Das Gift und wir -  - E-Book

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Beschreibung

Sie finden sich überall: im Trinkwasser, im Gemüse, im Obst, im Getreide, in der Milch, im Bier – in vielen unserer Lebensmittel. Und in uns selbst: im Gewebe, im Urin, in der Muttermilch. Überall da, wo sie nicht hingehören und nicht hingelangen sollen, finden wir die giftigen Hinterlassenschaften der industrialisierten Landwirtschaft, die Rückstände der synthetischen Pestizide. Ihr weltweiter Einsatz ist zu einem gewaltigen Vernichtungsfeldzug geworden, der vielen Pflanzen und Tieren auf dem Land das Überleben unmöglich gemacht hat. Es ist höchste Zeit, das Gift von den Äckern zu verbannen und wieder mit der Natur und dem Leben zusammenzuarbeiten. Dieses Buch zeigt auf, wie die synthetischen Pestizide zur Bedrohung wurden und wie es ohne sie weiter gehen kann und muss.

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Seitenzahl: 508

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Mathias Forster undChristopher Schümann (Hrsg.)

DAS

GIFT

und WIR

Wie der Tod über die Äcker kam undwie wir das Leben zurückbringen können

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.westendverlag.de

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2020

ISBN: 978-3-86489-294-3

eISBN: 978-3-86489-788-7

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2020

Umschlaggestaltung: Anna Krygier

Illustrationen: Annika Huskamp

Redaktion: Florian Schwinn

Satz: Anna Krygier

Dieses Buch widmen wir den Bäuerinnen und Bauern, Gärtnerinnen und Gärtnern, Winzerinnen und Winzern, die gelernt haben, wie man ohne synthetische Pestizide qualitativ hochwertige Lebensmittel erzeugen kann, und jenen, die gerade erst anfangen, das Bisherige in Frage zu stellen und nach neuen Wegen zu suchen.

INHALT

PROLOG

ALLES, WAS RECHT WIRD

von Corinne Lepage

SYSTEMWECHSEL!

von Mathias Forster und Christopher Schümann

Die Metamorphose

WEN WIR VERLIEREN – UND WARUM

von Eva Inderwildi

Immer intensivere Bewirtschaftung

Verlust der Strukturen

Mangel an Information und biodiversitätsschädigende Anreize

1 DAS VERGIFTETE LEBEN

UNSER TÄGLICH GIFT

von Johann G. Zaller

Wandernde Pestizide

Vielfache Tode

DER WEG IN DIE ABHÄNGIGKEIT

von Lars Neumeister

Insektizide – von Arsen bis DDT

Die arsenische Periode

Fungizide

Herbizide

Lange Geschichte – kurzer Prozess

VERLUSTANZEIGE

Der Baumweißling

DUALE EINSEITIGKEIT

von Joseph Amberger

Geschichte der landwirtschaftlichen Ausbildung

Berufsbild Landwirt

Neue Lehre?

DAS STERBEN DER ANDEREN

von Tanja Busse

Das Ende der Allmende – und der Vögel

Intensivlandwirtschaft – Tod der Vielfalt

Fehlende Schlüsselarten – zusammenbrechende Systeme

Rettung der Kulturlandschaft

DIE BELASTUNG VON BÄCHEN UND FLÜSSEN

von Christian Stamm

Verstärkte Suche – veränderte Messprogramme

Quellen der Belastung

Auswirkungen auf Gewässerorganismen?

Aktionsplan – Ausgang ungewiss

VERLUSTANZEIGE

Der Rotkopfwürger

GIFT IM LEBENSMITTEL NUMMER EINS

Ein Gespräch mit Kurt Seiler

WERTLOSE WERTE

von Peter Clausing

Zulässige Rückstandswerte

Trügerische Sicherheit

Dosis-Wirkungs-Beziehung

Mehrfachexposition

Pestizide in der Atemluft

Gefährdete Gesundheit

ATMEN WIR PESTIZIDE?

von F. Hofmann, U. Schlechtriemen, N. Kohlschütter und R. Vögel

Schadstoffspeicher Baumrinde

Ergebnisse des Rindenmonitorings

Pestizide überall

VERLUSTANZEIGE

Die Heideschrecke

DIE ALTLASTEN UND DIE GRENZWERTE

Ein Gespräch mit Martin Forter

BLINDE TESTMETHODEN

von André Leu

Krebs …

… und andere Krankheiten

Kinder interessieren nicht

Gefährdung von Föten und Neugeborenen

Entwicklungsneurotoxizität

Hirnanomalien und IQ-Reduktion

Hormonelle Störungen

Schutz unserer Kinder

VERLUSTANZEIGE

Die Bachforelle

DIE WELT VON SYNTHETISCHEN PESTIZIDEN BEFREIEN!

Ein Gespräch mit Edward Mitchell

Kleinste Dosen wirken

Belasteter Bio-Honig

Aufwachen und umstellen

2 DAS PANORAMA

DER FALL GLYPHOSAT I

von Helmut Burtscher-Schaden

Systemversagen

Nebelkerzen

Copy & Paste statt unabhängiger Bewertung

Falschdarstellung epidemiologischer Studien

Übersehene Tumorbefunde

Fehlleistungen und Lerneffekte

DER FALL GLYPHOSAT II

Ein Gespräch mit Christopher J. Portier

Systemische Fehler

Abhilfe Transparenz

Interessenskonflikte

VERLUSTANZEIGE

Die Feldlerche

RECHTSFRAGEN

von Angeliki Lyssimachou und Martin Dermine

Prinzip Vorsorge

Zweistufiges Verfahren

Beistoffe, Hilfsstoffe und Pestizid-Formulierungen

Cocktaileffekte

Unregelmäßigkeiten bei der Zulassung

Betrug im Zulassungsverfahren

Wer bezahlt die Gemeinkosten?

ANDERE LÄNDER — ANDERE STANDARDS

von Ulrike Bickel

Hochgefährliche Pestizide

Globaler Machtkampf

Entwicklungsland USA

Entwicklungs- und Schwellenländer

Teufelskreis

Und weiter?

DAS GESCHÄFT MIT DEM GIFT

von L. Gaberell, G. Viret und C. Hoinkes

Krebs, Fehlbildungen, Fruchtbarkeitsstörungen

Vergiftete Bäuerinnen und Bauern

Bienenkiller

Molekular-Kolonialismus

Landwirtschaft entgiften

VERLUSTANZEIGE

Der Schwalbenschwanz

DIE WAHREN KOSTEN!

von Volkert Engelsman

Karma als Geschäftsmodell

Ein bankrottes Wirtschaftsmodell

Nachhaltigkeit im Finanzsektor

Echtkostenrechnung in der Landwirtschaft

Konventionell ist zu billig!

Ernährung und Landwirtschaft im Jahr 2040

WAS KOSTET WELCHE LANDWIRTSCHAFT?

Ein Gespräch mit Rainer Weisshaidinger und Adrian Müller

Unzureichende Datenlage

Akuter Handlungsbedarf

Politische Leitlinien

3 DAS ZUKUNFTSBILD

AGRARÖKOLOGIE STICHT AGRARCHEMIE

von Felix zu Löwenstein

Kampf gegen die eigenen Grundlagen

Stabile Systeme

Auf Eingriff folgt Eingriff

Auf dem Weg

DIE ALTERNATIVEN

von Claudia Daniel

Unterschätzte Kulturmaßnahmen

Funktionelle Biodiversität

Biocontrol-Organismen

Biopestizide für den Notfall

Smarte Zukunft?

VERLUSTANZEIGE

Die Felchen

WENIGER IST MEHR

Ein Gespräch mit Andreas Bosshard

ERFOLGSMODELLE OHNE PESTIZIDE I

von Bernd Kiechle

Markt der Monokultur

Der Baum als Ganzes

Bodenleben und Humusaufbau

Auf dem Weg

ERFOLGSMODELLE OHNE PESTIZIDE II

von Christopher Schümann

Wasserhaushalt

Suche nach Gleichgewicht

Vielfalt als Schutz

Von Bauer zu Bauer

VERLUSTANZEIGE

Der Rote Apollo

GESCHICHTE EINER UMSTELLUNG

von Hans Braunwalder und Martin Ott

Die Vision eines neuen Anfangs

Was wir vorfanden

Erste Schritte der Umstellung

Schwierigkeiten und Komplikationen

Vision und Realität

Mehrwert

ERFOLGSMODELLE OHNE PESTIZIDE III

Ein Gespräch mit Roland Lenz

ERFOLGSMODELLE OHNE PESTIZIDE IV

von Peter Kunz

Handeln in der lebendigen Ganzheit

Drei Erträge

Schutz, Pflege und Weiterentwicklung von Gemeingütern

VERLUSTANZEIGE

Die Westliche Honigbiene

ZUKUNFTSBILD I

von Bernward Geier

Seid realistisch:

Fordert das Unmögliche!

Agrarrevolution

Marktentwicklung

ZUKUNFTSBILD II

Ein Gespräch mit Vandana Shiva

VERLUSTANZEIGE

Der Rote Scheckenfalter

ZUKUNFTSBILD III

Vier Fragen an Pawan Chamling

ZUKUNFTSBILD IV

von Urs Brändli

Umdenken aus Betroffenheit

Wertschätzung für Biobauern

Preiskampf im Regal

Rahmenbedingungen für nachhaltige Landwirtschaft

IN PARTNERSCHAFT MIT DER NATUR

Ein Gespräch mit Sepp Braun

VERLUSTANZEIGE

Die Turteltaube

MEHR DENN JE ÜBERZEUGT!

von Peter Grossenbacher

AMPFERKAMPF

von Martin Ott

BEGEISTERUNG, HANDWERK UND LIEBE

von Martin von Mackensen

Den ganzen Menschen ansprechen

Methodenkoffer und große Bilder

Fragen ernst nehmen – Beobachten üben

Eigene Zugänge finden

Zukunft eröffnen

VERLUSTANZEIGE

Die Grauschuppige Sandbiene

HANDEL OHNE WERTE …

von Sascha Damaschun

Wenn dich das Leben in einen Misthaufen stellt, mach Humus draus

Das Wunder des Lebens beginnt im Boden

Es geht nicht um ein Stück vom Kuchen

Es braucht den Dialog, um Gräben zu überwinden

EIN MYTHOS AUF DEM PRÜFSTAND

von Bernward und Marin Geier

Die Diskussion über die »Ertragskluft«

Das Ertragspotenzial der Biolandwirtschaft

Das Ertragspotenzial im konservierenden Landbau

Ertrag und Welternährung

Nutzfläche und Ernteertrag

Wann der Ertrag eine Rolle spielt

Resilienz

BESSER FÜR DIE UMWELT – GESÜNDER FÜR DIE MENSCHEN

von Bernward Geier

VERLUSTANZEIGE

Die Schwarze Mörtelbiene

NAHRUNGSSYSTEME NACHHALTIG TRANSFORMIEREN

von Hans Rudolf Herren

Mit der Natur - nicht gegen sie!

