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Ben und Mia erleben eine wundervolle Zeit. Schwer verliebt und mit Heiratsplänen schweben sie auf Wolke sieben. Als Mia auch noch schwanger wird, scheint das Glück perfekt. Doch dann nimmt ihr Leben eine traumatische Wendung. 7 Jahre später: Mia und Nico versuchen trotz der dunklen Vergangenheit glücklich zu werden. Doch die Ereignisse lassen Mia nicht los. Bens Schatten hängt über ihrem Leben, ihrer Ehe, dem Glück ihrer Kinder. Letztendlich trifft das ein, wovor Mia sich am meisten fürchtet. Nico verlässt sie, da er den beständigen Kampf gegen Bens Phantom aufgibt. Mias beste Freundin Julia will helfen und versucht Licht in die schattenhafte Vergangenheit zu bringen. Für Julia stehen dabei einige Überraschungen bereit und sie lässt sich vom Schicksal tragen... Aber auch Nico sucht einen Weg zurück zu Mia.
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Seitenzahl: 478
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das Glück zu finden
Das Buch
Ben und Mia erleben eine wundervolle Zeit. Schwer verliebt und mit Heiratsplänen schweben sie auf Wolke sieben. Als Mia auch noch schwanger wird, scheint das Glück perfekt. Doch dann nimmt ihr Leben eine traumatische Wendung.
7 Jahre später:
Mia und Nico versuchen trotz der dunklen Vergangeheit glücklich zu werden. Doch die Ereignisse lassen Mia nicht los. Bens Schatten hängt über ihrem Leben, ihrer Ehe, dem Glück ihrer Kinder… Letztendlich trifft das ein wovor Mia sich am meisten fürchtet. Nico verlässt sie, da er den beständigen Kampf gegen Bens Phantom aufgibt.
Mias beste Freundin Julia will helfen und versucht Licht in die schattenhafte Vergangenheit zu bringen. Für Julia stehen dabei einige Überraschungen bereit und sie lässt sich vom Schicksal tragen.
Aber auch Nico sucht nach einem Weg zurück zu Mia.
Ivonne Isabell Springer
Das Glück
© 2015 Ivonne Isabell Springer
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-7323-6776-4
Hardcover:
978-3-7323-6777-1
e-Book:
978-3-7323-6778-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
www.tredition.de
Für Bertil (1959-2013)
für immer werde ich
Deine Bartstoppel
auf meiner Wange
spüren
ஜ
und für Inga
„Die Literatur kennt nur zwei Themen:
die Liebe und den Tod.
Alles andere ist Mumpitz!“
marcel reich ranicki
Dienstag, 1.25 Uhr
Mein liebster Ben
Es ist spät, aber ich weiß, dass ich nicht schlafen kann, ohne Dir von Deinen Kindern erzählt zu haben. Abends, bevor ich mich ins Bett lege, schaue ich jedesmal in ihr Zimmer und immer wünschte ich, Du wärst bei mir.
Unsere Zwillinge sind so verschieden, doch gleichen sie sich darin, wunderschön zu sein.
Ich stelle mir vor, wie Du sie zudeckst, wie Du ihnen einen Kuss gibst und ihre schlechten Träume vertreibst.
Nichts sehne ich mehr herbei als den Moment, indem ich Deine Augen glitzern sehe aufgrund ihres Anblicks.
Paula sieht aus wie ich.
Jaja, ich höre Dich schon lachen, aber es ist keine Fehleinschätzung meinerseits. Mit ihren roten, langen Locken und den meergrünen Augen sieht sie, wie eine kleinere Version von mir aus.
Sie war es mit ihrer bestimmenden Art, die beim Umzug ins neue Haus auf ihrer „Intimsphäre“ beharrte. Ja, stell Dir vor! Gerade mal fünf war sie damals und wirft mit solch großen Worten um sich. Woher sie das wohl hat, hähmhäm? Ich konnte mich kaum halten vor Lachen. Natürlich verschränkte sie sofort die Arme vor der Brust und war beleidigt, genau so lange wie ich brauchte, um mich zu beruhigen.
Micha dagegen, nahm ihre Entscheidung die Betten getrennt an die gegenüberliegenden Wände zu stellen, mit seiner stoischen Gelassenheit hin. Darin erinnert er mich so sehr an Dich. Aber nicht nur darin.
Ben, Du müsstest ihn sehen! Er ist Dein Ebenbild. Er bewegt sich wie Du, er spricht sogar wie Du, obwohl er Dich nie hat reden hören. Es ist kaum zu ertragen und doch kann ich nicht aufhören ihn zu betrachten, in der Hoffnung, Dich in ihm zu sehen.
Als die Beiden noch Babys waren, schliefen sie eng aneinander geschmiegt. Manchmal hielten sie sich an ihren kleinen Händen fest, so als wüssten sie wie wertvoll der andere für sie ist und wie schlimm es wäre ihn zu verlieren.
Heute betrachte ich Micha jeden Abend im Schlaf, streichle ihm über die Stirn und fahre mit den Fingern durch sein Haar. Meine Augen schließen sich automatisch und seine blonden Locken kringeln sich, wie damals Deine, um meine Finger. In diesem Moment kann ich Dich so heftig spüren Ben. Die volle Wucht der Erinnerungen überflutet mich ungebremst.
Ich gebe ihm einen Kuss, sauge Deinen Duft in mich und lege mich ins Bett.
Es tut so weh Ben!! Wo bist Du nur???
Hier sitze ich nun und schreibe Dir jeden Abend, in der Hoffnung es nicht vergebens zu tun. In der vagen Hoffnung, Dir die Briefe irgendwann überreichen zu können.
Neben mir schläft mein Mann. Er ist der beste Ehemann den man sich vorstellen kann, das habe ich Dir schon oft gesagt, ich weiß! Aber Ben, trotzdem wünsche ich mir, es wäre Dein Atem den ich höre, Dein Herzschlag der mir entgegenpulsiert, wenn ich mich an ihn schmiege.
Manchmal, es fällt mir schwer das zu schreiben,… manchmal wünschte ich Du wärst tot und ich wüsste es.
Dann könnte ich um Dich trauern und Dich endlich loslassen. Es wäre so vieles für mich einfacher, wenn ich Dich endlich aus meinem Leben gehen lassen könnte. Ben, sei nicht böse, Du weißt, dass ich das nicht wirklich will, aber das Schlimmste ist die Ungewissheit.
Der Zorn und die Wut, die ich manchmal empfinde, schwellen heftig an und ebben schnell wieder ab. Doch die Ungewissheit bleibt ein beständiger, nagender, schmerzhafter Begleiter in meinem Herzen!!
Schlaf gut, wo immer Du bist
Deine Mia
1
Ein Wildentenpaar flog flügelschlagend über ihren Köpfen hinweg. Die Flugtiere landeten mit lautem Zischen auf der Wasseroberfläche und wurden durch das aufgebrachte Gequake ihrer Artgenossen begrüßt.
Mia lehnte mit ihrem Rücken an Bens Oberkörper und warf den Neuankömmlingen Brot zu. Sie saßen auf einem alten Holzsteg im Naturschutzgebiet. Es dämmerte bereits und sie waren völlig allein. Gerade noch hatten sich Familien zum Sonntagspicknick getroffen, Paare waren am See entlang geschlendert oder Rentner hatten ihre Räder an ihnen vorbei geschoben.
Doch vor einer viertel Stunde war es still geworden. Eine Ruhe hatte sich über den Ort gelegt, die geradezu mystisch anmutete. Jetzt, Ende März, wurde es, sobald die Sonne verschwand, noch ziemlich schnell kühl. Mia spürte davon nichts. Sie fühlte sich innerlich gewärmt und schwebte geradezu über den endlichen Dingen. Dieser Moment hier, erschien ihr wie der perfekteste Augenblick in ihrem Leben. Ben war hier. Er war bei ihr und damit war Mias Welt ganz. Ein vollkommenes Glücksgefühl füllte sie aus und hätte die stärkste Brise für sie abgewehrt.
Vor ein paar Stunden noch war das anders gewesen. Sie hatte zuhause gesessen und sich gefragt, wieso sie sich in letzter Zeit so unruhig und unzufrieden fühlte. Das war doch zuvor nicht so gewesen. Plötzlich hatte sich das Gefühl eingeschlichen, etwas zu vermissen.
Doch dann war Ben vom Fußballplatz zurückgekommen, wo er mit ein paar Freunden gekickt hatte. Er war ganz aufgekratzt unter die Dusche gesprungen und hatte etwas von einem gemeinsamen Ausflug gefaselt. Nachdem er frisch aus dem dampfenden Bad kam, holte er unter der Spüle einen Jutebeutel hervor und schwenkte ihn in der Luft. Er habe spontan Lust, sie zum See zu entführen und Enten zu füttern, meinte er. Normalerweise war es Mia, die solche Vorschläge machte und so war sie über seinen Einfall doch etwas überrascht. Aber wie könnte sie etwas dagegen haben, schließlich ließ sie sich auch gerne einmal überraschen.
