Der Atem des Himmels - Reinhold Bilgeri - E-Book

Der Atem des Himmels E-Book

Reinhold Bilgeri

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Beschreibung

Der Mega-Bestseller von Reinhold Bilgeri Als Erna von Gaderthurn im September 1953 das Große Walsertal betritt, ist es für sie Flucht und Neubeginn zugleich. Nach dem Tod ihres Vaters hat sie das elterliche Schloss im Pustertal verlassen, um eine Stelle als Lehrerin in Blons anzutreten. Sie findet in ihrem Kollegen Eugenio Casagrande eine neue Liebe. Doch der 11. Jänner 1954 schlägt eine Schneise, die alles verändern wird, für immer… Reinhold Bilgeri verwebt meisterhaft das historische Lawinenunglück von Blons mit der Biografie seiner Mutter – ein packender Roman über eine tragische Liebe. "Es ist ein Hammer von einem Buch. Der Roman ist nicht nur gut, er ist ausgezeichnet." Michael Köhlmeier Bisher über 65 000 verkaufte Exemplare Filmerfolg in China: Golden Rooster Award als "Bester ausländischer Film" Über 100 000 Besucher des Kinofilms in Österreich

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Reinhold Bilgeri

DER ATEM DES HIMMELS

Roman

Die Karte auf Seite 429 wurde mit freundlicher Genehmigung entnommen aus der Dokumentation von: Eugen Dobler: Leusorg im großen Walsertal. Die Lawinenkatastrophe 1954. Eigenverlag 1982, Seite 85.

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2021 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Johanna Uhrmann

Umschlagmotiv: Reinhard Mohr nach einem Entwurf von

Reinhold Bilgeri

ISBN 978-3-99050-217-4

eISBN 978-3-903217-86-7

Inhalt

Die leeren Gänge

Bonjour, Madame

Im Namen des Vaters

Eugenio und die Tänzerin

Der späte Gast

Und alles wäre gut

Die Gnadenlose

Der Besucher

Glossar

Der Autor

Für Beatrix

»… have I told you lately …«

Dieses Buch widme ich meiner Mutter (Urenkelin des Friedrich Graf von Gaderthurn) und meinem Vater, die sich im Großen Walsertal kennen- und lieben lernten, und ferner den Blonsern, die geblieben sind. Die dramatischen Ereignisse des Winters 1953/54 waren der Ausgangspunkt für die folgende Geschichte. Die darin auftretenden Personen sind (trotz unvermeidlicher Namensähnlichkeiten) frei erfunden.

R. B.

Die leeren Gänge

Erna, komm! Der Papa stirbt.«

Mutters Stimme hallte durch die Gänge. Heiser und fordernd. Ihr Befehlston fuhr Erna noch immer in die Glieder, obwohl er an Schärfe verloren hatte, seit es mit Papa zu Ende ging. Erna stand auf, ein Schwindel erfasste sie.

»Erna, unser Papa.«

Erna stützte sich auf den Küchentisch, schloss die Augen. Die Welt war aus dem Gleichgewicht. Vornüber lehnte sie und versuchte geraspelte Zwiebel unter fein zerhackte Karotten zu mischen, unter sehr fein zerhackte Karotten. Papa würde nicht sterben, solange sie mit dem Salat beschäftigt war. Er wartete auf sie. Immer neue Nuancen fügte sie dem alten Rezept bei, nur nicht zu Ende bringen. Alles roch nach Abschied, jede Wand, jeder Vorhang, jeder Stuhl, als wüssten auch die Dinge, dass sich hier jemand auf den Weg machte. Schon vor dem Zwiebelschneiden hatten sich vereinzelt Tränen in den Salat gemischt. Unter der Schürze trug sie ihr Blaues, für den Sommer, Papas Lieblingskleid.

Der Föhn, der schon eingeschlafen war, öffnete jetzt mit sanftem Ruck die Küchentür. Erna lehnte sich an den Rahmen, um die Brise festzuhalten, der Schwindel hatte sich gelegt. Sie füllte noch einmal ihre Lungen, wie ein Krieger, der sich zum Kampf rüstet, entschlossen und angstvoll zugleich. Dann ging sie hinaus auf den Gang. Alle Fenster im Erdgeschoß standen offen, die Stores bauschten sich, winkten hoch und weit ins Schloss hinein. Sie setzte sich auf eines der breiten Simse, putzte sich die Nase, die sich zu röten begann, sah sich um – der Kreuzgang war leer und kahl. Die endlosen, roten Läufer, die Truhen und Kommoden, die hier einst an den Wänden standen, waren längst verkauft. Staub überall. Das Haus war zu groß geworden, das Personal zu klein, das Geld verschwunden.

Viel vergeudetes Leben hing in allen Ritzen, jetzt bröckelte das letzte noch versammelte aus den Mauern. Auf leisen Sohlen ging sie wieder zurück zu ihrem Salat, sie war noch nicht so weit, wollte noch einmal Kräfte sammeln.

Papa durfte noch nicht sterben. Sie war sich gewiss, wenn sie jetzt zu ihm ginge, ihm die Hand hielte, es wäre das letzte Mal, dann würde er loslassen. Er wartete nur auf sie.

Der schale Geruch aus seinem Zimmer, der sich im Gang mit Mutters Pfeifenrauch mischte, war selbst in der Küche noch zu spüren. Sie begann wieder im Salat zu stochern.

Seit einem Jahr schon konnte man sich keine Bediensteten mehr leisten, Erna hatte selbst Hand anzulegen. Durch die Folgen des Krieges und besondere Umstände war man in eine höchst prekäre Situation geraten. Diese besonderen Umstände meinten einen einzigen Namen: Valerie.

Mutter sah in dieser unseligen Person sogar den eigentlichen Grund für die rapide Verschlechterung in Papas Gesundheitszustand, was Papa immer scharf zurückgewiesen hatte. Er konnte keinen Zusammenhang mit seinen angegriffenen Lungen erkennen. Jedenfalls hatte Großvater diesen betörenden Störenfried mit dem »singenden Namen« ins Haus gebracht. Obschon dreiundachtzigjährig, hatte er, nach dem Tod seiner ersten Frau, partout noch einmal auf ein »junges Wesen« an seiner Seite bestanden. Ernas Mutter hatte den alten Mann für diese Groteske – Valerie war vierzehn Jahre jünger als Papa und gleichzeitig dessen Stiefmutter – hundertmal verflucht.

So war also dieses »kapriziöse, flapsige Ding« in den Genuss des ersten Erbanspruchs gekommen, womit der Niedergang der Familie endgültig besiegelt war. So sah es jedenfalls Ernas Mutter, Karoline von Gaderthurn, die das Erbe zu Recht für ihren Mann und sich erwartet hatte und nun zusehen musste, wie vor ihren Augen zerrann, was ihre Zukunft hätte sichern sollen. Denn Valerie war Geschäftssinn so fremd wie Arbeitseifer. Sie war Gnädige Frau und genügte sich darin.

Die Erinnerungen an diese Person zogen sich heute wie Schlieren durch Ernas Kopf, ganz ungerufen lenkten sie ab von Papa, der auf sie wartete. Immer schon hatte Valerie das Talent, im ungünstigsten Moment durch anderer Leute Angelegenheiten zu hampeln und Unruhe zu stiften. Dass sie allerdings an Papas jetzigem Zustand die alleinige Schuld tragen sollte, mochte auch Erna bezweifeln. Alles in allem aber markierte sie wohl den Anfang vom Ende.

Seit die »Flatterhafte« im Haus war, verrauchte Mama die doppelte Menge vom bulgarischen Kraut. Speziell nach Großvaters Tod eskalierten die Zustände empfindlich. Karoline, selbst keine Koryphäe in Sachen Haushalt (als Spross kleinen böhmischen Landadels aber an ein Minimum an Luxus gewöhnt), machte selbst gar kein Hehl aus der Verachtung, die sie für derlei Arbeiten hegte.

Aber Valerie, diese Valerie, die als Klavierlehrerin pro forma einmal im Monat mit ihrem Schüler klimperte, ließ dem täglichen Schlendrian so freien Lauf, dass sich in kürzester Zeit ein unerträgliches Chaos eingestellt hatte. Einnahmen und Ausgaben standen in keinem Verhältnis mehr. Buchhalterisches empfand sie als lästige Marginalie, ganz abgesehen von ihren sonstigen Eigenheiten. Getragene Wäsche etwa ließ sie liegen, wo sie sich ihrer gerade entledigt hatte, oder sie bündelte alles zu einem Knäuel und verstaute ihn in einer Ecke auf dem Dachboden, der – bequem – direkt über ihrem Salon lag. Da konnte sozusagen en passant entsorgt werden. Eine Angewohnheit, die sich zusehends zu einem Problem auswuchs, da sie sich wöchentlich mit neuen Kleidern eindeckte, die sie sich eigentlich gar nicht mehr leisten konnte.

Ernas Mutter sah diesem Treiben lange Zeit argwöhnisch und schließlich verzweifelt zu und wäre längst eingeschritten, hätte nicht Papa zur Besonnenheit gemahnt. Er war zwar die meiste Zeit außer Haus gewesen – als Meteorologe in seinem Dienstzimmer auf der Wetterstation am Ritten bei Bozen –, aber keinesfalls gewillt, den ohnehin fragilen Hausfrieden zu gefährden. Ein verschlossener, friedliebender Mann war er. Anfangs gönnte er seinem Vater sogar diese junge Blüte, die, zugegeben, ihre Reize hatte. Mit der Häufung abstruser Vorkommnisse aber war auch seine Skepsis erwacht. Allerdings hatte er über die Jahre schon genug Streit gesehen und schluckte deshalb hinunter, was zu verdauen war.