Exkurs: Was ist Agrarökologie?

Kurswechsel statt Symptombekämpfung

Wissen und Tun

ZURÜCK IN DIE GEGENWART

von Martin Ott

Etappen des Umbaus

Ernährungs- und Gesundheitsreform

Die Neuordnung des Finanzsystems

Die Anfänge

ANHANG

LITERATUR

ANMERKUNGEN

BILDNACHWEIS

AUTORENUNDBUCHTEAM

BIO-STIFTUNG SCHWEIZUNDBODENFRUCHTBARKEITSFONDS

DANKSAGUNG

Ein Vorwort

ALLES, WAS RECHT WIRD

von Corinne Lepage

Der Klimawandel hat das Aufkommen einer weltweiten Debatte auch auf dem Feld des Rechtes in Gang gebracht. Es geht dabei um Klimagerechtigkeit. Im gleichen Sinne hat das Thema synthetische Pestizide und ihre Toxizität für Menschen, Tiere, Böden und generell für das Leben den Weg in die öffentliche, wissenschaftliche und politische Diskussion gefunden. Eine der Fragen, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die nach der gesundheitlichen Gerechtigkeit. Wie gehen wir mit Menschen um, die nachweislich durch synthetische Pestizide gesundheitliche Schäden erlitten haben? Und wie schützen wir die Menschen wirksam vor den möglichen Gefahren dieser Stoffe?

Diese Fragen haben mehrere Facetten und sie werfen ein Licht auf verschiedene Störungen unserer Gesellschaft. Die vielen durch synthetische Pestizide getöteten oder gesundheitlich schwer geschädigten Menschen sind Ausdruck des Versagens staatlicher Kontrollinstanzen. Was die Gesundheitsgerechtigkeit betrifft, sind Fragen nach der Toxizität der verschiedenen Pestizide und ihre kausale Beziehung zu menschlichen Krankheiten wie Krebs, neurodegenerative Erkrankungen, Non-Hodgkin-Lymphome entscheidend.

Es liegt auf der Hand, dass die Wissenschaft unabhängig von wirtschaftlichen oder politischen Interessen die Gefährlichkeit von Pestiziden untersuchen und bewerten muss. In diesem Sinne müssen die aktuellen Bewertungsverfahren für Pestizide, und die Arbeitsweise öffentlicher Fachgremien, sowie das Gebaren der großen Agrarchemielobbys hinterfragt werden. Denn durch die Erfahrungen der letzten Jahre ist deutlich geworden, dass sich allzu oft Industrieinteressen in der Forschung, aber auch in der Politik, gegen das Gemeinwohl durchgesetzt haben. Damit ist klar, dass in Zukunft verstärkt Druck auf öffentliche Entscheidungsträger ausgeübt werden muss, um das Leben und die Gesundheit von Menschen ausreichend zu schützen. Dies betrifft sowohl die generelle Regulierung von Pestiziden als auch die Zulassungen für spezifische Wirkstoffe und Produkte. Die Manipulation von wissenschaftlichen Erkenntnissen, um Risiken zu verharmlosen oder diese sogar gänzlich zu verheimlichen, ist häufiger beobachtet worden. Wir müssen als Gesellschaft Wege finden, diesen Zustand zu beenden.

In letzter Zeit wird das Thema Pestizide zunehmend hochpolitisch, im besten Sinne des Wortes. Längst haben Städte und Regionen damit begonnen, beim Umgang mit synthetischen Pestiziden eigene Wege zu gehen. Und das ist gut so. Ebenso haben Nichtregierungsorganisationen oder sogar Bauernverbände Aufklärungs- und Kontrollfunktionen übernommen, die eigentlich in der Verantwortung der nationalen oder der europäischen Politik liegen, um die öffentliche Gesundheit und die Umwelt zu schützen.

Das gemeinsame Verständnis und die Sorge im Hinblick auf diese Themenbereiche haben längst globale Bedeutung erlangt, was sich auch auf laufende Rechtsstreitigkeiten auswirkt.

So konnten die Monsanto-Papiere, die im Rahmen kalifornischer Rechtsstreite zwischen an Non-Hodgkin-LymphomenI erkrankten Landwirten und der heutigen Bayer-Tochter veröffentlicht wurden, auch in französischen Verfahren verwendet werden. Diese hatten zum Ziel, die Marktzulassung von Roundup zu annullieren, das als Wirkstoff Glyphosat enthält. Die Interpretation der EU-Richtlinie über die Marktzulassung und den Einsatz von Pestiziden, die der EU-Gerichtshof im Vorabentscheidungsverfahren zur Klärung einer Vorlagefrage des Strafgerichts im okzitanischen Foix vorgenommen hat, wird sehr wahrscheinlich als Grundlage für zahlreiche Verfahren dienen. Das bedeutet, dass die Markzulassung von Pestizidprodukten zunehmend in Frage gestellt wird, deren Wirkstoffe bisher auf europäischer Ebene zugunsten der Industrie bewertet wurden.

Die Beispiele sind vielfältig, und auf der ganzen Welt nehmen die Gerichtsverfahren zu, die es den verschiedenen Opfern gestatten, die Erfolge von Präzedenzfällen zu nutzen und sich auf die von Richtern festgestellten Tatsachen zu berufen.

Die französische Organisation Justice Pesticides hat ein Rechtsmodell zur Bewertung von Pestizidvergiftungen erarbeitet, vergleichbar dem US-System für Klimaklagen. Es soll den Opfern auf der ganzen Welt ermöglichen, welchen Status sie auch immer haben und aus welchem Land auch immer sie stammen, die existierenden Präzedenzfälle einzusehen und die besten akademischen Studien heranzuziehen. Damit sollen sie über die größten Chancen verfügen, Recht zugesprochen zu bekommen, wo es gerecht ist; seien es Prozesse um Schadensersatz für erlittene körperliche, ökologische oder wirtschaftliche Schäden, oder eingelegte Rechtsmittel gegen staatliche Entscheidungen zur Zulassung gefährlicher Pestizide.

Seit fünfzig Jahren wohnen wir der Gefährdung des Lebens durch Pestizide bei, unter dem Vorwand, sie würden die Welternährung gewährleisten. Heute wissen wir, dass dieses Versprechen, die Menschen zu ernähren, mit Pestiziden nicht eingelöst werden kann. Es zeigt sich im Gegenteil immer deutlicher, dass diese Stoffe die Erde töten, die wir für unsere Ernährung brauchen und ihre Toxizität in vielen Fällen und vielen Bereichen nicht mehr zu leugnen ist. Die Verbindungen zwischen den Agrarchemielobbys und den großen Entscheidungsträgern dieses Planeten verhindern bisher eine eindeutige und sinnvolle Reaktion seitens der Staatsgewalt. Darum soll die Zivilgesellschaft durch das Recht das Ruder übernehmen.

Das vorliegende Buch beleuchtet das Thema synthetische Pestizide von vielen verschiedenen Seiten. Der Leser erhält dadurch die Möglichkeit, sich ein vielfältiges Bild zu machen über die Komplexität wissenschaftlicher, rechtlicher und auch wirtschaftlicher Fragen, die mit diesem Thema zusammenhängen. Das wird den einzelnen Bürger urteilsfähiger machen. Und das ist gut so. Ich wünsche diesem Buch eine weite Verbreitung und viel Erfolg.

Die ehemalige französische Umweltministerin und heutige Europaabgeordnete Corinne Lepage ist Umweltjuristin und hat das »Monsanto-Tribunal« mit organisiert, das 2016 in Den Haag stattfand.

I

Als Non-Hodgkin-Lymphom werden alle bösartigen Erkrankungen des Lymphatischen Systems bezeichnet, die kein Morbus-Hodgkin sind.

Zur Einführung

SYSTEMWECHSEL!

von Mathias Forster und Christopher Schümann

In diesem Buch geht es um unser Verhältnis zu synthetischen Pestiziden. Das Thema ist in den letzten Jahren in der öffentlichen Diskussion immer präsenter geworden.

Die schädlichen Wirkungen der synthetischen Pestizide auf lebendige Organismen, angefangen beim Menschen, über die Tiere, Pflanzen und Böden, bis hin zu den Gewässern und dem ganzen Ökosystem Erde, zeigen sich immer deutlicher. Es ist daher an der Zeit, dass wir uns als Individuen und als Gesellschaft ernsthaft fragen, ob die industrielle Landwirtschaft, die auf diese synthetischen Stoffe angewiesen ist, zukunftsfähig ist, und ob wir ein auf Giftstoffe aufgebautes Ernährungssystem weiterhin wollen. Dies umso mehr, als Bäuerinnen und Bauern seit hundert Jahren erfolgreich zeigen, dass auch ohne synthetische Pestizide gute Ernteerträge erzielt und qualitativ hochwertige Lebensmittel produziert werden können und hier auch noch ein großes Forschungspotenzial im Hinblick auf höhere Ernteerträge liegt. Längst kommen zahlreiche Studien zu dem Ergebnis, dass nur eine Landwirtschaft, die mit der Natur arbeitet und nicht gegen sie, die Menschheit nachhaltig und langfristig wird ernähren können.

Dank des Instruments der direkten Demokratie in der Schweiz, kamen zwei Initiativen zustande, die synthetische Pestizide verbieten oder staatliche Subventionen nur noch denjenigen Bauern zugestehen wollen, die auf synthetische Pestizide verzichten. Wenn diese Initiativen durch einen Volksentscheid angenommen werden, dann wird zum ersten Mal in der Geschichte durch einen basisdemokratischen Prozess ein fundamentaler Wechsel im Ernährungssystem eines ganzen Landes ermöglicht. Dies könnte motivierendes Vorbild für andere Staaten und die weltweite Antipestizidbewegung werden. Das waren die Überlegungen und unsere Motivation zu diesem Buch. Hinzu kam aber auch eine gefühlte Verantwortung, dieses kostbare Instrument der Direkten Demokratie zu unterstützen, bei dem die Bürger als Souverän über ihre eigenen Belange und die gesellschaftliche Entwicklung selbst entscheiden.

Die Initiativen waren also Auslöser für den Entschluss der Bio-Stiftung Schweiz zur Herausgabe dieses Buches, aber die Intention geht darüber hinaus. Es soll möglichst auch in anderen Ländern zur Bewusstseinsbildung beitragen. Denn die Probleme, die durch die Verwendung von synthetischen Pestiziden entstehen, machen vor Ländergrenzen nicht halt. In über dreißig Beiträgen von unterschiedlichen Expertinnen und Experten wird das Thema von verschiedenen Seiten beleuchtet. Das Buch soll dabei helfen, sich ein möglichst umfassendes Bild zu machen und im Hinblick auf dieses Thema urteilsfähig zu werden.

Wir sind davon überzeugt, dass wir angesichts der umfassenden Problematik der synthetischen Pestizide, also giftigen bis hochgiftigen Stoffen, keine weiteren Experimente, keine weiteren Freilandversuche mit unbestimmtem Ausgang und unkalkulierbarem Risiko mehr brauchen. Wir plädieren stattdessen für einen fundamentalen Systemwechsel, der dem Leben in seiner Vielfalt wieder gerecht wird.

