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In der idyllischen Küstenstadt Karlshamn entfaltet sich ein fesselnder Kriminalfall, der die Leben mehrerer Menschen auf unerwartete Weise miteinander verknüpft. Im Mittelpunkt steht Njall Lundin, eine Kommissarin, die nach einem persönlichen Schicksalsschlag aus Stockholm flüchtet und in ihrem roten Camper nach Karlshamn zieht, um dort neu anzufangen. Njalls erster Fall in Karlshamn beginnt mit einem erschütternden Fund: Die Leiche eines Pfarrers wird an den Felsen unterhalb der Auswandererstatue entdeckt. Bei den Ermittlungen trifft sie auf ihren neuen Kollegen Arne Ek, einen erfahrenen Ermittler aus Karlshamn. Trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe entwickelt sich zwischen den beiden rasch eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Das Ermittlerteam wird durch weitere interessante Charaktere ergänzt: Maja, eine Mitarbeiterin der Polizeistation, die Pathologin Lisa Bloomkvist und der knorrige Stig, Arnes rechte Hand. Njall wird herzlich in dieses eingespielte Team aufgenommen und in die Geheimnisse der Kleinstadt eingeweiht. Die Untersuchungen führen die Kommissare auf verschiedene Spuren. Ein Name auf einer Schülerliste erregt besondere Aufmerksamkeit, während die Pathologin überraschende Erkenntnisse zur Todesursache liefert. Parallel zur Haupthandlung wird ein mysteriöser Mann in Malmö eingeführt, der die Polizeiberichte obsessiv verfolgt. Die Ermittlungen nehmen eine dramatische Wendung, als die Kommissare in eine Verfolgungsjagd geraten. Obwohl sie einen Verdächtigen festnehmen, sind sowohl Njall als auch Arne von dessen Unschuld überzeugt. Ihre Intuition wird durch ein unerwartetes Alibi bestätigt. Die Spannung steigt, als der mysteriöse Mann aus Malmö in Panik gerät und eine folgenschwere Entscheidung trifft. Die Handlung erreicht ihren Höhepunkt in einer nervenaufreibenden Konfrontation, bei der mehrere Leben auf dem Spiel stehen. In einem rasanten Finale eilen Njall und Arne zum Tatort. Es folgt eine dramatische Auseinandersetzung mit überraschenden Wendungen. Die Kommissare setzen alles daran, die Beteiligten zu retten und den Fall zu lösen. Die Geschichte endet mit der Aufklärung des Falls und einem Moment der Leichtigkeit, als Arne und Stig eine bisher geheime Verbindung zwischen zwei Teammitgliedern entdecken. Diese packende Kriminalgeschichte verwebt geschickt persönliche Schicksale mit einer komplexen Ermittlung und hält den Leser bis zum Schluss in Atem, ohne dabei zu viel über den Ausgang zu verraten.
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Seitenzahl: 313
Veröffentlichungsjahr: 2025
Ivonne Isabell Springer, 1976 in Ludwigshafen geboren, ist eine
Deutsch-schwedische Autorin mit einer lebenslangen Leidenschaft fürs Schreiben. Si lebte mit ihrer Familie und zahlreichen Haustieren in Bayern, träumt jedoch von einem Leben in Schweden. In ihrem
Kriminalroman verbindet sie auf besondere Weise deutsche und schwedische
Einflüsse und entführt die Leser in die faszinierende Welt des schwedischen Küstenstädtchens Karlshamn.
Außerdem von der Autorin erhältlich:
Du Liebes bisschen
Das Glück zu finden
In Bewegung
Fast Food für die Lachmuskeln
Besuchen Sie mich auf www.kiwiskosmos.de
Ivonne Isabell Springer
Wellensanft
Ein Karlshamn-Krimi
1. Fall
Roman
Die Zitate auf Seite 85, 86 und 87 stammen von dem schwedischen Autor August Strindberg
1. Auflage 2025
Copyright © 2025 Federleicht Verlag
© 2025 Ivonne Springer
Website: www.kiwiskosmos.de
Lektorat von: Ivonne Springer
Coverdesign von: Pix and Pips
Satz & Layout von: Ivonne Springer
Herausgegeben von: Federleicht
Verlagslabel: Federleicht
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte istdie Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die
Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: Ivonne Springer, Hauptstraße 47, 85095 Denkendorf, Germany.
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Dieses Buch ist auch als Softcover erhältlich.
Für Snoopo
und wie immer für L, C, J, E
Präsidium Stockholm
21. Juni 2019 / 22.35 Uhr
Es war vorbei. Njall hatte die Hände auf das Lenkrad gelegt und sah starr durch die Windschutzscheibe hinaus. Nichts bewegte sich in ihr.
Ihre Kollegen strömten, pünktlich zum Schichtwechsel, aus dem Polizeirevier. Manche redeten miteinander, andere blickten auf ihre Handys, einige mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen. Sie freuten sich auf ihren Feierabend, auf ihre Familien, ihre Freunde. Gerade so, als wäre es ein Tag wie jeder andere. Einsamkeit übermannte Njall. Nur für sie hatte sich alles verändert.
Als die Sonne, den Bordstein streifend, langsam unterging, wendete sie das Fahrzeug und fuhr Richtung Årstaviken. An einer ruhigen Seitenstraße hielt sie an. Bewusst langsam stieg sie aus, alles ein letztes Mal in sich aufsaugend. Sie lief die paar Schritte zu den Felsen am Meer. Auf einen davon stieg sie, sodass sie ähnlich der Freiheitsstatue über dem Wasser thronte. Njall zog fröstelnd ihre Strickjacke enger um sich. Dort stand sie gewiss eine Stunde lang und betrachtete die Lichter der Stadt, die im Spiegel des Meeres widerhallten. Hier waren sie oft gewesen. Jetzt war alles vorbei. Als sie anfing zu zittern, drehte sie sich um und zwang sich zu gehen.