Sie stellten ihre Räder am Rande des Naherholungsgebiets ab. Ben legte den Arm um Mias Schulter und sie schlenderten gemeinsam den gesplitteten Weg entlang. Es wäre alles wie sonst gewesen, hätte Mia nicht ständig zu Ben hinüberschielen müssen. Irgendetwas ging in ihm vor, da war sie sich ganz sicher. Sie kannte ihn einfach zu gut. An ihrem Lieblingsplatz angekommen bückte sich Mia, um hineinzuschlüpfen.
Diese besondere Stelle hatten sie bei einem ihrer Besuche ganz zufällig entdeckt. Sie waren damals, am Ende eines herrlichen Sommertages, auf dem Weg zu ihren Fahrrädern gewesen, da war Mia die Thermoskanne aus dem Rucksack gefallen und ins Gebüsch gerollt. Ben kroch ihr hinterher und war gleich darauf von den wild wachsenden Büschen verschluckt worden. Mia war schon langsam ungeduldig geworden, da hörte sie ihn nach ihr rufen. Müde und etwas entnervt, begann sie sich zu ihm durchzukämpfen. Dicht an dicht drängten sich Hartriegelsträucher, sodass ein Hindurchkommen im ersten Moment unmöglich schien. Doch nach ein paar unwegsamen Metern, die sie sich durch das rot schimmernde Geäst gekämpft hatte, wurde sie belohnt.
Eine Lichtung tat sich auf, wie man es nicht für möglich gehalten hätte. Eine Trauerweide hatte sich mit ihrem dicken Stamm und den tief daran herunterhängenden Ästen ihren Platz geschaffen. Wie in einer kleinen Oase konnte man sich unter ihre Zweige setzen. Durch das seichte Ufer, an dem das Wasser heranschwappte, wirkte es wie ein kleiner Strand. Sie hatten sich niedergelassen und waren ganz still geworden. Mit offenen Mündern bestaunten sie dieses Wunder. Ehrfürchtig der Natur gegenüber, die solch einen Luxus für die Seele erschaffen konnte. Damals war es ihre private Geheimbucht geworden.
Das war jetzt schon sagenhafte drei Jahre her. Seitdem waren Ben und Mia unzählige Male hier gewesen. In vielen heißen Sommernächten hatten sie sich hier an Ort und Stelle geliebt. Sie waren immer darauf bedacht, dass niemand sie beim Hineinschlüpfen beobachtete, denn teilen wollten sie ihr Versteck auf keinen Fall.
Als sie heute durch die Äste krochen, merkte Mia, dass sie ihren dicker werdenden Bauch deutlich spürte. Ben war sehr zuvorkommend und versuchte ihr zu helfen, indem er die Äste weit zur Seite bog, um sie durchschlüpfen zu lassen. Endlich am Sandplatz angekommen, ließ Mia sich auf den weichen Untergrund plumpsen und hielt sich den Bauch.
»Also bald werde ich da nicht mehr durchpassen.« stöhnte sie.
»Na dann ist es ja gut, dass ich Dich heute nochmal hierher gebracht habe!« Bens Lausbubengrinsen ging ihr durch und durch. Eine Welle der Zuneigung für diesen Mann, der jetzt schon diese lange Zeit mit ihr das Leben teilte, durchströmte Mia.
»Was.ist.eigentlich.mit.Ihnen.los.Herr Simor?« wollte sie nun aber mit Bestimmtheit wissen und betonte deshalb jedes Wort. Ben jedoch antwortete nicht, sondern grinste nur noch breiter und hielt ihr den Jutebeutel entgegen.
»Du darfst heute zuerst.« meinte er nur. Mia zeigte ihm einen Vogel und protestierte: »Ich kann doch jetzt nicht seelenruhig Enten füttern, wenn du etwas im Schilde führst!« Mit gespielter Entrüstung blickte sie ihn an.
»Oh doch, glaub mir das solltest du!« Seine Augen wollten sie fast durchdringen und Mia begriff, dass der Beutel etwas mit seinem Plan zu tun haben musste. Er schüttelte selbigen immer heftiger vor ihren Augen. Endlich griff sie danach und zog ihn an sich.
»Na dann, gib mal her.« Sie fasste hinein und konnte es nicht glauben. Statt lauter kleiner Semmelstücke und Brotreste, lag darin ein ganzer Laib.
»Ben? Was soll…« Er legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen.
»Nicht die richtige Zeit für Fragen!!« Mia zog das Brot heraus und wollte gerade protestieren, dass das für die Enten doch viel zu viel sei, da hielt sie inne. Ihre Finger tasteten langsam die Rinde ab. Nun spürte sie es ganz deutlich. Es war etwas hineingeritzt worden. Sie hielt das Brot vor sich, um genau sehen zu können was es war. Da waren zwei Herzen und ein verschnörkeltes und dazwischen. Ein M in dem einen Herz, ein B in dem Anderen. Mia glaubte zuerst nicht richtig zu sehen und blickte ungläubig zu Ben hinauf. Dieser zog gerade etwas aus der Hosentasche und kniete sich vor Mia hin. Er hielt eine samtene, dunkelrosa Schatulle in Händen, öffnete sie direkt vor ihren Augen und ein zarter Silberring mit einem winzigen Glitzerstein kam zum Vorschein.
Mia drückte sich das riesige Laib Brot reflexartig an die Brust und traute sich kaum zu atmen.
»Liebe Mia,… ich muss dich unbedingt heiraten. Die letzten Jahre mit dir waren die schönsten meines Lebens. Du hast mir wieder eine Heimat gegeben. Ich hoffe, auch du willst mit unserem kleinen Wurm da drin und mit mir, dein restliches Leben verbringen. Du bist meine Familie Mia.«
Sie nickte und eine kleine Träne rollte über ihre Wange. Mia war gerührt, wusste sie doch, wie wahr diese Worte für ihn waren.
»Was sagst du?«
Mia schüttelte sich. Ihr war bewusst, dass sie viel zu lange zögerte. Sie konnte auf Bens Gesicht schon eine leichte Ungeduld erkennen. Sie wollte ja sprechen, aber es kam einfach nichts heraus.
»Ich liebe dich auch!« stieß sie schließlich hervor. Bens Gesicht veränderte sich jetzt zusehends. Die Ungeduld in seinem Blick wurde zu Verwirrung, die Verwirrung zu Verzweiflung. Er stapfte mit dem Fuß auf.
»Ja, das weiß ich. Aber was heißt das jetzt?«
Mia nickte wieder und endlich löste sich ihre Zunge.
»Ja, natürlich will ich dich heiraten. Was denkst du denn!«
Ben ließ sich erleichtert zurück auf die Knie sinken. Er umfing Mia mit seinen langen, kräftigen Armen.
»Oh, Gott sei Dank. Für einen Moment dachte ich schon…«
»Tut mir leid!« flüsterte Mia ihm zu und küsste seine Wange immer wieder. Er wiegte Mia hin und her.
»Du bist die Liebe meines Lebens. Weißt du das?« flüsterte er in ihr rot-golden schimmerndes Haar, das jetzt durch die Schwangerschaft noch voller und lockiger war und noch intensiver diesen herrlichen Geruch verströmte. Mia nickte nur wieder und Ben sog gierig ihren Duft in sich hinein.
»Du riechst so besonders. Das werde ich nie vergessen.« nuschelte er an sie geschmiegt. Mia schob ihn von sich und betrachtete ihn. Er hörte sich plötzlich so ernst an.
»Das wirst du auch nicht müssen, hörst du. Du darfst ihn ja ab heute zur Zugewinngemeinschaft zählen.« Sie grinste, konnte aber nicht umhin seine Melancholie zu spüren. Mia zog Bens Kopf an ihre Brust zurück. Um seinen angespannten Körper zu lockern, strich sie ihm über den Rücken.
»Denkst du an deine Eltern und deinen Bruder?« Ben nickte an Mias Brust gedrückt. Er war nicht wild darauf den warmen, weichen Platz zu verlassen.
»Ich hab das Gefühl, sie beobachten uns. Genau in diesem Moment. Das ist das Gute an den Verstorbenen. Ihnen muss man nichts erzählen, denn sie sind überall dabei - mittendrin.«
Mia wollte Ben von sich drücken, um sein Gesicht zu sehen. Doch er wehrte sich und schmiegte sich nur um so fester an sie, wobei er immer näher auf die Mitte des einen Objekts seiner Begierde zusteuerte.
Sie sah an sich hinunter und entdeckte das selbe spitzbübische Grinsen wie kurz zuvor.
»He!…« rief sie und schob ihn endgültig von sich.