Auch Erna hatte sich tunlichst herausgehalten, bis sich die Wolken abermals und diesmal endgültig verfinsterten, als sie eines Tages durch Zufall entdeckte, dass hinter gewissen Merkwürdigkeiten die generöse Hand eines Wohltäters wirkte, der inkognito bleiben wollte. Die kursierenden Gerüchte waren schlagend geworden. Ein gewisser Graf Wehrberg war offensichtlich schon vor Jahren in Valeries Leben getreten, was zu einer Liaison geführt hatte, die nicht nur platonischer Natur geblieben war. Mit parfümierter Tinte geschriebene, an Valerie gerichtete Verse waren Beweis genug. Erna hatte die duftenden Ergüsse eines Tages zwischen einem Stapel gebrauchter Unterwäsche entdeckt. Peu à peu trat nun zutage, was bisher bloße Vermutung war. Mutter erlitt einen veritablen Nervenzusammenbruch, hatte wochenlang Kreislauf- und Magenprobleme, ja selbst die geliebte Pfeife blieb, auf Rat der Ärzte, kalt. In der Tat bedurfte es großer Anstrengung, die Wahrheit zu ertragen.

Dieser Graf Wehrberg hatte monatliche Zahlungen an Valerie getätigt, eine Art Apanage, und ließ sich jeden Scheck als Anzahlung für einen künftigen Kauf des Schlösschens gutschreiben. Die Verwunderung hielt sich daher in Grenzen, als es eines Tages zum Offenbarungseid kam und sich Wehrbergs Anwälte mit dem in Kraft getretenen Kaufvertrag vorstellig machten. Der gewiefte Charmeur hatte, in kürzester Zeit und zu einem Spottpreis, sozusagen anonymiter, das ganze Anwesen in seinen Besitz gebracht.

Jetzt ging es endgültig ans Familiensilber, und Mutters Albträume, in denen stets Gerichtsvollzieher mit Pfändungsprotokollen durchs Haus hasteten, rückten näher an die Wirklichkeit.

Erna spürte ihren Magen beim Gedanken an jene Tage. Sie schob, entschlossen diesmal, die Salatschüssel und die Erinnerungen an die unselige Valerie von sich und trat auf den Gang hinaus.

Zwei Türen weiter nur dämmerte ihr Vater dem Tod entgegen. Die Lungen, von Tuberkulose zerfressen, brannten ihm den Atem weg.

»Erna, du musst kommen.«

Mutters Stimme klang jetzt ungehalten.

Als Erna die ersten Schritte Richtung Zimmer tat, fror ihr das Herz.

Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie das langsame Sterben eines geliebten Menschen gefasst, bewusst begleiten musste. Als sie das letzte Mal bei ihm war, vor einer Stunde? einer halben Stunde? – sie hatte die Zeit verloren –, da hatte er sich mit seinen kalten Fingern in ihre Hand verkrallt und genickt: Du kommst gleich wieder, du kommst doch. Flackernde Unruhe in seinen Augen, als hätte er schon die andere Seite gesehen und wüsste schon mehr als die Lebenden. Sie konnte jetzt, nachdem sich die wimmernden Föhnböen wieder gelegt hatten, seinen schweren Atem hören, je näher sie kam. Wie wird es sein, lässt er sich fallen, wird er geholt? Wie wird es sein?

Das letzte Wort, der letzte Blick, lieber Herrgott, wer tröstet wen vor dem letzten Atemzug. Erna blieb stehen, drückte ihr Ohr an die Mauer und hörte ihrem Herzschlag zu. Die wenigen Meter noch. Das Sterbezimmer stand offen.

Es war das Gefühl der Abschlussprüfungsangst, das sie von früher kannte, das ihr jetzt die Kehle zuschnürte und den ganzen Körper zittern machte.

Er wartete auf SIE, nicht auf Mama.

Und wenn sie dann bei ihm sein wird, wird er sterben. Mit ihrem Zögern wollte sie ihn im Leben halten. Eine Weile noch. Ein paar Schritte noch.

Mutter rauchte an jenem Tag mehr als sonst. Ihre Pfeife verqualmte den ganzen Vormittag. Aufrecht saß sie auf ihrem geliebten Thonet-Stuhl. Wie ein Wächter saß sie vor der offenen Tür. Erna hielt inne, beugte sich zu ihr, tätschelte ihr die Schulter.

»Mama, willst du nicht hineingehen?« Sie schüttelte stumm den Kopf.

»Der Papa stirbt, Mama. Er wartet auf dich, du musst seine Hand halten. Das will er jetzt.«

Wieder schüttelte sie den Kopf, wie ein trotziges, kleines Mädchen, in dieser frösteligen Linksrechtsbewegung.

»Ich kann nicht, mein Kind, ich kann nicht.« Sie beugte sich dabei in einer seltsam wippenden Bewegung vor und zurück, wie jemand, der Prügel erwartet. Erna kniete sich resolut vor ihre Mutter, ergriff sie mit beiden Händen an den Schultern und schüttelte sie, bis sie ihrem Blick standhielt.

»Was kannst du nicht?«

»Der Schweiß auf seiner Stirn, ich hab’s versucht … an seinen Händen, der kalte Schweiß … Ich würd’ ihn so gerne berühren, ich schäme mich so, mein Kind, ich schäm’ mich.«

Erna löste resigniert ihren Griff. Fast tonlos fielen ihr die Worte aus dem Mund.

»Aber es ist doch … Papas Schweiß, Mama, dein Mann … er stirbt.«

Mutter nickte, zuckte verlegen mit den Schultern, nuckelte an ihrer Pfeife, verzweifelt wie ein gescholtenes Kind, und nahm wieder in dieser wiegenden Bewegung Zuflucht. Dann holte sie in schnellem Griff mit Daumen und Zeigefinger Speichel von der Zunge, Tabakspeichel, und wischte einen imaginären Fleck von Ernas Wange. Eine Verlegenheitsgeste, die Erna seit je zur Weißglut gebracht hatte. Sie wich angewidert zurück.

»Er stirbt … und du ekelst dich vor seinem Schweiß?«, sagte sie.

Mutter nickte. Ihre Stirn legte sich entschuldigend in Falten, die Brauen zu einem kleinen Zelt hochgezogen, in dem sie ihr Selbstmitleid verbergen konnte. Erschrocken über sich selbst, starrte sie auf die Glut in der Pfeife, die sie mit beiden Händen umklammert hielt. Ihre Daumen nestelten nervös am Glutrand.

»Gott, vergib mir, du weißt, wie lieb ich ihn hab’.«

»Du ekelst dich vor unserm Papa.«

Sehr schroff sagte das Erna, hob die Arme in einer hilflosen Geste. Das Blut sackte aus ihrem Gesicht. Sie war weiß vor Wut, war völlig verblüfft. Das hatte sie nicht erwartet. Nie hatte sie diese dominante Frau in Demut, außer in gespielter, oder in der Defensive gesehen. Sie war streng, eine stolze, forsche Person, die alles, was sich in ihren Zügeln verfing, hart an die Kandare nehmen konnte. Anders als bei Valerie war ihr Auftreten nicht bloßes Gehabe, sondern gewachsene Haltung, Persönlichkeit, die auf echter Grandezza beruhte, dachte Erna.

»Ich schäm’ mich so«, flüsterte Mutter. Und wieder diese Bewegung, nach vorn gekrümmt, als bitte sie um Vergebung.

In rigider katholischer Tradition erzogen, disziplinierte Kirchgängerin und gebettet in alle Sakramente, empfand sie schlechtes Gewissen als die schlimmste aller Torturen. Und doch war sie außerstande, sich aus eigener Kraft vom Joch zu lösen, indem sie sich einfach aufgerafft und ans Sterbebett ihres Mannes gesetzt hätte. Stattdessen versuchte sie die Tilgung sozusagen zu delegieren, indem sie für ihn, telefonisch via Pfarramt, gleich mehrere Messen bestellte, was die Haushaltskassa durchaus belastete. Ein Umstand, der in ihren Augen sehr ins Gewicht fiel. Dadurch konnte sie sich zumindest einer gewissen Fürsprache der Kirche bei einer posthumen Gerichtsbarkeit sicher sein. Ein Mechanismus, der, wie die Beichte auch, eine gewisse Ruhe in ihre Seele brachte.

Erna fasste sich und ging ins Zimmer, die Wut hatte ihr Kraft gegeben. Papas Röcheln war lauter geworden, er war noch bei Bewusstsein. Erna und Mama hatten, aus Rücksicht die eine, aus Scham die andere, soweit es ihre Erregung erlaubte, im Flüsterton gesprochen, er würde also mit Sicherheit nichts davon gehört haben.

Erna setzte sich leise zu ihm ans Bett. Er spürte sie sofort, öffnete die Augen, lächelte.