Neun Stunden später verließ sie den Riksväg 15 und bog in Richtung Zentrum auf die E 22. Obwohl sie so lange unterwegs gewesen war und nur eine Rast mit einem Kaffee und einer Zimtschnecke gemacht hatte, hatte sie keinen Hunger. Schon seit Monaten verfolgte sie diese unbelebte Appetitlosigkeit. Als wäre ihr Innenleben gelähmt oder hätte die Kommunikation mit ihr eingestellt. Lange Wochen hatte sie mit sich gekämpft, bis sie die Vernunft davon überzeugt hatte, dass nicht erfolgte Nahrungsaufnahme unweigerlich zum Tod führen würde. So zerrissen sie auch war, so unwillig weiter zu machen, war da dieser unsägliche Lebenswille, der nicht aufhören wollte, mit ihr in Disput zu treten. Jeden Tag aufs Neue. Diese Tatsache erschöpfte sie maßlos.
Njall ließ den Bulli unmotiviert in die Fahrspur des Mc Drives rollen und bestellte einen kleinen Salat und eine Apfeltasche. Sie entschied sich, keinen Kaffee mehr zu trinken. Weitere schlaflose Stunden würden sie in den Wahnsinn treiben. Njall kurvte eine Weile erfolglos durch den Ort, riss schließlich ihr Handy aus der billigen Werbegeschenkhalterung und tippte wirsch ihren Zielwunsch ein. Und endlich, es war bereits sieben Uhr am Morgen, bog sie auf ihren Stellplatz am Kolleviks Camping und Cottages ein. Sie bezahlte die Gebühr für zwei Wochen und rollte mit dem alten Gefährt bis hinunter zum Strand. Diesen Platz hatte sie sich reserviert, sobald sie wusste, dass es sie beruflich hierher verschlagen würde. Es sollte der Platz am hintersten Ende, weit weg von anderen Menschen und so nah wie möglich am Wasser sein.
Als Njall ausstieg, nahm sie nur die Mc Donalds Tüte mit und ließ sich ein paar Schritte weiter in den Sand fallen. Die Mitte des Sommers hatte die ausbleibende Nacht weitestgehend in ein friedfertiges Licht getaucht. Jetzt strahlte die Sonne schon wieder grell und erhitzt vom hellblauen Himmel. Njall schloss die Augen und ließ sich nach hinten fallen. Sie drehte sich zur Seite, winkelte die Beine an, schob die Hände unter die Wange und schlief sofort ein, ohne einen Bissen gegessen zu haben.
Karlshamn an der Auswandererstatue
22. Juni 2019 / 11.15 Uhr
Silla bückte sich, um die letzten weißen Förgöttmigej in die warme Erde zu graben. Sie würden wunderschön zu den bereits hier wachsenden Blåsippor passen. Dann drückte sie ihre alten Knochen schwerfällig vom Boden hoch und betrachtete ihr Werk. Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf ihre bleichen Lippen. Sie klopfte sich den Schmutz von den Händen, wischte sich die Finger an ihrer Schürze sauber und verstaute diese anschließend in ihrem Korb.
Als sie sich wieder aufrichtete und in Richtung Hafen wandte, fiel ihr Blick auf etwas Dunkles, das sich mit den seichten Sommerwogen des Wassers auf und ab bewegte. Silla ging über den Rasen zu dem steinernen Weg, der am Meer entlang führte. Ihre schlechten Augen spiegelten ihr eine sehr verzerrte Ansicht. Sie stöhnte, machte sich dann aber daran, den Felsen vor ihr zu besteigen. Ihre schmerzenden Glieder ignorierend murmelte sie zu sich selbst: »Hier bin ich Jahr und Tag geklettert!« Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass es sich um ein totes Tier handeln musste. Ein Schwan vielleicht. Erst neulich hatte sie ein fürstliches weißes Pärchen in der Bucht schwimmen sehen. Oder auch wieder eine Katze, die sich beim Klettern überschätzt hatte. So etwas passierte öfter. Die Jungtiere fielen ins Wasser und konnten sich dann an den steilen Wänden des Hafenbeckens oder den Felsen, die rund um die Bucht lagen, nicht wieder herausziehen. Aber dann müsste es eine ziemlich große Katze sein, dachte sie.
Silla zog auf der Kuppe des großen Steines ihre Glieder lang, legte die Hand gegen die grellen Strahlen der Sonne schützend an die Stirn und sah noch einmal genau hin. Ihre fahle Iris fokussierte langsam, nur zögerlich konturierte sich das Gesehene vor ihren Augen. Dann schlug sie die Hände auf ihren Magen und ließ einen Schrei los, der gellend scharf die Bucht durchschnitt.
Café Villa Utsikten Karlshamn
22. Juni 2019 / 11.42 Uhr
Arne verpasste dem Holzkeil einen letzten kräftigen Hieb und trieb ihn noch ein Stück weiter in den sandigen Boden. Sirrende Staubpartikel tanzten um ihn. Er zog das verschwitzte T-Shirt aus dem Hosenbund und stülpte es hoch, um sich damit die tropfende Stirn zu trocknen. Dann ließ er seinen Blick die Midsommarstange hinauf wandern. Als das drei Meter hohe Gebilde aus Birkenstamm und Ästen umrankt von Efeuschmuck dem prüfenden Stoß seiner linken Hand ohne größere sichtliche Erschütterung standhielt, nickte er zufrieden. Er schwang sich den Vorschlaghammer über die Schulter und trug ihn an seiner Tochter vorbei zum Schuppen. Finja saß an dem großen roten Holztisch, in der Mitte des großen Gartens der zum Meer hinabfiel. Wie eine Fee saß sie dort mit ihrem weißblonden Haar, ihrem langen hellrosa Kleid, umgeben von großen Haufen Wildblumen und flocht die sechs verschiedenen Gattungen zu Blumenkränzen für die Feier zusammen.
»Arne, Telefon für dich«, Mona stand oben an der weißen Holzveranda, die ums ganze Haus herumführte und winkte entnervt mit dem Mobilteil.
»Komme«, knurrte er, fuhr Finja bedachtsam über das durch die Sommersonne erwärmte Haar und gab ihr einen Kuss auf die Wange.
»Wer ist es?«, fragte er, als er direkt vor seiner Frau stand. »Jetzt nimm schon! Ich hab keine Zeit. Die ersten Gäste werden jeden Moment eintrudeln.« Mit verärgerter Miene verschwand sie in der Küche ihres Cafés. Arne blickte ihr nach.
