Das gläserne Buch - Reiner Schöne - E-Book

Das gläserne Buch E-Book

Reiner Schöne

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Beschreibung

»Das gläserne Buch« ist ein Mutmacher, Dinge zu überwinden, die unüberwindlich scheinen. Seine Protagonisten sind Tiere aus allen Regionen der Erde, die sich zusammentun und Unglaubliches erreichen. Es fällt nicht schwer, Parallelen zu Reiner Schönes Leben zu erkennen, Aufbruch, Neugier, Glaube, Toleranz, Stärke, und Durchhaltevermögen sind die Eigenschaften, die ihn charakterisieren und dieser Geschichte viel Spannung geben. Ein außergewöhnliches Buch der Crossover-Literatur. Ein All-Ager, für Jugendliche und Erwachsene.

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Seitenzahl: 182

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ähnliche


Inhalt

Die Begegnung

Die Reise

Der erste Tag in Afrika

Noah lernt schwimmen

Wotans Buch

In Seenot

Der gläserne Wald

Die Tagwölfe und die Nachtwölfe

Das Geheimnis der rotgepunkteten Blaubeeren

Bei den Aborigines

Ein gefährliches Experiment

Sydney

New Orleans

Der erste Auftritt der Eisbärband

Kalifornien

Lilly

Chaos in der Karibik

Etwas Großes geschieht

Die Eisbärband trifft die Greatful Hippies

Rockin’ Johannesburg

Wotan fliegt nach Kapstadt

Die Tränen der grünen Mamba

Sweet Sally forever

Die erste Reise zum Bunten Planeten

Ein Traum wird wahr

Das letzte Konzert der Eisbärband mit den Greatful Hippies

Die Suche nach Mama Eisbär

Die Blockflöten vom Bunten Planeten

Worterklärungen

Dankesliste

Vorwort

Angefangen hat alles mit Gute-Nacht-Geschichten für meine Tochter Sophie Charlotte. Da war sie etwa acht. Freiweg, was mir gerade einfiel. Eingeschlafen ist sie oft nicht, weil’s so spannend war. Und sie wurde älter – wie meine Helden, Noah und seine Freunde. Somit wurden auch die Geschichten älter, sie wurden Geschichten für heranwachsende Kinder. Und ich fing an, sie aufzuschreiben. Aus den Geschichten wurde langsam ein Buch. Und ich merkte, ich schreibe die Abenteuer meiner Helden, ich schreibe diesen Roadtrip auch für mich. Den Musiker der Rock-’n’-Roll-Generation. Aber, Zitat: »Rock ’n’ Roll never dies.«

Und so ist es ein Buch für Jugendliche und jung gebliebene Große geworden – ein All-Ager.

Und Freunden, denen ich das Manuskript zu lesen gab, haben gefragt: »Was hast’n du genommen, als du das geschrieben hast?«

»Nicht anderes als meine Träume,« hab ich gesagt und gelacht. »Meiner Phantasie freien Lauf zu lassen und dass meine heranwachsende Tochter nicht genug davon kriegen konnte und mitfabuliert hat – das war meine Inspiration.«

Und so ist es am Ende das gemeinsame Werk von Papa und Tochter geworden. Von jung und von ein kleines bisschen älter.

Now let it rock!

Reiner Schöne

TEIL EINS

Die Begegnung

Der Wind heulte über die unendliche Weite. Es war bitterkalt, obwohl die Sonne schon hoch am Himmel stand und die Schneekristalle glitzern ließ wie Millionen Edelsteine. Nirgendwo auf der Welt konnte es verlorener sein als hier oben im hohen Norden am Polarkreis. Nichts als weiße, blendende Kälte. Kein Mensch, kein Tier, nur Eis und Schnee, zusammengehalten von ewigem Frost.