»…Ich mache mir hier einen Kopf und du hast solche Dinge im Kopf.«
»Na ganz so ist es nicht. Ich habe den tröstenden Platz unbedingt gebraucht.« Er zog sie an sich und küsste sie. Mia war froh, dass das Trauma ihn im Moment nicht wirklich eingeholt hatte.
Bens Eltern und sein Bruder waren kurz bevor Mia ihn kennenlernte ums Leben gekommen. Besonders schlimm für Ben war der jähe Riss, den der Tod seines Zwillingsbruders in ihm verursacht hatte. Dass Ben noch lebte, war reiner Zufall.
Die Brüder hatten ihren 22ten Geburtstag gefeiert und nach einer langen Partynacht mit Freunden spontan beschlossen ihre Eltern zum Essen einzuladen. Es war vorgesehen, dass Ben die Beiden abholen und mit ihnen in die Stadt fahren sollte. Micha wohnte dort ganz in der Nähe des Lokals das sie für ihr Treffen ausgewählt hatten.
Doch wie es das Schicksal wollte, sprang Bens Wagen nicht an und die Brüder disponierten kurzerhand um. So sollte Micha nun zu den Eltern fahren und danach zu Ben, um alle mit in die Stadt zu nehmen. Doch seine Eltern und sein Bruder kamen nie bei ihm an.
Im Polizeibericht stand, dass sie keine Chance gehabt hatten. Der Wagen war auf der vereisten Fläche einer Brücke außer Kontrolle geraten, gegen die Leitplanke gekracht und schließlich Frontal gegen einen Baum geprallt. Alle Insassen waren sofort tot.
Ben hatte den Kopf mittlerweile auf Mias Schultern gelegt, tastete sich aber soeben wieder voran, bis er mit der Nase an der einen Brust hängen blieb.
»So eine Schwagerschaft hat ja schon Vorteile.« murmelte er in ihre Oberweite.
»He, was machst du da schon wieder?« Mia strich ihm übers Haar. Wie sie das liebte. Wenn sie das tat, kringelten sich seine blonden Locken um ihre Finger. Sie kicherte.
»Das kitzelt.«
»Mmmh…« brummelte er nur.
Als er schließlich begann an ihrem Oberteil herumzunesteln zog sie ihn hoch.
»Jetzt ist aber mal Schluss. Lass uns lieber auf unsere Verlobung anstoßen.«
Ben stand murrend auf und half Mia dabei aus dem Dickicht zu kriechen.
Sie schlenderten zu einem nahen Lokal und bestellten zwei Gläser Sekt. Mia nippte nur an ihrem und überreichte es dann Ben, der es hinabstürzte. Das Herzbrot stand mitten auf ihrem Tisch und Mias Ring funkelte im Sonnenlicht.
Immer wieder strich sie behutsam darüber und mit einem Mal spürte sie es. Das komische Gefühl, das sie die letzten Wochen beschlichen hatte, war verschwunden. Das war es also gewesen, was sie so unruhig gemacht hatte. Sie hatte das selbe Bedürfnis in sich getragen wie Ben, nur hatte er es erkannt und wahr werden lassen. Mia war einfach nur glücklich.
Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn innig. Dann fiel ihr Blick auf das große Laib Brot und sie klopfte mit dem Finger dagegen. Es klang dumpf, hohl und hart.
»Also mein Schatz. Ich liebe dich ja, aber du verlangst hoffentlich nicht von mir, dass ich das noch esse?«
»Nein, das bekommen die Enten.« Er setzte einen übertrieben melancholischen Gesichtsausdruck auf und seufzte: »Dann können sie auf ewig mit unseren Herzen im Magen auf dem Wasser ihre Bahnen ziehen.«
Mia boxte ihn in die Seite. »Du Spinner!!«
»Komm lass uns lieber gehen, sonst wird es noch dunkel bevor wir das gute Stück an die Enten verteilt haben.«
Gesagt, getan. So saßen sie nun da und fütterten. Und da das Brot wirklich riesig war, hatten sie noch viel Zeit die Stille zu genießen, die nur vom Schnattern und Schmatzen der Tiere unterbrochen wurde.
2
Am nächsten Morgen erwachte Mia als Erste. Sie kuschelte sich noch etwas tiefer unter die Decke. Der Wind, der durch den Spalt der gekippten Balkontür drang, bauschte den weißen Baumwollvorhang.
Mia blinzelte in die helle Morgensonne und als ihr einfiel, was gestern geschehen war, stahl sich ein Lächeln auf ihre Lippen.
Vorsichtig zog sie am Deckenzipfel, der Bens Gesicht teilweise verdeckte. Ihr Zukünftiger gab ein knurrendes Geräusch von sich, wie sie es von ihm kannte, wenn er noch nicht geweckt werden wollte. Sie strich ihm mit dem Daumen vorsichtig über die Stirn, in die einige seiner himmlisch weichen Locken gefallen waren.
Dann lag sie einfach nur still da und betrachtete ihn. Wieder einmal wunderte sie sich darüber, wieso sie sich nie an ihm satt sehen konnte. Sie liebte es ihn zu beobachten und dies durfte sie nun ihr Leben lang tun. Ihr Herz machte einen Sprung vor Freund und etwas in ihrem Bauch bewegte sich.
Sie setzte sich kerzengerade auf.
»Oh mein Gott!! Ben, es hat sich bewegt. Unsere Kleine, ich habe es ganz deutlich gespürt.«
Ben murmelte etwas, das Baby bewegte sich wieder, diesmal noch deutlicher spürbar und Mia begann Ben zu schütteln.
»Wach endlich auf Papa. Deine Kleine hat sich bewegt. Das willst du doch nicht verpassen.«
Ben schoss so schnell hoch, dass er sich erst mal den Kopf halten musste, um das Pochen darin zu beruhigen.
»Was ist? Wer hat sich bewegt?« Ben sah sie verschlafen an. »Dein Baby, du Superpapa!« scherzte Mia. Nun war er hellwach.
»Wo, zeigs mir.« Mia nahm Bens Hand und führte sie genau an eine Stelle ihrer kleinen Kugel.
»Da, genau da.« Doch nun tat sich nichts mehr und er sah sie ratlos an.
»Nein, warte hier!« Sie schob seine Hand auf die gegenüberliegende Seite ihres Bauches. Nach einigen gespannten Minuten meinte Ben: „Ich spür nichts. Bewegt es sich noch?“
»Hab Geduld. Sicher rührt es sich gleich wieder…. Ah, hier!« Wieder schob sie seine Hand herum und diesmal hielt sie genau in der Mitte der Rundung an. Sie sah Bens konzentrierten Gesichtsausdruck und musste Grinsen.
»Wie kann es sein, dass es da überall mal zuckt. Das muss doch genauer zu orten sein. Also ich fühl nichts.« murrte er. Mia warf seine Hand von ihrem Bauch auf die Bettdecke.
»Was weiß ich denn? Ich bin schließlich auch das erste Mal schwanger. Ich hab auf alle Fälle was gespürt.«
Der Wecker piepte. Ben schlug auf den Ausknopf.
»Ich glaub dir ja. Aber für mich ist das nicht immer einfach. Alles spielt sich da drin ab, da bin ich manchmal gar nicht richtig dabei.«
»Ach Süßer. Wenn sie da ist, dann überlasse ich dir auch den Hauptteil beim Windeln wechseln. Na, das ist doch ein Kompromiss, oder?« Sie drückte ihn in die Kissen zurück und schmatzte ihn ausgiebig ab. Als Ben wieder Luft bekam piepte der Wecker erneut.
»Jetzt stell das Ding endlich richtig ab und schwing dich aus dem Bett zum Bäcker. Sonst wird das nichts mehr mit unserem gemeinsamen Frühstück.«
Er gehorchte, schlüpfte trotz der Kühle nur in Jeans, T-shirt und Flip Flops. Dann kam er noch einmal zu Mia und küsste sie ausgiebig.
»Jetzt geh schon, sie hat Hunger.« Lächelnd schob sie ihn zur Tür. Er war schon fast draußen, da drückte er die Tür nochmal auf.
»Wieso sagst du eigentlich dauernd sie? Wir wissen doch noch gar nicht was es wird.« Mia grinste.
»Ich wünsche mir für das Kleine, dass es ein Mädchen wird, weil du mit Mädels so gut umgehen kannst.« Nun war Ben daran breit zu grinsen.
»Ich glaub trotzdem, dass es ein Junge wird.«
»Na klar!“ rief Mia ihm hinterher, doch diesmal war er wirklich gegangen.