»Ja«, brummte er dann in den Hörer.
»Warum gehst du nicht an dein Handy, verdammt?« Stig, der sonst die Ruhe selbst war, klang ungehalten.
»Es liegt vielleicht daran, dass ich heute frei habe!?« Stig schnaubte kurz und rau. »Ich hätt dich nicht gestört, wenns nicht wichtig wäre. Es gibt einen Toten. Sieht aus, als wäre es der Pfarrer.« Arnes Puls beschleunigte sich. Er sprintete nach drinnen und angelte sein Handy vom Sideboard. Er sah fünf eingegangen Anrufe und 7 Nachrichten.
»Bist du sicher, dass er es ist?« Er raufte sich durchs verschwitzte Haar, nahm die Hand schnell wieder herunter, als er spürte, wie klebrig sie waren.
»Komm her und sieh selbst.« Nach einer knappen Pause hängte er an: »Tut mir leid.«
»Wo habt ihr ihn gefunden?« Während Stig ihm die Lage und eine kurze Beschreibung der Umstände lieferte, eilte Arne in die Küche. Er legte auf und tippte Mona, die gerade Schlagsahne auf einer mächtigen Prinzesstårta verstrich, sacht auf die Schulter.
»Ich muss noch mal weg.« Mona fuhr zu ihm herum und hätte ihn um ein Haar mit dem Spatel voller Sahne am Kinn getroffen. »Ich wusste, dass es kein Midsommarfest ohne Unterbrechung geben wird. Wie immer...« Sie wirbelte verärgert zur Arbeitsfläche zurück.
»Ich bin spätestens zum Krabbenessen wieder da.« Mona knurrte vor sich hin und schüttelte ungläubig den Kopf. Als Arne sich abwandte, fühlte er das altbekannte, zerstörerische Beißen im Magen, obwohl er heute glimpflich davongekommen war.
Karlshamn an der Auswandererstatue
22. Juni 2019 / 12.07 Uhr
Wenige Minuten später spritzte der Kies auf, als Arne eilends auf den kleinen Parkplatz am Rosengarten einbog und dann ruckartig anhielt. Sein geschultes Auge verschaffte sich schon beim Aussteigen einen ersten Überblick. Nicht weit von ihm entfernt standen zwei Polizeiwagen mit rotierenden Lichtern auf den Dächern. Daneben parkte ein Krankenwagen. In der offenen Tür sah er die alte Silla Vest eingehüllt in eine graue Decke sitzen und mit blassem Gesicht auf den Boden starren.
Als sie seine Bewegung neben sich wahrnahm, hob sie den Kopf. Ihr Kopftuch saß schief auf der Stirn, sodass sich ihr hagelweißes Haar in wilden Strähnen daraus hervor gearbeitet hatte.
»Arne!«, rief sie und stand mit zittrigen Beinen auf. Er eilte zu ihr und legte ihr sanft die Hand auf die Schulter.
»Setz dich Silla.« Der Krankenpfleger kam um den Wagen herum und platzierte sich neben sie. »Du solltst doch nicht aufstehen, bis du dich etwas stabilisiert hast.« Ihre Augen blitzten den jungen Mann strafend an. »Und das weißt du so genau, Silvester...« Herausfordernd reckte sie den Kopf noch ein wenig mehr in den Nacken. »...weil ich dir das damals beigebrach habe, als ich noch den Krankenwagen gefahren bin.« Mit ausladender Geste deutete sie sich auf die Brust. »Also erzähl mir heute nicht, was ich tun und lassen soll!« Silvester zuckte seufzend mit den Schultern und verschwand wieder, nicht ohne Arne ein wissendes Grinsen zuzuwerfen.
Silla zog Arne neben sich. »Ich hab ihn gefunden.«
»Ja, ich weiß.« Beruhigend legte Arne die Hand auf Sillas Arm. Diese schüttelte ungläubig den Kopf und holte zur nächsten theatralischen Geste mit den Armen aus. »Es ist Pastor Lindholm.« Sie seufzte tief. Arne wollte es nicht glauben, bevor er es nicht selbst gesehen hatte, deshalb fragte er zweifelnd. »Wie willst du dir da so sicher sein?«
»Er hat dieses Grübchen, von den Pocken die er als Kind hatte, direkt unter dem linken Auge. Daran hab ich ihn erkannt.« Arne verspürte ein wenig Erleichterung.
»Pastor Lindholm ist seit über einem Monat verschwunden. Sollte er wirklich so lange im Wasser gelegen haben, wirst du sein Grübchen nicht mehr wirklich erkannt haben können.« Silla riss entrüstet die Augen auf. »Wenn du mir nicht glaubst, dann sieh selbst nach!« Arne legte ihr die Hand auf die schmale Schulter. »Das werde ich jetzt auch tun. Und du, malträtiere den armen Silvester nicht länger als nötig und geh nach Hause. Wenn wir Fragen haben, kommen wir zu dir.« Arne stand auf und machte sich auf den Weg zu seinen Kollegen. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Silla die Decke von sich warf und während sie mit festem Schritt davon stapfte, dem armen Silvester zurief: »Ich geh nach Hause, hier scheint mich ja keiner mehr zu brauchen.«
Arne trat neben Stig. Die Sonne brannte immer noch seelenlos heiß vom Himmel. Über dem Wasser lag ein seichtes Flirren. Er hörte die Gäste in Monas Café, nur ein paar Meter weiter die Bucht hinauf, feiern und lachen. Das Ziehen in seinem Magen verstärkte sich. Stig wandte sich mit seinem Notizblock in den Händen zu ihm um.