Plötzlich bewegte sich etwas. Unter dem Schnee kam ein weißes Fellbündel hervor. Der kleine Polarbär war wach geworden und krabbelte aus seiner eingeschneiten Höhle heraus ans Tageslicht. Er kniff die Augen zusammen, weil das grelle Licht ihn blendete. Wo war seine Mama? Er fiepte leise und hatte schrecklichen Hunger. Seine Mama war schon lange zur Jagd ausgezogen, als er schlief, und war bislang nicht zurückgekommen. Noch etwas wacklig auf seinen kleinen Beinen, rutschte er den Abhang hinunter, kullerte und kullerte, bis er endlich unten liegenblieb.

Den kleinen Bär überkam plötzlich ein unheimliches Gefühl, das er bisher nicht gekannt hatte in seinem kurzen Leben: Er hatte Angst. Angst, allein zu bleiben. Und schon wieder kam etwas Neues, nie vorher Gekanntes: Er weinte. Er weinte und weinte und konnte gar nicht mehr aufhören. Die Tränen kullerten über sein kleines Bärengesicht und fielen in den Schnee. Immer mehr Tränen, ganze warme Bäche weinte der Kleine, und der Schnee unter ihm fing an zu schmelzen. Doch nicht nur der Schnee, unter dem Schnee schmolz auch das Eis; die ganze meterdicke Eisschicht schmolz unter dem Schmerz des einsamen Bärenkindes, bis ein Loch entstand und es hinunter ins Wasser fiel.

Nun war das ja nicht irgendein Wasser. Es war der Nordatlantik. Ein großer, dunkler, feindseliger Ozean, viele tausend Meter tief. Und der Kleine hatte noch nicht schwimmen gelernt. Er sank und sank und strampelte mit den Beinen und sank langsam immer tiefer, als plötzlich etwas Riesiges, Dunkles auftauchte und den kleinen Bären auffing. Warm wurde es um ihn und weich. Kein Wasser mehr, irgendeine Höhle. Die sich bewegte.

Ein großer Wal hatte das Fellbündel mit seinem Maul aufgefangen und vorm sicheren Ertrinken gerettet. Aber Wale sind friedliche Tiere, die nur kleine Krebse fressen, die man Krill nennt. Doch das konnte der kleine Findling natürlich nicht wissen, und sein Herz klopfte wie verrückt. Noch hatte er keine Ahnung, wo er war.

Langsam hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, da sah er in einer Ecke etwas schwach Leuchtendes. Er robbte vorsichtig darauf zu, als er plötzlich eine Stimme hörte. Eine tiefe, warme, angenehm brummige Stimme.

»Wer bist du denn, mein Kleiner?« Er konnte nicht sehen, woher die Stimme kam, aber seine Angst war verschwunden.

»Ich weiß nicht, wer ich bin.« Er war ja noch klein und zu jung, um zu wissen, was die Großen wissen. »Wer bist du denn?« fragte er zurück.

»Ich heiße Wotan. Ich bin ein Wal, und ich glaube, du bist ein Eisbär«, kam es aus dem Dunkel. »Hast du denn auch einen Namen?«

»Was meinst du damit?« wollte der Bär wissen.

»Wie nennt dich denn deine Mama? Alle Kinder haben doch einen Namen. Meiner ist Wotan, wie ist denn deiner? Aber ich merke schon, du hast noch keinen Namen, du verwirrter Eisbär.«

Wotan überlegte eine Weile. »Pass auf, vor langer, langer Zeit, da gab es mal einen Mann, der hieß Noah. Der baute ein riesiges Schiff, eine Arche, um ganz viele Tiere vor einer großen Flut zu retten, der Sintflut. Und so komme ich mir grade vor. Wie deine Arche, weil ich dich gerettet habe.«

Wotan brummte gemütlich. »Ich werde dir jetzt einen Namen geben: Den Namen, der für immer mit der Arche verbunden ist: Noah. Wie gefällt dir das?«

»Noah«, wiederholte der Kleine, »Noah, ja das gefällt mir!«

»Wotan und Noah, das klingt wirklich schön«, brummte der Wal. »Und was, beim Neptun, machst du da eigentlich unterm Eis im tiefen Wasser, mein Freund?«

Noah war noch zu verwirrt, um die ganze Geschichte zu erzählen. Er musste sich erst mal zurechtfinden da im Maul des riesigen Brummtieres.