Mia machte die üblichen morgendlichen Streifzüge durch die Wohnung. Sie wusch sich, ging ins Schlafzimmer und zog sich an. Schließlich landete sie in der hellen, offenen Küche wo sie sich eine Wäscheklammer auf die Nase setzte. Dann machte sie einen Kaffee für Ben und einen Fencheltee für sich. Sie hatte angenommen, der Verzicht auf Kaffee würde ihr schwerfallen, doch seit sie an der typischen, morgendlichen Übelkeit litt, konnte sie ihn nicht mal mehr riechen. Honig, Marmelade, Schokocreme und Butter landeten auf ihrem kleinen Frühstückstablett. Dann trug sie alles zum Tisch. Aus der Vitrine holte sie Teller und Tassen heraus. Sie arrangierte alles und dachte dabei daran, wie praktisch es doch war, direkt gegenüber vom Bäcker zu wohnen. So konnte sie den Kaffee schon einschenken und war sicher, dass er nicht kalt wurde bis Ben zurück war.
Sie setzte sich und ging im Kopf ihren Tag durch, während sie vorsichtig an dem noch heißen Tee nippte. Die fünfte Klasse, die sie dieses Jahr leitete, war heute mit der Schwimmstunde dran. Sie runzelte die Stirn. Früher war das eines ihrer Lieblingsfächer gewesen, doch seit sich ihr Bauch zu wölben begann, kam sie sich vor wie das achte Weltwunder. Nicht nur die Mädchen schielten heimlich zu ihr hin!! Auch, nachdem sie den Kindern von der Schwangerschaft erzählt hatte, hörte dieses eigenartige Phänomen nicht auf.
Andererseits endete der Unterricht heute mit Kunst und diese Stunde war weiterhin erfreulich. Auch die Tatsache, dass um 13 Uhr Schluss war, kam ihr sehr gelegen.
Heute wollte sie sich, das erste Mal seit der Schwangerschaft, einen richtig intensiven Besuch in der wunderschönen Babyboutique an der Ecke der Fußgängerzone gönnen. Länger konnte sie dem Wunsch, etwas anzufassen was einmal ihrem Baby gehören sollte, nicht widerstehen. Der ein oder andere Strampler würde ganz bestimmt seinen Weg nach Hause finden.
Ihre Hand wanderte auf ihren Bauch. Dann fiel ihr Blick auf die Uhr und schließlich zur Balkontür.
»Wo bleibt der Papa nur, hmm?« Sie sah noch einmal auf die Backofenanzeige auf der in großen gelben Zahlen 7.16 zu lesen war. Auch ihre Armbanduhr zeigte kein anderes Ergebnis.
Sie nahm ihre Tasse wieder zur Hand. Ihre Augen streiften die gegenüberliegende Wandseite, doch an der Tür tat sich immer noch nichts. Ihre Gedanken wanderten zurück zum Kunstunterricht. Sie webte mit den Kindern gerade Armbänder die man mit Magnetverschlüssen schließen konnte. Die Mädchen waren natürlich vollauf begeistert, aber einige der Jungen machten Ärger und kamen nicht wirklich voran. Besonders Jonas musste sie im Auge behalten. Wenn er nicht voll ausgelastet war, konnte er die ganze Klasse in Unruhe versetzen.
Der Wecker piepte aus dem Schlafzimmer unüberhörbar zweimal. 7.30 stand auch auf ihrer Armbanduhr.
»Ok, jetzt wird’s aber knapp. Der hat sich doch nicht etwa verquatscht. Ausgerechnet heute.“ Sie ging zur Fenstertür hinüber und öffnete den einen der beiden großen Flügel. Von hier aus konnte man direkt ins Fenster des Brotladens sehen. Als sie hinaustrat brauste gerade ein schwarzes Auto vorbei. Wieder so ein Lebensmüder, dachte sie.
Sie hatte angenommen, Ben würde unten vor dem Laden stehen und mit einem der Nachbarn reden, wie es oft am Wochenende vorkam. Dann hätte sie ihn einfach gerufen und daran erinnert, dass heute ein Wochentag war. Aber da stand er nicht und auch im Laden, war bis auf eine Frau mit Kleinkind im Buggy, niemand zu sehen.
Mia fröstelte und schlang sich ihre Weste enger um den Bauch. Sie ging wieder hinein und schloss die Balkontür. Langsam wurde sie unruhig und die Gedanken begannen schneller zu werden.
»Sicher ist er schon im Treppenhaus.« Sie öffnete die Haustür um hinauszurufen, dass er sich beeilen solle. Aber es war niemand zu sehen oder zu hören. Ihr Herzschlag beschleunigte sich nun deutlich spürbar.
Reg dich nicht auf! Das ist nicht gut fürs Kind! Ben ist ein erwachsener Mann und kann auf sich selbst aufpassen. Es gibt ganz sicher einen guten Grund für das hier, redete sie sich gut zu, während sie ihre Sachen für die Schule zusammensuchte. 7.43 Uhr zeigten die gelben Zahlen als sie ihren Notizblock aus der Küche holte.
»Mist, Ben ich kann nicht mehr auf dich warten.« Das war vollkommen untypisch für ihn. Gedanken jagten durch ihren Kopf, als sie ihre braune Ledertasche über die Schulter warf. Sie schlang sich den orangen Schal ungeschickt um den Hals und riss, beim Hinausstürmen, ihre Jacke vom Haken.
»Meinst du die Uhren ticken jetzt anders, nur weil wir verlobt sind. Meine Schüler warten trotzdem um acht Uhr auf mich.« schimpfte sie vor sich hin. Diesen Morgen hatte sie sich wahrlich anders vorgestellt.
Sie wollte eben die Haustür hinter sich ins Schloss werfen, da kam ihr der Inhalt des Schlüsselkästchens in den Sinn. Sie war gerade daran vorbeigestürmt und sie war sich sicher; Bens Schlüssel hing dort. Sie stieß die Tür noch einmal auf und tatsächlich - da war er! - mitsamt diesem lächerlichen, rot-weißen Fußballschuh dran.
»Verdammt, ich kann doch die Tür nicht offen stehen lassen.«
Hektisch kramte sie in ihrer Tasche nach dem Handy. Sie drückte die eingespeicherte Kurzwahltaste und hoffte Ben hätte wenigstens das Telefon dabei. Die Hoffnung zerschlug sich in dem Moment, als sie es in der Küche klingeln hörte.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße!!« rief sie und stapfte mit dem Fuß auf.
7.52 Uhr, der Schweiß brach ihr aus. Sie ließ die Tür angelehnt und stürmte die Treppe hinunter. Draußen sah sie sich hektisch um, aber auch hier war er nicht zu sehen. Was jetzt? Völlig ratlos rannte sie in die Bäckerei. Hier sagte man ihr, er wäre schon vor einer viertel Stunde wieder gegangen. Mia verstand die Welt nicht mehr. Wo konnte er sein?
Als sie aus dem Brotladen wieder auf die Straße trat, schlug die Kirchturmuhr achtmal.
Mit unerlaubt hoher Geschwindigkeit raste sie zur Schule. Ihr Kopf spulte immer wieder den selben Satz herunter. Wo ist Ben?
Er würde sie nie so stehen lassen. Besonders nicht, wenn er wusste, dass sie zur Arbeit musste. Ganz zu schweigen von ihm selbst. Gewöhnlich verließ er mit Mia gemeinsam das Haus.
Als sie den Lehrerparkplatz erreichte, wurde ihr auf einen Schlag überwältigend übel. In diesem Moment würde sie sich in den Wagen erbrechen, dachte sie. Gerade noch schaffte Mia es, das Auto an den Rand zu lenken. Sie riss die Tür auf und erbrach sich ins Gebüsch. Das war ihr während der ganzen Schwangerschaft noch nicht passiert.
Sie quälte sich in Richtung Schulgebäude, im Ohr das Klingeln für die erste Stunde. Mit aller Gewalt versuchte sie sich auf das Alltägliche zu konzentrieren. Alles ist wie immer, sagte sie sich, mit Blick auf das ihr so gut bekannte Schulgebäude. Darin warteten ihre Schüler, so wie jeden Morgen, doch das Gefühl, dass sich ihr Leben heute drastisch verändert hatte und etwas Schreckliches passiert war, ließ sich nicht mehr aufhalten. Es kroch erst in ihren Kopf, dann in ihren Magen, in ihre Eingeweide bis tief hinein in ihre Knochen. Als es ihr Herz erreichte, hatte sie das Gefühl sie würde ersticken. Sie schleppte sich keuchend die letzten Stufen der Schultreppe hinauf. Doch ihr Körper schien mit einem Mal wie gelähmt zu sein. Oben angekommen verschwamm ihr Blick, und kurz bevor sie zusammenbrach, sah sie es genau vor sich.
Die Tür war immer noch angelehnt.
Die Wohrung war immer noch leer.
Ben war nicht nach Hause gekommen
und er würde es auch nicht:
–
nie mehr!