»Da bist du ja endlich.« Arne wies mit dem Finger über die Schulter zum Parkplatz. »Ich hab noch mit der alten Silla gesprochen. Auch sie meint, es wäre der Pastor.« Arne schüttelte ungläubig den Kopf. »Ich hab sie nach Hause geschickt.«
Stig klopfte mit seinem Kuli auf den Block und sah seinen Chef mit hochgezogenen Augenbrauen vorsichtig an. »Sie hat wohl recht, Arne. Lisa hat soeben eine Geldbörse aus der Brusttasche gefischt. Darin befindet sich Lindholms Ausweis.«
Arnes Schultern sackten herab und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen und lief zu den Leuten der Spurensicherung hinüber. Lisa, die ihn kommen sah, erhob sich vom Boden, nahm ein paar Handschuhe aus der Verpackung und reichte sie ihm. »Hej, Arne. Sieht ganz so aus als hätten wir unseren vermissten Pastor gefunden. Wir machen natürlich einen DNA-Abgleich, aber bis jetzt können wir stark davon ausgehen, dass er es ist. Die Leiche ist männlich, Größe passt auch und ich hab seine...«
»Geldbörse« beendete Arne ihren Satz mit flauer Stimme. Lisas weiße Haube wippte auf ihrer Stirn, als sie seine Aussagen mit einem Nicken bestätigend unterstrich. »Wissen wir schon, ob es ein Unfall war?« Lisa lächelte ihn kopfschüttelnd an.
»Das können wir nie so schnell sagen. Wir werden es wie immer in der Pathologie genauer untersuchen. Bis dahin musst du dich gedulden. Bekanntes Spiel.« Wachsam strich sie ihm kurz über den Rücken. »Ihr habt euch gut gekannt, nicht wahr?« Arne nickte stumm und trat an den weißen Klapptisch mit den Fundstücken. Viel war es nicht, was dort lag. Ein vom Wasser dunkel gefärbtes Stofftaschentuch und eine schwarze Ledergeldbörse. Trotz der Handschuhe nahm er sie vorsichtig nur mit den Fingerspitzen hoch und ließ sie aufklappen. In einem durchsichtigen Fenster steckte tatsächlich der Ausweis seines Freundes.
Magnus Lindholm geb. 22. Juni 1978 in Karlshamn.
Als er in den anderen Fächern der Börse nichts weiter fand, klappte Arne sie wieder zu und legte sie auf den Tisch zurück. Dann ging er die paar Schritte hinüber zur Leiche, die dort in einem offenen Plastiksack auf dem Boden lag. Er kniete sich neben Lisa, die ihm gefolgt war, und bog die Ränder der weißen Umhüllung vom Gesicht des Toten weg. Arne besah sich die Stelle unter dem linken Auge, oder viel mehr das, was davon übrig war. Auch bei genauerem Hinsehen konnte er nicht eindeutig sagen, ob das tatsächlich die Narbe einer Pockeninfektion war, die sich dort in einem kleinen Fleck abzeichnete oder dieser der bereits stark eingesetzten Verwesung zuzuschreiben war. Allerdings musste er zugeben, dass Statur und Gesicht seinem Freund doch sehr ähnelten. Mit einem Schaudern ließ Arne die Plane los, dann blickte er Lisa an, die neben ihm kauerte.
»Heute wäre er 42 Jahre alt geworden.« Lisa nickte verstehend. Dann schloss sie den weißen Leichensack und erhob sich. »Wir müssen ihn jetzt wegbringen. Die Hitze macht dem Körper immer mehr zu schaffen.«
Eine viertel Stunde später standen Arne und Stig auf dem kleinen Weg zwischen Festland und Meer. Sie kletterten, wie zuvor am Tag die alte Silla, auf den Felsen und stellten sich dabei nicht unbedingt geschickter an. Stig deutete vor ihren Füßen nach unten ins dunkle Nass. »Dort unten am Felsrand, da hat er gelegen. Die alte Silla dachte erst, es sei ein Schwan. Bis ich dich erreichen konnte und du hier warst, mussten wir ihn bergen. Wir haben ausreichend Bildmaterial geschossen.«
Das Meer spülte fragile Kronen wie Milchschaum an die starre graue Masse. »Wäre es doch nur ein Schwan gewesen, dann könnte ich weiter hoffen, dass Magnus sich nur eine seiner Auszeiten genommen hat.«
Zurück auf dem Parkplatz wandte er sich noch einmal an Lisa. »Ich bekomme den Bericht aus der Gerichtsmedizin bis morgen auf meinen Schreibtisch.« Lisa nickte. »Den ersten Teil, ja.« Dann hob sie die Hand zum Gruß. Arne wandte sich wieder an Stig. »Du informierst bitte die Spurensicherung, dass ich morgen erste Ergebnisse sehen möchte.« Stig schnaubte. »Heute ist Midsommar und morgen Sonntag. Damit machst du dir keine Freunde, Arne.« Sein Chef mit den Schultern. Arne wollte sich gerade in seinen Wagen setzen, als Stig ihn noch einmal aufhielt.
»Wo ist eigentlich deine neue Partnerin? Sollte die nicht schon längst aus Stockholm hier aufgeschlagen sein?« Arne scrollte auf seinem Handy durch den Terminkalender. »Sie soll am Montag anfangen. Also hat sie noch ein bisschen Schonfrist.« Stig schnaubte zum wiederholten Male. »Schonfrist? Es handel sich vielleicht um Mord. Sie ist sicher nicht erfreut, wenn sie mitten in die Ermittlungen geworfen wird. Soweit ich gehört habe, hat sie keine Familie, die heute mit ihr Midsommar feiern will. Wenn du ihre Nummer hast, ruf sie an!«
Stig wandte sich ab und ging auf seinen blaulichtsirrenden Wagen zu, indem schon ein Kollege saß und auf ihn wartete. »Bis jetzt wissen wir noch nicht, ob es wirklich Mord ist«, rief Arne ihm hinterher. Stig schnaubte, dann warf er die Tür zu, löschte das Blaulicht auf dem Dach und fuhr davon. Arne ging noch einmal hinunter, kletterte über das rot-weiß gestreifte Absperrband zum Todesfelsen. Er stieg hinauf und setzte sich. Die Hitze des Steins drang durch seine schmutzige Short, die er seit dem Aufstellen der Midsommarstange, immer noch trug. Sein Blick wanderte hinüber zur feiernden Meute. Sie tanzten laut singend um seinen Baum. Die meisten hörten sich nicht mehr ganz nüchtern an. Die Kinder trugen allesamt bunt geschmückte Kränze auf dem Kopf, auch die meisten Frauen und sogar ein paar albernde Männer hatten sich welche aufs Haar gesetzt. Kurz blitzte Monas roter Rock auf, den sie immer zum Midsommarfest trug. Ein Ziehen stieg ihm bis in die Kehle. Er würde diese neue Kollegin jetzt anrufen entschied er kurzerhand. Und dann würde er für heute zu seiner Familie zurückkehren und an der Seite seiner Frau tanzen. So wie es sich für einen guten Partner gehörte.