»Ist ja auch egal. Aber ich kann dich nicht wieder nach oben bringen. Über uns ist alles zugefroren, ich muss dich mitnehmen.«

Noah musste so viele neue Eindrücke verarbeiten, sein Kopf schwirrte, und er fragte: »Wohin mitnehmen?«

»Nach Afrika. Meine Freunde und ich schwimmen nach Afrika, und da kann ich dich an Land setzen, wenn du willst. Bis dahin mach’s dir bequem. Ich hab einen bösen Backenzahn, der tut zwar weh, aber ich glaube, er leuchtet da im Dunkeln. Das kommt von den Bakterien. Dahinter steckt ein Buch, das ich aus Versehen fast verschluckt hätte. Es schwamm im Wasser, und nun hat sich’s da verklemmt. Du kannst dir die Bilder ansehen, ich nehme an, dass du noch nicht lesen kannst.«

Natürlich konnte Noah nicht lesen, er verstand kaum die vielen neuen Worte, die Wotan da brummte, aber er fand das Buch und sah lauter fremde Sachen, die ihm gefielen: wunderschöne Bilder.

»Du hast doch sicher Hunger, mein Freund?« fragte Wotan nach einer Weile. »Halt dich mal gut fest!«

Noah ergriff einen von Wotans Barten, das sind die Zähne der Wale, als das riesige Maul aufging und ein Schwall Wasser hereinschwappte. Mit lauter kleinen Krebsen.

»Das ist Krill, du Landratte«, brummte Wotan, »nimm dir, so viel du magst. Und dann versuch zu schlafen, wir haben eine lange Reise vor uns.« Der Krill schmeckt gar nicht so schlecht, der kleine Bär war endlich satt und wurde allmählich ganz schläfrig. Er war gerade eingenickt, als er seltsame Töne hörte. Fremdartige Töne, doch irgendwie beruhigend.

»Was ist das, Wotan?« Er sagte zum ersten Mal »Wotan«, und es gefiel ihm, wie vertraut das über seine Lippen kam. Er war nicht mehr allein, er hatte einen Freund, einen Beschützer, und ihm wurde ganz warm um sein kleines Herz.

»Das sind die anderen Wale«, brummte Wotan, »sie reden mit mir, ich werde jetzt antworten. Es wird ein bisschen laut, aber hab keine Angst, mein Kleiner.« Wotan sang einen wunderschönen, breiten Ton.

»Was hast du gesagt, Wotan?« Aber statt zu antworten, sang Wotan weiter und erzählte seinen Freunden, dass er ein Eisbärbaby im Maul habe, das er nach Afrika mitnehmen würde. Die Wale ermahnten Wotan, gut aufzupassen auf seinen kleinen Passagier und ihn nicht rausfallen zu lassen oder gar zu verschlucken.

Noah war inzwischen fest eingeschlafen und träumte beim Gesang der Wale. Er träumte von Afrika. Aber das war sehr verschwommen, er hatte ja noch keine Ahnung, wie es in Afrika aussah. Die Wale unterhielten sich über viele Kilometer hinweg unter Wasser, und der kleine Bär lag friedlich und sicher in Wotans Maul und merkte gar nicht, wie er so dahinglitt auf dem Weg in ein großes Abenteuer.

Die Reise

Noah wachte auf und blinzelte. Erst wusste er gar nicht, wo er war. Er streckte seine Glieder, wie es ihm seine Mama immer vorgemacht hatte, wenn sie nach einem gesunden Bärenschlaf erwachte. Noch nicht ganz da, fiepte er leise: »Mama?« Er sah sich um, und im milden Schein von Wotans schmerzendem Zahn erkannte er bald, dass er sich in einer Höhle befand.

