Das Grab im Schnee - Connie Roters - E-Book

Das Grab im Schnee E-Book

Connie Roters

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Beschreibung

Winter in Berlin. In einer Kleingartenkolonie wird eine junge Frau tot aufgefunden. Sie war die Assistentin eines bekannten Showmasters und, wie es scheint, die Geliebte seines Konkurrenten. Wurde sie Opfer der Intrigen und Eitelkeiten des TV- und Filmbetriebs? Warum wurde die Leiche aber so sorgsam abgelegt und auffällig drapiert? Kommissar Breschnow und sein Team stoßen bei ihren Ermittlungen im Umfeld der Toten auf ein Geflecht aus Lügen und Schweigen. Als bald darauf eine zweite Leiche mit geöffneten Pulsadern im Schnee gefunden wird, ist klar: Der Fall ist abgründiger als gedacht und führt das Team schließlich zu einem ungesühnten Verbrechen in der Vergangenheit...

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Für Elke und Waltraut.Was uns ganz sicher bleibt, ist die Vergänglichkeit.

ISBN 978-3-8270-7833-9November 2015Deutschsprachige Ausgabe:© 2015 Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/BerlinCovergestaltung: ZERO Werbeagentur, MünchenCovermotiv: © Mauritius images/BY, plainpicture/BYDatenkonvertierung: psb, BerlinSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Berlin Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Zuerst hatte sie geschrien. Aber nach den Schlägen war sie verstummt.
Jetzt hörte er sie weinen.
Sie hatten das Mädchen hinter der verfallenen Scheune getroffen. Es war der letzte Tag der Sommerferien und sie wartete dort auf ihre einzige Freundin. Kurz danach zog sie allein mit den großen Jungs in Richtung Dorfausgang. Ihn hatten sie nach Hause geschickt. Er sei noch zu jung, um an den geheimen Ort zu gehen.
Aber er war ihnen heimlich gefolgt.
Durch die Äste hindurch sah er die Jungs. Breitbeinig standen sie über ihr. Sie rissen dem Mädchen die Hosen herunter. Einer von ihnen packte ihre Beine und drückte sie auseinander, der andere legte sich auf sie.
Er hörte das Stöhnen des Jungen und das Schluchzen des Mädchens. Es erregte ihn und er schämte sich dafür.
Das Mädchen drehte den Kopf, blickte in seine Richtung und sah ihn Hilfe suchend an. Er erschrak und schlich leise rückwärts aus dem Gebüsch heraus. Ein Ast knackte und er erstarrte.
Niemand hatte ihn gehört.
Erleichtert rannte er zurück ins Dorf.

MONTAG

Ein schöner Winter, dachte sie und blickte in den Garten. Der Schnee hatte alle Konturen verwischt und Rasen und Beete zugedeckt. Kleine geheimnisvolle Hügel waren entstanden und sie bedauerte, dass es nicht so bleiben würde.

Ihr Blick folgte einer Amsel, die sich zögernd der Terrasse näherte. Der Vogel verharrte einen Moment, taxierte sie mit schwarzen Augen und schnappte sich dann blitzschnell eines der Körner, die sie heute Morgen verstreut hatte. Sie lächelte und sah ihm nach, wie er davonflog und sich mit seiner Beute auf der Tannenspitze niederließ. Schnee rieselte herab, lautlos wie Federn. Ihr Blick glitt von der Tanne zum Himmel, der sich verfinstert hatte. Bald würde es wieder schneien und sie konnte es kaum erwarten.

Ein lautes Klacken ließ sie zusammenzucken. Der Wasserkocher hatte sich abgestellt. Unwillig verließ sie ihren Platz am Fenster und durchquerte die Küche. Sie griff den Topf, goss das heiße Wasser in die Teekanne und schwenkte sie aus.

Ihr Mann hatte heute Morgen versprochen, zum Tee zu Hause zu sein, und sie hatte noch nicht entschieden, ob sie den Tisch in der Küche oder im Wohnzimmer decken sollte.