Ein solcher Systemwechsel kann nur im Bewusstsein der Menschen beginnen. Ein erster Schritt kann darin liegen, sich die bereits entstandenen Schäden, sowie die bekannten und unbekannteren Risiken genauer anzusehen. Die Beiträge im ersten Kapitel dieses Buches geben dazu reichlich Gelegenheit. Im zweiten Kapitel werden politische, rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte des Einsatzes von synthetischen Pestiziden beleuchtet, und im dritten schließlich kommen Praktiker zu Wort, bei denen Landwirtschaft ohne synthetische Pestizide bereits seit Jahren Alltag ist. Ihre Erfahrungen zeigen, dass auf Ackergift gut verzichtet werden kann, wenn die Bereitschaft vorhanden ist, von der Natur, von Fachkollegen und Forscherinnen zu lernen, die sich mit alternativen Methoden der Schädlingsregulierung auskennen und Hilfestellung bei der Umstellung bieten können.

Im dritten Kapitel des Buches werden außerdem Vorschläge vorgestellt, wie eine Transformation von der industriellen Landwirtschaft zu einer nachhaltigen Agrarkultur praktisch vollzogen werden kann, oder auch, wie sie bereits in einigen Regionen vollzogen wurde.

Wir brauchen mehr Entwicklung und weniger Fortschritt in den Ernährungssystemen. Denn ewiges Wachstum und Fortschritt innerhalb veralteter Denkformen wären in etwa so, wie wenn eine Raupe immer größer und dicker werden will, ohne sich dabei weiterzuentwickeln. Entwicklung wäre demgegenüber die Verpuppung und das Schlüpfen des Schmetterlings …

Die Herausforderung, vor der wir als Menschheit stehen, ist aus unserer Sicht diese: Wie können wir im Interesse unserer Kinder und Enkelkinder, aber auch der Erde und ihrer Ökosysteme eine neue Agrarkultur entwickeln und praktisch so umsetzen, dass für die Verbraucherinnen und Verbraucher, die Bäuerinnen und Bauern und den Lebensmittelhandel Win-win-Situationen entstehen.

Bereits vor ziemlich genau einhundert Jahren erkannten die Pioniere des Ökolandbaus, wohin die Entwicklung der industriellen Landwirtschaft führen wird, und gingen in vielerlei Hinsicht andere Wege. Aufgrund ihrer Weitsicht und ihres Durchhaltevermögens ist in der Zwischenzeit ein reicher Erfahrungsschatz entstanden, der für die dringend erforderliche Transformation unserer Ernährungssysteme zur Verfügung steht. Was für ein Glück!

Heute gehen viele Bäuerinnen und Bauern neugierig und interessiert auf ihre Kolleginnen und Kollegen aus dem Biolandbau zu und wollen wissen, wie das funktioniert. Manchmal, weil sie bemerkt haben, dass der Biolandbau gerade für kleinere Betriebe ökonomisch interessanter ist, oft aber auch, weil sie selbst sehen, dass es nicht so weitergehen kann wie bisher. Die Welt der Bauern ist bunt und vielfältig, bio-divers, ebenso wie die Agrarkultur der Zukunft es sein kann und wird, wenn Bäuerinnen und Bauern neue Wege erfinden, sich miteinander zu verbünden und am gleichen Strick zu ziehen. Sie stehen in Wirklichkeit nicht allein da. Die Nachfrage nach Lebensmitteln, die keine Rückstände von synthetischen Pestiziden enthalten, die unter Berücksichtigung von Tierwohlaspekten und in Bioqualität hergestellt werden, steigt ständig. Die Verbraucher gehen auf die Produzenten zu, es gibt wachsende gemeinsame Interessen. Und es gibt Verbände, NGO, Forschungsinstitute und auch immer mehr Mitstreiterinnen im Handwerk, in der verarbeitenden Industrie, im Handel und in der Politik. Uns alle verbindet ein starkes Bestreben mitzuwirken, dass der Wandel der industriellen Landwirtschaft in eine neue und zukunftsfähige Agrarkultur baldmöglich gelingen wird. Es gibt viel zu tun, Kreativität ist gefragt, sowie Offenheit, Mut und Begeisterung für das Betreten neuer Wege. Das erfordert auch die Bereitschaft, die komplexen Zusammenhänge innerhalb der Natur sorgfältig kennenzulernen und zu durchdenken und daraus Lösungsansätze zu entwickeln, die wirklich nachhaltig sind. Dann werden auch junge Bäuerinnen und Bauern in ihrer Ausbildung ganz selbstverständlich lernen, mit der Natur zu arbeiten und nicht gegen sie. Und in wachsender Zahl werden Bäuerinnen und Bauern dann aus eigener Erfahrung wissen, dass sie auf die Vergiftung des Lebens durch synthetische Pestizide durchaus verzichten können.

Wir haben uns als gesamte Gesellschaft über einen langen Zeitraum in eine schwierige Situation gebracht und können die Transformation hin zu einer nachhaltigen Agrarkultur auch nur gemeinsam schaffen. Wenn sich der Wille dazu weltweit noch stärker zeigt und auswirkt, werden die Bäuerinnen und Bauern, die Bauernverbände, wird auch die Politik die nötige Kraft aufbringen, die Segel an diesem neuen Wind auszurichten und den Kurs zu ändern.

Die Metamorphose

In der Natur gibt es eine sehr interessante und stimmige Analogie, die zeigt, wie alte Formen, die nicht mehr an der Zeit sind, in einem lebendigen Prozess in neue Formen verwandelt werden: Die Transformation von der Raupe zur Puppe und zum Schmetterling.

Die amerikanische Autorin Norie Huddle beschreibt dies in ihrem Buch »Butterfly«1 in wissenschaftlich fundierter Form.

Die äußeren Aktivitäten der Raupe werden zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückgenommen. Sie frisst nicht mehr, bewegt sich weniger und schließlich verpuppt sie sich. Nach einer Weile zeigen sich in der Puppe neue Zellen. Das sind die ersten »Imago-Zellen«, also die ersten SchmetterlingszellenI, die ganz andere Merkmale aufweisen und in eine neue Richtung weisen.

Das Immunsystem der Raupe ist aber noch auf die alte Form ausgerichtet und sieht in den neuen Zellen eine Gefahr; es greift sie an und vernichtet sie. Dies geschieht, obwohl die neuen Zellen Teil desselben Wesens sind, aber eben bereits das Neue im Alten repräsentieren. Es entstehen aber immer mehr von diesen Imago-Zellen und der innere, sich im Unsichtbaren abspielende Kampf, geht weiter und weiter. Nun geschieht etwas Erstaunliches. Die Imago-Zellen, die neuen Schmetterlingszellen, die im alten Raupenkörper leben, aber bereits die Zukunft, die Anlagen für das Neue in sich tragen und bruchstückhaft repräsentieren, sie fangen an, sich mit gleichartigen Zellen zu Clustern zu verbinden - sie bilden Zellgemeinschaften.

Dadurch verschieben sich nach und nach die Kräfteverhältnisse. Die einzelnen Schmetterlingszellen-Cluster senden nun feine Fäden aus und fangen an, mit den anderen Clustern zu kommunizieren und sich auch mit ihnen zu verbinden. So entsteht in einem lebendigen Prozess ein immer komplexer werdendes Zellgefüge. Schließlich kollabiert das Immunsystem der Raupe. Dann geht es sehr schnell, und nach kurzer Zeit gibt es innerhalb der Puppe keine einzige Raupenzelle mehr. Das ist der Tod der alten Form zugunsten einer neuen, die sich nun immer mehr herausbildet.

Solange der Schmetterling noch nicht voll ausgereift ist, hält die Haut des alten, der Puppe, dieses »Neue« in sich zusammen und bietet ihm Schutz und Hülle. Erstaunlich ist: Die sich herausbildende Körperlichkeit des Schmetterlings passt haargenau in die Form der Puppenhülle, obwohl diese noch einen Teil des Alten darstellt. Wenn die körperlichen Formen ausgereift sind, drückt der Schmetterling die Hülle der Puppe auf und arbeitet sich unter großen Mühen aus der alten Form hinaus in die Freiheit. Während die Raupe nur kriechen konnte, erdgebunden war, kann der Schmetterling fliegen, sich frei im Raum bewegen und zeigt auch noch durch andere Merkmale, dass eine andere Lebensform in ihm in Erscheinung tritt.

Interessant an dem Prozess ist auch, dass der Schmetterling die Kraft aus sich selbst heraus aufbringen muss, die alten Formen zu durchbrechen. Wenn man ihm diese Mühe abnimmt und die Puppenhülle manuell erweitert, so kann er anschließend nicht fliegen. Er braucht den Widerstand der alten Form, um sich gesund und kräftig entwickeln zu können, da er an diesem und durch diesen Widerstand erst die Kraft bildet, die er anschließend zum Fliegen braucht.

Wir stellen Aufbau und Rhythmus dieses Buches, sowie einen Teil der Bildgestaltung ins Zeichen dieser Metamorphose und hoffen natürlich, dass uns als Gesellschaft die Transformation von industriellen, gegen die Natur arbeitenden, hin zu natürlichen, mit der Natur arbeitenden, Leben respektierenden und Leben fördernden Ernährungssystemen gelingen wird.

Die Verwirklichung des Schmetterlings geschieht durch Metamorphose, bei der das in der Raupe liegende Potenzial voll entfaltet wird. Die Metamorphose unserer Ernährungssysteme kann durch Kooperation und Assoziation, durch Austausch, gegenseitige Inspiration und Bewusstseinsbildung gelingen. Wir müssen uns nicht weiter entwickeln, aber wir können es.

Darin liegt unsere Würde als Menschen, unsere Freiheit, aber auch unsere Mit-Verantwortung für die Weiterentwicklung unserer Kultur. Alles kann in diesem Geschehen seinen Sinn haben, selbst der Tod. Die Konfrontation mit dem Tod kann zu einem Wachmacher werden. In diesem Sinne wünschen wir dem vorliegenden Buch viel Erfolg und hoffen, dass es auf dem Weg zu neuen, nachhaltigeren Formen unserer Ernährungssysteme einen bescheidenden, aber wesentlichen Beitrag leisten kann.

I

Die Imago, das »Bild der Art«, ist das aus den Jugendstadien hervorgehende erwachsene und geschlechtsreife Insekt.

Verlustanzeigen

WEN WIR VERLIEREN – UND WARUM

Die Tiere, die wir durch die industrialisierte Landwirtschaft aus dem Leben drängen und die uns deshalb nicht mehr begleiten werden

von Eva Inderwildi

In diesem Buch werden verschiedene Tierarten vorgestellt, die von dem Einsatz synthetischer Pestizide besonders betroffen sind, sei es direkt oder indirekt.