Das Fiepen wurde lauter: »Mama!« Aber die Mama antwortete nicht. Und Noah fing an, jämmerlich zu schluchzen.

»Guten Morgen, ich merke, du bist wach.« Eine irgendwie vertraute Stimme sprach weiter: »Willst du mir jetzt nicht mal erzählen, was dir passiert ist und warum ich dich da im tiefen Ozean auffischen musste? Vielleicht kann ich dich ein bisschen trösten.« Wotans tiefer Brummbass wirkte sofort beruhigend auf den einsamen Kleinen, der in seinem Kopf langsam das Puzzle des gestrigen Tages zusammensetzte.

»Aber erst mal wollen wir frühstücken, halt dich wieder gut fest.« Und kaum hatte Noah irgendwo Halt gefunden, als auch schon ein großer Schwall durch Wotans weit geöffnetes Maul hereinschwappte. Nachdem nach Walart das Wasser wieder durch die Barten zurück ins Meer gepresst worden war, blieb ein leckeres Frühstück zurück.

»Das ist alles für dich, mein Freund.«

Noah machte sich sofort über die leckeren Fische her, die da vor ihm in der dämmrigen Höhle zappelten. Eigentlich wurde er ja noch von seiner Mama gestillt, aber er konnte jetzt nicht wählerisch sein. Es schmeckte ihm ausnehmend gut und kaum war er satt, brummte Wotan: »So, jetzt bin ich dran. Festhalten!«

Wieder öffnete sich das Scheunentor, nur diesmal kam eine ganze Wagenladung Krill herein. Vorsichtig schob die riesige Zunge die Walnahrung an dem kleinen Bär vorbei, der sich mit seiner ganzen Kraft festhalten musste, damit Wotan ihn nicht mit verschluckte.

Von fern hörte er den Gesang der anderen Wale, als Wotan neugierig nachfragte: »Meine Reisekameraden wollen wissen, was dir passiert ist. Leg mal los, du.«

Und Noah erzählte und fing wieder an zu weinen, weil ihm bewusst wurde, wie weit weg er von seiner Mama war. »Vielleicht seh ich sie nie wieder, und sicher macht sie sich Sorgen.«

Draußen wurde es still. Die Wale waren verstummt, und auch Wotan schwieg lange. Die wunderschönen Tiere, die hundert Mal größer und hundert gefühlte Jahre älter waren als Noah, überlegten, wie sie ihm helfen könnten. Vielleicht weinen Wale ja auch, man sieht es nur nicht im Wasser.

»Weißt du was, mein Kleiner«, brummte Wotan nach einer Weile ganz sanft, »es ist jetzt, wie es ist, ich setze dich erst mal in Afrika an Land, und wenn wir nächstes Jahr zurück nach Norden ziehen, nehmen wir dich wieder mit und versuchen, deine Mama zu finden.« Er war weise genug, um zu wissen, dass das ein schier unmögliches Unterfangen war, aber er wollte dem Bärenkind etwas Tröstliches sagen. Ganz leise sangen die anderen Wale da draußen ihre Zustimmung, und ihr Gesang beruhigte Noah; er hatte noch nie solch schöne Töne gehört. Es war überhaupt die erste Musik, die er hörte in seinem jungen Leben. Bisher kannte er nur das Heulen des Polarwindes. Er fand, dass der Gesang der Wale viel schöner war.

Langsam schlief er wieder ein. Das leichte Schaukeln im großen Ozean entspannte ihn, und er träumte sich näher heran an Afrika.

Aber dann wurde er unsanft geweckt. Es schaukelte mächtig, und ihm wurde ein bisschen übel. Er rollte über Wotans große Zunge und wieder zurück.