Ihr Blick streifte die Uhr. Sie hatte noch Zeit. Zufrieden schlenderte sie zurück zum Fenster. Jetzt schneite es. Sie öffnete die Terrassentür, sog die frische kalte Luft ein und trat hinaus. Im Schnee sah sie die kleinen Tapse der Amsel. Noch hatte der neue Schnee sie nicht verdeckt. Sie lächelte und folgte ihnen weiter hinein in den Garten. Ihre Hausschuhe tranken den Schnee und hingen kalt und schwer an den Füßen. Aus der Ferne hörte sie das Klingeln des Telefons. Sie erwog, es einfach klingeln zu lassen, hielt es dann aber nicht aus und eilte zurück ins Haus.

Als sie die Küche erreichte, verstummte der Ton. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein und sie hörte die Stimme ihrer Tochter.

»Mama?«

Sie versuchte zu rennen, rutschte auf dem glatten Steinboden aus und hielt sich an der Küchenkommode fest.

»Mama«, schluchzte ihre Tochter.

»Mama, es ist so kalt.«

Endlich erreichte sie das Telefon und riss den Hörer vom Apparat.

»Nina, mein Kind.«

Am anderen Ende blieb es still.

»Nina? Nina, was ist los?«

Es klackte leise, dann kam das Freizeichen.

Mit zitternden Händen hielt sie den Hörer vor ihr Gesicht und starrte ihn ungläubig an. Dann legte sie ihn vorsichtig zurück auf die Gabel und ließ sich auf das Telefonbänkchen sinken. Ihr Blick glitt zu der alten Standuhr. In einer halben Stunde würde ihr Mann nach Hause kommen.

Sie legte ihre Hände übereinander in den Schoß und wartete.

Die Amsel flog von der Tannenspitze herunter und schnappte sich ein weiteres Korn.

***

Eine schwarze Limousine kreuzte seinen Weg und er trat hart auf die Bremse. Der alte VW schlingerte auf der verschneiten Straße, aber Breschnow hielt dagegen und hatte ihn kurz danach wieder im Griff. Er fluchte und fingerte nach seinen Zigaretten auf dem Beifahrersitz. Die Limousine hatte ihm die Vorfahrt genommen, aber sicher war er sich nicht. Er war für eine Zehntelsekunde am Steuer eingenickt. Er steckte die Zigarette zwischen die Lippen und beugte sich ein wenig vor, um das Handschuhfach zu öffnen. Der Flachmann blitzte kurz im Licht der Straßenlaterne. Er nahm ihn heraus, klemmte ihn zwischen die Oberschenkel und schraubte den Verschluss auf. Kurz nahm er auch die linke Hand vom Steuer und die Zigarette aus dem Mund, setzte den Flachmann an und trank. Danach wischte er sich mit dem Handrücken über die Lippen und warf die leere Flasche auf die Rückbank.

Er gähnte und streckte den schmerzenden Rücken. Die vergangenen fünf Nächte, die er am Krankenbett seiner Nichte Mona verbracht hatte, steckten ihm in den Knochen. Das fünfjährige Kind lag mit hohem Fieber auf der Intensivstation und die Ärzte waren ratlos. Vorhin waren ihm im Sitzen die Augen zugefallen und seine Schwester hatte ihn aus dem Zimmer gejagt und ihm befohlen, dass er endlich mal wieder schlafen müsse. Als er nicht gehen wollte, hatte sie gedroht, ihn vom Sicherheitsdienst hinauswerfen zu lassen.

Sein Handy klingelte. Er fingerte es aus der Jackentasche und lenkte mit einer Hand.

»Paul hier.«

Breschnow grunzte.

»Du hast wieder die Lesung vergessen?«

»Hmm.«

»Stefan, das ist das zweite Mal. Die Leute kommen wegen dir und ich …«

Er ließ den Satz unvollendet.

»Du hast was gut bei mir«, knurrte Breschnow.