Die Auswirkungen von Pestiziden auf die Tierwelt sind vielfältig; sei dies dadurch, dass die Tiere zu den Zielorganismen des entsprechenden Mittels gehören, so wie Insekten durch Insektizide bekämpft werden, oder dadurch, dass sie mit Pestiziden behandelte Pflanzen essen, so wie Vögel beim Verzehr von gebeiztem Saatgut. Oder es wird ihnen die Nahrungsgrundlage entzogen, so wie den Bienen durch fehlende Ackerbegleitflora. Oder die Tiere werden in ihrer Vitalität und Reproduktionsfähigkeit eingeschränkt, so wie Fische durch den Pestizideintrag in Gewässer.

Der Einsatz von synthetischen Pestiziden ist allerdings nicht die einzige Ursache für den Rückgang der Populationen der in diesem Buch vorgestellten Tierarten. Der wichtigste Grund für den Rückgang von Tier- und Pflanzenbeständen ist nach wie vor die Umwandlung der traditionellen zur industriellen Landwirtschaft. Aber genau diese Transformation ist natürlich auch wieder vom Pestizideinsatz getrieben.

IMMER INTENSIVERE BEWIRTSCHAFTUNG

Moderne landwirtschaftliche Maschinen ermöglichen es, die Flächen viel schneller zu bearbeiten. Dies bringt zum einen die Tiere, die darin leben, direkt in Gefahr. Zum anderen können zum Beispiel bei Mähwiesen nun innerhalb kurzer Zeit große Flächen geschnitten werden - der Lebensraum verschwindet weiträumig auf einen Schlag. Ein Großteil der Insekten, Amphibien, Kleinsäuger, Reptilien und bodenbrütenden Vögel werden beim Einsatz von Kreiselmähern und Mähaufbereitern sowie bei der Produktion von Silage direkt vernichtet. Wer überlebt, steht oft ohne Deckung oder ohne Nahrung da.

Durch Mineraldünger, stickstofffixierende Pflanzen und enorme Futterimporte wurden immer mehr Nährstoffe in die Böden gebracht. Dadurch können Grünlandflächen, die früher zwei Mal im Jahr gemäht wurden, heute fünf Mal oder noch öfter gemäht werden. Die todbringenden Mähmaschinen kommen in immer rascherer Abfolge. Dazwischen wird gedüngt, damit die Gräser schneller aufwachsen. Das führt zur Verringerung der Artenvielfalt der Flora. Wildkräuter sterben, und mit ihnen die Nahrung der Insekten; nur wenige schnell wachsende Gräser überleben.

Im Ackerbau war einst die Brache ein integraler Teil der Fruchtfolge, die der Regeneration der Böden diente. Heute machen Brachen und andere Biodiversitätsförderflächen kaum noch ein Prozent des Ackerlandes aus. Sogar die Stoppeläcker sind aus dem Landschaftsbild verschwunden. Die Bewirtschaftung der Äcker stützt sich heute so stark auf Maschinen und Chemie, dass eine ganze Flora - die Ackerbegleitflora - fast komplett aus unseren Landschaften verschwunden ist. Ohne die Blüten und Samen der Ackerwildkräuter fehlt Insekten und Vögeln die Nahrung.

VERLUST DER STRUKTUREN

Um effizient mit den großen Maschinen arbeiten zu können, werden kleine Parzellen zusammengelegt und störende Elemente dazwischen, wie Hecken, Wegraine, Trockenmauern oder Lesesteinhaufen, entfernt. Auch der wertvolle Lebensraum der Hochstammobstgärten, der früher jede Siedlung umrandet hat, fiel der Wirtschaftlichkeit zum Opfer. Die daran gebundenen Arten, wie der Gartenrotschwanz oder der Steinkauz, gingen stark zurück. Der Boden wird mit Steinfräsen eingeebnet, alle Feuchtstellen werden drainiert, die Steinblöcke entfernt. Die Fläche wird völlig homogen und eintönig und bietet keine Mikrolebensräume mehr mit unterschiedlichen Bedingungen für angepasste Pflanzen und Tiere. So erstaunt nicht, dass die Vögel der Kulturlandschaft im neuen Brutvogelatlas der Schweizerischen Vogelwarte als die großen Verlierer dastehen. Das ist in Deutschland und Österreich nicht anders. Vögel sind eine besonders gut untersuchte Artengruppe, ihr Rückgang steht stellvertretend für die gesamte Lebensgemeinschaft dieser Habitate.

MANGEL AN INFORMATION UND BIODIVERSITÄTSSCHÄDIGENDE ANREIZE

Langfristig spielt der Erhalt der Biodiversität auch für die Landwirtschaft selber eine wichtige Rolle. Die biologische Vielfalt garantiert die Fruchtbarkeit der Böden, die Befruchtung der Kulturen und die natürliche Schädlingsabwehr. Dafür müssen die Arten sich aber in der Kulturlandschaft fortpflanzen können und ganzjährig ausreichend Nahrung und Deckung finden. Der alleinige Verzicht auf synthetische Pestizide in einer auch ansonsten ausgeräumten Landschaft wird die Arten nicht zurückbringen. Dazu muss auch die maschinengerechte Landschaft zurückgebaut werden, was aber - wenn man auf Pestizide verzichtet - auch im Interesse der Landwirte ist, da sie so die Nützlinge, ihre natürlichen Helfer wieder ansiedeln können.

Angesichts der Bedeutung der Biodiversität für die Zukunft der Landwirtschaft ist erschreckend, wie wenig das Thema noch immer in der Ausbildung der Landwirte behandelt wird. Hier wäre ein wichtiger Ansatzpunkt, um die Landwirtschaft wieder in naturfreundlichere Bahnen zu lenken. Ein weiterer läge in der Umwandlung der oftmals einseitig auf die Produktivität ausgerichteten und somit biodiversitätsschädigenden Subventionen hin zu einer Förderung biodiversitätsfördernder Leistungen der Landwirtschaft.

Diese Einführung gilt für alle Tierartenporträts unter dem Titel »Verlustanzeige« im Buch.

DAS VERGIFTETE LEBEN

Die Geschichte eines Siegeszuges mit dramatischen Folgen: Wie die synthetischen Pestizide in die Plantagen und auf die Äcker kamen und was sie dort und anderswo bewirken

UNSER TÄGLICH GIFT

Die vielfältigen nicht beabsichtigten Auswirkungen der Pestizide

von Johann G. Zaller

In diesem Buch wird sehr anschaulich dargelegt, wie vielfältig die Einflüsse der Pestizide sind. Ausgehend von der Pestizidanwendung in der Landwirtschaft zeigen sich Wirkungen auf Wasserlebewesen, kontaminieren Pestizide das Trink- und Grundwasser, die Luft und Lebensmitteln mit Folgen für die menschliche Entwicklung und mit Nebenwirkungen auf Pflanzen, Tiere und die gesamte Biodiversität. Unser modernes Wissenschaftssystem mit der starken Aufsplitterung in unterschiedliche, sehr komplexe Teildisziplinen mit viel Detailwissen verbessert zweifellos unser Verständnis für spezifische Prozesse. Oft wird dabei aber auch der Blick auf größere Zusammenhänge verstellt. In diesem Beitrag wird versucht, einen derartigen Überblick zu schaffen.

Mit Beginn des Anthropozäns, des Zeitalters also, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf biologische, geologische und atmosphärische Prozesse auf der Erde geworden ist1, wurden viele menschliche Aktivitäten identifiziert, die das Zusammenspiel zwischen Organismen und unbelebter Umwelt gefährden. Die Ausbringung von synthetischen Pestiziden in unsere Umwelt zählt dabei zu den gravierendsten Einflussfaktoren. Dennoch werden Pestizide und deren globale Bedeutung sowohl in der öffentlichen als auch in der wissenschaftlichen Wahrnehmung noch immer stark unterschätzt.2 Im Grunde werden nämlich nicht nur die gesamte Biosphäre, sondern auch sozioökonomische Komponenten davon betroffen.I

Folgt man der wissenschaftlichen Beurteilung der planetaren Grenzen, deren Einhaltung unabdingbar für den Fortbestand der menschlichen Spezies ist, so ist der Einfluss der Pestizide für die Integrität des Ökosystems Erde derzeit noch nicht abschätzbar.3 Ein Hauptgrund dafür ist, dass es weder auf regionaler, und schon gar nicht auf nationaler oder globaler Ebene, einheitliche systematische Erhebungen zu den Pestizidmengen und zur Verbreitung von Pestiziden gibt.

Neben den Pestiziden sind wir in unserem Alltag mit einer Vielzahl von menschgemachten, synthetischen Chemikalien konfrontiert. Pestizide nehmen dabei aber eine Sonderrolle ein, da sie anders als viele andere Chemikalien, die in industriellen Kreisläufen kursieren, offen in die Umwelt ausgebracht werden. Pestizide wirken dabei meistens nicht so spezifisch wie vorgegeben, und beeinflussen damit unbeabsichtigt auch sogenannte Nicht-Zielorganismen: Mikroorganismen, Pflanzen, sowie Wildtiere und eben auch uns Menschen. Durch die Beeinflussung von Organismen werden auch wichtige Ökosystemfunktionen wie Nährstoffkreisläufe in Mitleidenschaft gezogen.

Während immer mehr Studien Effekte von Pestiziden auf Organismen und Ökosystemprozesse aufzeigen, werden selten Beziehungen zu sozioökonomischen oder gesellschaftlichen Aspekten hergestellt. Im Folgenden werden einige dieser Aspekte kurz skizziert. Es ist wichtig zu betonen, dass alle in der Abbildung (auf Seite 38) gezeigten Teilbereiche miteinander interagieren und sie nur der Übersichtlichkeit halber getrennt dargestellt werden.

WANDERNDE PESTIZIDE

Je nach Anwendungstechnik – mit Feldspritze, Flugzeug oder Helikopter – und chemischer Charakteristik, also dem Aggregatzustand fest oder flüssig und der Verdampfungstemperatur, werden Pestizide mehr oder weniger weit in benachbarte Gebiete verdriftet oder ins Grundwasser, in Flüsse oder Seen ausgeschwemmt. Damit bleibt die Wirkung der Pestizide nicht nur auf die behandelte Fläche begrenzt, sondern betrifft letztendlich die gesamte Biosphäre. Tatsächlich wurden Pestizidrückstände mittlerweile in den entlegensten Gebieten der Erde nachgewiesen: etwa in der Arktis, der Antarktis, in Hochgebirgen oder der innersten Mongolei, Tausende Kilometer entfernt vom nächstgelegenen Anwendungsort der Pestizide. Besonders brisant ist dies auch, wenn dadurch biologisch bewirtschaftete Flächen mit Pestiziden kontaminiert werden.

Neben diesen räumlichen Aspekten sind aber auch zeitliche zu berücksichtigen. Auch viele moderne Pestizide, zum Beispiel Insektizide aus der Gruppe der Neonikotinoide, werden nicht sofort abgebaut, sondern weisen Halbwertszeiten von mehreren Jahren auf. Damit verbleiben die Wirkstoffe oder deren Metaboliten, also Abbaustoffe, längerfristig in der Umwelt und reichern sich dort durch mehrmalige Verwendung im Jahr an. Rückstände von älteren, bereits seit Jahrzehnten verbotenen Pestiziden, etwa der Insektizide DDTII oder AtrazinIII, finden sich noch immer regelmäßig in unseren Böden oder Gewässern.