»Gut, dass du da bist, mein Engel.«

Die Worte kamen deutlicher und kraftvoller, als sie erwartet hatte, als versuchte er noch einmal all seine Energie für eine letzte, große Anstrengung zu versammeln. Erna beugte sich über ihn, küsste seine Stirn, auf der ein kalter Schweißfilm glänzte. Sie umarmte ihn innig und lange, wie nie zuvor, als könnte sie wiedergutmachen, was Mutter jetzt und über die Jahre verabsäumt hatte. Sicherlich, Mama und er, sie hatten sich wohl geliebt, ja, aber es war nicht die eine, nicht die große Liebe, die unverbrüchlich blüht, vielmehr war es ein korrektes Arrangement der Gefühle, in dem Auswüchse wie sinnliche Leidenschaft oder selbstvergessene Hingabe ausgeklammert waren.

»Ich hör’ die Valerie nicht mehr spielen … ist sie außer Haus?« Holprig und gelöchert kamen die Worte, unterbrochen von stöhnendem Luftholen. Erna nickte.

»Nur für eine kleine Weile«, log sie. Sie wollte ihn nicht mit einem Herzen voller Sorgen um die Zukunft seiner Lieben sterben sehen, also umging sie die Wahrheit, so gut sie konnte.

Valerie hatte sich nämlich schon zwei Tage zuvor so »französisch« verabschiedet wie das Gesinde, grußlos und ohne irgendeine Nachricht zu hinterlassen, geschweige denn eine Adresse. Erst viel später brachte Erna in Erfahrung, dass sich Graf Wehrberg nach langem Bitten und Betteln erbötig gemacht hatte, ihr eine winzig kleine Zimmer-Kabinett-Mansarde in Innsbruck zur Verfügung zu stellen. Dort soll sie sich die erste eigene Suppe ihres Lebens gekocht haben.

Erna vermied es, Papa mit derlei Details zu belasten, und beruhigte ihn mit salopp hingeworfenen Notlügen, wie etwa: der Wehrberg habe der Valerie gestattet, ihn auf eine fünftägige Fangokur nach Meran zu begleiten, oder sie hätten gemeinsam eine Scarlatti-Konzertreihe beim Bozener Juni-Festival besucht, Genaueres wisse man eben nicht und so weiter. Jedenfalls konnte sie ihm den Eindruck vermitteln, die beiden stünden nach wie vor in bestem Einvernehmen, und das Schloss beziehungsweise vor allem sein Inventar käme, so Gott will, noch nicht so bald in andere Hände oder gar unter den Hammer. Dabei war das genaue Gegenteil der Fall. Die beiden gingen schon längst getrennte Wege. Valerie war mit ihrem vermeintlichen Schüler in flagranti ertappt worden, wobei das Klavier eine delikate Nebenrolle gespielt haben soll. Seit diesem Eklat habe die Gute sowohl Großmut als auch Zuneigung des Grafen endgültig verspielt, hieß es aus wohlinformierten Kreisen. Wie gesagt, die winzige Mansarde in Innsbruck soll das letzte Adieu des gehörnten Edelmanns gewesen sein.

Papa nickte angestrengt und winkte ab, als wollte er sagen: Soll sie bleiben, wo der Pfeffer wächst. Offenbar war er zufrieden mit Ernas erfundenen Varianten, und die wenige Luft in seinen Lungen wollte er für Wichtigeres opfern.

»Luft, mein Schatz, frische Luft wär’ jetzt schön.«

»Und ein bisschen vom Heu da unten, ja?« – Erna wusste, wie sehr er den Duft frisch eingebrachten Heus liebte, im Gegensatz zu Mama. Papa nickte, kniff dabei beide Augen zu. Er hatte während der ersten achtzehn Jahre seines Lebens, auf Großvaters Wunsch (der im Vorarlbergischen geboren war), viel Zeit im Bregenzerwald verbracht, in Krumbach, prägende Jahre, ohne Vater zwar, der seine Zeit gänzlich dem Kaiser gewidmet hatte, aber zwischen prächtigen Viehhöfen und Weiden und saftigen Matten.

Und später dann konnte Papa, wenn ihm danach war, durch einfaches Fensteröffnen nach der Westseite des Schlosses, nasevoraus in die Kindheit segeln. Das Heimweh nach diesen Gerüchen hatte ihn sein Leben lang begleitet. Mama freilich war durchaus bemüht, sich auch geruchlich von den bäuerlichen Nachbarn, den »schweißelnden« Menschen, abzusetzen. Sie hatte seine Affinität zu ihnen nie begreifen können.

»Was willst du, der Adel furzt halt vornehm vor sich hin«, war sein knapper Kommentar, wenn sie ihn darauf ansprach. In besseren Tagen, als Luxus noch zu den Selbstverständlichkeiten der Gaderthurns gehört hatte, waren die Wände hier, im Elternschlafzimmer, mit parfumbedampften Wandtapeten bespannt. Später mussten die längst zerschlissenen Stoffe durch einfache Kirschholztäfelung ersetzt werden. Merkwürdigerweise hatte sich, trotz dieser Maßnahme, ein hartnäckiger Rest einer Moschusmischung gehalten. Der simple Charme der Lavendelwässerchen, die Mama allmonatlich in die Räume sprühte, verlor sich nach wenigen Tagen. Der Moschusrest aber hielt sich über all die Jahre in vornehmer Sturheit, als wäre es ihm ein Anliegen, die Noblesse des Hauses wenigstens duftlich zu wahren. Erna konnte, trotz oftmaligen Abschnupperns des Zimmers, nie exakt die Quelle des Duftes eruieren (die Wände – sonderbar – waren es nicht), er war einfach da, als wehte die gute, alte Zeit herüber in das Jammertal, in das sie geraten waren.

Erna schlich übers knarrende Parkett zum Fenster, so wie sich jemand bewegt, der Rücksicht nehmen will auf einen Schlafenden.

Aber Papa war hellwach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seiner Tochter nach, bis sie die schattenspendenden Läden entriegelt und einen Fensterflügel geöffnet hatte. Warmes, gelbes Sonnenlicht flutete das Zimmer im Bruchteil eines Herzschlags und machte Papas lichtentwöhnte Augen blinzeln. Er streckte sich, zog die Bettdecke hoch bis zum Hals und verschränkte die Hände über der Brust, wie ein Kind, das sich wohlig zurechtkuschelt, wenn es eine Gute-Nacht-Geschichte erwartet.

Sein Kopf lag, Blick zur Decke, nackenwaagrecht im Kissen, als wär’ er schon aufgebahrt. Dann schloss er die Augen, blähte die Nüstern – um seine Mundwinkel zog ein Lächeln.

»Kann’s schon riechen.« Und wirklich, allmählich gewannen die Stallgerüche, der Duft frischer Heuburden und das Tennholz, das in der Julisonne zu atmen begann, die Überhand über Moschus, Lavendelwasser und Tabak. Erna setzte sich aufs Fensterbrett, genoss mit ihm die Landbrise, die jetzt durchs Zimmer zog (sie hatte sich längst auch geruchlich auf Papas Seite geschlagen), und erzählte ihm, ohne zu sprechen, was sie sah. Und er hörte ihr zu, zum letzten Mal.

Ihre Wahrnehmung war heute eine andere als sonst, wacher, von beinah schmerzhafter Intensität. Die Nachmittagssonne ging träge über den Grubbachkamm, der schon erste Schatten in die Hänge warf.

Papas Atem wurde schwerer, der Zeigefinger seiner rechten Hand, die wie zum Gebet verschränkt in der Linken lag, hob sich kaum merklich. Er wollte sie noch einmal nah bei sich. Erna schlug das Herz bis zum Hals, als sie sich dem Bett näherte, es war ihr, als ginge sie aufs eigene Schafott. Er schlug die Augen auf. Sie konnte keine Angst mehr sehen in seinem Blick, nur Zuversicht und überzeugte Gelassenheit.

In diesem Moment wusste sie, dass er im Glauben fester war als Mama, die den ihren stets wie eine Monstranz vor sich hertrug. Erna setzte sich an die Bettkante, beugte sich näher zu ihm. Sie fühlte den rasenden Puls an seinem Hals. Er hatte hohes Fieber. Seine Lippen, blass und aufgebrochen vom trockenen Atem, klebten aneinander. Sie tauchte einen kleinen Schwamm in eine Wasserschale, die auf dem Nachtkästchen stand, netzte behutsam seinen Mund und tupfte seine Stirn ab. Seine Augen nickten dankbar. Eine Handbreit war ihr Gesicht nun vor dem seinen.

»Heute ist die große Wende, mein Kind«, flüsterte er. Erna wusste, dass er recht hatte, aber sie schüttelte den Kopf, hatte sich fest vorgenommen, stark zu sein, wenn es so weit wäre, nicht zu weinen, nicht vor seinen Augen, sie wollte ihm Hoffnung geben, bis zuletzt. Doch vergeblich ihre Anstrengung, jetzt, so nah in seinem Blick, der im Fieber flimmerte. Mit letzter Anstrengung hob er seine rechte Hand, führte sie zu ihrer Stirn und beschrieb mit dem Daumen das Kreuzzeichen, eine vertraute Geste, auf die er bei keinem Abschied je vergessen hatte, dann auf ihren Mund, das Kreuz. Um auch ihr Herz zu segnen, reichte seine Kraft nicht mehr, seine Rechte sank schlaff in Ernas Schoß. Sie beugte sich über seine Hand, küsste sie, klammerte sich an ihr fest, vergrub ihr Gesicht in ihr, damit er die Tränen nicht sehen konnte. Sein Mund war nun ganz nah an ihrem Ohr und er brauchte wieder nur zu flüstern.