»Dann will ich, dass du beim Lyrikfestival liest.«

Breschnow stöhnte. »Das haben wir doch schon tausendmal durchdiskutiert. Ich kann das nicht.«

»Ich hab was gut bei dir, schon vergessen? Lass dir was einfallen.«

»Ich könnte mit Burka lesen«, schlug Breschnow vor.

Sein Freund lachte. »Gute Idee!«, sagte er und legte auf.

Breschnow warf das Handy auf den Beifahrersitz und zündete sich noch eine Zigarette an.

»Verdammter Mist«, schrie er und schlug mit der flachen Hand gegen das Lenkrad. »Verdammtes Festival!«

Der Wagen zuckte kurz nach links und die Zigarette fiel auf den Boden. Er trat sie aus. Vor ihm trödelte ein Golf. Er ging vom Gas, und überlegte, ob es Burkas für ein Meter neunzig große Menschen gab.

Sein Handy klingelte wieder.

»Gibt’s was Neues von Mona?«, erkundigte sich seine Kollegin.

»Nein, ich bin auf dem Weg nach Hause.«

»Du musst zum Revier kommen.«

»Wieso?«

»Eine Vermisstenmeldung«, antwortete Regina.

»Vermisstenmeldung?«

»Ja, Nina Sebastian. Die Eltern haben einen Anruf bekommen und es klingt, als ob die Tochter … Komm einfach her und hör’s dir an.«

Sie legte auf.

Er wendete den Wagen und schaltete das Radio an, hoffte, dass die Musik ihn wach halten würde. Sie spielten »Radar Love«, einen Hit aus seiner Jugend. Er drehte auf und grölte mit.

***

Lautlos glitt die Limousine durch die Nacht. Karsten Movara lehnte im Fond und starrte auf den Nacken seines Fahrers. Ein ruhiger Mann, das mochte er. Nur vorhin, als der VW fast in sie hineingefahren wäre, war er ein wenig nervös geworden. Das hatte er an dem Blick gesehen, mit dem er sich umgedreht hatte, um zu sehen, ob im Fond alles in Ordnung war.

Sie fuhren stadtauswärts. Nach und nach erstarb das quirlige Treiben der Großstadt, der Verkehr wurde lichter, die Straßen dunkler und menschenleer. Es hatte wieder zu schneien begonnen, kleine eisige Flöckchen trieben im Wind. Er mochte diese Jahreszeit. Der Januar in diesem Jahr war besonders schön. Es war bitterkalt, schneite oft und Hochnebel ließ die Tage trübe vergehen. Die dunklen Monate gaben ihm Ruhe und Konzentration.

Sie stoppten vor einer Villa im Bachstelzenweg im südlichen Dahlem. Der Chauffeur hielt die Fernbedienung aus dem Fenster, das schmiedeeiserne Tor glitt langsam zur Seite und gab den Weg zur Auffahrt frei. Movaras Grundstück war das kleinste in der Nachbarschaft, genauso wie sein Haus. Aber mehr konnte er sich mit seiner Show nicht leisten. Noch nicht.

Sie hielten vor dem roten Klinkerbau mit den mahagonifarbenen Holztüren und Fenstern. Der Fahrer sprang aus dem Wagen, öffnete mit einer leichten Verbeugung die Tür und spannte einen Schirm auf. Movara stieg aus, ließ sich zum Eingang begleiten und befahl dem Mann, ihn am nächsten Morgen um neun Uhr abzuholen. Der Chauffeur nickte und verabschiedete sich höflich.

Movara betrat die geräumige Eingangshalle seiner Villa, die leicht nach Parfüm roch. Der Fußboden war mit weißem Marmor gefliest, von dem jeder Schritt widerhallte. Auch die Wände waren weiß gestrichen und betonten die Größe des fast unmöblierten Eingangsbereichs. Rechts und links führten geschwungene schwarze Marmortreppen in den ersten Stock hinauf. Er hob den Kopf und sah wie immer seine Frau auf der Empore stehen. Von ihrer Schönheit fasziniert, starrte er sie an. Sie trug ihr schulterlanges schwarzes Haar offen, ihre Haut war hell und eben, ihre Augen tiefblau.