3
7 Jahre später
Mia hievte den kleinen Frankie auf ihre Hüfte, lief auf dem Weg zu seinem Stühlchen nochmal zur großen Terrassentür und rief zum gefühlt hundertsten Mal hinaus: »Kommt jetzt endlich raus und trocknet euch ab. Es ist schon spät.«
Mit einem Blick auf die Küchenuhr die über dem braunen Brettchen an der Wand hing, auf dem sich alltäglicher Kram wie Schlüssel, Briefe, Notizen, Krimskrams der in einer bunt gemusterten Keramikschale auf wundersame Weise immer mehr wurde, setzt Mia ihren Eineinhalbjährigen in seinen Hochstuhl.
Schon halb sieben, registrierte sie und belegte eine Scheibe Brot mit Wurst. Hektisch zerteilte sie es in kleine Stücke, füllte in Frankies Becher Saft nach und warf es ihm fast auf das kleine Tischchen, das an seinem Stuhl befestigt war. Sie eilte hinaus, stapelte dort die Trinkgläser auf dem Terrassentisch standen, ineinander.
»Paula, Micha, raus jetzt, sonst werde ich richtig sauer!«
Mia balancierte die Gläser, die Saftkanne hatte sie unter den Arm geklemmt, die Keksschüssel in der anderen Hand, in die Küche. Vorsichtig stellte sie den hohen Turm auf die Küchenanrichte. Dann rannte sie wieder hinaus. Im Vorbeilaufen stellte sie Frankies Becher gerade hin, registrierte, dass er nur die Wurst von den Brotstücken stibitze und entschied, es kurzerhand zu ignorieren.
Paula war bereits auf der Terrasse und wickelte sich umständlich in das große Badetuch. Ihr Zwillingsbruder hingegen planschte immer noch im Pool herum. Mia zog ihn am Arm heraus und schimpfte: „Warum könnt ihr eigentlich nie hören wenn ich es eilig habe?“
»Aua, du tust mir weh.« protestierte Micha und zog seinen Arm weg, den Mia gerade etwas unsanft abrubbelte.
»Ich hab auf dich gehört!« beschwerte sich Paula und stapfte mit ihren immer noch nassen Füßen, das lange Handtuch an dem der Dreck und das Moos der Terrassenplatten hängen blieb, hinter sich herschleifend, ins Haus. Der empfindliche Holzboden würde sich von ihrer Nachlässigkeit nie erholen, schoss es Mia durch den Kopf. Er würde noch mehr von diesen hässlichen, weißen Flecken bekommen wenn sie die Nässe nicht gleich wegwischte. Gleichzeitig war ihr jedoch völlig klar, dass sie dies nicht mehr schaffen würde.
Noch einmal rubbelte Mia über das immer noch tropfende Haar ihres Sohnes. Ein lautes Klirren von zerberstendem Glas drang aus dem Haus und ein schriller Schrei folgte. Mia fuhr aus der Hocke hoch und stieß dabei mit der Schulter an die Eisenkante des Tisches. Ihr schossen Bilder von Splittern in offenen Wunden durch den Kopf. Den dumpfen Schmerz, der sich mittlerweile bis in ihren Oberarm ausbreitete ignorierend, spurtete sie nach drinnen.
Paula stand inmitten unzähliger Glasscherben und schrie aus Leibeskräften. Mia registrierte mit einem Rundumblick, dass die Splitter sich auf der Küchentheke und auf dem Fußboden in alle Himmelsrichtungen verteilt hatten.
Ihr Hauptaugenmerk aber lag auf ihrer Tochter. Vorsichtig stieg sie über die Scherben zu ihr hin und schalt sich selbst, den Gläserturm nicht auseinandergenommen zu haben. Sie scannte Paula von oben bis unten ab, doch sie schien nirgends zu bluten.
»Tut dir irgendetwas weh?« Mia tastete Paula ab, drehte das immer noch schreiende Mädchen um und besah sich ihre Rückseite. Als sie auch hier kein Blut entdecken konnte, nahm sie ihre Tochter auf den Arm und trug sie aus der Gefahrenzone.
Jetzt begann Frankie zu kreischen. Ob aus Eifersucht oder Mitleid mit seiner weinenden Schwester, war schwer zu sagen. Mia ging zu ihm und registrierte ganz nebenbei, dass er die Brotstücke mit Butter auf dem Boden verteilte.
Als Frankie sich zu seiner Mutter drehte, um nach ihr zu greifen, stieß er an seinen Becher. Der Deckel sprang auf, von wegen auslaufsicher, schoss es Mia durch den Kopf, schon ergoss sich der gesamte Inhalt über den Tisch, den Boden, Mias Jeans und Frankies Oberkörper.
»Alles nass!« kreischte er jetzt um so lauter.
Wenigstens Paula beruhigte sich langsam und Mia stellte sie auf dem Boden ab.
»Alles wieder ok?« Paula nickte mit dem herzzerreißenden, - mach der Mama noch ein schlechteres Gewissen - Ausdruck in den Augen.
»Jetzt geh zu deinem Bruder ins Bad und zieht euch eure Schlafanzüge an.« Paula trollte sich und Mia zog den tränen- und saftnassen Frankie aus dem Stuhl. Sie wippte ihn auf der Hüfte auf und ab während sie mit „Schscht…“ versuchte ihn zu beruhigen. Sein durchnässter Nickistrampler war vollgesogen und gab bereitwillig die klebrige Flüssigkeit durch Mias Oberteil an ihre Haut weiter. Sie warf die Essensreste in den Mülleimer und holte Besen und Schaufel aus dem Schrank. Als Frankie das knallrote Plastikwerkzeug sah, griff er danach und hörte prompt auf zu weinen. Froh über die Ruhe, setzte Mia ihn damit in den Laufstall. Mit was sollte sie nun die Scherben beseitigen? Kurz entschlossen holte sie den Terrassenbesen herein und fing gerade an die Scherben aufzufegen als es klingelte.
Erschrocken fiel Mias Blick auf die Uhr. Es war tatsächlich schon sieben. Sie öffnete Annica, dem Nachbarmädchen.
»Hallo Annica, komm rein. Ist noch etwas chaotisch, aber das kriegen wir schon hin, ja?« Annica ließ ihren Blick über Mia gleiten. Wenn sie nicht blind war, musste sie den roten Kirschsaft, Mias verschwitztes Gesicht und ihre zerzausten Haare sehen.
»Alles in Ordnung?« fragte die Dreizehnjährige dann auch mit hochgezogenen Augenbrauen, so als wäre sie vom Jugendamt beauftragt worden, hier nach dem Rechten zu sehen. Auf ihre übliche Offenheit, hätte Mia heute getrost verzichten können.
»Ja ja, ich habs einfach ein bisschen eilig. Kannst du Frankie schon mal ausziehen? Sachen hängen alle im Bad. Dann kannst du auch gleich mal schauen was die anderen Beiden da so treiben. Die sind da schon viel zu lange drin.«
»Na klar!« Fröhlich glucksend ließ Frankie sich von seiner Lieblings-Babyritterin aus seinem Gefängnis befreien. Annica zog ihn auf dem Boden aus und holte die Schlafsachen und Windel aus dem Bad. Mia kehrte den Rest der Scherben und Essenskrümel zusammen und klaubte dann Frankies Kleidung vom Boden auf.
»Anni, ich habs heute echt eilig, deshalb werfe ich schnell zwei Pizzas in den Ofen. Die eine ist für dich, die andere kannst du den Zwillingen aufteilen. Wenn der Ofen piept, kannst du sie rausholen. Dann mach ich noch schnell Frankies Flasche und du kannst ihn dann bitte damit hinlegen.« Mia blickte hoffnungsvoll zu Annica. Eigentlich hatte sie das alles erledigen wollen bevor sie ging und nun kam sie sich vor wie eine Rabenmutter. Dem Mädchen ihre Aufgaben aufzudrücken fühlte sich überhaupt nicht gut an! Anni warf ihr pechschwarzes Haar in den Nacken und antwortete kaugummikauend: „Na klar!“ - mit dieser, der Jugend gegebenen Leichtigkeit. Mia war einen kurzen Augenblick versucht neidisch zu werden. Gerne hätte sie sich auch noch einmal so gefühlt. Doch jetzt war keine Zeit für sentimentale Träumereien.
»Soll ich den Beiden dann noch einen Film einlegen bevor sie ins Bett gehen?« fragte Annica musterschülerhaft.
»Danke, das wäre super! Du bist die Beste.«
Grinsend ließ Annica eine rosa Blase vor ihrem Mund zerplatzen. Du bist die größte Schleimerin Ludwigshafens, dachte Mia als sie gleichzeitig Frankies Flasche befüllte und die Pizza in den Ofen schob. Sie drückte den Knopf für den Timer und gab Annica die Flasche.
»Ich bin jetzt oben und zieh mich um, ok!«
Annica meinte: »Jupp! Und warum hast du’s heute so eilig?«
»Eine Party und die beginnt…« Mia sah auf ihre Armbanduhr. „…in genau zehn Minuten.“
Auf der Treppe hörte sie Anni noch hinter sich herrufen.