Kolleviks Camping Karlshamn
22. Juni 2019 / 15.23 Uhr
Njall rannte gehetzt den engen Tunnel entlang. Sie presste das Baby fest an ihre Brust. Immer wieder blickte sie sich nach ihren Verfolgern um. Einen verwirrenden Moment lang glaubte sie, ein Klingeln würde von den mit Graffiti beschmierten Wänden des unterirdischen Gangs widerhallen. Doch dann spurtete sie angstdurchdrungen weiter. Da klingelte es wieder. Hatte das etwas mit ihr zu tun? Versuchte sie jemand zu retten? Fragen schossen ihr blitzschnell durch den Kopf. Beim dritten Klingeln schreckte sie hoch.
Sand stob ihr in pulverigen Dünungen in die Augen. Herrgott noch mal, was war denn das? Njall brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Langsam sickerte in ihr Gehirn, wo sie sich befand und wie sie hierher gekommen war. Dann hörte sie das Klingeln wieder und erkannte endlich, dass es von ihrem Handy ausging. Sie stützte sich auf, spürte, wie übermüdet sie immer noch war, und stapfte schwerfällig durch den glühenden Sand zum Camper. Die Tür stand offen und sie ergriff ihr Telefon vom Fahrersitz. Ein scharfer Schmerz schoss durch ihre Hand. Sie warf es, immer noch klingelnd, in hohem Bogen von sich. Fluchend kletterte sie in das Innere des Fonds, griff sich beliebig ein Papier aus dem Karton auf dem Beifahrersitz und knüllte die Urkunde um das glutheiße Telefon. Vorsichtig tippte sie, auf den Anruf annehmen Button.
»Wer ist da?« Ihre Stimme klang zittrig und rau vom Schlaf. Eine Zeit lang blieb es still. Sie hörte nur leises Plätschern im Hintergrund. Dann räusperte sich jemand. »Hej, hier ist Arne. Also Arne Ek. Ihr neuer Partner. Also, beruflich meine ich.«
Njall ließ sich auf den Einstieg ihres Campers fallen. »Ja?...«, sie sah aufs Display, um sicherzugehen. »...Heute ist Samstag!« Njall strich sich eine kurze Haarsträhne hinters Ohr. Sie sah dem Sand zu, der durch ihre Finger in ihren Schoß rieselte.
»Ich weiß, Sie fangen erst am Montag an. Aber heute Vormittag wurde eine Leiche gefunden und ich dachte, Sie wollten vielleicht darüber informiert werden.«
Njall stand auf, wischte sich den Sand von der Jeans und griff nach ihrem Autoschlüssel und stieg ein. »Sind Sie noch am Tatort?« Sie startete den Wagen.
»Ob es der Tatort ist, wissen wir noch nicht. Aber ich bin noch vor Ort, ja.«
Arne lauschte dem Motorengeräusch im Hintergrund. »Aber Sie brauchen nicht sofort herzukommen. Treffen wir uns doch lieber morgen im Revier. Dort können wir zusammen das weitere Vorgehen besprechen«, setzte er mit einem Blick auf die feiernde Meute in Monas Café hastig hinzu. Ein Zischen drang durch den Hörer.
»Sie wecken mich aus dem verdienten Tiefschlaf nach zehn Stunden Autofahrt, und jetzt soll ich schön brav bis morgen warten? Wo?« Sie drückte aufs Gas, um den Hang des Campingplatzes mit dem alten Gefährt zu bewältigen.
Arne zögerte. Dann hörte er sie schon wieder sprechen: »Oder wollten Sie lieber um die Midsommarstange tanzen, anstatt einen Mord aufzuklären?« Ihre Stimme triefte vor müdem Sarkasmus.
»Kommen Sie zur Auswandererstatue.« Resigniert beendete Arne das Telefonat.
Er betrachtete die sanften Wogen, die den Stein an der Stelle umspülten, an der vor kurzem noch Magnus tot im Wasser gelegen hatte. Dann wanderte sein Blick hinter sich. Neben dem Rosengarten im Villenviertel wohnte er mit Mona und seinen vier Kindern. Nur ein paar Meter weiter, feierten die Menschen im Café seiner Frau. Diesmal ist der Tatort ganz schön nah, dachte er und ihn schauderte.
In der Stille um sich herum, nahm er deutlich wahr, als ein Bulli mit knatterndem Motor auf den Parkplatz bog. Eine Frau mit kurzem, dunklem Haar stieg aus einem rostigen roten Camper. Wo gab es solche Fahrzeuge noch, dachte Arne und erhob sich dann. Er winkte sie zu sich. Mit langen festen Schritten durchmaß sie den Kiesplatz, nahm die vier kleinen Stufen zwischen den Rosenbüschen auf einmal und gelangte, an der Statue vorbei, über den Weg, zu ihm. Ihre ausgebleichte Jeans spannte sich um ihre schlanken Beine, als sie den Felsen erklomm. Arne streckte ihr seine Hand entgegen und zog sie hinauf.
»Danke«, sagte sie und dann maßen sie sich mit Blicken. Njall betrachtete seine fleckige kurze Sporthose und das durchschwitzte braune Shirt. Dann sah sie an sich hinunter. Ihr schwarzes Top hatte Schweißränder unter den Achseln, Ihre Jeans war gesprenkelt von Sandkörnern, die auf angetrockneten Kaffeeflecken haften geblieben waren. Ihr Haar stand ihr an der einen Seite vom Schlaf wild zu Berge, auf der anderen dagegen klebte es ihr von der Hitze an der Wange.
Beide schmunzelten plötzlich. »Perfekter erster Eindruck!«, bemerkte Njall. »Perfekt darin, dass wir beide scheinbar in etwa denselben ersten Eindruck bevorzugen.« Arne reichte ihr noch einmal seine Hand, diesmal zur Begrüßung.