Wie Schneewittchen, dachte er.

Und wer bin ich? Der Zwerg?

Der Gedanke nährte seine immerwährende Wut auf seine ein Meter achtundsechzig. Er bemühte sich, ihn sofort zu verdrängen und lächelte.

»Nadine, willst du nicht herunterkommen und mir bei einem Glas Wein Gesellschaft leisten?«

»Wenn du das möchtest.«

Langsam schritt sie die Treppe hinab. Sie trug ein eng anliegendes rotes Kostüm, dazu die passenden Pumps und eine schwarze Kette. Sie humpelte leicht, hatte sich bei einem Sturz die Hüfte verletzt.

Er nahm sie kurz in den Arm, roch an ihrem Haar und gab ihr einen Kuss auf die rechte Wange. Nadine hakte sich bei ihm ein und sie schlenderten gemeinsam ins Wohnzimmer. Dort löste sie sich behutsam, nahm eine Karaffe Rotwein und zwei Kristallgläser von der Anrichte und drehte sich zu ihm hin.

»Die Haushälterin ist schon gegangen«, sagte sie. »Ich habe sie nach Hause geschickt. Frau …«

Er fiel ihr ins Wort. »Keine Namen, mein Schatz. Das macht die Beziehung zu den Hausangestellten zu persönlich.«

Nadine lächelte. »Frau Kurca ist erkältet und ich möchte mich nicht anstecken.«

Er bedachte sie mit einem missbilligenden Blick und deutete auf das Sofa. »Setz dich doch.«

Noch immer lächelnd, ging sie eng an ihm vorbei, reichte ihm die Karaffe und ein Glas, ließ sich langsam auf das weiße Sofa gleiten und schlug die Beine übereinander.

Er stellte sich vor sie hin. »Wie war dein Tag?«

»Nichts Besonderes«, antwortete sie beiläufig und sah zu ihm hoch. »Und bei dir?«

»Ich habe heute meinen neuen Raum bezogen. Meine Assistentin hat ihn geschmackvoll eingerichtet.«

Er goss zuerst ihr, dann sich selbst Wein ein, stellte die Karaffe auf das Marmortischchen und ging zum Kamin. Dort hatte die Haushälterin ein Feuer angezündet und das Holz knisterte laut. Er setzte sich in einen der beiden Sessel und gab Nadine ein Zeichen, sich in den anderen zu setzen. Sie folgte widerspruchslos. Als sie saß, griff er ihre Hand, drückte sie leicht und prostete ihr zu.

***

Der neue Club in Mitte war wie immer am Montagabend hoffnungslos überfüllt. Firstday – die ersten zwei Getränke zum halben Preis.

Die Bässe dröhnten aus den Lautsprechern und Cosma hatte das Gefühl, ihr Herz dröhnte mit. Sie konnte sich auf der überfüllten Tanzfläche kaum bewegen und wunderte sich, warum sie trotzdem jeden Montag wieder hierherkam. Aus den Augenwinkeln sah sie einen jungen Mann mit schwarzer Jeans und weißem Hemd. Automatisch verdeckte sie mit der Hand ihre linke Gesichtshälfte mit dem Tattoo, eine kleine grünbraune Echse, die sich von den Wangenknochen bis hoch zur Schläfe zog, und sah sich noch einmal um. Hauptkommissar Drass war nicht mehr zu sehen. Sie atmete erleichtert auf.