»Brauchst dir nicht soviel Mühe machen. Siehst eh immer super aus.« Wie ein beruhigender Balsam legten sich Annis Worte um ihr Herz. Obwohl Mia wusste, wie weit sie von der Realität entfernt waren, brachten sie sie zum Lächeln und sie fühlte sich gleich ein bisschen weniger gehetzt. Sie mochte Annica einfach, das war schon immer so gewesen.
Oben angekommen vermied sie es in den Spiegel zu schauen und zog erstmal ihren Kleiderschrank auf. Als sie die Fülle an Jeans und T-shirts, Sweatshirts und Wollpullovern sah, aber nur diese minimale Auswahl an wirklich schicken Sachen, schwand mit einem Mal alle Energie.
Sie ließ sich aufs Bett sinken, vermied es aber, sich darauf zu legen. Würde sie es tun, könnte die Party im ›Weißen Haus‹ stattfinden - sie würde sie verschlafen.
Wie sollte sie in wenigen Minuten nur etwas aus diesem fertigen, verschwitzten Bündel Frau machen? Die Aufgabe schien ihr schier unlösbar. Mission Impossible, schoss es ihr durch den Kopf. 007 hat sich auch nie schlafen gelegt, bevor er eine Mission beendet hatte. Allerdings hatte James Bond auch keine drei Kinder die er vorher noch versorgt haben musste. Stöhnend erhob sich Mia also wieder.
Susann und ihre verdammten Nobelpartys. Warum konnte man sich nicht einfach in Jeans und T-shirt treffen und ein bisschen Spaß haben. Aber nein, es wird wieder ein steifes Herumstehen und Smaltalk halten.
»Muss ja immer piekfein zugehen bei Herbels…« stänkerte Mia während sie sich ihrer kompletten Kleidung entledigte und sie im hohen Bogen in den Wäschekorb warf. Die Sachen waren so durchgeschwitzt, dass sie auch im morgigen Alltag nicht mehr zu gebrauchen waren.
Zum Duschen hatte sie keine Zeit mehr. 19.30 Uhr zeigte die Baduhr. Wo blieb Nico eigentlich? Der müsste längst da sein. Ein Waschlappen mit Seife musste reichen, um sich notdürftig den gröbsten Klebefilm vom Körper zu waschen. Sie fuhr sich damit gerade die Beine hinauf, als von unten ein gellender Schrei erklang. Das war Paula, in hellster Aufregung.
»Mist, wo ist denn Anni?« rief Mia und warf den Lappen ins Waschbecken. Das Schreien wurde lauter. Fast wäre Mia nackt aus dem Bad gestürmt, besann sich aber noch kurz und warf sich einen der Bademäntel über, die an der Tür hingen. Dass es Michas war und dieser deshalb nur knapp ihren Po bedeckte, durfte jetzt keine Rolle spielen.
Als sie unten ankam, saß eine schreiende Paula auf dem Küchenboden und hielt sich ihre Hand. Ihr Bruder saß unbeteiligt vor dem Fernseher und mampfte Pizza.
»Wo ist denn Annica?« schrie Mia gegen Paulas Krawall an und kniete sich nieder, um deren Hand zu untersuchen.
»Hier bin ich.« Mia fuhr herum und Annica stand mit Frankies leer getrunkener Flasche in der Hand hinter ihr.
»Ich habe nur Frankie ins Bett gebracht. So wie du es gesagt hast.« Eine leicht beleidigte Note in ihrer Stimme war deutlich herauszuhören. Mia lief rot an und meinte verlegen: »Ja, natürlich. Tut mir leid. Ich hole die Brandsalbe. Paula hat sich wohl am heißen Blech verletzt.« Mia verzog sich mit ihren wachsenden Schuldgefühlen ins Bad, wo sich der Medikamentenschrank befand
Als sie zurück ins Wohnzimmer kam saß Paula seelenruhig vor dem Fernseher und aß.
»Was ist jetzt los?« fragte Mia ihre Tochter und hielt ihr die Tube vor die Nase.
»Tut gar nicht mehr weh. Kannst die Salbe wieder wegbringen.«
»Ach, das ist ja interessant und deshalb klang es vor zwei Minuten auch noch so als würdest du jämmerlich zu Grunde gehen?« Paula zuckte mit den Schultern und sah ihre Mutter eine Sekunde an, bevor sie sich wieder dem Fernsehprogramm widmete.
Mia legte die Salbe auf den Kühlschrank und wandte sich an Anni die sich gerade ein Stück Pizza vom Blech nahm.
»Tut mir leid. Du machst das alles wirklich super.«
»Ich weiß.« entgegnete der selbstbewusste Teenager immer noch etwas schnippisch.
Mia eilte wieder nach oben und warf einen skeptischen Blick auf den klammen Lappen im Waschbecken.
»Nein, das muss jetzt reichen.« entschied sie. Zurück im Schlafzimmer nahm sie ihr kleines Schwarzes vom Stuhl und zwängte sich hinein. Es hatte schon vor der Schwangerschaft mit Frankie sehr eng gesessen und entpuppte sich jetzt als großartige Imitation eines Mumienverbandes, so eng, dass ihr die Luft wegblieb. Sie schminkte sich und fuhr mit einem Kamm durch ihr leicht fettiges Haar. Mit einem Seufzer wandte sie sich vom Spiegel ab und griff nach ihrem Handy. Sie wählte Nicos Nummer, doch wie so oft, ging nur die Mailbox dran.
Die Kirchturmuhr schlug acht mal. Mia ließ sich beim letzten Schlag auf den Schaukelstuhl sinken. Er stand seit Frankies Stillzeit hier und keiner hatte bis jetzt Zeit gefunden ihn wegzuräumen. Sie schaukelte hin und her und spürte die Erschöpfung in sich hineinkriechen. Die Knochen taten ihr weh, der Nacken spannte und dieses verdammte Kleid schnürte ihr die Luft ab. Mia zerrte am Stoff und versuchte sich bequemer hinzusetzten. Doch es fand sich auch nach mehrmaligem Wenden keine angenehmere Position und schließlich war es ihr egal. Sie schmiegte ihre Wange an das weiche Kissen und roch Frankies Babyduft.
Die Augen fielen ihr zu und ihre Gedanken begannen zu wandern. Sie wusste, dass dies gefährlich war, besonders nach einem solch anstrengenden Tag wie heute. Sie sollte sich aufsetzten und etwas anderes tun. Einschlafen konnte sie sich jetzt eh nicht erlauben. Doch so sehr sie sich auch versuchte wach zu halten, sie war einfach nicht mehr fähig dazu. Die Kälte kroch ihr in die Glieder und sie zog sich die braune Wolldecke über die Schultern. Ihre Sinne schlichen sich unaufhaltsam davon und sie schlief ein.
Da lag er mit einem Mal, Bens Arm. Er schmiegte sich um ihre Schulter, wie es die weiche Decke gerade getan hatte.
»Hallo mein Engel. Sei nicht traurig. Ich bin bei dir.« flüsterte er ihr ins Ohr und obwohl sie so erschöpft war, erregte sein heißer Atem sie. Sie wand sich zu ihm um und sah ihm in die Augen.
»Ben, wo kommst du her?« Sie wollte auf diese Frage keine Antwort, sie wollte einfach nur, dass er blieb. Ihre Hand strich über seine Wange. Seine hellen Locken kringelten sich um ihre Finger und sie musste lächeln. Bens Augen leuchteten und sein Lächeln wärmte Mia, als säße sie direkt neben einem brennenden Kamin.
»Du kannst nicht hier sein. Nico kommt nach Hause. Du musst jetzt gehen.« Ben lächelte immer noch, doch langsam wurde sein Bild verschwommen. Sein Gesicht begann sich aufzulösen und Angst kroch in Mia herauf. Sie streckte die Hand aus, versuchte ihn zu erreichen, um ihn festzuhalten. Doch sein Gesicht verschwand vor ihren Augen. Es war zu spät. Er war gegangen. Obwohl Mia schlief, spürte sie die kalten Tränen die ihre Wangen hinabliefen.
»Hey, bist du eingeschlafen?« Nicos Stimme drang sanft an ihr Ohr. Mia blinzelte und fühlte, dass ihre Augen von Schminke und Tränen verklebt waren. Sie wandte sich ihm zu und als Nico die Spuren auf ihrem Gesicht sah, kniete er sich zu ihr nieder.
»Du hast geweint. Bist du sauer, weil ich so spät komme?« Er strich ihr mit dem Finger über die Wange.
»Tut mir leid, der eine Kunde wollte und wollte nicht aufhören zu reden.«
Wie froh wäre sie, wenn ihre Tränen nur aus einem solch banalen Grund geflossen wären.