»Willkommen in Karlshamn. Auf gute Zusammenarbeit.« Njalls dunkle Iriden verdüsterten sich, doch dann legte sie ihre Hand in seine und er spürte einen entschlossenen Händedruck.
Sie wandte sich zum Meer um. »Ist es hier passiert?« Arne zeigte auf die Stelle, wo sich das Wasser immerzu kräuselnd um den Felsen brach. »Hier ist der Fundort der Leiche. Den Tatort können wir noch nicht bezeichnen.«
»Wissen wir schon, um wen es sich bei dem Toten handelt?« Njall griff in ihre linke hinter Hosentasche doch diese war leer.
»Mit ziemlicher Sicherheit ist es Pfarrer Magnus Lindholm. Er galt vier Wochen lang als vermisst, bis die alte Silla ihn hier heute Vormittag fand.«
Njall streckte Arne die Hand hin. Er zögerte. »Halten sie mich fest!« Es klang ein wenig nach einem Befehl, dann ließ sie sich an der Wasserseite am Felsen, wie ein Houserunner, hinabgleiten. Arne musste fest zupacken, um ihr Gewicht zu halten, besonders da sie sich hin- und herbewegte, als wäre er ein flexibles Gummiseil.
»Könnte sie es gewesen sein?« Njall sprach, als würde sie neben ihm stehen und nicht an seiner Hand schräg über dem Wasser pendeln.
»Wer? Silla?« Er stöhnte und klammerte sich mit der anderen Hand an einem kleinen Bäumchen fest, das aus einer Felsspalte herauswuchs und hoffte, die Wurzeln würde nicht nachgeben. Trotz der Anstrengung musste er lachen, als Njall nickte.
»Nein, die alte Silla Vest ist zwar ein wenig verschroben, aber sie ist sehr gottesfürchtig und auch zu alt, um einen Mann der Kirche, der noch dazu bei bester Gesundheit war, zu ermorden.« Njall hätte ihn fast vom Felsen gerissen, als sie sich entschlossen an den Aufstieg machte.
»Man kann nie wissen!«, meinte sie, als sie wieder neben ihm stand. Arne rieb sich die schmerzende Hand. »Da haben Sie wohl recht. Aber für die alte Silla leg ich meine Hand ins Feuer.« Njall warf einen Blick auf seine leuchtend roten Finger und zog ihre rechte Augenbraue hoch. »Sieht so aus, ja! Und wohin jetzt? Zeigen Sie mir das Revier?« Arne schüttelte vehement den Kopf.
»Oh nein, dafür ist morgen auch noch Zeit. Ich gehe jetzt um die Midsommarstange tanzen«, sage er mit Nachdruck und schenkte ihr einen festen entschiedenen Blick. Er hörte ein zynisches Zischen, das zwischen ihren Zähnen eingesogen, wie das Wispern einer Schlange klang. Als er in sein Auto stieg und davonfuhr, war ihm klar, dass er dieses Geräusch ab jetzt noch oft zu hören bekommen würde.
Njalls Blick folgte unwillkürlich seinem davonfahrenden Wagen. Die Sonne schien sich mit einem Mal zu verdunkeln, dabei rann ihr immer noch der Schweiß von der Stirn. Sie setzte sich hinters Lenkrad und trommelte mit den Fingern darauf. Was tat sie hier, in diesem gottverlassenen Nest? Jetzt wo der Pfarrer tot war, war es ganz sicher von Gott verlassen. Sie warf einen Blick in den Karton neben sich. Notizblock, Stifte, Locher und ein leerer Bilderrahmen. Mit einem Mal durchfuhr sie ein Moment des Erschreckens und sie begann hektisch in der kleinen Pappschachtel zu wühlen. Als sie schließlich etwas Weiches erfühlte, ziemlich weit unten beruhigte sie sich mit einem Mal und zog es heraus. Sie strich darüber und steckte es sich in die linke Gesäßtasche, wo es hingehörte. Dann starrte sie wieder zur Frontscheibe hinaus. Bevor das Gefühl, ein Wüstenei zu sein, sie völlig in sein atmungsarmes Verlies zog, startete sie den Motor und rollte vom Platz. Kurz entschlossen bog sie nach links ab. Kleine stille Orte hatten sie schon immer nervös gemacht. Hier gab es nicht dieses beruhigend mächtige Ersticken eigener, ungewollter Empfindungen, unter der stetigen Maschinerie aufgewühlten Großstadtstaubs.
Sie fuhr am Hafenbecken entlang und überquerte dann den Meeresarm über eine schmale Brücke. Erstaunt riss sie die Augen auf, als vor ihr ein, in einen monströsen Felsen gehauener Tunnel auftauchte. Sie drehte ihren Kopf, so weit es ihre Position zuließ. So etwas Beeindruckendes hätte sie diesem Flecken nicht zugetraut. Leider ließ der Zauber sofort wieder nach. Sie fuhr den tristen Hinsleden entlang, aus der Stadt hinaus. Ihrem Instinkt folgend, bog sie wieder nach links ab und entfernte sich weiter vom Zentrum. Grüne Natur umrahmte den Oljehamnsväg, der sie immer weiter hinaus brachte. Sie ließ sich eine Weile treiben, bis sie vor einer Brücke rechts abbog. Dort folgte sie einer Anhöhe hinauf. Voller Erstaunen hielt sie an. Sie stieg aus und stand augenblicklich an einer steilen Klippe hoch über dem Stärnöhafen. Eine atemberaubende Aussicht erstreckte sich weit über die vielen kleinen Buchten und faszinierenden Inseln rund um das Festland. Sie konnte sich kaum sattsehen. Ihr Entdeckertrieb war geweckt. Also stieg sie wieder ein und fuhr an. Um sie herum wurde die Natur immer enthemmter. Immer schmaler wurden die Wege von Gebüsch und Bäumen eingerahmt. Schließlich gelangte sie auf einen steinig-buckligen Pfad, der in einer kleinen verträumten Bucht endete. Njall überlegte nicht lange. Diesen Flecken musste sie sich genauer ansehen. Es war mittlerweile Abend geworden. Die Dunkelheit verlor ihren Kampf gegen die Midsommarsonne und blieb einem, nur als sachte Erinnerung, im Hinterkopf haften. Der Körper sehnte sich nach der Ruhe, die das sanfte Licht des Abends für gewöhnlich in sich trug, während der Geist gleichzeitig augenscheinliches Dauerfeuer signalisierte. Diese Mischung war wie ein Drogencocktail. Sie machte süchtig, sodass man nicht die Finger davon lassen wollte, auf längere Sicht aber war sie genauso zerstörerisch. Njall kannte diesen Zustand von etlichen Nachtschichten.