Bei dem nächsten Versuch zu tanzen rempelte sie eine Frau mit High Heels an, die ihr als Reaktion die spitzen Ellbogen in die Rippen stieß. Entnervt gab Cosma auf und kämpfte sich entschlossen durch die Menge zum Rand der Tanzfläche, wo sie ihren besten Freund Robert vermutete. Sie entdeckte ihn mit seinem Mann ins Gespräch vertieft in einer der Nischen, die die Tanzfläche umrundeten, und wunderte sich, dass die beiden sich bei diesem Krach überhaupt verständigen konnten. Sie bahnte sich einen Weg durch die Grüppchen und stellte sich vor die Nische. Robert sah kurz auf, lächelte und reichte ihr ein Bier. Dankbar drückte sie sich die kühle Flasche ins Gesicht, warf ihm einen Kuss zu und trank. Dann drehte sie sich wieder der Tanzfläche zu und suchte den Raum nach Nina ab. Ihre Kollegin war vor drei Wochen neunzehn geworden und wollte heute mit ihr nachfeiern. Nina war die Assistentin eines anderen Showmasters, aber im Gegensatz zu ihr war sie stolz darauf, denn sie liebte das Showbusiness.

Am Anfang habe ich mich auch toll gefühlt, dachte Cosma. Assistentin von Karsten Movara, all die wichtigen Leute …

Aber dann hatte sie die Wirklichkeit eingeholt. Als Assistentin war sie nur Mädchen für alles. Sie kochte Movaras Kaffee, sie kaufte den Wein, sie schmierte seine Brötchen oder besorgte ihm Pizza, wenn er sich proletarisch geben wollte. Sie telefonierte, vereinbarte die Termine und sagte sie auch wieder ab, wenn er unpässlich war. Sie hörte sich seine Klagen über die Welt im Allgemeinen und das Showbusiness im Besonderen an und ertrug seine Eitelkeit.

Anfangs war er noch aufmerksam gewesen, aber inzwischen war sie seine unsichtbare Rund-um-die-Uhr-Assistentin geworden. Er gab Befehle und ignorierte sie ansonsten, was auf lange Sicht hin gesehen vielleicht auch Vorteile haben würde. Weil sie für ihn nicht existierte, erfuhr sie all seine schmutzigen Geheimnisse. Er telefonierte mit Prostituierten, surfte auf Pornoseiten und tratschte ungeniert über andere Größen des Showgeschäfts.

Vielleicht würde sie eines Tages ein Buch über ihn schreiben. Das gab ihr ein Ziel und die Kraft, diese elende Sklaverei stoisch zu ertragen. Außerdem brauchte sie das Geld und wusste im Moment nicht, womit sie es sich sonst verdienen sollte. Als Journalistin war sie vorerst gescheitert. Sie hatte sich immer wieder mit den falschen Leuten angelegt, sich hinter ihrem Zorn verschanzt, um ihre Unsicherheit nicht spüren zu müssen und die Angst, die seit jener traumatischen Nacht ihre ständige Begleiterin geworden war.

Cosma sah noch einmal auf die Uhr, schob sich mühsam zurück auf die Tanzfläche und versuchte das ungute Gefühl, das sie beschlichen hatte, wegzutanzen.

Nina war noch nie zu spät gekommen.

***

Endlich erreichte er das Polizeipräsidium am Columbiadamm, bog in die Golßener Straße ab und stoppte vor der Schranke. Sein alter dunkelblauer Passat war hier bekannt und meistens hob sich der Hebebalken quasi von selbst. Aber heute tat ein ihm unbekanntes Gesicht Dienst. Der junge Wachhabende in seiner gefütterten, unförmigen Dienstjacke streckte den Arm aus, um Breschnows Ausweis zu kontrollieren, und starrte ihn dabei an, als ob er sich das verknitterte Gesicht des Kriminalhauptkommissars für immer einprägen wollte. Dann trat er plötzlich einen Schritt zur Seite und öffnete die Schranke. Breschnow ließ den Wagen langsam auf den verschneiten Parkplatz des Präsidiums rollen. Als er ausstieg, überraschte ihn eine ungewöhnliche Stille.

Der Schnee dämpft die Geräusche, dachte er und dass er das jedes Jahr dachte.