VIELFACHE TODE

Allein aufgrund ihrer Wirkungsweise – der Vernichtung von Organismen – stellen Pestizide eine Bedrohung für die biologische Vielfalt, die Biodiversität, dar.4 Wenn dadurch Nicht-Zielorganismen betroffen sind, die wichtig sind für Nährstoffkreisläufe, für die Bodenfruchtbarkeit und Bodenstruktur, oder wenn es sich um Gegenspieler von Schaderregern handelt, dann beeinflussen Pestizide auch die Funktionen und Leistungen der Ökosysteme.5 Generell weisen ja Ökosysteme eine gewisse Resilienz, also Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen auf, seien es klimatische Einflüsse oder das Auftreten von Schädlingen. In intakten Ökosystemen werden bestimmte Ökosystemfunktionen in der Regel von mehreren Organismen durchgeführt, womit der Wegfall einzelner Arten abgepuffert werden kann. Durch den allgemeinen Rückgang an Biodiversität, an dem auch die Pestizide beteiligt sind, wird die Resilienz von Ökosystemen aber zusätzlich geschwächt. Der Rückgang an Insekten, pflanzlicher Biodiversität, Feldvögeln oder Fledermäusen gefährdet letztendlich auch die natürlicherweise stattfindende biologische Kontrolle von Schaderregern und verstärkt damit die vermeintliche Abhängigkeit der Landwirtschaft von Pestiziden.

Ein Thema, das in der öffentlichen Debatte wenig angesprochen wird, sind Pestizidresistenzen. Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Organismen, die sich an die ständigen Pestizidgaben angepasst und Resistenzen aufgebaut haben. Beispielsweise sind weltweit Dutzende sogenannter »Superunkräuter« bekannt, gegen die der Unkrautvernichter Glyphosat unwirksam ist. Die Agrochemieindustrie reagiert darauf mit der ihr eigenen Philosophie: sie entwickelt Herbizide, die nicht nur Glyphosat, sondern zusätzlich noch andere herbizide Wirkstoffe enthalten, zum Beispiel 2,4-D, oder Dicamba.IV 2,4-D war übrigens auch Bestandteil des von den USA im Vietnamkrieg eingesetzten Entlaubungsmittels Agent Orange.

Herbizide mit dem Wirkstoff Glyphosat zählen zu den am häufigsten eingesetzten Pestiziden überhaupt. Die ausgebrachten Mengen sind allein zwischen 1996 und 2014 weltweit um das Fünfzehnfache angestiegen und belaufen sich auf etwa 826 Millionen Kilogramm pro Jahr, wovon zehn Prozent im nicht-landwirtschaftlichen Bereich eingesetzt werden.6 Glaubte man lange, dass der Wirkstoff spezifisch nur Pflanzen beeinträchtigt, mehren sich mittlerweile Befunde über vielfältige Auswirkungen auf Nicht-Zielorganismen, von aquatischen Algen und Bodenorganismen über Mikroorganismen im Darm von Honigbienen oder im Pansen von Rindern, bis hin zu chronischen Krankheiten beim Menschen.

Neben der direkten Beeinflussung von Bodenorganismen konnte auch gezeigt werden, dass es durch Herbizidanwendung zu einer Überdüngung der Flächen und großer Auswaschungsgefahr für Nitrat oder Phosphat kommt.7 Die Wirkung von Pestiziden auf die Gesundheit von Nutztieren wie Rindern ist besorgniserregend, da dadurch über einen erhöhten Medikamenteneinsatz noch mehr Chemikalien in die Umwelt gelangen, abgesehen von der tragischen ethischen Komponente.8

Bisher wenig Beachtung findet die Pestizidwirkung auf die Atmosphäre und das Klimasystem. Die Wirkungen reichen dabei von der Herstellung der Pestizide, die mit viel fossiler Energie und damit großem Treibhausgasausstoß erfolgt, bis zur Pestizidlagerung und Deponie von Reststoffen der agrochemischen Industrie. Zahlreiche Unglücksfälle in der Vergangenheit – Bhopal, Seveso, Schweizerhalle – führten zu großen Umweltzerstörungen und Gefahren für Menschen. Völlig unklar ist die Interaktion zwischen Pestiziden und anderen Schadstoffen, wie etwa Mikroplastik oder Nanopartikeln. Inwiefern Pestizide in der Atemluft Organismen oder die menschliche Gesundheit beeinträchtigen, ist wenig untersucht.

Die sozioökonomischen Auswirkungen der Pestizidabhängigkeit werden am drastischsten in der Region Punjab in Indien deutlich. Tausende Landwirtsfamilien befinden sich dort durch Lizenzverträge für Saatgut und Pestizide in Abhängigkeit von der Agrochemieindustrie. Viele werden in den Suizid getrieben, der makabererweise oft durch Pestizideinnahmen durchgeführt wird.9

Ein weiterer sozioökonomischer Aspekt mit stark ethischer Komponente ist der Export gefährlicher Pestizide aus Europa in Drittstaaten.10 Es handelt sich dabei oft um hochgefährliche Pestizide, die in Europa wegen gesundheitlicher Bedenken nicht mehr angewendet werden dürfen. Allein vom Agrochemiekonzern Bayer werden beispielsweise neun in der Europäischen Union verbotene Pestizidwirkstoffe exportiert, darunter drei als krebserregend und reproduktionstoxisch eingestufte Herbizide: Cyanamid, Acetochlor und Tepraloxydim. Der Export erfolgt oft in Länder des globalen Südens, in denen ökologische und arbeitsrechtliche Schutzsysteme nur schwach ausgebildet sind. Die Brisanz dieser Exporte zeigt sich auch darin, dass in den sogenannten Entwicklungsländern zwar nur rund ein Viertel der globalen Pestizidmenge eingesetzt wird, dort aber neunundneunzig Prozent aller tödlichen Vergiftungsfälle mit Pestiziden auftreten.

Mittlerweile werden die negativen Auswirkungen des Pestizideinsatzes auch von der Politik erkannt. In zahlreichen Ländern, so auch der Schweiz, wurden Aktionspläne zur Verringerung von Pestizidrisiken verabschiedet. Ein beliebtes Motto von industrieller Landwirtschaft und Agrochemieindustrie ist dabei immer, dass ohnehin nur »so wenig wie möglich, so viel wie nötig« an Pestiziden eingesetzt werde. Ganz ernst gemeint scheint das aber nicht zu sein, da Herbizide in der konventionellen Landwirtschaft noch immer eingesetzt werden, obwohl die biologische Landwirtschaft zeigt, dass es sehr wohl ohne sie geht.

Fest steht, dass insgesamt noch zu wenig zum Schutz der Umwelt und der Gesundheit von Menschen vor Pestiziden getan wird. Letztendlich braucht es den politischen Willen, die Interessen, Anreize und Machtbeziehungen kritisch zu hinterfragen, die die industrielle, pestizidintensive Landwirtschaft fördern.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch eine gesamtheitliche Betrachtung der Thematik. Auch die UN-Menschenrechtskommission hält die heutige industrielle Landwirtschaft für hoch problematisch, nicht nur aufgrund der Schäden, die durch Pestizide verursacht werden, sondern auch aufgrund ihrer Wirkung auf den Klimawandel, wegen des Verlusts an Biodiversität und der Gefährdung der weltweiten Versorgung mit Nahrungsmitteln.11 Diese Bereiche stehen in unmittelbarer Beziehung zueinander und müssen gemeinsam mit dem Menschenrecht auf Nahrung gesehen werden. Aktivitäten zur Eindämmung von Pestiziden können nur erfolgreich sein, wenn ökologische, ökonomische und soziale Faktoren im Rahmen der Erfüllung der globalen Nachhaltigkeitsziele umgesetzt werden.12

I

Siehe dazu die Abbildung: Pestizide und ihre Auswirkungen auf ökologische und sozioökonomische Komponenten, S.38.

II

DDT ist zuerst 1970 in Schweden verboten worden. Es folgten die USA, die Schweiz und die BRD 1972; fünf Jahre später wurden in der Bundesrepublik auch Produktion und Vertrieb verboten. Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR durften DDT-haltige Holzschutzmittel noch bis 1991 verwendet werden. Das Verbot in Österreich erfolgte erst 1992.

III

Die Anwendung von Atrazin ist in Deutschland verboten seit 1991, in der EU seit 2003, in der Schweiz seit 2012.

IV

2,4-D ist 2,4-Dichlorphenoxyessigsäure, Dicamba ist 3,6-Dichlor-2-methoxybenzoesäure.

DER WEG IN DIE ABHÄNGIGKEIT

Eine kurze Geschichte der synthetischen Pestizide

von Lars Neumeister

Der Siegeszug der Agrochemie begann vor 180 Jahren mit einem Buch: 1840 veröffentlichte der Chemiker Justus Liebig sein Werk über die Chemie in ihrer Anwendung auf Agricultur und Physiologie1 und begründete damit die heute vorherrschende Form der »modernen« Landwirtschaft, die auf der Anwendung synthetischer Pestizide basiert. Mit ihnen wurden Produktionsweisen geschaffen, die ohne den Einsatz von Agrarchemie nicht überlebensfähig sind. Fruchtfolge, Standort-, Sortenwahl spielen fast keine Rolle mehr. Die Züchtung schaut nur noch auf die Vermarktungsfähigkeit der Produkte und verlässt sich darauf, dass die Betriebe mit Pestiziden alle Schaderregerprobleme lösen. In manchen Anbausystemen ist die Abhängigkeit vom Chemieeinsatz so stark, dass ein plötzlicher Verzicht auf Pestizide die Bauern vor große Herausforderungen stellen würde, die ohne öffentliche Unterstützung kaum zu bewältigen wären.

Vor 1850 gab es in Europa und den USA, bis auf den Schwefel, kaum wirksame Pestizide für die landwirtschaftliche Produktion. Auch die Verfügbarkeit von künstlichen Düngern war eingeschränkt. Pflanzenschutz wurde vorbeugend und manuell betrieben. Viele später problematische Schaderreger gab es zu dieser Zeit auch noch nicht. Seifen und pflanzliche Extrakte aus Tabak, QuassiaI und PyrethrumII wurden erst später eingesetzt.2

Parallel zur rasanten Industrialisierung, entwickelte sich dann in schnellen Schritten auch der chemische Pflanzenschutz. Der Hauptantrieb war die starke Nutzung fossiler Rohstoffe nach der Erfindung der Dampfmaschine. Neue chemische Produkte für die entstehende Industrie und deren Abfallprodukte wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch in der Landwirtschaft übernommen. Dampfschiffe und Eisenbahnen machten den internationalen Handel schneller und sicherer. Düngemittel und sogar frische landwirtschaftliche Erzeugnisse wurden nun international gehandelt. Schnell wurden damit aber auch neue Schaderreger verschleppt, die verheerende Schäden anrichteten und chemische Lösungen populär machten: Die Kartoffelfäule und der Kartoffelkäfer, der Mehltau und die Reblaus sind nur einige frühe Beispiele. Der Schwammspinner in den USA startete die »arsenische Periode«, der Falsche Mehltau den Boom der kupferhaltigen Fungizide. Die Urbanisierung und gravierende technische Errungenschaften, zum Beispiel der Verbrennungsmotor, die Ammoniaksynthese zur Herstellung von Düngemitteln, die Elektronenmikroskopie, die Chromatographie, und die großen Kriege befeuerten die Industrialisierung der Landwirtschaft weltweit und damit auch den Einsatz von Pestiziden.