Doch jetzt war sie hier, weit weg von allem. Weit weg von den engen Häuserschluchten der Großstadt, vom Lärm, vom Geruch des Asphalts den die Sonne gleichgültig verbrannte. Sie wusste nicht, wie sie mit ihrer augenblicklichen Situation umgehen sollte. Unentschlossen sprang sie hinaus. Dort stand sie dann. Ihre Augen sahen den Frieden, doch ihr Herz pochte wie eine ratternde Achterbahn während ihres steilsten Falls. Hastig zog sie die Schiebetür ihres Vans auf und kramte in ihrer Schachtel mit ihren Privatsachen. Sie streifte ihre Jeans ab, schlüpfte aus ihrem Top und zog eine kurze Short und ein T-Shirt über. Dann wühlte sie nach ihren Earpods und steckte sie sich in die Ohren. Sie wählte die Liste mit ihren musikalischen Favoriten und schob die Tür krachend hinter sich zu.
Als sie ihre Sneaker übergestreift hatte, und Alanis Morrissetes stimulierend kräftige Stimme in ihren Gehörgang strömte, lief sie los. Am Wasser entlang folgte sie der Landzunge drei Kilometer bis zur Spitze. Der Waldweg war angenehm schattig und das kühle, nasse Element rechts neben ihr, blitzte in kleinen blauen Feuerwerken zwischen den Zweigen hervor. Trotzdem lief ihr der Schweiß den Rücken hinunter, als sie respirierend am Ende des Festlands angekommen war. Sie stemmte ihre Hände auf die Knie und atmete kräftig durch, um wieder Luft in ihre Lungen zu pumpen. Als sie sich wieder aufrichtete, erfasste sie der Blick auf die blausilberne Oberfläche, die mehrdeutig schimmernd, sanft vor ihr lag.
Njall nahm ihre Earpods aus den Ohren, streifte sich die Schuhe von den Füßen, überlegte nur eine Sekunde und entledigte sich dann kurz entschlossen, ihrer restlichen Kleidung. Nackt stieg sie auf einen Felsen, ging leicht in die Knie und stieß sich mit einem Kopfsprung ab ins Wasser. Über ihr brach das blaue Gold, in einem kühlenden Guss, aus allen Richtungen, zusammen. Ihre Ohren rauschten. Der Druck umschlang sie wie eine sehnsuchtsvolle Umarmung. Nach ein paar kräftigen Zügen ließ sie sich flach auf dem Rücken liegend, ihre Brüste als kleine umspülte Inseln vorwitzig in die Luft gereckt, wie Schwemmholz treiben.
Café Villa Utsikten Karlshamn
22. Juni 2019 / 22.56 Uhr
Zur selben Zeit streifte Arne Mona das rote Kleid von ihren Schultern, küsste zärtlich ihre Beuge zwischen Schlüsselbein und Kinn und lauschte ihrem wohligen Seufzer. Draußen hörten sie die Partygäste grölend singen und lachen. Nur die kleine Stina schlief schon drüben im Büro auf der Ausziehcouch. Mit ihren vier Jahren hatte sie einfach nicht länger durchgehalten und war Arne auf dem Schoß eingeschlafen.
Jetzt hob er diese Frau, die ihm, seit er siebzehn war, den Atmen raubte, auf die Küchenbank. Die Intensität seiner Gefühle schienen, mit jedem einzelnen Jahr mehr zu werden. Manchmal erschreckte ihn das. Wie sehr konnte man lieben, ohne daran schaden zu nehmen? Jetzt nahm er sie mit all diesen irren Emotionen und trieb sich mit jedem Stoß tiefer in ihr Sein. Sie klammerten sich dabei aneinander, sodass sich ihre Empfindungen, in einem Meer aus rauer Dimension, einten.
Sozialsiedlung Malmö
22. Juni 2019 / 22.36 Uhr
Der Fahrstuhl zitterte unter seinen Füßen und hielt schließlich rumpelnd an. Die verbeulte Tür quietschte laut in den Angeln, als sie sich schwerfällig öffnete. Der Mann aus Nummer 206 trat hinein und zog, als er sein absonderliches Spiegelbild in dem vergilbten Aluminiumkasten, der die Tasten umgab, sah, die braune Kappe tiefer ins Gesicht. Der Aufzug fuhr, zu seiner Erleichterung, ohne weiteren Stop bis ins Erdgeschoss durch. Er verließ, wenn überhaupt, nur zu dieser späten Zeit die Wohnung. Die meisten Familien mit ihrem quengelnden Windelgesocks auf den Hüften, hatten jetzt die Türen ihrer zugeteilten heruntergekommenen kleinen Behausungen geschlossen.
Als damals der Pfaffe vor seiner Tür aufgekreuzt war und ihn mit den Worten, er solle sich selbst stellen, sonst würde er was unternehmen, unter Druck gesetzt hatte, da hatte er gewusst, dass es Zeit war zu verschwinden. Einer seiner früheren Mandanten war ein Dummkopf und Fälscher. Ein Kleinkrimineller, der alles duplizierte, was ihm unter die Finger kam. Angefangen bei Papieren über Geld bis hin zu teuren Gemälden, was ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Aber selbst aus dem Knast konnte er dem Mann aus 206 über einen Mittelsmann gefälschte Papiere zukommen lassen. Damit hatte er dann ein Schmierentheater aufgeführt, um eine dieser armseligen Sozialwohnungen zu bekommen.
»Gelernt ist eben gelernt«, sprach er dumpf ins fahle Licht der Flurbeleuchtung und ein bizarres Grinsen erschien auf seinem groben Gesicht. Sein schaler Atem drang ihm in die Nase. Heftiges Bier und Knoblauch Aroma ließ ihn würgen. Der Döner von gestern hatte ihm gewaltig auf den Magen geschlagen.