Weiter hinten auf dem Gelände sah er den Hausmeister Schnee schippen. Er winkte ihm zu, eilte zum Hintereingang des Gebäudes und drückte die schwere Tür auf. Der kleine Flur und die daran anschließende Eingangshalle waren menschenleer. Der Hall seiner Schritte auf den kalten Steinfliesen klang hart. Er ließ den Aufzug rechts liegen, nahm die Treppe in den ersten Stock und hastete den langen Gang der Mordkommission entlang.

Die Tür zum Besprechungsraum war nur angelehnt und ließ einen Spalt Licht in den dunklen Flur. Breschnow konnte drei Stimmen unterscheiden, die sich leise unterhielten, und trat ein. Seine Kollegin Delego saß an einem der weißen Resopaltische, die zu einem Rechteck aufgestellt waren, und begrüßte ihn. Sie hatte sich Perlen in ihre schwarzen krausen Haare geflochten und trug ein dunkelrotes Samtkleid. Vor ihr stand ein schwarzes Abspielgerät, neben ihr saß ein junger Mann aus der kriminaltechnischen Abteilung. Er trug trotz der Kälte nur ein kurzärmeliges T-Shirt und sprang auf, um ihn mit Handschlag zu begrüßen. Breschnow klopfte ihm auf die Schulter und sah zu dem zweiten Mann im Raum. Der Uniformierte lehnte am Fensterbrett und nickte ihm zu.

Breschnow setzte sich an das Kopfende der Tische und deutete auf Delegos Kaffee. »Gibt’s noch welchen?«

Sie schüttelte den Kopf und schob ihm ihren halb vollen Becher zu. Er leerte ihn in einem Zug und wandte sich an den Techniker.

»Also, was habt ihr?«

Bevor der junge Mann antworten konnte, hatte sich der Uniformierte neben Breschnow gestellt und las von einem Zettel ab: »Um 17:30 Uhr ging ein Anruf in der Zentrale ein. Ein Herr Sebastian wollte seine Tochter Nina als vermisst melden.«

»Wie lange ist sie schon weg?«

»Das konnte er nicht sagen. Sie wohnt nicht mehr zu Hause.«

Breschnow sah ihn fragend an.

»Am Telefon sagte der Mann, dass seine Tochter eine halbe Stunde vorher angerufen hatte. Der Anrufbeantworter ist angesprungen, weil seine Frau nicht schnell genug am Apparat gewesen war. Wir haben den Fall dann an die Vermisstenabteilung weitergeleitet.«

»Und wieso haben die ihn nicht bearbeitet?«, fragte Breschnow den Kriminaltechniker.

»Sie haben sich besprochen und dann mich hinzugezogen. Wegen der Aufzeichnung. Sie dachten, dass das Mädchen vielleicht …, ach, hör es dir selber an. Und sie mussten noch auf ihren Vorgesetzten warten. Deswegen hat sich das alles etwas verzögert.«

Breschnow grinste. »War er auf dem Tennisplatz?«

»So ungefähr.«

»Und du hast das Telefonat mitgebracht?«

Der Techniker nickte und deutete auf das Abspielgerät. Breschnow lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und gab ihm ein Zeichen zu starten.

»Mama?«

Die leise Frauenstimme füllte den Raum und Breschnow hielt unwillkürlich die Luft an.

»Mama«, schluchzte die Stimme.

»Mama, es ist so kalt.«

Dann brach die Aufnahme ab.

»Ist das alles?«

Der Techniker nickte.

»Und ihr habt gedacht, dass sie bei uns besser aufgehoben ist.«

»So wie sie sich anhört, könnten sie recht haben«, sagte Delego.

Breschnow ließ sich die Aufnahme noch einmal vorspielen. Danach starrte er schweigend auf den kleinen schwarzen Apparat, bis der Uniformierte sich räusperte und fragte, ob er jetzt gehen könne. Breschnow nickte. Nach einer Weile verabschiedete sich auch der Techniker und Delego stand auf und schloss die Tür hinter ihm.