Zwischen 1850 und 1945 änderte sich die Welt dramatisch und mit ihr die Landwirtschaft. In den Plantagen und auf den Äckern geschah vieles gleichzeitig und bedingte sich gegenseitig. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird die frühe Geschichte der Agrochemie hier für die einzelnen Pestizidtypen separat erzählt.

INSEKTIZIDE – VON ARSEN BIS DDT

Insekten oder ArthropodenIII wurden schon immer bekämpft. Ruß, Asche, Pech, Kalk und alles, was stank, zum Beispiel Heringslake und tote Krebse, wurden benutzt, um tierische Feinde von den Kulturpflanzen abzuhalten. Die mechanische Kontrolle, also das Abklopfen und Absammeln, war aber oft die einzig wirksame Bekämpfungsmethode. Auch Kalkanstriche und Leimringe aus Pech und Teer waren im Obstbau wirksam.

Insektizide auf chemischer Basis hielten zuerst Einzug in der Lagerhaltung sowie im Obst-, Wein- und Gemüseanbau. Der Forstwissenschaftler Hermann Nördlinger beschreibt 1869 in seinem Buch über »Die kleinen Feinde der Landwirthschaft« die mögliche Verwendung von Chlorgas, Chlorkalk, Arsen und Quecksilber und Quecksilberchlorid gegen Lagerschädlinge, sowie die Wirkung von Teer und Chlorkalkwasser auf bestimmte Schädlinge. Mittel werden mit Pinsel, Schwamm, Gießkanne und Blasebalg aufgebracht. Die später üblichen Tornister-Rückenspritzen mit Druckbehältern sind zu dieser Zeit noch nicht in Gebrauch. Man kann daher davon ausgehen, dass es bis etwa 1870 in Europa kaum flächige Anwendungen von Insektiziden gab.

Die ersten organischenIV Insektizide auf Grundlage fossiler Rohstoffe waren die Mineralöle.3 Petroleum wird schnell ins Mittelarsenal aufgenommen, direkt anwendbare Petroleum-Emulsionen waren schon ab 1868 verfügbar.4 Der hochgiftige Schwefelkohlenstoff,V zuerst ein industrielles Produkt wurde etwa im gleichen Zeitraum schon gegen Lagerschädlinge und im Weinbau gegen die eingeschleppte Reblaus eingesetzt.5 Schmierseifen allein oder mit Zusätzen von Tabak, Quassia und später auch PyrethrumVI und Mineralöle bleiben bis zur »arsenischen Periode« in Europa bis etwa 1900 die gebräuchlichsten Insektizide in den Dauerkulturen und im Gemüsebau. Im Ackerbau dominieren noch lange die nicht-chemischen, vorbeugenden Verfahren. Auch die Förderung und der Schutz von Nützlingen hat hohe Bedeutung.6

DIE ARSENISCHE PERIODE

»Die umfangreichste und mannigfaltigste Gruppe von Schädlingsbekämpfungsmitteln ist die der Arsenmittel. Arsenverbindungen haben als insektizide Spritz- und Stäubemittel, als Giftköder gegen Insekten, Nager und niedere Tiere, als Getreidebeizmittel, als Holzschutzmittel, als Unkrautbekämpfungsmittel (…) Verwendung gefunden.«7

So beschreibt Walther Trappmann den Einsatz von Arsen 1948. Die Giftigkeit von Arsen ist schon sehr lange bekannt – berühmte Morde fanden damit statt. Giftköder mit Arsen wurden frühzeitig gegen Nagetiere eingesetzt. Arsenhaltige Insektizide kommen aber erst ab 1867 in den USA in Gebrauch. Den Einzug arsenhaltiger Insektizide in Deutschland schildert Lorenz Hiltner:

»In Deutschland ist die Methode, die Nahrung schädlicher Insekten mit arsenhaltigen Mitteln zu vergiften, gelegentlich schon vor mehr als 10 Jahren, namentlich gegen Rübenschädlinge, mit bestem Erfolge benützt worden, und neuerdings erblicken zahlreiche Praktiker in der Verwendung von Arsenpräparaten, hauptsächlich von Schweinfurthergrün, das einzige Mittel, um den in den letzten Jahren besonders schweren Schädigungen, die der Heu- und SauerwurmVIIveranlaßt, für die Zukunft zu begegnen.«8

Arsenhaltige Insektizide werden bald überall massenhaft eingesetzt. Nach Walther Trappmann werden in den USA im Jahr 1934 27.500 Tonnen angewendet, davon 15.000 Tonnen Bleiarsenat. In Deutschland wurden 1939 600 bis 700 Tonnen reines Arsen(III)oxid für die Herstellung von Pestiziden verbraucht. Die Landwirtschaftsbehörde USDA berichtet 1940 von einem jährlichen Verbrauch von 83 Millionen Pfund,VIII davon 40 Millionen Pfund Bleiarsenat in den Vereinigten Staaten.

Der massive Einsatz hat Folgen: In den USA wurden die Schädlinge im Obstbau gegen das Arsen schnell resistent, bald wurde die Dosis verdreifacht, und es musste bis zu neun Mal in der Saison gespritzt werden. Neue FormulierungenIX mit besseren Haftmitteln und Emulgatoren wurden entwickelt, um die Dosen zu verringern. Der massive Einsatz von Bleiarsenat führte zu extrem hohen Rückständen von Blei und Arsen in US-amerikanischen Äpfeln. Andere Länder belegten US-Äpfel mit Importverboten. Man legte erstmals Rückstandshöchstmengen fest.

In Deutschland führte der jahrelange Arseneinsatz im Weinbau zur »Kaiserstuhlkrankheit« unter den Winzern.9 Die massiven Probleme mit arsenhaltigen Insektiziden löste eine bisher beispiellose Insektizidforschung in den USA, England, Frankreich und Deutschland aus.10 Als Gewinn lockte ein gigantischer Absatzmarkt. Große Teile der Landwirtschaft hingen bereits am »Insektizidtropf«. Jeder bekannte Stoff und seine Derivate wurden untersucht, die Grundlage für die kommenden Jahrzehnte. Später, und noch heute viel benutzte Stoffe wurden in dieser Zeit entdeckt und patentiert. Die IG Farben in Frankfurt am Main, später Hoechst AGX, entdeckte 1938 Nitrocarbazole (Handelsname Nirasan) und begann die erste großtechnische Produktion eines synthetischen Insektizids in Deutschland. So konnte die Anwendung von Arsen 1942 im deutschen Weinbau verboten werden. 1939 entdeckte Paul Müller (Geigy AG, Schweiz) DDT, und 1942 entdeckten Franzosen und Engländer zeitgleich gamma-HCHXI (Lindan). Gerhard Schrader (IG Farben, später Bayer AG) entdeckte 1938 TEPP und 1944 Parathion beziehungsweise E605, welches zu den Phosphorsäureestern gehört. Mit der Entdeckung von DDT, den sogenannten Hexa- und E-Mitteln, war der Grundstein für die nächste Etappe gelegt. Arsenische Insektizide waren noch länger im Gebrauch, aber verloren nach 1945 ihre Bedeutung in Europa.

FUNGIZIDE

Als Johann Burger 1819/21 sein berühmtes »Lehrbuch der Landwirthschaft« herausgab, war die Welt aus der Sicht des Pflanzenschutzes noch in Ordnung. Weder die Kartoffelfäule (Phytophthora infestansXII) noch der Mehltau (Erysiphales, PerenosporalesXIII) kamen in Europa vor, künstlicher oder importierter Stickstoffdünger spielte keine Rolle.

Burger beschreibt die Kartoffel noch als das »vorzüglichste aller landwirtschaftlichen Gewächse; denn es gedeiht in allen Klimaten, in jedem Boden, Thon und Sumpf abgerechnet; es unterliegt viel weniger der Witterung, bedarf nur einer kunstlosen Kultur, und gibt Ertrag an Mehl, der das Mehrfache der gewöhnlichen Getreideernten beträgt«.11 Die Kartoffel ist zu dieser Zeit das Hauptnahrungsmittel in Irland, den Niederlanden, in großen Teilen Deutschlands und in der Schweiz.

Als Kulturmaßnahme beschreibt Johann Burger nur das mehrfache Eggen und natürlich das Anhäufeln. »Der Werth dieser Frucht ergibt sich, wenn man die Leichtigkeit ihrer Kultur, die Sicherheit und Größe ihres Ertrages, (…) vergleicht.«12 Mit der Ankunft der Kartoffelfäule, etwa zwanzig Jahre später, ändert sich alles. Der Pilz trifft die Landwirtschaft in Europa völlig unvorbereitet und vernichtet die gesamte Ernte. Gerade in Irland, wo nur zwei Kartoffelsorten jahrelang in SelbstfolgeXIV angebaut wurden, sterben daraufhin eine Million Menschen, und weitere zwei Millionen Iren wandern in die USA aus. Der Pilz war nicht allein schuld an der »Great Famine«. Politische Fehlentscheidungen, ungerechte Landverteilung und fehlendes Verständnis von Genetik und Pathogenen hatten wahrscheinlich den größeren Anteil. Die Kartoffel wurde seit der Einführung in Europa jahrzehntelang nur über Klonung vermehrt – das heißt, man nahm von relativ wenigen südamerikanischen »Mutterpflanzen« Saatkartoffeln und vermehrte diese. Führt man diesen Prozess immer weiter und beschränkt sich beim Anbau auch noch auf wenige Sorten, führt das zu einer starken genetischen Verarmung, die es jedem Pathogen leicht macht.13

Den europäischen Weinbau trifft es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gleich viermal hart. Aus Nordamerika werden in kurzer Folge vier Schaderreger eingeschleppt: Erst der Echte Mehltau, dann die amerikanische Reblaus, später der Falsche Mehltau und die Schwarzfäule. Die Folgen sind verheerend.