»Alles auf … Erna … bitte … beide Flügel.«

Erna war froh um diesen wie ein Kommando hervorgestoßenen Wunsch, denn die Nähe zu seinem brennenden Körper nahm ihr die Luft. Seine Nasenspitze war in den letzten Minuten blutlos weiß geworden. Jeder Atemzug eine Marter. Durch die dünnen Gaumenwände konnte er sein eigenes Blut riechen, davon hatte er oft gesprochen, den pulsenden Lebenssaft, so nah am Tod. Erna stand auf, ging rückwärts zum Fenster, um auch den zweiten Flügel zu öffnen. Sein Blick blieb unentwegt an ihr haften.

Sie drehte sich zum Fenster hin, schnappte nach Luft. Der Anblick der abendlichen Koloraturen, die das wechselnde Licht ins Land zauberte, tat ihr wohl. Die sinkende Sonne hielt der Grubbachspitze ein gleißend gelbes Barett an die Schulter, und die lang gezogenen Schatten, die rasch talwärts strichen, hatten den Föhn wieder aufgeweckt. Vom Berg her sackte nun der Wind in rhythmischen Wellen übers struppige Hochland, auf dem vom Blitzschlag skelettierte Wettertannen nach oben trotzten wie verlassene Totems. Wie ein Riesenkamm fuhr er über die Wipfel der Wälder, fiel in die Maisfelder am Talgrund, die sich gehorsam wie eine Kompanie nach Osten neigten und wieder zurück in strammes Habtacht. Gebannt verfolgte Erna den Lauf der näher rückenden Windfront. Die ersten Ausläufer schossen schon durchs weit offene Fenster, an dem Erna stand, wuchsen zu solcher Stärke an, dass ihr bang wurde, wäre es doch nicht das erste Mal gewesen, dass ganze Ziegelreihen des Schlossdachs vom Sturm vertragen und so die oberen Stockwerke zu heulenden Tunnels geworden wären. Die Vorhänge flatterten wild ins Zimmer, und die Glasgehänge im venezianischen Luster begannen ein zerbrechliches Geläut. Der Wind fuhr Papa respektlos ins Haar und riss an seiner Zudecke. Eine wertvolle Vase wurde von ihrem Sockel geblasen und barst in hundert Stücke. Sekunden später stand Mutter in der Tür. Ihr entsetzter Blick galt den Scherben, die sie umgehend zusammenklaubte, laut schluchzend, war es doch ein Prunkstück sardischer Töpferkunst, mit dem sie sich hier die Hände blutig machte.

Erna hatte den Vater keine Sekunde aus den Augen gelassen. Eine kräftige Bö hatte ihn abgedeckt, sein abgemagerter Leib, in ein weißes Nachthemd gehüllt, lag nun bloß und steif in den Linnen. Wie angewurzelt stand sie, starrte aufs Bett und hielt die Luft an, wie früher in der Schule, wenn sie sich wichtigen Lernstoff merken wollte. Luft anhalten hieß auch Zeit anhalten, hieß auch probieren, ob das Leben aufhört. Es hörte nicht auf. Bei Papa aber schon. In einem letzten langgezogenen Seufzer hatte sich sein Brustkorb gesenkt, ohne sich wieder zu heben, sein Mund blieb weit geöffnet, und als sie näher kam, sah sie, dass seine Augen gebrochen waren. Sie schloss seine Lider und bekreuzigte seine Stirn. Dann trat sie einen Schritt zurück und verharrte eine lange Weile in dieser instinktiven Geste des Respekts. Als wär’ der Tod im Laufschritt vom Berg getrampelt und hätte den Papa in einem einzigen rabiaten Armschwung aus dem Leben geholt. So viel Pathos wäre nicht in seinem Sinn gewesen.

Mutter fuchtelte noch immer über dem Scherbenhaufen, ihr langes Haar, vom Sturm zerzaust, wehte in wirren Strähnen vom Scheitel. Inzwischen hatte sie die Blutstriemen der Hände auch im Gesicht, sie hatte sich den Schweiß von der Stirn gewischt. Es war ein groteskes Schauspiel, diese vornehme Frau händeringend über den Boden kriechen zu sehen, außer sich und, wenn man so will, bar aller sakramentalen Camouflage. Der Anblick machte Erna so wütend, dass sie ihre Mutter anschrie.

»Mama!« Die Betonung lag scharf auf dem zweiten A.

»Was zum Teufel willst du mit der Vase?«

»Kaputt, alles hier geht kaputt.«

»Papa ist tot … hörst du … Papa … ist … tot!« Die letzten drei Worte kamen, jedes einzeln, für sich gebrüllt, wie Gewehrschüsse. Mutter stand auf, strich sich die Strähne aus dem Gesicht und stierte auf ihren toten Mann. Ihr Atem ging schnell, sie hüstelte verlegen, als wollte sie etwas aus dem Hals bekommen.

»Gib ihm, o Herr, die ewige Ruhe.« Hastig dahingezischelt sagte sie das und bekreuzigte sich dreimal. Sie vermied es, ihrer Tochter in die Augen zu sehen, kramte in ihrer Rocktasche nach einem Rosenkranz. »Im Namen des Vaters und des Sohnes und …«

»Beten kannst später, Mama, wir müssen Papa herrichten jetzt … für den Sarg.« Sie erschrak selbst über die kühle Resolutheit in ihrer Stimme.

Die seltsame Situation erlaubte es nicht, sich der Trauer um Papa hinzugeben. Noch überwogen Wut und Scham das aufkommende Mitleid, das sie für ihre Mutter zu empfinden begann.

»Gut«, nickte Mutter gehorsam. »Gut.«

Erna nahm ein Stück weißen Leinens, schnitt damit eine provisorische Bandage zurecht, mit der sie Papas Kinn hochbinden konnte. Sie fixierte es mit einer Masche über seinem Kopf, damit der Mund geschlossen bleibt, wenn die Totenstarre eintritt. Als Kind hatte sie das in einem Krankenhaus gesehen und dabei schmunzeln müssen, weil es so aussah, als hätte die Leiche noch Zahnschmerzen. Beim Gedanken an dieses Bild hatte sie jetzt, für den Bruchteil einer entgleisten Sekunde, das Gefühl, als wär’ ein Lächeln um Papas toten Mund.

Erna schloss das Fenster im Sterbezimmer und auch alle Fenster im Gang, denn noch immer tobte der Sturm durchs Haus. Sie war überrascht, wie gefasst und ruhig sie jetzt, da es vollendet war, zu funktionieren begann. Kein Sturz ins Leere, nicht ratlose Konfusion, wie sie erwartet hatte, keine blinde Verzweiflung, sondern ein klarer, überschauender Blick ließ sie das notwendige Prozedere, das im Todesfall ansteht, klaglos in die Wege leiten.

Binnen einer Stunde würde der Bestattungsdienst im Haus sein, um die Aufbahrung vorzubereiten.

»Wir müssen ihn ausziehen und waschen, und seinen besten Anzug wird er tragen.«

Fast devot akzeptierte Mutter den schroffen Ton ihrer Tochter, legte den Rosenkranz aufs Nachtkästchen und half ihr, dem Leichnam das Nachthemd über den Kopf zu ziehen. Erna musste kurz innehalten, nachdem dies geschehen war, denn zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie Vaters Geschlecht gesehen, das verschrumpelt und blass am Schenkelansatz lag. Damit hat er dich ins Leben gebracht. Dieser Akt, von Mama stets mit strengstem Tabu belegt, erschien ihr noch immer als Mysterium, sie konnte sich Mutter in nackter Umarmung mit einem Mann einfach nicht vorstellen. Noch immer starrte sie auf seine Scham. Ein vager Anflug von Rührung überkam sie, irritierte sie, war ihr peinlich, denn sie spürte, wie Mutter stutzte, also kaschierte sie den vermeintlichen Fauxpas, indem sie wieder den Kommandoton anschlug.

»Wasser! Wir werden ihn jetzt waschen.«

»Ich kümmere mich um den Anzug«, sagte Mutter.

Erna wusste, dass sie sich nur vor der Prozedur drücken wollte, und so begann sie allein die Leiche des Vaters zu waschen.

Wie es der Brauch war, würde er drei Tage und drei Nächte in diesem Zimmer aufgebahrt bleiben, um dann begraben zu werden. Als Mutter nach einer Weile wieder in der Tür erschien, mit Papas pedantisch gebügeltem Anzug überm Arm, war Ernas Zorn verflogen. Sie nahm Mama in den Arm, drückte sie, wie sie zuvor Papa gedrückt hatte.

»Ich soll dich von ihm grüßen.«

»Das hat er gesagt?!«

»Ja, das hat er gesagt.«

In Ernas Tonfall schwang sich, ganz ohne Koketterie, ein Hauch melancholischer Erhabenheit. Eine kleine Lüge war es wieder, die wie Balsam wirkte. Der Bann war gebrochen, und Mama begann in ihren Armen hemmungslos zu weinen.