»Ist schon in Ordnung. Du hattest sicher einen triftigen Grund.“ Mia versuchte ein verzagtes Lächeln. „Hast du überhaupt noch Lust auf diese Party?« fragte Nico und schmunzelte dann. »Ich könnte mir gut vorstellen, dich schon jetzt aus diesem engen Ding hier zu schälen!«
»Das wäre ehrlich gesagt himmlisch. Aber ich habe es Susann versprochen und vergiss nicht, sie haben immer einen 1a Cateringservice.« Mia erhob sich schwung-voller als sie sich fühlte.
»Ich wasch mir nur nochmal schnell das Gesicht, dann können wir los.«
»Ok!« meinte Nico und setzte sich nun seinerseits in den Schaukelstuhl. Er blickte seiner Frau nach, wie sie im Bad verschwand und runzelte dabei nachdenklich die Stirn.
Ihm war vollkommen bewusst, weshalb sie geweint hatte. Froh, dass sie heute nicht darüber reden wollte, lehnte er sich zurück. Gerade eben hatte er nicht die geringste Lust, zum hundertsten Mal die Geschichte mit Ben durchzukauen. Nico hatte sich wirklich beeilt und hatte vorgehabt Mia noch einen Strauß Blumen mitzubringen, aber dieser verdammte Herr Bantes hatte nicht aufgehört zu reden. Immer wieder hatte Nico versucht ihn zum Ende hin zu lenken, aber dann kam hier noch eine Anekdote seiner verstorbenen Frau, da noch eine von seinen elf Enkelkindern und so hatte es sich endlos hingezogen. Nico hätte den Termin mit ihm nicht auf diese knappe Zeit legen sollen, wusste er doch um Herrn Bantes Redefreudigkeit.
Seine Gedanken wanderten wieder zu Mia. Er sah sie im Krankenhaus liegen. Dort hatte er sie damals kennengelernt. Wie es der Zufall wollte, war sie mit seiner Schwester in einem Zimmer untergebracht. Mia hatte gerade die Zwillinge auf die Welt gebracht und seine Schwester einen Tag zuvor ihr viertes Kind. Er war kurz nach der Arbeit hineingesprungen, um zu gratulieren. Es war eher eine Pflicht als eine Kür für ihn gewesen. Winzige, zerbrechliche, spuckende Wesen auf dem Arm zu balancieren und dabei nichts kaputt zu machen, zählten damals eindeutig nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Und da es ja bereits das vierte Kind von Stella war, war der Wow-effekt nicht mehr so groß. Mit diesem einen Besuch wollte er seine Onkelpflicht erledigt haben.
Doch dann betrat er das Krankenzimmer, schlich an der schlafenden Mitbewohnerin vorbei und setzte sich in eine Stuhl neben Stellas Bett. Natürlich bekam er als erstes seine Nichte in den Arm gedrückt und so saß er angespannt da, den Druck auf den kleinen Körper gerade richtig abschätzend, damit sie nicht herunterfiel aber auch nicht zerdrückt wurde. Er bewunderte alle, die damit so locker umgehen konnten. Frauen mussten dafür einen eingebauten Sensor haben, so spielerisch wie es bei ihnen aussah. Er dagegen, fühlte sich jedesmal wie früher, als er auf den Kindergeburtstagen, beim Eierlaufen beobachtet wurde. Das unangenehme Gefühl, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren und er die Verantwortung für ein solch wackliges, zerbrechliches Gut trug.
Pflichtbewusst, aber doch mit einem gewissen Onkelstolz, betrachtete er die kleinen Rundungen des Gesichts, die winzigen Finger, die ihn an Streichhölzer erinnerten und ein warmes Gefühl kitzelte seinen Bauch. Seine Nichte, dachte er. Es war einfach faszinierend. Alles war da, eben nur in minimaler Kleinstausführung. Er befand die Kleine als entzückend, was er sich gar nicht zurechtlegen musste, denn sie war es ja wirklich.
Als die kleine Helen auf seinem Arm zu quängeln begann, nahm seine Schwester sie wieder an sich. In dem Moment als er sich erhob, um sie ihr zu übergeben, rührte sich etwas im Nachbarbett. Sein Blick wurde angezogen von einer langen, rötlich blonden Lockenmähne, die dort zerzaust, unter der Decke hervorlugte. Wie ein Fächer hing sie am Bettrand herunter und gerieten jetzt in Bewegung. Das Haar fiel auseinander und die Frau drehte sich schlafend in Nicos Richtung, sodass er ihr Gesicht sehen konnte.
Langsam setzte er sich wieder auf den Stuhl, ohne den Blick abwenden zu können. Er war sich sicher, noch nie etwas so Schönes gesehen zu haben. Er verliebte sich augenblicklich. Stella bemerkte seine geistige Abwesenheit und grinste schelmisch.
»Ich sag dir lieber nicht, dass sie Single ist, sonst fällst du mir hier noch vom Stuhl. Und Mund zu Mund Beatmung bei meinem eigenen Bruder, bäh, da könnte ich mir wirklich was Schöneres vorstellen.« Seine Augen weiteten sich und Stella lachte leise, um Mias Babys nicht zu wecken.
»Aber wieso hat sie dann Kinder gekriegt und noch dazu zwei. Die gehören ihr doch Beide, oder?« Er sah immer noch dümmlich verträumt zu Mia hinüber. Er war völlig gebannt vom Anblick dieser Frau.
»Tja Nico, ich glaube, wenn du mich das fragen musst, dann ist wohl nächstes Weihnachten doch nochmal ein Buch über die Bienchen und Blümchen fällig. « Stella kicherte jetzt und Nico merkte, dass sie sich ein richtiges Lachen ordentlich verkneifen musste.
»Ich wusste ja gar nicht, dass du so spontan auf Frauen abfahren kannst.«
»Ich auch nicht.« stammelte Nico und grinste nun seinerseits seine Schwester breit an.
Als er das Krankenhaus an diesem Tag verließ, hatte sich etwas in ihm verändert. Wie ein Karussell wiederholten sich die Fragen in seinem Kopf. Wie würde es wohl sein, mit dieser Frau zusammenzusein, zu ihr zu gehören und dadurch eine Rolle im Leben dieser zwei Babys zu übernehmen. Um so länger er sich mit dieser abwegigen Vorstellung beschäftigte, um so natürlicher erschien sie ihm.
An diesem besagten Donnerstag fuhr er in die Stadtmitte zurück, aus der er eben gekommen war und lief wie von einer Schnur gezogen in die nächste Buchhandlung. Dort begab er sich in den dritten Stock, wo er noch nie gewesen war und den Leuten bisher nur mitleidig hinterher gesehen hatte, die versuchten ihre kreischende Bande dort hinauf zu bugsieren.
Heute stand er nun hier und besah sich die himmelblauen und rosaroten Buchrücken. Er hatte keine Ahnung was genau er suchte. Dann zog er einen weniger bunten Ratgeber aus dem Regal, ließ sich nieder und begann zu lesen. Er vertiefte sich in eine andere Welt. In die Welt der Eltern, der Männer und Frauen, die ihm so mutig erschienen. Sich für ein anderes Leben verantwortlich zu fühlen wäre ihm noch vor zwei Stunden unmöglich erschienen. Konnte er das? War er reif dafür, nur weil seine Hormone wegen dieser Frau verrückt spielten? Mit jeder Seite die er las, entfernte er sich mehr aus seinem bisherigen Leben, immer tiefer stieg er in die Materie Vater ein. Doch ob das genau jetzt der richtige Weg für ihn war, konnte keines der Bücher ihm beantworten.
In den nächsten Tagen hatte er zuhause alles gelesen, was er sich an diesem ungewöhnlichen Tag gekauft hatte. Zwischendurch erwachte er aus dieser fremden, neuen Welt und schüttelte den Kopf darüber, was da mit ihm durchging. Doch mit jedem Mal, das er seine Schwester im Krankenhaus besuchte, wurde ihm klarer, dass er es versuchen musste. Denn immer wenn er Mia sah, kam ihm alles was er tat, wie genau das Richtige vor. Mit kleinen Scherzen und Gesprächen näherte er sich ihr an. Langsam gewann sie soviel Vertrauen, dass er ihr nach und nach mit den zwei Babys helfen durfte. Sie musste ihn für einen wunderbaren Onkel halten, da er jeden Tag vorbeikam, um seine Nichte zu besuchen.
Auch wenn sich der Kontakt leicht herstellen ließ, wurde es ein langer und steiniger Weg bis aus ihnen ein richtiges Paar wurde. Lange Zeit schien es, als würde nie mehr als Freundschaft daraus werden und Nico hatte mit seinen Gefühlen Mia gegenüber stark zu kämpfen. Doch mit den Wochen und Monaten füllte er immer mehr die Vaterrolle aus und irgendwann konnte auch Mia nicht mehr umhin zu bemerken, was für ein prima Gespann sie geworden waren.