Der Falsche Mehltau »rettet« in gewisser Weise die europäische Kartoffel – und läutet den Beginn der modernen Fungizide ein. Die Bordeaux-BrüheXV wird in Frankreich schon kurz nach dem Einschleppen des Falschen Mehltaus entwickelt und sie wirkt auch gegen die verwandte KrautfäuleXVI. Bis dahin hatte man keine Möglichkeit gefunden, die Krautfäule zu bekämpfen. Versuche mit einfachem Kupfervitriol, Schwefel, Gips und Ätzkalk führten zu keiner befriedigenden Lösung. Bereits 1864/65 versuchte man es mit einer Bodenentseuchung mit QuecksilbersublimatXVII und arseniksaurem Kali – diese Chemikalien verhüteten die Krautfäule, waren aber zu kostspielig. Nach der Entdeckung der Kupferkalkbrühe wurden schnell weitere kupferhaltige Fungizide entwickelt.

Kurz nach ihrer Einführung kam dann Quecksilber doch noch zu einer großflächigen Anwendung: als Saatgutbeize von Getreide. Die Bayer AG »entdeckte« 1911, dass Phenylquecksilberchlorid Keimlinge effektiv schützt, ohne sie zu schädigen. 1914 wurde es als Upsulan auf den Markt gebracht. Schon 1927 war Quecksilberbeize das erste Mittel, um Getreide vorbeugend gegen pilzliche Erreger zu schützen.14

Anfang der 1930er Jahre entdeckten Chemiker des US-amerikanischen Chemiekonzerns DuPont die fungizide Wirkung von CarbamatenXVIII – präziser gesagt von Dithiocarbamaten. Sie meldeten wenig später ein Patent auf einen Wirkstoff namens Thiram an, und 1940 kommt dieser auf den US-Markt.15 Wenig später kommt ein ähnlicher Wirkstoff dazu: Ferbam. Schwefel, kupferhaltige Fungizide und organische Quecksilberverbindungen als Beize bleiben noch lange die dominierenden Fungizide.

HERBIZIDE

»Es wäre unzutreffend, wenn man glauben sollte, dass man bisher gegen das Unkraut machtlos gewesen ist und dass es erst eines solchen neuen besonderen MittelsXIXbedurft hätte, um den allgemeinen Kampf gegen dasselbe mit Aussicht auf Erfolg aufnehmen zu können. Giebt es doch viele Wirthschaften, in denen das Unkraut beinahe unbekannt ist, weil es in Folge der Art der Bewirtschaftung des Bodens nicht aufkommen kann. Als eines der besten Vorbeugungsmittel gegen das Unkraut hat sich nämlich eine zweckmäßige Fruchtfolge mit Hackfruchtbau und Futterbau und angemessene Ackerung und Bestellung des Bodens erwiesen.«16

So beschreibt Albert Bernd Frank in einem Beitrag für das Kaiserliche Gesundheitsamt die bisherige Praxis. 1897 aber war man in Europa auf die Idee gekommen, Unkräuter mit Chemie zu bekämpfen. In Deutschland und Frankreich gab es Versuche in Getreide und anderen Kulturen mit Kupfersalzen und Eisenvitriol. Letzteres wird als der beste Wirkstoff befunden. Schon 1900 sind mehrere Typen fahrbarer HederichspritzenXX auf dem Markt. In den USA setzte man ab 1900 auf arsenhaltige Herbizide. Natriumarsenit – ein Totalherbizid wie Glyphosat – wird dort schon 1900 bis 1920 zum ersten massenhaft eingesetzten Unkrautvernichtungsmittel.17

Eisenvitriol tötet aber nur Hederich und Ackersenf und verschont alle übrigen Unkräuter. Albert Bernd Frank stellt deswegen fest:

»Es wäre gut, wenn es ein chemisches Mittel gäbe, welches in dieser Beziehung eine ausgedehntere Wirkung hätte ohne zugleich den Kulturpflanzen zu schaden.«18

Auf diese Art von Herbiziden wird die Landwirtschaft um 1900 noch 42 Jahre warten. Erst mit 2,4-D wird 1942 ein Herbizid auf den Markt gebracht, welches Getreide verschont, aber alle breitblättrigen Unkräuter abtötet. Bis dahin werden Unkräuter überwiegend mechanisch oder im Getreide eben auch mit etwa 60 bis 100 kg/ha Eisenvitriol bekämpft.19 Die ersten selektiven Herbizide, 2,4-D und drei Jahre später das verwandte 2,4,5-T,XXI werden ganz neue Märkte erobern. Natriumarsenit bleibt aber als Totalherbizid in den USA noch lange in Verwendung.

LANGE GESCHICHTE – KURZER PROZESS

Die frühe Periode des Pestizideinsatzes wird von anorganischen Pestiziden bestimmt. Schwefel und Pestizide basierend auf Kupfer, Arsen, Blei und Quecksilber werden schon zwischen 1890 und 1920 in großen Mengen eingesetzt. Was im Obst- und Weinbau und im Kartoffelanbau vor allem wegen neuartiger Schaderreger anfängt, wird schnell auf andere Fruchtarten übertragen. Die Quecksilberbeizung des Saatguts wird zum Standard.

Bis 1920 steigen zahlreiche chemische Fabriken in die Produktion von Pestiziden ein. Die Anzahl der verfügbaren Mittel nimmt ständig zu. Nach dem Ersten Weltkrieg beginnt eine Entwicklung, die bis heute fortschreitet und die Macht der Konzerne begründet. In den USA konsolidieren sich Chemiefirmen und übernehmen als Kriegsgewinner deutsche Chemiepatente. Als Reaktion darauf verbinden sich acht deutsche Chemieunternehmen 1925 zur IG Farben. In England entsteht 1926 als Gegengewicht dazu Imperial Chemical Industries, ICI, aus vier Chemiefirmen.

Die rasante Verbreitung von Pestiziden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte drei wesentliche Ursachen: mächtige internationale Konzerne, die staatliche Institutionalisierung des Pflanzenschutzes und das Fehlen von Zulassungen. Die Konzerne mussten nur Produkte entwickeln und verkaufen. Der Staat besorgte das Marketing. Eine Prüfung von Gefährdungen für Umwelt und Gesundheit gab es nicht.

Als Reaktion auf diverse Krisen – Kartoffelfäule, Mehltau, Kartoffelkäfer – bildeten sich in verschiedenen Ländern staatliche Einrichtungen zur landwirtschaftlichen Forschung und Beratung. Besonders in den USA, England und Deutschland. In Deutschland gab es um 1900 ein Netz von sechzig landwirtschaftlichen Versuchsstationen, die sich ab 1850 gegründet hatten. In den USA und England war es ähnlich.

Lorenz Hiltner, der erste Direktor der bayerischen agrikultur-botanischen Anstalt, beschreibt 1903 anhand der Kunstdünger eindrücklich, wie effektiv das Marketing über die Versuchsstationen war:

»Wenn heutzutage selbst der kleinste Landwirt seine Felder mit künstlichen Düngern düngt, wenn wir in Handelsberichten lesen, daß allein Deutschland in einem Jahre 1 750 000 Ztr. Chilisalpeter zu Düngungszwecken importiert, oder die heimischen Industrie 16 000 000 Ztr. Superphosphat zu gleichem Zwecke liefert, so haben wir hierin den Erfolg einer Arbeit vor uns, die in der Hauptsache die Versuchsstationen geleistet haben (…)«20

Pestizide, wie die Quecksilberbeizen, wurden später ebenso schnell verbreitet: »Nachdem Hiltner (…) die Wirksamkeit quecksilberhaltiger Beizmittel erwiesen hatte, hat die chemische Industrie eine große Anzahl von Präparaten (…) hergestellt.«21 Die frühen Pestizide führten die Landwirtschaft in die Abhängigkeit, und diese wird in den folgenden Jahrzehnten noch verstärkt.

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Richtung schon festgelegt, in die die Landwirtschaft gehen wird. In den Industrieländern befindet sie sich bereits in der Abhängigkeit von Insektiziden und Fungiziden. Dieses Prinzip bleibt erhalten, aber die Dimensionen und die Ausdehnung ändern sich dramatisch. Das Ende des Krieges setzt Ressourcen frei, und die Mechanisierung geht in der Landwirtschaft nun rasant vonstatten. Mit Traktoren und Flugzeugen kann man effizient große Flächen spritzen. Die Flurbereinigung beseitigt vielfältige Landschaften und schafft große Flächen für Monokulturen; Tier- und Pflanzenproduktion werden entkoppelt. Die Fruchtfolgen werden immer enger und Herbizide immer wichtiger.

DDTXXII ersetzt weitgehend arsenhaltige Insektizide, und da es zunächst für harmlos gehalten wird, gibt es keine Hemmungen bei der Anwendung. Es wird zum weltweit am häufigsten eingesetzten Pestizid. Die Erkenntnis, dass DDT hormonverändernde Wirkungen hat und zudem wahrscheinlich krebserregend ist, setzt sich erst in den 1970er Jahren durch und führt zum Verbot in den meisten Industrieländern. Wo DDT nicht wirkt, werden Hexa- oder E-Mittel eingesetzt. Die Industrie entwickelt auf Basis der drei Wirkstoffgruppen viele ähnliche Wirkstoffe. Die Aufwandmengen pro Hektar sind teilweise gewaltig. Zur Bekämpfung des Rapsglanzkäfers wird 1963 zum Beispiel in der DDR empfohlen:

»Fünf Käfer je Pflanzen bedeuten eine Gefahr, so daß dann die Bekämpfung mit DDT-Mitteln (je Stäubung wenigstens 10kg/ha) einsetzen muss. Bei gleichzeitigem Auftreten des Hohlschotenrüßlers kurz vor der Blüte sind Hexa- oder E-Mittel (10 bis 20 kg/ha) anzuwenden.«22

Mit der sogenannten »Grünen Revolution« werden in den 1960ern Pestizide im globalen Süden etabliert, wo der Einsatz bis heute rasant ansteigt.

Die negativen Auswirkungen des massiven Insektizideinsatzes in den zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sind bekannt und ausführlich beschrieben. Neue Umweltbewegungen gründen sich. Auf den Druck der Zivilgesellschaft reagieren die Staaten. Pestizide müssen ab Ende der Sechziger Jahre in den meisten Industrieländern einer Überprüfung unterzogen werden. Gesetzliche Rückstandshöchstmengen für Pestizide im Essen werden bald international festgelegt. Dies allerdings, um den Handel mit belasteten Lebensmitteln zu legalisieren.XXIII

Eine weitere Beschleunigung folgt nach dem Ende des Kalten Krieges. China öffnet sich dem Weltmarkt und wird einerseits zu einem großen Importeur von Lebensmitteln, und andererseits entstehen bald Tausende von chinesischen Pestizidfirmen, die Pestizide nach ganz Asien und Lateinamerika exportieren.

Mitte der Neunziger Jahre führt Monsanto die glyphosatresistente Sojabohne ein. Die Bohne wurde genetisch so modifiziert, dass sie dem Totalherbizid Glyphosat widersteht. Zur gleichen Zeit wird, um Arbeitszeit und Diesel zu sparen, die pfluglose Bodenbearbeitung populär. Glyphosat ersetzt den Pflug als »Unkrautvernichtungsmittel«. Nach dem Auslaufen der Patente wird Glyphosat zum mengenmäßig meist verkauften Pestizid.