»Keine Angst, du Landratte«, ertönte Wotans beruhigender Brummbass, »wir schwimmen durch einen heftigen Sturm, oben sind riesige Wellen, und auch hier unten schaukelt es heftig. Halt dich gut fest, ich muss wieder mal nach oben, Luft holen.« Noah wusste natürlich nicht, dass Wale keine Fische sind, sondern Säugetiere. Ab und zu müssen sie auftauchen, um zu atmen. Je höher Wotan kam, den großen Wellen entgegen, desto mehr rumpelte und pumpelte es; Noah verging Hören und Sehen, er rutschte in Wotans Maul herum, und der Wal brummte: »Das kitzelt auf meiner Zunge, ich muss niesen, du kleiner Racker; wenn ich jetzt husten muss, verlier ich dich, also bleib, wo du bist. Ich blase jetzt mein Nasenloch aus.«

Es zischte, dann holte Wotan tief und lange Luft und tauchte wieder ab. Es war eine Berg-und-Tal-Fahrt, und langsam hatte der kleine Noah Spaß daran. Wie alle Kinder wollte er spielen und rumtollen, und nun saß er hier im Dunkeln fest und machte das Beste aus seiner Lage. Er hüpfte auf und ab und rollte in seinem Unterwasserkäfig herum.

Wotan musste niesen, aber er musste nicht husten, es bestand keine Gefahr, den kleinen Maulpassagier ins Meer zu pusten.

»Halt noch ein bisschen durch, mein Freund, bald sind wir in Afrika, dann kannst du raus und an Land rumtoben.« Wotan kräuselte seine Zunge und versuchte, Noah zu streicheln. Er leckte ihm zärtlich über den Kopf, und das Bärenkind empfand eine dankbare Wärme in seinem Herzen. Es erinnerte ihn an seine Mama, die immer mit ihm gekuschelt und mit ihrer schwarzen Zunge sanft sein Gesicht geleckt hatte.

Aber er bekämpfte tapfer das Heimweh und fragte: »Wie ist Afrika, Wotan?«

»Hm, es ist anders als da, wo du herkommst. Ich war ja noch nie an Land, ich hab doch keine Beine, so wie du. Es ist schön warm in Afrika, so viel weiß ich.«

»Warm? Was ist das?«

»Oyoyyoyoy, du Baby, du weißt ja noch gar nichts von der Welt. Aber das wirst du alles noch lernen. Warm ist das Gegenteil von kalt.«

»Und was ist kalt?«

»Kalt ist es im Norden, wo du herkommst. Aber dir ist ja nie kalt, du bist doch ein Eisbär. Jedenfalls ist kalt das Gegenteil von warm, ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Die Delphine wissen da viel mehr als ich.«

»Delphine, was ist das?«

»Das sind auch Wale, aber viel kleiner und sehr klug. Sie retten manchmal sogar Menschen vorm Ertrinken.«

»So wie du mich gerettet hast?«

»Hm, so ungefähr.«

»Und Menschen? Sind das auch Tiere?«

»Leider nein«, grummelte Wotan leise. »Menschen machen Jagd auf Wale. Vor den Menschen muss man auf der Hut sein.«

Plötzlich klangen die Wale anders. Besorgt. Warnend, wie es Noah schien. »Was ist los, Wotan?«

»Da vorn treibt ein riesiges Schleppnetz, das die Menschen verloren haben. Sehr gefährlich. Besonders für die Delphine. Sie verheddern sich und können nicht mehr auftauchen, um Luft zu holen. Sie ertrinken dann. So kann es auch uns großen Walen ergehen.«

»Was ist ein Schleppnetz?«

»Damit fischen die Menschen mit ihren großen Schiffen die Meere leer.«

Noah schwirrte der Kopf. Es gab offenbar so viel, was er noch lernen musste. Wotan strich ihm wieder mit seiner Zunge übers Fell, und beide schwiegen eine Weile, als plötzlich draußen die Wale wieder sangen.

»Was sagen sie?« wollte der Kleine wissen.

»Wir sind da«, erwiderte Wotan.

