen Rosen erst, als sie vorne am schmiedeeisernen Tor stand.

Aus der Körpersprache der beiden konnte Mutter schließen, dass hier witzig Charmantes ausgetauscht wurde, als Gerda mit einem gespielten Knicks die Blumen übernahm.

Mutter beobachtete sehr genau, was da geschah, jede seiner Bewegungen, die merkwürdige Gestik seiner Hände, seine Haltung, die, wie sie sich einbildete, doch eine gewisse Seriosität ausstrahlte.

Gleichzeitig war ihr bewusst, dass er sie hinter der Gardine am Fenster vermuten musste, obwohl er das mit keinem Blick verriet, also Kalkül in seinem Auftritt nicht gänzlich auszuschließen war. Wie auch immer. Gerda schien von ihm eingenommen, so viel Realitätssinn traute sie sich noch zu.

Und: Die Mutter fühlte in diesen Minuten auch einen heimlichen Stolz auf ihre Tochter, die mit leicht zurückgeneigtem Oberkörper, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine im Stehen leicht überkreuzt, ihn kommen ließ, souverän. Bei aller Verrücktheit, die sie ihr zumaß, stand da, trotz ihrer Jugend, ein gestandener Charakter, der Hoffnung machte. Sie sah den Auftritt einer reifen Frau, die gerade noch ihr kleines Mädchen gewesen war, auf Irrwegen und verwundbar, noch gar nicht ausgebacken. Und dann das. So was wie Zärtlichkeit regte sich, zwischen Überraschung und Wehmut. Mein Kind ist erwachsen, Gott behüte.

*

Die Sache mit Piero entwickelte sich zunächst vorhersehbar. Es gab einige weitere Treffen, die dazu beitrugen, das gegenseitige Interesse zu steigern und vielleicht sogar das Herz zu öffnen, wer weiß. Man traf sich in Cafés, im Kino, einmal im Akademietheater (Schnitzlers »Reigen«) oder spazierte entlang des Donaukanals am Franz-Josefs-Kai. Man hatte sich einiges zu erzählen, konnte sich gut riechen, inklusive der Schnittmengen im Kopf. Er schien ihr auch belesen zu sein, vielleicht nicht so bücherverrückt wie sie selbst, aber Dürrenmatt, Sartre, Kafka oder die großen Russen und die aktuellen Deutschen – Brecht, Grass, Böll und Mann waren ihm ein Begriff und er ließ sich gerne abklopfen, ohne dabei ins Stolpern zu geraten, was ihn in ihren Augen zumindest politisch unverdächtig machte. Sie hatte vor einem Jahr einen kleinen Essay über »Sartre und das Absurde« geschrieben, eine Prüfungsarbeit, erzählte sie stolz, und sie könne noch frei aus dem »Ekel« zitieren, was sie auch tat und er mit anerkennend vorgeschobener Unterlippe zur Kenntnis nahm. Das Absurde interessiere ihn ja auch, sagte er, ganz im Ernst. Sie begann ungläubig zu lachen. Beide lachten, lauthals. Doch, doch, beharrte er, das Absurde passe besser in diese Welt als alles andere und die Existenzialisten seien ihm sympathischer als der heilige Augustinus, gerade Michels seien die, diesseitige nämlich, nüchterne und schnörkellose Köpfe, und er werde sich wohl den Sartre-Roman zulegen müssen, um halbwegs nachzuziehen. Sie mochte sein schelmisches Grinsen inzwischen, man sah sich auf Augenhöhe, auch ihr Film- und Kunstgeschmack harmonierten im Großen und Ganzen, bis auf seine zornige Schelte über einen Georg-Wilhelm-Pabst-Film, den er mit Karacho verteufelte, was ihr noch lange im Magen lag … Andererseits faszinierten sie diese plötzlichen Ausfälle, die blitzartig aufzuckten wie Nervenkrämpfe. Unberechenbar wie das Tourettesyndrom. Langeweile kam jedenfalls keine auf, wenn sie mit ihm zusammen war, und dennoch erschien er ihr nach jedem Treffen wie ein Phantom, das nicht wirklich zu fassen war. Im wahrsten Sinn, denn sie wusste noch immer nicht, wo er wohnte – den 1. Bezirk hatte er mehrmals erwähnt, aber die genaue Adresse nie preisgegeben. Einfach nachzufragen schien ihr zu aufdringlich und taktisch unklug. Sie rätselte, ob er sich vielleicht schämte für die verfahrene Situation mit den Eltern oder ob er grundsätzliche Zweifel an ihrer Beziehung hegte. Jedenfalls wollte sie der Sache am folgenden Abend auf den Grund gehen. Selbe Zeit, selber Ort, der Donaukanal an der Stiege zum Franz-Josefs-Kai. Diesmal waren beim Spaziergang schon kleine Zärtlichkeiten dabei, er hatte seinen rechten Arm um ihre Schulter gelegt und sie an sich gedrückt, wenn sie lachten. Gerda wusste zu schätzen, dass er seine Annäherungsversuche behutsam anlegte, als ahnte er, dass auf ihrer Schulter Mutters Geist saß.