Nachdem die Leichenbestatter eingetroffen waren, konnte Erna die Zügel endlich aus der Hand geben, um den Rest den zwei Professionisten zu überlassen. Auch Mutter kam das Auftauchen dieser Herren sehr zupass, konnte sie sich doch guten Gewissens in den Hintergrund verfügen, um sich dem Rosenkranz zu widmen, den sie in hörbarem Flüsterton betete. Erna setzte sich zu ihr auf das kleine Sofa in der hintersten Ecke des Zimmers und staunte über die routinierten Griffe der Männer, deren täglich Brot der Tod ist, und sie sah, dass es beinah pietätloser Grobheit bedurfte, einen leichenstarren Arm für die korrekte Aufbahrung zurechtzubiegen. Beim Knacksen der Sehnen zuckte sie, stellvertretend für Papa, zusammen. Das von den Bestattern zurechtmodellierte schlafende Lächeln in seinem Gesicht aber blieb stabil.

Er kam ihr jetzt größer vor, fremd fast, majestätisch gestreckt in den weißen Satin des offenen Sarges. Sie konnte ihren Blick nicht von ihm wenden. Gottlob hat er nicht mehr das ganze Ausmaß der Misere erfahren, in die seine Familie geraten war, dachte Erna, er war, mit Rücksicht auf seine Krankheit, nur am Rande eingeweiht in die Dinge, wenn überhaupt, und nur mit beschönigten Zahlen. Dabei war der Bankrott so gnadenlos wie der Bazillus in seinen Lungen.

Wertpapiere, Anleihen, selbst die in Gold versicherten Staatsanleihen, Bilder, Geschirr, Schmuck, die Bücher, die vielen Bücher, die kostbaren Lampen – Ernas Kleinode – Lalique- und Muranoglas, selbst das stolze »von« in ihrem Namen, alles lang schon verloren, verschludert, vorbei. So weit war es gekommen. Man hieß nun schlicht Gaderthurn. Für Mutter eine Schmach, unter der sie litt wie ein degradierter Offizier und sie ließ es die Familie täglich wissen.

Erna hatte sich damals, nach einem Wutanfall, an den Schreibtisch gesetzt und ein Stellengesuch geschrieben, selbstredend ohne Mutters Wissen, und hatte es zwei Tage später, obwohl der Zorn schon verraucht war, abgeschickt – nach Bregenz, an den Landesschulrat für Vorarlberg. Merkwürdigerweise blieb es ohne Antwort, was Erna einigermaßen verwundert hatte. In Anbetracht der eskalierenden Ereignisse um Valerie aber kam ihr das behördliche Schweigen, das sie auf organisatorische Nachkriegswirren zurückgeführt hatte, nicht ganz ungelegen.

Es gab noch zu viel Schutt auszuräumen in ihrer Familie, auf die sie einst so stolz gewesen war. Großvater hatte es immerhin zum Landeshauptmannstellvertreter von Tirol gebracht und war in dieser Funktion vom Kaiser geadelt worden. Nicht dass ihm die Hofburg ein zweites Zuhause geworden wäre, aber geraume Zeit war er unter den Privilegierten, die ihrer Majestät dortselbst, an der kaiserlichen Tafel, huldigen, Ratschläge empfangen und, selten aber doch, Kaiserin Elisabeths graziöses Nippen am Veilcheneis bestaunen durften. Nur wenige Jahrzehnte konnte sich das öffentliche Ansehen, das Großvater seiner Sippe beschert hatte, in diesen Mauern halten. Onkel Fritz hatte noch verzweifelt und mit großer Ambition versucht, Humanismus und Geistesadel auf Schloss Gaderthurn zu bewahren, indem er eine umfangreiche, mit kostbaren Raritäten veredelte Bibliothek zusammenkaufte und schließlich ein Dutzend Genies (von Dante bis Shakespeare) in Wandfreskos bannte, inklusive seiner Wenigkeit, als Créateur dieser gehobenen Versammlung. Im Kreuzgang des Untergeschoßes, inmitten seiner Heroen, war sein Bildnis, er, Onkel Fritz, lebensgroß und seine Gründungstat in lateinischen Lettern verewigt: Fridericus Graf de Gaderthurn … fundator hujus publicae Bibliothecae, cui dedicatum est hoc castellum … Erna liebte an ihm sogar diesen narzisstischen Hang zur Selbstüberschätzung. Ein guter, ein kultivierter Mensch wollte er sein, und zum Teufel noch eins, es wär’ nicht die schlechteste Absicht gewesen, dachte Erna. Aber selbst Onkel Fritz hatte am Ende begriffen, dass die Welt nicht zu retten war.

Nur wenige Jahre waren dem Armen beschieden, den sakralen Odem seiner Bücherburg zu genießen. Er starb lange vor der Zeit. Eine Reise nach Ägypten, eine harmlose Ausfahrt auf dem Nil – sein Weg in den Tod war von neckischem Lilienduft begleitet. Irgendwo entlang der grün gesäumten Wasserstraße hatte sich ein Fluch in sein Leben gefressen: Onchozerkose, die gefürchtete Augenkrankheit, die ihm eine wild wuchernde Geschwulst durch die Stirnhöhle trieb und die Schädeldecke, einem Elefantenmenschen gleich, so grässlich ausbeulte, dass sie am Ende den Lebensnerv zermalmte.

Mit Fritzens Tod hatte das Sterben im Hause Gaderthurn begonnen. Großvaters Herz konnte den Verlust des geliebten Sohnes nicht verwinden. Er folgte ihm, noch ehe Fritz begraben war. Erna war fünfzehn damals, und die spöttischen Kommentare der Bauern, die in ihren breiten Gehöften das Schlösschen umlagerten wie aaswitternde Geier, lagen ihr lange noch schmerzlich im Ohr. »Der Totenvogel kreist über euerm Haus«, krähten die Kinder. »Der Totenvogel, der Totenvogel.«

Den Bauern waren die feinen Herrschaften über Jahrzehnte ein Dorn im Auge gewesen und zuallerletzt diese Klaviertante mit ihren roten Fingernägeln, »Valerie Valera« – die »gschtudierten Pinkel«, die nur in Büchern blättern und den Tag verrauchen, am Ende der Weisheit, die Herrschaften, am Ende. Jetzt witterten sie ihren Abgang und sie rieben sich die Hände.

Ernas Vater war es jetzt, der – als wollte er Fritzens Mission fortsetzen – mit den gottlosen Verirrungen der Menschen haderte. Die boshafte Schadenfreude der Nachbarn, die immer neue Blüten trieb, hatte ihn oft gekränkt. Zwei Weltkriege haben der Zivilisation das Gesicht entstellt, beschwor er den lieben Gott, die Herzen der Menschen seien verwüstet wie die Städte, erlöst, aber verwüstet. Man habe das Abendland überschätzt, Gott sei’s geklagt, müsse die Menschheit jetzt mit neuen Maßstäben messen und so weiter. Er konnte sich nicht sattreden am Schock, der auf ihm lastete, seit er die Leichenhaufen von Auschwitz gesehen hatte, die via Wochenschau über Österreichs Kinoleinwände geflimmert waren.

Die ethischen Appelle an den Wänden, in den Gängen des Schlosses, erschienen ihm jetzt blauäugig und lächerlich, und beim Gedanken an Valerie klang ihm selbst der Wahlspruch des Gaderthurnschen Familienwappens (im großen Bogenfenster am Ende des Ganges) wie blanker Zynismus – »labor nobilitat«, in Zierschrift auf fliegendem Band, getragen von goldnen Adlerfängen. Zappenduster werde die Zukunft, schimpfte er, zappenduster, als wäre Gott wahrhaftig tot. Er hatte sich abgekoppelt, angewidert von der verwahrlosten Welt, hockte eingeschlossen in seiner Wetterstation am Ritten und versteckte sich hinter Niederschlagsmengen, Millibar, Windstärken und Feuchtigkeitsgehalt.

Und doch, man hatte überlebt, schon zwei Weltkriege hatte man überlebt. Der Kriegsstaub hatte sich verzogen und ließ wieder Sonne durch. Friede herrschte jetzt, von Amerikanern, Russen, Briten und Franzosen kontrollierter Friede. Die Jahre gingen ins Land und die Zeit breitete zaghaft ihren heilenden Mantel über die Wunden. Vor uns liegt Zeit, Zeit zum Leben, hatte Papa gesagt. Atemholen war die Parole der Stunde. Atemholen. 1953. Papa, obwohl damals schon schwer lungenleidend, musste wieder in sein Dienstzimmer in der Drachenstation (der Name rührte von den täglich aufsteigenden Wetterballons), das er auch während des Krieges kaum verlassen hatte, tüftelte an den Geheimnissen der atmosphärischen Zirkulation und dem regionalen Wetter im Besonderen oder dozierte an der Universität Innsbruck über Klimatologie. So war es, bis vor wenigen Wochen.

Jetzt war Papa tot und alles in der Schwebe.

Seine Seele wird noch im Raum sein, wollte Erna glauben, und mit Sicherheit würde er geschmunzelt haben ob des üppig dekorierten Brimboriums, das man seinen Überresten angedeihen ließ. Drei wuchtige Kerzenständer auf jeder Seite des Sarges, dazwischen ausladende Blumengebinde und Kränze, die den Aufgebahrten in eine Wolke aus Lorbeer- und Rosenduft hüllten. An der Wand dahinter lehnte, der Länge nach aufgestellt, der schwarze Sargdeckel, der, flankiert von zwei eingetopften Thujen, einen gespenstischen Schatten an die Decke warf, einen Kreuzesschatten. Zufall wohl, denn so viel gestalterische Raffinesse hätte sie den beiden dumpfen Gesellen nicht zugetraut. Das Design tat dennoch seine Wirkung. Irgendwie war ihr nicht ganz geheuer, und sie musste an Onkel Fritz denken. Auch er war damals drei Tage lang aufgebahrt gewesen, im Nebenzimmer, und sie hatte sich gleich in der ersten Nacht aus ihrem Zimmer gestohlen, um ihn in seinem Sarg zu besuchen. Man hatte in der Verwandtschaft so viel Schauerliches über seine ausgewölbte Stirn erzählt, dass Ernas Neugier stärker brannte als ihre Angst vor dem Unheimlichen.