»Wo ist Regina?«, fragte Breschnow.

»Weiß ich nicht. Sie hat mich gebeten, sie abzulösen. Irgendwas Dringendes. Aber sie war noch im Haus, als die Vermisstenabteilung angerufen hat.« Sie sah an sich herunter. »Eigentlich wollte ich gerade ausgehen.«

Delego setzte sich wieder und ließ das Band noch einmal durchlaufen. Breschnow griff nach dem Zettel mit der Adresse und sprang auf.

»Wir fahren hin«, entschied er und eilte zur Tür.

***

»Schatz, lass uns hochgehen«, sagte Karsten Movara und stellte sich vor seine Frau.

Nadine blickte zu ihm auf und nickte. Das Feuer war fast heruntergebrannt, nur ein Scheit glimmte noch schwach und verströmte einen letzten Rest Wärme.

Movara ließ den letzten Schluck Wein genießerisch durch die Kehle rinnen und hielt seiner Frau die Hand hin. Der gemeinsame Abend hatte ihm Kraft gegeben und seine Lust geweckt. Er freute sich auf die Nacht, die vor ihm lag.

Er war schon länger nicht mehr allein mit seiner Frau zu Hause gewesen. Meistens nahmen sie die unentwegt eintreffenden Einladungen wahr und fielen danach erschöpft ins Bett. Die langweiligen Dinnerpartys in der Nachbarschaft reihten sich an die nicht minder ereignislosen Geburtstagsfeiern der Kollegen. Und dann gab es natürlich noch die Gelegenheiten, bei denen man sich zeigen musste. Die Opernaufführung für den guten Zweck, die Gala gegen Aids, der Presseball.

Nadine streckte sich wie eine Katze, griff seine Hand und ließ sich von ihm hochziehen. Eine Sekunde lang konnte er ihr Parfüm riechen, bevor sie sich von ihm wegdrehte und den Flur entlangschlenderte. Er ging ihr nach und nahm sie bei der Hand.

Wie zwei frisch Verliebte, dachte er.

Vor den Treppen trennten sie sich. Die rechte führte zu ihrem, die linke zu seinem Bad. Er beugte sich zu ihr, berührte mit seinen Lippen fast ihr Ohr und flüsterte:

»Heute wünsche ich mir das Schulmädchen.«

Sie nickte kaum merklich, löste ihre Hand von seiner und stieg langsam die Treppen hinauf. Er sah ihr sehnsuchtsvoll hinterher, bis sie in ihrem Bad verschwand.

Nadine schloss die Tür, atmete aus und lehnte einen Moment an dem kühlen Holz, bevor sie sich die Kleider auszog und sich unter die Dusche stellte. Das Wasser umspielte ihren wohlgeformten Körper und entspannte sie ein wenig. Sie seifte sich sorgfältig ein und wusch sich die Haare. Durch das Wasserrauschen hindurch hörte sie sein ungeduldiges Klopfen und seufzte. Langsam drehte sie den Hahn zu, stieg aus der Dusche, trocknete sich sorgfältig ab und föhnte sich die Haare. Das Klopfen wurde fordernder und sie verzichtete auf das Eincremen. Stattdessen betrat sie den begehbaren Kleiderschrank und nahm die frisch gewaschene und gestärkte Schuluniform vom Bügel. Sie zog sie über den nackten Körper, stellte sich vor den Spiegel, flocht sich zwei ebenmäßige Zöpfe und zog die flachen schwarzen Lackschuhe an. Prüfend drehte sie sich um ihre eigene Achse und betrachtete sich dabei im Spiegel. Sie war zufrieden mit dem, was sie sah.

Dann öffnete sie langsam die Tür zum Schlafraum.