Den hatte sie im Taxi, bei der Heimfahrt, mit einer einzigen Bewegung vom Mantel gewischt und Piero geküsst, oder sich küssen lassen, jedenfalls verschmolzen ihre Münder. Eine Trotzreaktion eigentlich und dann – eingedrungen in die warme Andersheit. Ihr Gaumen und ihre Zunge registrierten noch Restaromen von Sahne, Whisky und braunem Zucker. Eine karibische Mischung, herbsüß, als wäre sie in eine verrauchte Bar in Havanna gefallen. Während des Schmusens öffnete sie die Augen ein Spältchen, weil sie seine sprechenden Brauen sehen wollte, die Tausendfüßler. Beide reckten sich hoch zur Zornesfalte. Volle Hingabe? Sie schloss die Augen und glaubte ihm. Ja, sie war ein Neuling, das war sie, ihre Erfahrung in diesen Dingen beschränkte sich auf eine Unsäglichkeit mit einem hölzernen Pennäler bei einer Schulparty ein Jahr zuvor, einem Idioten, der sie abgegriffen hatte wie ein Maurer seine Ziegel, dabei muss es im hilflosen Tumult zur Entjungferung gekommen sein, zumindest blieb eine kleine Blutspur und eine enttäuschte und gekränkte Sehnsucht. Das also sollte der Zauber sein? Das!! Fast hätte sie einen Hauch von Verständnis empfunden für Mutters Vorstellung in Sachen Sex, den diese immer als notwendiges Übel gesehen hatte, das halt zu ertragen sei, um neues Leben zu schaffen, sozusagen in Duldungsstarre, wie bei Kühen und in Gottes Namen. Natürlich – auch diesen Rucksack hatte Mutter von Großma übernommen, die es ähnlich sah und mit der Bibel vereinbar, also empfohlen von oben. Wahrscheinlich leitete Großma daraus Marias unbefleckte Empfängnis ab, der Heilige Geist, die reinste aller Tauben, kann ja nicht wehtun, geschweige denn beschmutzen.

Bei dieser Taxifahrt aber begann Gerda wieder an Fluchtwege zu glauben. Was sie aus Trotz begonnen hatte, wurde aufregend und machte sie neugierig, auf andere Aromen und neue Vokabeln, die sie zu lernen hatte.

Als das Taxi schließlich bei Nr. 43 anhielt, mussten die beiden Luft holen und sich adjustieren, der Taxler war ungeduldig geworden, hatte den Preis schon zweimal in den Rückspiegel gerufen.

»Sie können die Uhr gerne weiterlaufen lassen«, beruhigte ihn Piero, was der Fahrer sowieso getan hätte. Es schien nicht die erste überzogen lange Fahrt zu sein, die die beiden hinter sich brachten, jedenfalls hatte Gerda das Gefühl, als würden sich die Herren schon länger kennen.