»In Afrika?«

»So ist es.«

Noah wurde ganz weh zumute. »Afrika« hieß Abschied nehmen. Und sich da in der Fremde allein zurechtfinden zu müssen. Ohne Wotan. Ohne seine Nähe und ohne die Geborgenheit seines riesigen Mauls. Wotan schien die Gedanken seines kleinen Schützlings zu erraten. »Jetzt nur nicht wieder traurig werden. Ich sag dir nun, wie wir dich an Land kriegen. Pass genau auf.«

Draußen redeten die Wale miteinander und lotsten Wotan durchs flacher werdende Wasser und um die scharfen Klippen herum Richtung Küste.

»Sie wünschen dir Glück, mein kleiner Freund«, sagte Wotan. Jetzt wurde auch er ein bisschen wehmütig, er hatte Noah richtig lieb gewonnen auf der langen Reise. »Ich kann dich aber nicht bis zum Strand bringen, sonst laufe ich auf, weil ich so groß und so schwer bin. Vor meiner Nase schwimmt ein kleiner Baum. Und frag jetzt nicht, was ein Baum ist. Das siehst du gleich. Da werd ich dich draufbefördern, du hältst dich daran fest. Es ist gerade Flut, die trägt dich an Land. Und noch etwas: Mach jetzt deine Augen zu und lass sie geschlossen, bis ich sage, dass du sie aufmachen kannst. Du warst so lange im Dunkeln, das grelle Sonnenlicht würde dir sonst wehtun. Du musst blinzeln und deine kleinen Bärenaugen ganz langsam an die Sonne gewöhnen.«

Noah kniff die Augen ganz fest zusammen. Sein Herz klopfte vor Aufregung, und Wotan öffnete behutsam sein riesiges Maul. »So, ganz langsam die Augen auf, vorsichtig!«

Der Bär tat, wie ihm geheißen, doch dann wurden seine Augen riesengroß und kreisrund. Vor ihm lag die Küste Afrikas. Weißer Strand und dahinter Farben, die er noch nie gesehen hatte.

»Was ist das da hinten?« wollte er wissen.

»Das sind Palmen. Und jetzt raus ins Leben. Stell dich auf meine Zungenspitze.« Plötzlich fiel ihm noch etwas ein: »Nimm das Buch mit, ich schenke es dir als Andenken. Nun leb wohl, mein kleiner Freund. Viel Glück, pass auf dich auf.«

Und bevor Wotan jetzt vor Rührung selber weinen musste, schlenzte er Noah weit von sich bis auf den kleinen Baum, der tatsächlich auf den Wellen schaukelte. Auch die anderen Wale waren aufgetaucht, und alle beobachteten sie, wie ihr kleiner Freund auf seinem Bäumchen von der Flut langsam, aber sicher an den Strand gespült wurde und dabei sein Buch fest zwischen den Zähnen behielt. Als sie sahen, dass er in Sicherheit war, tauchten sie ab und setzten ihre Reise fort, wohin es sie auch immer führen mochte.

Der erste Tag in Afrika

Noah schüttelte sich das Wasser aus dem Fell und krabbelte auf den Strand. Von die lange Reise waren seine Beine ganz schwach geworden. Er fiel immer wieder um und ruhte sich erst mal aus. Da lag er nun in einer fremden Welt: Der Himmel hatte ein sattes Blau, die Palmen waren von einer unbekannten Zauberfarbe; es war Grün, wie er später lernte, und sein Pelz wurde schnell trocken in der lauen Meeresbrise. Es war angenehm. Das war wohl »warm«, wie Wotan ihm zu erklären versucht hatte. Afrika ist warm, war seine erste Empfindung. Warm ist schön.

Die letzte Mahlzeit lag nun schon eine ganze Weile zurück, ihm knurrte der Magen. Und kein Walmaul würde sich öffnen und ihm den Tisch decken. Aber er hatte auf der Reise gelernt, dass er sein Schicksal selber in die Hand nehmen musste, wenn er in Afrika angekommen war.