Der Sarg war schon verschlossen, als sie (es war ein Uhr nachts) ins Zimmer kam, als hätte man das Vorhaben der kleinen Erna geahnt. Sie hatte einen schweren Kerzenständer vom Schemel gehoben und ihn näher zum Sarg gerückt, um mehr Licht zu haben. Das kleine Fensterchen, in Gesichtshöhe in den Deckel eingefasst, war ihr bei der Lieferung des Kastens nicht entgangen.

Sie stieg also auf den Schemel, beugte sich über den Sarg, wobei sie sich mit beiden Händen aufstützen musste, und schaute durchs Fenster: Mund, Nase und das halbgeschlossene Auge des Toten konnte sie jetzt ausmachen. Das andere Auge war, bis auf eine vom Tumor zerfressene Höhle, praktisch nicht mehr vorhanden. Um aber das eigentliche Ungetüm in ihren Blick zu bekommen, musste sie sich regelrecht auf den Sarg legen, das Gesicht hart am Glas, denn das Kerzenlicht ließ nur schattende Konturen erkennen.

Sie drückte Wange und Nase am Guckfenster platt und grimassierte ins Innere, um endlich der ominösen Ausbeulung des Kopfes gewahr zu werden. Just in dem Moment, als sie glaubte, das Unsägliche zu sehen, verrutschte der Sargdeckel, offenbar noch unverschraubt, um eine ganze Ellenlänge nach links, wodurch Erna auf Onkel Fritzens Brust zu liegen kam. Sie erschrak dermaßen, dass sie vergaß, jetzt, da es endlich offenlag, das Corpus Delicti ins Auge zu fassen, stattdessen versuchte sie so rasch wie möglich den Sargdeckel in seine ursprüngliche Position zurückzuschieben und sich schleunigst davonzumachen. Auf Zehenspitzen zurück ins Zimmer und die Decke über den Kopf! Der Schreck über ihren eigenen Mut war ihr tief in die Knochen gefahren.

Tags darauf war verblüfft festgestellt worden, dass Onkel Fritzens Hände nicht mehr zum Gebet verschränkt und das Kreuz, das er in Händen gehalten hatte, auf den Bauch gerutscht war. Der Diskurs über die Gründe für diesen gespenstischen Vorfall war mindestens so merkwürdig wie der Vorfall selbst. Die Sache mit dem Lazarus-Syndrom (wonach Nervenreflexe an Extremitäten selbst lange nach dem Hirntod auftreten sollen) hatte sich Erna ins Gedächtnis gebrannt. Irgendeine entfernte Verwandte hielt allerdings stur dagegen. Diese auswärtige Tante, eine vorlaute, tumbe Vettel, schwafelte, mit Seitenblick auf Erna, irgendwas von Lausbubenstreich, aber die übrige Verwandtschaft hielt sich lieber an die spannendere Version, die gewisse transzendente Aspekte bot. Lazarus und sein Mysterium war allemal willkommener als das profane Geschwätz einer blöden, alten Kuh.

Mutter war indessen beim letzten Gesätzchen des Rosenkranzes angelangt, und Ernas Gedanken waren zu Papa zurückgekehrt. Die Bestatter hatten ihren Dienst erledigt, im Haus war es wieder still geworden. Mutter steckte ihren Rosenkranz in den Ärmel, wie sie es immer tat, wenn er in Griffweite zu sein hatte.

»Ich werd’ jetzt ein Schlafmittel nehmen, Liebes, bin zu nervös, um einzuschlafen.« Erna nickte vor sich hin, ohne sie anzusehen.

»Tu das, Mama.«

»Gute Nacht, mein Kind.«

»Gute Nacht.«

Die Machtverhältnisse hatten sich merklich verschoben. Mutter schien, zumindest vorübergehend, das Zepter aus der Hand gelegt zu haben. Papa war noch keine drei Stunden tot, und schon hatten sich die Dinge verändert.

Erna spürte, dass es nicht nur Trauer war, die jetzt in ihrem Herzen nistete. Schon als der Sturm durchs Haus fuhr, während Papa starb, ja während er starb, hatte eine merkwürdige Leichtigkeit sie angeflogen, die sie nicht wahrhaben wollte, weil es nicht wahr sein durfte, fast Beschwingtheit war es, als käme ihr gleich ein Liedchen auf die Lippen. Nichts passte zusammen in diesem fatalen Moment, als hätte sie den Verstand verloren, hatte sie ihn doch geliebt, aus der Distanz, ja, aber aus tiefster Seele. Erst seine gebrochenen Augen und Mutters ernüchternder Auftritt auf dem Scherbenboden hatten ihre Gefühle wieder ins Lot der Vernunft gerückt.

Fraglos waren auch Ernas Nerven angeschlagen, was nicht wundert, die Ereignisse der letzten Wochen hatten ihr sehr zugesetzt, und doch fühlte sie sich stark, wie nie zuvor, als sie jetzt draußen auf dem Gang vor dem mannshohen Spiegel stand. Sie musterte sich, als wäre sie eine Fremde, legte sich ihre Haare zurecht, maß ihre Taille mit den Händen, drehte sich nach links, nach rechts, wie eine, die ein Kleid anprobiert. Sie gefiel sich. Die Spuren, die einundvierzig Jahre hinterlassen, hatten ihr die Schönheit nicht nehmen können. Im Gegenteil. Der unschuldige Glanz ihrer frühen Jahre war harmlos ebenmäßig, verglichen mit der gelassenen Anmut ihrer Reife. Sie wehrte sich gegen die Zeit, die ihr Werkzeug schon ausgelegt hatte, ganz nach Plan. Sie wehrte sich gegen die Kümmernisse, die sie über die Jahre unermüdlich verfolgt hatten. Seit über acht Jahren schon war sie Witwe. Ihren gefallenen Mann, Rudolf, konnte sie nie begraben, er war irgendwo in einem Vorort von Athen von griechischen Partisanen, zu denen er übergelaufen war, verscharrt worden. Das war 1944, im September. Erna hatte daraufhin – Frau eines Deserteurs – ihre Stelle als Lehrerin an der Hauptschule Steinach am Brenner verloren und musste sich bis weit übers Kriegsende hinaus mit Nachhilfestunden und als Bibliothekarin in Bruneck durchschlagen. Erst Jahre später hatte sie von den mysteriösen Umständen seiner Ermordung Bericht erhalten. Und jetzt, da die Wunden des Krieges zu vernarben begannen, hatte sich wieder der Tod ins Haus gesetzt, wie ein alter Bekannter. Diesmal aber hatte sich eine Facette zum vertrauten Besuch gesellt, die Erna noch nicht kannte – ein merkwürdiger Optimismus, der um ihre Trauer schlich, ja sie in Aufbruchstimmung versetzte. Etwas geschah mit ihrem Leben, als wiesen ihr unverhoffte Gabelungen eine neue Richtung. Nur eine Ahnung war’s, aber sie sollte recht behalten, denn das Jahr 1953 schlug eine Schneise, die alles veränderte, für immer veränderte.

Auf der schneeweißen Bühne einer Katastrophe sollten ihr, nach einer dicht gelebten Spanne weniger Monate, größter Schmerz und zugleich höchstes Glück begegnen.

Und buchstäblich würde kein Stein mehr auf dem anderen bleiben.

Noch wusste Erna nichts von dieser Zukunft, dem anderen Leben, aber sie fühlte es, wie Morgentau, als begänne für sie eine neue Zeitrechnung.

Leicht, mit tänzelnden Schritten, ging sie die Stiegen hoch, öffnete eines der Fenster im Obergeschoß und genoss die klare Nacht. Schloss Gaderthurn lag friedlich, devot fast, an den Fuß der altehrwürdigen Michelsburg geschmiegt, unterm Mond von St. Lorenzen im Pustertal. Sie lehnte sich aus dem Fenster, streichelte mit der Hand über die Außenmauer, aus der noch Tageswärme strahlte. Sie wollte den Augenblick sichern mit ihren Gedanken, irgendwann vielleicht erzählen davon.

Ein solider Bau war Gaderthurn, ganz im Gelb der Schwarzmanderkirche (so hatte es Mutter gewollt), drei Stockwerke hoch, im festen Griff von Efeuranken, die Erna ertasten konnte, wenn sie sich weit genug hinauslehnte. Vier pentagonale Türmchen (eines für jede Himmelsrichtung), deren steile Giebel das Dach des Hauses um etliche Zoll überragten, umfassten die Mauern. Eben dieses Spezifikum verlieh dem Bau den Charakter eines Schlösschens, einer kleinen, vornehmen Trutzburg, umgeben von mächtigen Kastanienbäumen und einem schilfumkränzten Weiher. Zwischen dem zweiten und dritten Stock war in die Nordmauer eine Nische eingelassen, in der eine geschnitzte Marienfigur thronte, zum Schutz und Wohle des Hauses und seiner Bewohner. Für einen Moment war Erna versucht zu glauben, die heilige Maria hätte, vorübergehend, ihren Dienst quittiert.