Im Haus war alles dunkel, was nicht heißen musste, dass Mutter im Bett lag und schlief. Sie konnte durchaus hinter einer der Gardinen stehen, auf Posten. Gerda bat Piero, im Taxi zu warten, sie habe noch eine Überraschung für ihn, aber es könne ein Weilchen dauern, bis sie wieder zurück sei, ob das in Ordnung ginge. Ging es.

Piero steckte sich eine Zigarillo in den Mundwinkel und bot dem Fahrer seine letzte Parisienne an, mit der höflichen Bitte, sie schweigend zu rauchen, falls er wisse, was er meine. Nichts sollte den Moment verwässern. Der Fahrer wusste, was er meinte.

Es roch nach Liebespaar und Nachtclub.

Gerda schlich, die Stöckelschuhe in der Hand, von Raum zu Raum. Vorzimmer, Salon, Küche. Keine Mutter hinter den Gardinen. Alle im Bett. Sie fischte Sartres »Ekel« aus dem Regal, setzte sich ans Telefon im Gang und rief über die Autorufsäule Gersthof ein Taxi in die Pötzleinsdorfer Straße 26, also circa 60 Meter von ihrem Haus entfernt. Nach ihrer Berechnung sollte der Wagen in sieben oder acht Minuten dort eintreffen, also blieb sie noch ein paar lange Minuten sitzen und kritzelte eine Widmung ins Buch. »Das Absurde hat uns …« Zugegeben, fast eine Anbiederung. Dann eilte sie hinaus, übergab dem überraschten Piero den Sartre-Roman, küsste ihn zum Abschied, notierte sich heimlich die Autonummer (W 445 30), als er losfuhr, und wartete winkend am Gartentor, bis das Taxi in Richtung Währinger Straße verschwunden war. Im selben Moment kreuzte dort ihr bestellter Wagen auf, dem sie im Laufschritt entgegenstürmte, um den Fahrer, mit wilden Gesten, zu einer Wende zu bewegen, die er auf Kommando ausführte. Gutes Timing, alles lief wie am Schnürchen. Sie fühlte sich wie Detective Fenner in einem James-Hadley-Chase-Krimi und nahm die Verfolgung auf. Richtung 1. Bezirk mit Herzklopfen und Vollgas und tatsächlich, zwei Minuten später waren sie schon im Rückspiegel von Pieros Taxi – W 44530. Gerda bat den Fahrer, seinen Kollegen bis zu dessen Zielort zu verfolgen – diesen Luxus wollte sie sich leisten, um endlich Klarheit zu schaffen. Kaum Verkehr, es war nach Mitternacht, die Trams schon in der Remise, sie kamen gut voran, Währinger Straße, Spitalgasse, Richtung Spittelberg. Als das Piero-Taxi dann in der Museumstraße seine Geschwindigkeit drosselte und schließlich in die Prachtallee einbog, deren Glanz sich mit seinen Erzählungen von der traditionsreichen Bankerfamilie deckte, war Gerda doch etwas mulmig ums Herz. Sie spürte ihren Puls in den Ohren. Das war ihr eine Stufe zu hoch: Die Babenbergerstraße mit ihren einschüchternden Fassaden – seit je Residenz der vornehmen und betuchten Wiener Gesellschaft. Keine Frage, hinter diesen imposanten Mauern lebten die Mächtigen. Geldmenschen, Wirtschaftsführer, Aristokraten, prominente Künstler, vielleicht hohe Politik.

Pieros Taxi hielt vor der Nummer 5. Gerda machte sich im Fond ganz klein, als sie an ihm vorbeirollte. Sie bat ihren Fahrer, sie in der Elisabethstraße abzusetzen, um keinen Verdacht zu wecken, dann lief sie zurück in die Babenbergerstraße und versteckte sich in einem der verschatteten Hauseingänge, von dem aus das Entree zum Haus gut einzusehen war.