Trotz der Hitze, die ihm beim Öffnen der mit feinen Rissen durchzogenen Glastür entgegenschlug, zog er seine schwarze Anzugjacke fester um seinen aufgequollenen Leib. Er verschloss die beiden Knöpfe über seinem aufgetriebenen Bauch, sah verstohlen nach rechts und links, ohne den Kopf weiter als nötig zu heben, und bog dann mit unsicheren Schritten nach links Richtung Bahnhof. Ab und an wankte er so heftig, dass er vom Gehsteig kippte.
»Pass doch auf du Idiot! Willst auch noch, dein Leben verlieren, nachdem die Selbstkontrolle schon total dahin ist, was?«, schrie ein Lastwagenfahrer zu ihm herunter. Er hatte zuvor dreimal lang anhaltend den torkelnden Kerl auf der Fahrbahn angehupt. Der Mann aus Nummer 206 schlug sich die Hände auf die Ohren. Der Lärm drang in seine maroden Nervenbahnen wie geschärfte Rasierklingen.
Drei Minuten später, die ihm wie eine Ewigkeit in seinem zerstäubten Hirn erschienen, kam er am Bahnhofskiosk an. Hier holte er sich immer alles, was er zum Leben brauchte. So wenig fähig er mittlerweile war, einen klaren Gedanken zu fassen, seine wöchentliche Einkaufsliste konnte er auswendig. Vier Stangen Kippen, drei Kisten Bier, 5 Dosen Ravioli. Zwei Mal in der Woche aß er außer Haus. Höhnisch lachte er auf, als er diese distinguierte Ausdrucksform aus einer weit zurückliegenden Zeit aus seinen Gehirnwindungen grub.
Er lief am Kiosk vorbei zu einem nahe gelegenen Supermarkt. Mindestens eine gedächtnisschwache Seele hatte meist seine fünf Kronen vergessen, aus dem Wagen zu ziehen. Es ging ihm nicht um das Geld, sondern darum seinen Einkauf nach Hause zu bekommen, ohne sich einen Bruch zu heben.
Auch diesmal hatte er Glück. An der Seite stand ein verlassener grüner Plastikwagen, wie wenn er nur auf ihn gewartet hätte. Der Mann aus Nummer 206 schob seinen Fund bis zum Kiosk, verbarg ihn aber in einer kleinen Nische neben der Tür und trat ohne ihn ein. Der Chinese der den kleinen Laden betrieb war ein eminent korrektes Arschloch und ging ihm immer damit auf den Sack was recht und unrecht war.
»Nicht lichtig, Wagen stehlen!«, hatte er ihm während seines letzten Einkaufs penetrant in den Ohren gelegen. Er hatte wirklich Glück gehabt, dass er nicht mit gebrochenen Gliedern im Krankenhaus gelandet war. Seitdem parkte der Mann aus 206 sein Fundstück immer draußen. Er hätte sich ja mit ein und demselben Wagen begnügt, doch immer wenn er wieder loswollte, war sein Gefährt aus dem Hausflur verschwunden. Einmal hatte er ihn deshalb sogar durch die enge Tür in sein Zimmer gequetscht. Jedoch hatte er sich danach kaum noch in seiner Behausung bewegen können und ihn schließlich aus dem Fenster geworfen. Der Aufprall aus dem sechsten Stock, war ein phänomenales Schauspiel und eine willkommene Ablenkung gewesen.
Er arbeitete seine Liste ab und nahm am Schluss, wie immer, die letzten sechs Ausgaben des Skånska Dagbladet mit, die der Chinese ihm immer beiseitelegte. Das Schlitzauge schaute ihn unangenehm durchleuchtend an, jedes Mal wenn er ihm die Zeitungen einrollte und einen Gummi darum festzurrte. Er war es wohl nicht gewohnt, dass sich Säufer und Abgestürzte für das tägliche Geschehen außerhalb deren Welt interessierten. Aber er war nun mal kein gewöhnlicher Säufer, mochte er auch so wirken. Irgendwann würde er auferstehen, wie Phoenix aus der Asche und sich sein Leben zurückholen.
Er trug seine Errungenschaften etappenweise aus dem Laden und lud sie in seinen Wagen. Als er an der Tür vorbei in Richtung Bahnhofstoilette weiter marschierte, sah er im Augenwinkel, wie der Chinese seinen kleinen Kopf schüttelte. Dieser mickrige Mistkerl musste wirklich aufpassen, dass er ihn ihm nicht irgendwann doch noch zertrümmerte.
Er lief noch ein paar Schritte, bevor er stehen blieb. Suchend ließ er seinen Blick durch die unterirdische Vorhalle des Bahnhofs gleiten. Vor zwei Wochen etwa hatte ihn nach seinem Einkauf, ein junger Kerl angesprochen. Zuerst war es nur um eine Zigarette gegangen, die er sich schnorren wollte, doch bald merkte der Mann aus 206 wie er ihn immer tiefer in ein Gespräch verwickelte. Zuerst ging es um Musik, dann um Mädchen und schließlich, als der Mann aus 206 ihn von sich stieß, damit er ihn endlich in Ruhe ließ, hatte ihm der durchsichtige Junge eine Frage gestellt, der er sich nicht entziehen konnte.
»Wie lange ist es her, dass du so richtig glücklich warst?« Der Mann aus 206 war abrupt stehen geblieben. Die Frage drang tief in ihn ein. Er stand sicher einige Minuten da und Bilder liefen vor ihm ab. Sein Zuhause blitzte auf, seine Tochter, seine Arbeit, seine Frau...
Als ein Pärchen laut zankend die Treppe ins Untergeschoß herunterkam, wurde er unsanft in seine heutige Realität zurückgerissen. Sein Blick wanderte an den grauen Fliesen entlang über eine blinkende Neonreklame hinweg und blieb schließlich an Kotze und Müll auf dem Boden hängen. Er musste aufstoßen, so sehr rumorte die Erkenntnis in ihm, wie anders sein Leben gewesen war und wo er tatsächlich gelandet war. Der junge Mann hatte die ganze Zeit ruhig neben ihm gestanden und gewartet.