Sie konnte nicht einschlafen in jener Nacht. Seit Stunden lag sie wach. Wie damals, bei Onkel Fritz. Unentwegt stand ihr das Bild der aufgebahrten Leiche vor Augen, die zwei Stockwerke unter ihr im Zitterlicht der Kerzen lag … Noch war die Verwirrung nicht zu Ende. Wie lästige Dämonen schlichen sich unstatthafte Regungen in ihre Trauer. Nicht nur der Optimismus, auch anderes Teufelszeug. Papa ist tot, Erna, und Mama wird es überleben, nicht den Zug versäumen, deine Pflicht ist getan, Schwester, und das Feld für deine Kür liegt brach vor dir, hörst du! Jeder Tag zählt. Jeder Tag.

Sie drehte sich zur Seite, wo ihr Nachtkästchen stand, um die Einflüsterer loszuwerden. Rudolf lächelte sie an, in Uniform, lässig auf einem Ankertau sitzend, im Hafen von Piräus. Auf seinem Schoß, mit Tuschfeder ins Foto gekritzelt, die lächelnde Erna. Eine sehr gelungene Collage, nicht umsonst war er der talentierteste unter den technischen Zeichnern seiner Kompanie. September ’43 stand unter seiner Signatur, ein Jahr vor seinem Tod also … Die Fotografie war mit einem seiner letzten Briefe gekommen. Das Lalique-Lämpchen auf dem Nachttisch hielt ein mildes Braun in sein Gesicht, ließ ihn aussehen, als wär’ er auf Erholungsurlaub …

Wenn sie lange genug in seine klaren Augen sah, tat ihr noch immer das Herz weh. Einen Sohn hatten sie sich gewünscht. Und einen Friedensschluss mit Mama. Der Krieg hatte sich beides verbeten. Nicht nur der Krieg. Erna wusste das. Ein Friedensvertrag mit Mutter war so utopisch wie der idiotische Endsieg.

Kaum im heiratsfähigen Alter, war Erna zur alleinigen Trumpfkarte in Mutters ehrgeizigen Zukunftsplänen geworden, und eines Tages, in voller Blüte stehend, würde die Karte stechen und den verlorenen Glanz in Mutters Leben zurückbringen. Männer edelblütiger Herkunft würde Erna in einem Lehrerkollegium niemals finden, prophezeite sie, weshalb sie alles daransetzte, ihre hübsche Tochter in eine renommierte Brunecker Bibliothek zu vermitteln, deren Mitbesitzer ein distinguierter Gelehrter war, mit besten Verbindungen zu hohen und höchsten Kreisen aristokratischer Provenienz. Zudem waren durch dessen temporäre Korrespondenz mit Onkel Fritz schon gewisse Bande zur Familie geknüpft. Sie wollte ihre Tochter in eleganten Salons brillieren und nicht im täglichen Trott einer Schule versauern sehen. Dabei wusste sie, wie viel Erna an ihrer Arbeit gelegen war, dass sie nicht Bibliothekarin oder gräfliche Gattin, sondern schlicht Lehrerin sein wollte, mit Leib und Seele.

Aus Rücksicht auf Mutters angegriffene Nerven lenkte Erna ein und begann ihre Arbeit in der vornehmen Bücherklause, die in einem Seitenflügel des Kapuzinerklosters untergebracht war.

Sie hatte ihre Stelle an der Hauptschule Steinach zwar verloren, aber nicht verhindern können, dass ihr Wesen damals auch auf nicht aristokratische Gemüter inspirierend gewirkt hatte. Und auch Erna hatte sich verliebt, in einen Kollegen, der, noch bevor sie sich duzten, hundert Porträts von ihr gezeichnet hatte. Monatelang funktionierte die diskrete Liaison, bis sich Erna schließlich aufraffte und der Geheimnistuerei ein Ende setzte.

An einem frostigen Novembertag des Jahres 1939, die Ereignisse in der Welt draußen hatten sich längst überschlagen, stand sie mit Rudolf vor der Eingangstür des Schlosses. Er war schon eingezogen worden, sah stattlich aus in seiner Uniform und war voll der Zuversicht, auf seine zukünftige Schwiegermutter einen angemessenen Eindruck zu machen.

Mutter hatte die beiden kommen sehen und öffnete die Tür, noch bevor Erna den Schlüssel ansetzen konnte. Erna versuchte verbissen einen fröhlichen Ton anzuschlagen.

»Mama, ich möchte mir erlauben, dir meinen Verlobten vorzustellen, er ist Lehrer in Steinach und eigentlich ist er ein Künstler, du wirst …«

Sie konnte nicht zu Ende sprechen, denn Mutter hatte ihr, ohne Rudolf eines zweiten Blickes zu würdigen, links und rechts eine geschmiert, regelrechte Maulschellen versetzt.

Dann fiel die Tür ins Schloss.

Erna war 27 damals und in diesen demütigenden Sekunden endgültig erwachsen geworden. Das geschmähte Paar heiratete heimlich, und der Krieg schrieb den Rest der Geschichte.

Verzichten, das hatte Erna gelernt, darin war sie Experte. Verzichtet hatte sie zeit ihres Lebens, verzichtet auf die kleine Wohnung in der Boznerstraße, Mutter zuliebe, verzichtet auf ihre geliebte Schule, verzichtet auf den Ravel-Abend, weil Mama einen kleinen Empfang im Pfarramt vorzog, verzichtet auf das süße Abendkleid, weil Mama das Dekolleté zu gewagt fand, verzichtet auf die Zeit, die sie benötigt hätte, um Atem zu holen, den ihr die Mutter nahm, verzichtet aus Loyalität, aus Pflichtgefühl, aus Mitleid, aus Liebe wohl auch, verzichtet allemal.

Sie zog Rudolfs Fotografie näher zu sich und legte sich wieder auf den Rücken. Ihr war, als beobachte er sie tatsächlich. Das Odeur der eingehäkelten Lavendelpölsterchen unter ihrem Kissen mischte sich mit dem Duft, den ihre Haut verströmte. Zornig erregt war sie. Ihr Blut begann sie wieder zu beleben, ohne ihr willentliches Zutun, prickelte bis in die Fingerspitzen. Es geschah mit ihr, und sie ließ es geschehen. Als hätten sich die Einflüsterer wieder frech und unbemerkt auf Ernas Zug geschwungen, um nun unaufhaltsam von Waggon zu Waggon stürmend endlich das Führerhaus zu erobern. Erna konnte sie schon hören, wie sie von Deichsel zu Deichsel huschten, kichernd und siegesgewiss, selbst über die Dächer kamen sie und wie klebrige Spinnen entlang der Außenwände, eine entschlossene, fröhliche Armee, die sich ungestüm in ihren Körper mischte. Es waren nicht die Argumente der Dämonen diesmal, sondern einzig ihr lüsternes Siegerlächeln, das Erna kapitulieren ließ. Sie ließ sie gewähren, ja mehr noch, ließ sich, betört von ihrem lasziven Charme, das Kommando bewusst entreißen. Und schon griffen Hände, Arme und Blicke ihren Körper ab. Die Finger eilten zur Scham und wieder zum Mund und zurück.

Das kleinlaute »nein« ihres Gewissens wurde übertönt vom Seufzen, das ihr in den Atem kam. Nichts wollte verzichten, nicht mehr verzichten, alles pochte auf sein Recht, mit den Händen die Brüste zum Mund, nichts wollte mehr ungeküsst bleiben, alles spreizte sich frivol, umarmte sich.

Rudolfs Fotografie hatte sie aus dem Blick verloren im Schauer, der über sie gekommen war, so ansatzlos. Sie erwachte, verschreckt und nüchtern, von Scham keine Spur.

Ein Räuspern draußen am Gang ließ sie hochfahren. Es war nicht der innere Tumult, der sie zurückgeholt hatte, sondern ein profanes, irdisches Geräusch, als klatschte etwas an Glas und Wände, ein Plumpsen und Poltern war es und dazwischen nervös gefächelte Luft. Dann wieder Ruhe.

Erna stand auf. Auf dem Weg zur Tür begegnete sie sich im Spiegel. In ihren Brauen glitzerten Schweißperlen, und jeder Wimpernschlag schickte ein kleines Rinnsal über die Wangen. Nasse Haarsträhnen klebten am Hals. Sie erschrak ein wenig über die blasse Frau, die noch immer bebte, als hätte sie eben, auf Tod und Leben, einen Eindringling in die Flucht geschlagen. Die frechen Flüsterer waren längst über alle Berge, und Ruhe hatte sich übers Haus gelegt, unterbrochen nur, jetzt wieder, vom Poltern draußen am Gang. Für Lazarus ist es schon zu spät, dachte Erna, und Geister gibt es keine, also öffnete sie die Tür. Nein, Angst hatte sie keine, die Nacht war seit je ihre Vertraute, und seit Onkel Fritz konnte sie nichts mehr schrecken. Als sie auf den Gang hinaustrat, war ihr, als stünde sie in einer Gruft. Die schweren, aufdringlichen Düfte, die das Sterbezimmer verströmte, hatten inzwischen auch die oberen Stockwerke erfasst, überall roch es, als wäre das Haus eine Kirche.