Er stand vor dem herrschaftlichen Eingang, schaute immer wieder hoch zum erleuchteten Fenster im zweiten Stock, ein lautes »Mama« schien ihm offensichtlich zu peinlich, obwohl er mehrmals ansetzte: »Ma–!«, und sich dabei nach etwaigen Beobachtern umschaute. Aber da war keiner. Dann setzte er wieder seinen Schlüssel an, murkste fluchend herum, schlug mit der flachen Hand gegen die Tür, setzte von Neuem an, wieder vergeblich.

Er konnte einfach nicht glauben, was da geschah. Auch mit Sturmläuten versuchte er es, hielt den Daumen auf die Klingel, bis er schmerzte und sich echauffierte Stimmen rührten in den oberen Stockwerken des Nachbarhauses.

Dann ein Knacken und ein sirrendes Pfeifgeräusch, das in den Ohren schmerzte, gefolgt von seinen schweizerischen Dialektflüchen, die von den Mauern widerhallten:

»Verreckti Siächä, Gottverdammi!«

Gerda nutzte den Moment, um zehn Meter näherzurücken, in die nächste Eingangsnische. Wie aus dem Nichts plärrte aus einem vergitterten kleinen Lautsprecher im Hauseingang eine verzerrte Frauenstimme in die Nacht, die aufploppte und gleich wieder überlappt wurde von Pieros Stimme. Hinter der Frauenstimme maulte zudem eine Männerstimme, in einer kehligen Sprache, die Gerda nicht verstand. Ein wüstes Gewirr. Entweder ließen die Rückkoppelungen einer defekten Wechselsprechanlage diesen Streit eskalieren, oder einfach nur der Umstand, dass immer nur einer der Gesprächspartner sprechen konnte, während der andere wohl oder übel zuhören musste. Wer gerade sprach, brachte den andern zum Schweigen. Bei vermögenden Leuten waren solche Anlagen prophylaktischer Standard, um kontrollieren zu können, wer vor der Haustür stand, nicht unbedingt um Gespräche zu führen.

Dass hier gestritten wurde, war offensichtlich, aus den Satzfetzen konnte man sich zusammenreimen, was Sache war. Eine zornige Mutter wollte ihren Sohn nicht mehr in der Wohnung sehen, und zwar nie mehr. Dann ist noch etwas geschrien worden, das Gerda erst beim zweiten Mal, als es noch lauter geschrien wurde, verstand: »Bastarde ihr, der Teufel soll …«, der Rest wurde wieder von Pieros Fluchen zugedeckt. Warum Bastarde IHR? Plural! Sie hatte sich nicht verhört, die Mutter hatte es zweimal geschrien, zweimal im Plural. Wer also war noch gemeint? Wer ist der andere? Wer waren die Bastarde?

Eines war offensichtlich, Pieros Mutter hatte das Türschloss ausgetauscht, um ihm endgültig den Zutritt zu verwehren. Aber was muss einer angestellt haben, dachte Gerda, dass sich eine Mutter dermaßen verletzt fühlt, dass sie ihr eigenes Fleisch und Blut vor die Tür setzt, endgültig. Gerda war etwas durch den Wind, sie konnte nicht wirklich klar denken, es war saukalt und die eisigen Wiener Böen schnitten ihr in die Augen. Auf Drama war sie nicht vorbereitet gewesen.

Immer wieder schlug Piero mit beiden Fäusten gegen die Tür, bis sich im Nachbarhaus Fenster öffneten und verärgerte Leute mit Nachdruck ihre Nachtruhe einforderten.

In Pieros Stimme lag nicht nur Wut, da war auch Kränkung oder schlechtes Gewissen, jedenfalls ein weinerlicher Hass, er stampfte zwischen zwei wuchtigen Steinsäulen hin und her, aufgelöst, mit kindischen Bewegungen. Am Ende schluchzte er, lehnte sich erschöpft mit dem Rücken an die Mauer und ließ sich zu Boden sacken.