Eines Abends als Mia die kleine Paula, und Nico den kleinen Micha schlafend ins Haus trugen, veränderte sich plötzlich alles. Sie standen zu zweit über die kleinen Babybetten gebeugt, in die sie die bereits eineinhalbjährigen Zwillinge gelegt hatten, da meinte Mia mit einem Mal: »Ich weiß gar nicht, wie ich das alles ohne dich schaffen würde.« Solche Dinge hatten sie schon oft gesagt und jedes Mal war es dabei zu einer netten freundschaftlichen Geste zwischen ihnen gekommen, doch diesmal sah sie ihm tief in die Augen. Irgendetwas war anders an diesem Abend. Eine Spannung lag in der Luft die zuvor nur Nico gespürt hatte. Sie musste plötzlich auf Mia übergesprungen sein, denn sie legte ihm die Arme um die Schultern, einfach so, als hätte sie das schon hundert Mal zuvor getan und küsste ihn. Nico war schlagartig im siebten Himmel und wurde endlich für seine Geduld belohnt. Dieser Augenblick bedeutete Alles für ihn und wenn Mia nur einen Bruchteil dessen empfand, was er für sie fühlte, hatte er guten Grund zur Hoffnung, dass es wirklich eine Chance auf eine Zukunft für sie gab.
Als Nico die ganze Geschichte über Ben erfuhr, er glaubte bis dahin, dass er Mia einfach verlassen hatte, versetzte es ihm eine ordentlichen Dämpfer. Er dachte einige Zeit intensiv darüber nach, was das für ihre Beziehung bedeutete. Mit einem Verflossenen im Hintergrund hätte er leben können aber tagtäglich mit jemandem zu konkurrieren von dem sich Mia nie richtig verabschiedet hatte, war eine ganz andere Nummer.
Doch Paula und Micha hatten sich längst in sein Herz gedrängt, ganz zu schweigen von Mia, die ihm jetzt endlich offen ihre Zuneigung entgegenbrachte. So spielte sich damals alles ein und wenn Probleme auftauchten, sagte er sich, dass dies in jeder Familie vorkam.
Dann wurde Mia schwanger und Nico fühlte sich endgültig als Vater angenommen. Zusammen bauten sie dieses gemütliche Haus und Mia schien in der neu entstandenen Familienkonstellation glücklich zu sein. Die Vergangenheit geriet so weit in den Hintergrund, dass Nico zu hoffen wagte, einmal der einzige Mann in Mias Leben zu sein.
Doch die reine Freude war nicht von Dauer. Eines Abends kam Mia ins Schlafzimmer, wo Nico schon mit einem Buch in der Hand die Ruhe genoss. Still legte sie sich neben ihn und rührte sich nicht. Erst als er sie nach einigen Minuten betrachtete, fiel ihm auf, dass sie geweint hatte. Nico fragte, was los sei und zuerst hatte sie angefangen zu reden. „Ich war gerade noch einmal bei den Zwillingen und Micha er… er.“ Doch dann stockte sie und sprach nicht weiter. Das war auch nicht nötig. Nico konnte in ihrem Blick lesen wie in einem Buch. Und diesen Ausdruck kannte er. Der Schmerz und die Sehnsucht stand ihr bildlich ins Gesicht geschrieben. So hatten sich die Momente eingeschlichen. Die Momente in welchen Mia plötzlich zu weinen begann, weil irgendetwas sie an Ben erinnerte. Die Abende, an welchen Nico sie tröstete, wegen ihm, und genau diese Augenblicke, in welchen sie darüber hinwegging, als wäre nichts, aber Nico genau wusste, dass er wieder präsent war. Mit der Zeit fühlte Nico eine Machtlosigkeit in sich aufsteigen, die er vehement versuchte abzuschütteln.
Es war ein Trugschluss gewesen zu glauben, dass die standesamtliche Hochzeit vor eineinhalb Jahren, daran etwas ändern würde.
Mia tauchte aus dem Bad auf. Nichts erinnerte in ihrem perfekt geschminkten Gesicht an die Tränenspuren, die es eben noch durchzogen hatte. Sie lächelte ihren müde wirkenden Mann an.
»Vorhin hab ich gegen die Müdigkeit gekämpft, jetzt musst du da durch.« Sie zog ihn am Arm aus dem Schaukelstuhl hoch.
»Na komm! Jetzt habe ich mich schon in dieses verdammt enge Teil hier gequetscht, da wollen wir doch auch sehen, was der alte Stoff noch so hergibt. Ich habe vor ihn mit Leckereien vom Buffet bis aufs Äußerste zu strapazieren.«
Während der Fahrt verschwanden die Erinnerungen an ihren Traum immer mehr. Nicos ruhige Stimme und die netten Anekdoten seines Tages, ließen sie lächeln. Er wusste genau, was Mia guttat. Ihre Schultern entspannten sich und sanken nach unten und wie immer merkte sie erst in diesem Moment, wie sehr sie sie den ganzen Tag angespannt hatte. Ihr Nacken lockerte sich und die Wirkung wanderte weiter hinab in ihren Körper, in ihre Arme und Beine bis sie begann sich wohlzufühlen. So hätte sie ewig weiterfahren können, doch der Wagen hielt bald an, unerbittlich.
»Aussteigen Prinzessin.« Mia rappelte sich hoch, klappte den Schminkspiegel herunter und fuhr sich durch die mittlerweile wieder fad herunterhängenden Locken. Mit einem Seufzer ließ sie die Sonnenblende nach oben schnellen und stieg aus.
»Hat eh keinen Sinn!« murmelte sie. Nico legte ihr den Arm um die Hüfte und während er sie zur Haustür führte, flüsterte er ihr ins Ohr: »Nee, hat es wirklich nicht, da du besser aussiehst als je zuvor!«
»Lügner!« stichelte Mia übertrieben laut. Just in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und eine angespannte Susann sah ihnen entgegen.
»Wie bitte?« fragte diese pikiert.
»Nichts! War nicht für dich gedacht, Susi.« Nico nannte sie extra so, wusste er doch, dass sie das abscheulich fand. Susann bewegte sich immer noch nicht von der Stelle, sodass Mia und Nico sich irgendwann einfach an ihr vorbei, in die Garderobe schoben.
Karl, Susanns Mann, kam ihnen entgegen und begrüßte sie auf seine offene, liebenswürdige Art. In diesem Augenblick beneidete Mia Nico, da er wenigstens diesen Menschen hatte, um sich heute Abend nicht zu Tode zu langweilen. Einen Tag, oder Abend mit Susann allein zu verbringen war etwas ganz anderes als ihre steifen Partys. Jedesmal verwandelte sie sich dabei von einem herzlichen, offenen, manchmal sogar auf eine unbeholfene Art witzigen Menschen in eine angespannte, gestelzte Person, die mit der anderen Susann so gar nichts mehr gemeinsam hatte. Da Mia die liebenswerte Seite an Susann nicht missen wollte, kam sie zu ihren Partys, wie öde sie auch sein mochten.
Spätestens nach einer Stunde hatte Mia die Hoffnung aufgegeben, dass es heute anders sein würde. Zäh wie Moorschlamm rannen die Minuten dahin. Der einzige Lichtblick waren die Leckereien, die an dem schier unerschöpflichen Buffet zu holen waren. Keine der vielen Grüppchen die sich gebildet hatten, verlockten Mia dazu sich mit ihnen zu unterhalten und so setzte sie sich mit ihrem vollbeladenen Teller auf die Couch und versuchte sich so gut wie möglich zu entspannen und zu genießen. Wann gab es bei ihr schon mal Lachsschnittchen mit Kräuterdipp, Eier mit Kaviargarnitur oder Rindercarpaccio an verschiedenen Blattsalaten. Wenn man es genau nahm, nie. Ein paar Leidensgenossen setzten sich in den folgenden Stunden zu ihr, so entstand das ein oder andere, mehr oder weniger interessante Gespräch. Als sie sich schließlich zum gefühlten hundertsten Mal am Buffet anstellte, hauchte ihr plötzlich jemand in den Nacken. Sie fuhr herum und hätte fast, das mit dem Mousse au Chokolat überhäufte Schälchen fallen lassen.
»Mensch Nico, erschreck mich nicht so. Das hätte jetzt eine Sauerei gegeben.«
»Dann wäre hier wenigstens mal etwas los!«
»Du hast recht. Ich glaube ich habe mich auf Tante Annes Beerdigung letztes Jahr mehr amüsiert.« kicherte Mia.
»Na, lass uns doch mal verstohlen auf die Uhr schielen.« Er zog die rechte Seite seines Jacketts nach vorne, verbarg den linken Arm dahinter und spähte, sich zuvor heimlich umblickend, auf seine Armbanduhr. Danach richtete er sich lässig auf.
»Alles klar, Sherlock. Wir können das gefährliche Terrain völlig legal verlassen.« Mia kicherte lauter.
»Wie spät ist es denn?«
»Spät genug.« Er schnappte sich ihre Hand und zog sie hinter sich her.