Sie zog den Morgenmantel über und begann das Geräusch zu verfolgen, das auf jeden ihrer Schritte reagierte. Über den Gang, durchs Stiegenhaus, das Luftfächeln rührte wohl von Flügelschlägen, so weit war die Sache überschaubar, dann den zweiten Stock entlang und wieder das Stiegenhaus, immer zorniger schlugen die Flügel gegen Wände und Fenster auf dem Weg nach unten, dann wieder Ruhe.

Das einzige Geräusch, das jetzt noch zu hören war, drang aus Mutters Schlafzimmer. Wie immer wenn sie Tabletten genommen hatte, war sie in narkotische Bewusstlosigkeit gesunken und schnarchte wie ein alter Mann.

Erna schlich auf Zehenspitzen ein paar Schritte weiter, durch die halb offene Küchentür, und hatte den Kobold schließlich im Visier. Eine junge Elster, die sich, vom Sturm ins Haus verweht, wohl in den Vorhängen verheddert hatte … Sie saß in Ernas Salatschüssel und stocherte einen Silberlöffel aus den schlaffen Karotten. Als Erna die Küche betrat, flatterte das Tier zur Deckenlampe hoch. Sie öffnete das Fenster und hielt den Löffel hinaus ins matte Licht.

»Hau ab, Totenvogel!«

Eine Zeit lang sahen sie sich in die Augen.

»Aber subito!« – und weg war die Elster.

Erna sah dem Vogel nach, bis er, noch unschlüssig kreisend, hinter einem der Bauernhöfe verschwunden war. Dann schloss sie das Fenster.

Was jetzt? Für die nächsten Stunden würde sie keinen Schlaf mehr finden, so gut kannte sie ihren Körper, zu viel Adrenalin im Blut. Wie ferngesteuert begannen ihre Hände die Küche aufzuräumen, den Salat zu entsorgen, Geschirr abzuwaschen, zu trocknen, Anrichte und Herd von Resten zu säubern. Bei jedem Messer, jeder Gabel, die sie ins Besteckfach schob, sagte sie sich, adieu ihr Freunde, das war’s. Sie tätschelte die Zitronenpresse, stellte Salz und Pfeffer zwillingsgleich in ihr Fach, hauchte übers Glasfenster des Geschirrschranks, polierte den alten Glanz hinein. Sie nahm Abschied von der Küche, von ihrer Küche. Abschied nehmen, das machte sie zum Programm jener Nacht.

Sie wusste, es blieb nur wenig Zeit, Graf Wehrberg würde sie, aus Pietätsgründen, noch eine Weile im Schloss gewähren lassen, wenigstens bis kurz nach der Beerdigung. (Die Bibliothek im Kloster hatte Erna seit Vaters kritischem Zustand sowieso arbeitsfrei gestellt.)

Später dann würde ein Notartermin und die Verlesung des Testaments alles Künftige entscheiden.

Erna schloss die Küchentür hinter sich. Als sie am Totenzimmer vorbeikam, verlegte sie ihren Gang unbewusst auf die Zehenspitzen, zu oft hatte sie Rücksicht genommen auf seinen leichten Schlaf. Friedlich lag er, tief in seinem schweren Sarg, und gerne hätte sie sich jetzt zu ihm gesetzt und ihm, ganz ohne Hemmung und Vorbehalt, von ihren unschicklichen Anwandlungen erzählt. Von dort, wo er jetzt war, kann nur Barmherzigkeit kommen, dachte Erna, wer soll denn dort noch den Drohfinger erheben gegen ein schwächelndes Menschenkind? Papa lächelte.

Niemals hätte sie zu seinen Lebzeiten, in seiner Gegenwart, ihr Innerstes nach außen gekehrt, zu viele Tabuschilder standen zwischen ihnen, aber jetzt, diesem anderen Papa, befreit vom irdischen Kleingeist, ihm würde sie auch das letzte Geheimnis anvertrauen, und er würde verstehen und er würde vergeben. Sie streichelte ihm übers Haar, über die Wangen, die gefalteten Hände, setzte sich an den Fuß des Sarges und überlegte, aber der treffende Erzählton ließ sich nicht finden, die immer aufdringlicher werdenden Geräusche aus Mutters Schlafzimmer ließen die rechte Stimmung nicht aufkommen, das grunzende Schnarchen nahm dem Ritual jegliche Würde.

Erna erhob sich wieder von ihrem Stuhl und ging in ihr Zimmer hinauf. Mit geübtem Griff zog sie ihr Mahagoni-Grammophon aus der Kommode, fingerte übers Regal, wo zwischen Brockhausband VIII und IX Ravels Bolero stehen musste. Sie hatte ihn dort versteckt, nachdem ihr aufgefallen war – es muss kurz vor Valeries überstürzter Abreise gewesen sein –, dass sich ihre Schallplattensammlung quasi in Luft aufgelöst hatte. Glücklicherweise konnte Valerie nicht ahnen, dass Ernas erklärter Liebling, dem sie so oft mit Papa gelauscht hatte, gerade einer Spezialreinigung unterzogen wurde und deshalb nicht am gewohnten Platz zu finden war. So kam es, dass Maurice Ravels Meisterstück zum einzig verbliebenen Tonträger im Hause Gaderthurn geworden war.

Erna nahm die schwarze Scheibe andächtig aus der Hülle. Der erste Kontakt zwischen Nadel und Vinyl ergab ein dezentes Knistern, schon rhythmisiert durch die kreiselnde Bewegung, dann die Celli, die den Teppich legten, bis sich die Fagotte aufschwangen zum eigentlichen Thema. Erna kickte ihre Hauspantoffeln unters Bett und drehte barfuß ein paar schüchterne Pirouetten. Lass dich nicht stören, Erna, dreh dich nur, dreh dich, unüberlegt sind wir doch alle, hatte Papa gesagt, wenn er dich und deine Streiche entschuldigen musste, wir kommen schon unüberlegt zur Welt. Dreh dich nur. Keiner sieht’s.

Papa wusste Bescheid, irgendwie wusste er immer Bescheid. Eine Instanz der Sicherheit, wenn er im Hause war, trotz seiner Weltfremdheit, und oft genug war er die weise Antwort, beruhigend und heimelig, wie ein alter Chesterfield.

Sie streifte um den kostbaren Sekretär, in dessen Schubladen sie Rudolfs Skizzen gestapelt hatte, drehte eine Sitzpirouette auf dem bauschigen Schemel vor ihrem Schminktischchen (die Verführte hatte wieder Farbe im Gesicht), streichelte über die Rokokopuppe, die ihr Papa vor 30 Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, tanzte vorbei an der Jugendstilnymphe aus Muranoglas, die zugleich eine Lampe war, dann hinüber zur Bücherwand, zu den alten Gefährten, und schließlich hinaus zur Tür, die sie weit offen ließ, um auch der Musik freie Fahrt durchs Schloss zu lassen. Im Gang draußen hallten die Töne wider an den dicken Steinmauern, Dante und die anderen hörten zu, wie sich die Kontrabässe ihren Weg durchs Stiegenhaus bahnten, und als sich Erna wieder am Fuß des Sarges niederließ, echote der Bolero noch immer hinterdrein. Mamas Schnarchen hatte sich in Ravels Musik aufgelöst, verwoben mit dem Knistern, das die Musik vor sich hertrug wie ein Heiligtum. Das wäre nun der rechte Rahmen, dachte Erna, das Kerzenlicht mischte sich allmählich mit dem Silber, das vom Himmel draußen kam, dann hob sie an zu erzählen, und die Worte flogen ihr zu … eine leichtfüßige Beichte, ganz ohne Strafgericht und Buße, denn Zeuge war nur der Mond, der Schweiger.

Zwei Tage später wurde Papa im engsten Kreis zu Grabe getragen. Eingehängt in Mama, folgte Erna dem schwankenden Sarg, der auf ungleichen Männerschultern schwebte. Zornig machte sie das Bild – mit einem Sarg kannst du kein Gespräch mehr führen, nur Monologe ins Eichenholz bohren, bis die Tränensäcke leer sind, anstatt sich zu Lebzeiten gegenseitig die Seelen durchzulüften.

Papas Nachfolger auf der Wetterwarte hatte sich eingefunden, zwei Kollegen aus Innsbruck, zwei Ministranten, zwei Totengräber, der Pfarrer, Mama und Erna. Valerie war nicht gekommen. Eine Kreuzreihe entfernt duckten sich zwei der Bauersleute aus der Nachbarschaft hinter einen steinernen Engel, der mit gespreizten Flügeln den Friedhof überwachte, und sie bekreuzigten sich, als der Sarg zur Erde gelassen wurde. Vielleicht wussten sie, dass Papa sie eigentlich gemocht hatte, und vielleicht ahnten sie, dass sie mit den Düften ihrer Scheunen sein Leben ein wenig versüßt hatten. Als Erna sich von den beiden ins Auge genommen fühlte, nickte sie ihnen ein Lächeln zu.

Friedlich fühlte sich der Tag an, allein durch die kleinen Gesten der Einsicht und Vergebung, der Gang der Dinge hatte eben seine schmerzhafte Ordnung, wieder war der Vorhang gefallen hinter einem zu kurzen Leben, man hatte geweint, gebetet und Respekt gezollt, und man ging ins Leben zurück. Erna wusste, jetzt stand sie mit Mama im Niemandsland.