Ebenfalls Mitte 1990 kommen mit den Neonikotinoiden neuartige Pestizide auf den Markt, die dann langsam die Organophosphate ersetzen. Die ersten Neonikotinoide haben Eigenschaften, die sie extrem populär machen – und extrem gefährlich. Bald folgen die ersten Berichte über Bienensterben. Immer mehr Evidenz zeigt die Gefährlichkeit dieser Stoffe.

So bleibt die Geschichte der Pestizide von Anfang bis heute eine Geschichte des staatlichen Versagens und auch einer unermesslichen Naivität. Skrupellose Firmen fingen schon im 19. Jahrhundert an, offensichtlich hochgefährliche Pestizide ohne jegliche Überprüfung von Gefahren zu verkaufen. Sie kreierten schon früh eine Landwirtschaft, die scheinbar nicht mehr ohne Pestizide auskommt.

I

Quassia ist der Extrakt aus dem giftigen »Bitterholz« und anderen Teilen des brasilianischen Quassiabaumes Quassia amara.

II

Pyrethrum ist ein natürliches Insektizid aus den Blüten von Chrysanthemen, heute als Tanacetum-Arten klassifiziert. Es wird in der Literatur häufig als Insektenpulver, Dalmatinisches Pulver oder Persisches Pulver bezeichnet.

III

Die Gruppe der Arthropoden (Gliederfüßer) schließt Insekten und Spinnentieren, wie Spinnmilben ein, die bis heute zu den bedeutendsten Schädlingen gehören.

IV

Organisch im Sinne der »organischen (kohlenstoffbasierten) Chemie«

V

Kohlenstoffdisulfid (CS2)

VI

Erst die flüssige Dufourische Lösung (Schmierseife mit Pyrethrumpulver) erlaubt den preiswerten und wirksamen Einsatz auf größeren Flächen.

VII

Beides Traubenwicklerarten, Schädlinge im Weinbau.

VIII

Ein Amerikanisches Pfund wiegt 0,453592 kg.

IX

Eine Formulierung ist in der Chemie eine Verbindung verschiedener Komponenten.

X

Die IG Farben entstand 1925 aus dem Zusammenschluss von acht deutschen Unternehmen – darunter Agfa, BASF, Bayer, Cassella, Hoechst und Kalle. Sie war das größte Chemie- und Pharmaunternehmen der Welt, wurde aber nach dem Zweiten Weltkrieg wegen aktiver Beteiligung am Holocaust zerschlagen.

XI

γ-Hexachlorcyclohexan

XII

In der frühen Literatur wurde sie noch als Perenospora infestans bezeichnet.

XIII

Beim Mehltau handelt es sich um eine Gruppe verschiedener Arten. Der falsche Mehltau des Weines Plasmopara viticola wurde 1878 nach Europa eingeschleppt und führte zur »Mehltau Krise« in Frankreichs Weinbau.

XIV

Heute werden Anbaupausen von mindestens drei Jahren empfohlen beziehungsweise vorgeschrieben.

XV

Das ist Kupferkalkbrühe, eine Mischung von Kupfersulfat (Kupfervitriol) mit Kalkmilch.

XVI

Beides sind Eipilze der Familie Peronosporaceae.

XVII

Quecksilberchlorid war schon lange als Fungizid im Fokus.

XVIII

Das sind Salze und Ester der Carbamidsäuren. Zu ihnen gehören auch Polyurethane.

XIX

Des Eisenvitriols (Anm. des Autors).

XX

Benannt nach dem Acker-Rettich oder Hederich, Raphanus raphanistrum.

XXI

Dichlorphenoxyessigsäure und Trichlorphenoxyessigsäure.

XXII

Dichlordiphenyltrichlorethan.

XXIII

Unterschiedlich hohe gesetzliche Grenzwerte wurden früh als Handelsbarriere erkannt. 1963 formte sich deshalb die internationale Codex Alimentarius Commission (CAC) mit der Absicht, einheitliche Standards zu schaffen, um den weltweiten Handel mit Agrarprodukten zu gewährleisten.

Verlustanzeige

Texte der Tierporträts: Florian Schwinn Illustrationen: Annika Huskamp

Der Baumweißling (Aporia crataegi)

Der Baumweißling war einst eine sehr häufige Art des Offenlandes. Die Raupen entwickeln sich meist in großen Nestern an Rosengewächsen wie Birnen und Pflaumen, aber auch an Schwarzdorn und Weißdorn. Auf letztere, die Gattung Crategus, bezieht sich der wissenschaftliche Name Aporia crataegi. Der Tagfalter aus der Familie der Weißlinge trat bis in die 1970er Jahre in manchen Obstbaugebieten so häufig auf, dass er als Schädling eingestuft wurde.

Alfred Brehm berichtet in seinem »Tierleben«, dass an Pfingsten 1829 die Obstbäume entlang der Heerstraße von Erfurt nach Gotha weiß erschienen, als stünden sie in voller Blüte: »Dieses Blütengewand bestand aber aus einer ungeheuren Menge von Baumweißlingen. Seitdem ist diese Art nie wieder in solchen Mengen gesehen worden.« Außerdem erzählt Alfred Brehm, dass der Saft, den die frisch geschlüpften Schmetterlinge »aus ihrem After entlassen«, in früheren Zeiten als böses Omen gewertet wurde, weil der beim Baumweißling rötlich gefärbt sei und »weil er zuzeiten in großen Mengen vorkam, so hat dies zu der Sage von dem ›Blutregen‹ Veranlassung gegeben, welcher ein Vorbote für allerlei böse Ereignisse sein sollte.«1

— Opfer des modernen Obstbaus

Von einer Massenvermehrung der Baumweißlinge wird auch noch aus den 1970er und 80er Jahren in der Oberrheinebene in Baden-Württemberg berichtet. Danach wurden die Falter immer seltener. Der großflächige Einsatz von Pestiziden in den Obstbaugebieten führte zu einem starken Rückgang der Populationen in zahlreichen Regionen Mitteleuropas. Neben dem intensiven Einsatz von Pestiziden im Obstbau mit negativen Folgen für diese und andere Arten leidet auch der Baumweißling stark unter der Zerstörung anderer potenzieller Lebensräume, wie strukturreiche innere und äußere Waldsäume und Lichtungen, Vorwaldstadien, Magerrasen, buschdurchsetzte trockene Felshänge und Heckengebiete. All diese sanften Rand- oder Saumbiotope, die sogenannten Ökotone, sind in unserer Landschaft kaum noch zu finden.

DUALE EINSEITIGKEIT

Warum junge Landwirte in Berufsschule und Betrieb meist zu Pestizidanwendern ausgebildet werden

von Joseph Amberger

Der ökologische Landbau hat sich in den letzten dreißig Jahren als anerkannt nachhaltiges Landbausystem etabliert. Biobetriebe erwirtschaften ein sicheres Familieneinkommen und leisten einen wichtigen Beitrag zum Ressourcen-, Arten- und Klimaschutz. Dadurch haben sie sich ein hohes gesellschaftliches Ansehen erworben, das sich auch auf politische Entscheidungen auswirkt. Staatliche Förderprogramme unterstützen die Umstellungsphase und honorieren die agrarökologischen Leistungen der Biobauern. Dennoch liegt der Anteil der von Biobetrieben bewirtschafteten landwirtschaftlichen Fläche in Deutschland immer noch unter zehn, in der Schweiz knapp über fünfzehn Prozent. Nur in Österreich liegt der Anteil der Biofläche dank einer starken politischen Unterstützung bei einem Viertel der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche.

Im deutschen Bundesland Bayern, in dem ich viele Jahre als Landwirtschaftslehrer und inzwischen als ProjektleiterI tätig bin, soll Bio nach dem Willen der Landesregierung in den nächsten zehn Jahren auf dreißig Prozent der Fläche wachsen. In weiten Teilen des Landes liegt der Anteil derzeit noch unter zehn Prozent. Obwohl die Bedingungen für eine Betriebsumstellung heute weit besser sind als in den vergangenen Jahrzehnten, ist die Bereitschaft, diesen Weg zu gehen, bei den Landwirten eher verhalten.

Dafür gibt es meiner Erfahrung nach einen wesentlichen Grund, der nach Jahrzehnten erfolgreicher Biolandwirtschaft allerdings erstaunlich ist: Den im sogenannten »konventionellen« System praktizierenden Landwirten fehlt es an Wissen über das System und die Funktionsweise des ökologischen Landbaus. In Diskussionen und Beratungsgesprächen wird sehr viel Zeit und Energie aufgewendet, um all die Punkte zu erörtern, die einer Umstellung des eigenen Betriebs entgegenstehen. Das ist eine gut eingeübte Möglichkeit, Herausforderung zu meiden und neue Wege nicht zu gehen.

Die Angst vor Veränderung lässt sich durchaus nachvollziehen. Trotzdem stellt sich die Frage, weshalb Landwirte, die eine mehrjährige Ausbildung absolviert haben, so wenig über den ökologischen Landbau wissen. Sicher hatten in der Vergangenheit die Kenntnisse über Methoden des ökologischen Landbaus einen geringen Stellenwert. Doch wie sieht es heute aus? Werden konventionelle und ökologische Inhalte in der Ausbildung gleichwertig vermittelt?

Vereinfacht kann man sagen, dass Kenntnisse über die praktische Anwendung von synthetischen Pestiziden sowohl in der Praxis der Ausbildungsbetriebe, als auch im theoretischen Unterricht an den Berufsschulen eine zentrale Bedeutung haben. Obwohl die Grundsätze und Inhalte des Biolandbaus mittlerweile in die Lehr- und Ausbildungspläne aufgenommen wurden, spielen sie in der Ausbildungspraxis meist eine untergeordnete Rolle. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Ihre Ursachen sind historisch, politisch und gesellschaftlich begründet und liegen bisweilen auch schlicht in der Person der Lehrer und Ausbilder.

GESCHICHTE DER LANDWIRTSCHAFTLICHEN AUSBILDUNG

Eine berufsständisch organisierte Ausbildung nach dem Vorbild der Zünfte und Innungen gab es in der Geschichte der Landwirtschaft nie. Berufliche Bildung erfolgte bis Ende der 1960er Jahre in erster Linie durch die Weitergabe von tradiertem Wissen der Elterngeneration auf die auf dem Hof mitarbeitenden Familienmitglieder. Innovationen und Wissenstransfer kamen lange Zeit aus den landwirtschaftlichen Betrieben der Klöster und, nach der Säkularisierung im 19. Jahrhundert aus den neugeschaffenen staatlichen Lehr- und Bildungsanstalten. Diese Einrichtungen dienten jedoch hauptsächlich der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses und des Beamtenapparates. Die für Praktiker eingerichteten Ackerbauschulen wurden in erster Linie von Hofnachfolgern der Güter und Großbauern besucht. Der überwiegende Teil der praktizierenden Bauern hatte keine landwirtschaftliche Berufsausbildung.