Er rappelte sich auf und lief wacklig zu den Palmen. Dahinter begann ein dichter Urwald. Er bemerkte plötzlich, dass er nicht allein war. Es tönte und flötete, es trillerte und krächzte um ihn herum. Vögel sangen, Möwen kreischten; aus dem Dschungel kamen Hunderte seltsame Geräusche. Er blickte an einer Palme hoch, und plötzlich machte es RUMMMS, er fiel um und wurde ohnmächtig.

Er kam wieder zu sich, weil ihm etwas am Kinn kitzelte. Er machte die Augen auf – und sofort wieder zu. Neben ihm saß etwas Haariges, Merkwürdiges, Unbekanntes.

»Hey, du Fremdling. Du musst keine Angst haben.« Das unbekannte Wesen zupfte ihn am rechten Ohr. Noah machte erst ein Auge auf, dann langsam das zweite.

»Ich bin der Fips, und wer bist du? Woher kommst du denn? Ich hab dich hier noch nie gesehen. Bist du auch ein Tier?«

So viele Fragen. »Ich bin ein Eisbär, und ich heiße Noah. Ich komme daher, wo’s kalt ist. Was für ein Fips bist du denn?«

Fips musste lachen über den Fremdling. »Ich bin ein Affe. Dir ist eben eine Kokosnuss auf den Kopf gefallen, du musst vorsichtig sein unter den Palmen. Willst du mein Freund sein? Viele Tiere sind meine Freunde, aber noch kein Eisbär; meine anderen Freunde werden staunen, komm.« Fips klemmte sich seinen neuen Freund einfach unter den rechten Arm und kletterte mit ihm blitzschnell auf einen hohen Baum. Oben setzte er ihn ab – in einem großen Nest, das kunstvoll aus Zweigen geflochten zu sein schien.

»Hallo, ich bringe einen neuen Freund mit«, rief Fips fröhlich, »ich hab ihn unter der Palme gefunden, von der immer die Nüsse runterfallen. Er ist ein bisschen verwirrt, hat grade eine auf den Kopf gekriegt, und so wie sein Magen knurrt, hat er Hunger. Mama, gibst du ihm was zu essen, bitte?« Fips sprudelte wie ein Wasserfall, er war ein fröhlicher Affe. Seine Mama machte gerade einen leckeren Obstsalat aus Bananen, Apfelsinen und Nüssen. Lauter fremde Dinge. Noah bedankte sich und nibbelte an den Früchten. Hm, schmeckte zwar nicht nach Fisch, aber dennoch irgendwie lecker.

Nach und nach kam die ganze Familie Fips nach Hause. Noah sah zu seinem Erstaunen, dass sich zwei Brüder von den Nachbarbäumen herüberschwangen. Es sah aus, als kämen sie angeflogen. Er nahm sich vor, das so schnell wie möglich zu lernen. Vielleicht könnten seine neuen Freunde ihm das Affenfliegen beibringen. Fliegen war sicher eine der Fähigkeiten, die Wotan meinte, als er sagte, er müsse noch so viel lernen. Und als dann auch noch der Affenpapa durch die Baumwipfel flog, juckte es dem Kleinen in den Pfoten; so flink wie er konnte, stellte er sich an den Rand des Nestes und sprang. Er flog tatsächlich, aber nicht zum nächsten Baum, sondern Richtung Waldboden und blieb in einer Astgabel hängen.

Und schon kam sein neuer Freund hinterher. »Hey, mach das nicht noch mal, du bist doch kein Affe. Und auch kein Vogel. Vielleicht solltest du besser unten am Boden schlafen.«

Aber der kleine Bär wollte auf gar keinen Fall allein sein. Schon gar nicht in seiner ersten Nacht in Afrika. Er hatte seine Lektion gelernt und versprach, nicht mehr fliegen zu wollen.