Das Zimmer lag zwischen ihren Bädern und Ankleideräumen. Es war mit einem dicken hellblauen Teppichboden ausgelegt, der alle Laufgeräusche erstickte, und die Wände strahlten in einem frischen, mit Silberglanz durchsetzten Apricotton. Eine geschwungene Stuckleiste zierte den Rand der Zimmerdecke und verband die vier Putten, die in den Ecken saßen und neckisch heruntersahen. Von der Deckenmitte hing, in eine Stuckrosette eingebettet, ein festlicher Kristallleuchter. Er gab dem Raum ein warmes Licht und beleuchtete das riesige Bett darunter. Das Podest war aus Kirschholz und seine Umrundung mit unzähligen in Handarbeit gefertigten Schnitzereien verziert. Die vier vergoldeten Säulen an den Ecken hielten einen mit Fresken bemalten Baldachin. Die goldene Bettwäsche schimmerte im Licht der überall im Raum verteilten Kerzen.

Karsten Movara erhob sich langsam und ging lächelnd auf sie zu. Sie sah die Lust in seinen Augen, spürte die Gänsehaut auf ihren Armen und atmete tief ein. Er streckte beide Hände nach ihr aus.

»Komm zu mir, meine Kleine, und erzähl mir von deinem ersten Schultag«, flüsterte er zärtlich.

***

»Durch die Stadt oder über die Autobahn?«, fragte Breschnow, als sie vor seinem Wagen standen.

»Seit wann fragst du mich?«, antwortete Delego überrascht und musterte den klapprigen Passat skeptisch. »Sollen wir nicht lieber meinen nehmen?«

»Stadt oder Autobahn?«, ignorierte Breschnow sie und schloss die Türen auf.

»Die Autobahn ist wahrscheinlich schneller«, sagte Delego und ließ sich seufzend auf den Beifahrersitz sinken.

Breschnow fummelte am Schloss der Fahrertür herum und fluchte leise, bis es knackte und die Tür aufsprang. Dann ließ er sich in den Sitz fallen und deutete mit dem Zeigefinger auf ihren Schoß.

»Du sitzt gerade meine Zigaretten platt.«

Delego zuckte die Achseln, zog die zerknüllte Zigarettenpackung unter ihrem Hintern hervor und legte sie auf das Armaturenbrett. Breschnow startete den Wagen, gab zweimal kräftig im Stand Gas und rollte vom Hof. Er bog rechts in den Columbiadamm ab, fuhr um den ehemaligen Flughafen herum und auf dem Tempelhofer Damm bis zur Auffahrt zur Stadtautobahn. Es waren nur wenige Fahrzeuge unterwegs und die Straßen schneefrei. Breschnow beschleunigte auf neunzig und hielt das Tempo, Delego starrte aus dem Fenster.

»Du siehst müde aus«, sagte sie nach einer Weile, ohne ihn anzusehen.

Breschnow brummte eine Antwort, die sie nicht verstand, und sie traute sich nicht, nachzufragen. Verstohlen musterte sie ihren Chef von der Seite. Sein faltiges Gesicht schien heute noch zerfurchter und wirkte fast grau im fahlen Licht der Straßenlaternen. Die müden grünen Augen waren untermalt von schwarzen Augenringen und um seinen Mund lag ein angestrengter Zug, den er sonst nicht hatte. Er schien ihren Blick nicht zu bemerken und starrte konzentriert auf die Fahrbahn. In seiner rechten Hand brannte eine Zigarette. Delego lehnte sich tiefer in den Sitz.

Eine halbe Stunde später lenkte Breschnow den Wagen auf die Ausfahrt Waidmannsluster Damm und fuhr weiter in Richtung Lübars auf die Landstraße nach Schildow. Sie durchquerten den kleinen Dorfkern und holperten über ein altes Kopfsteinpflaster und eine unbefestigte Piste zur Victoriastraße. Das Auto rutschte auf dem schneebedeckten Weg hin und her und Breschnow drosselte das Tempo.

Verdammte Sommerreifen, dachte er.

»Zu Fuß wären wir schneller«, stellte Delego fest und lotste ihn durch die Hausnummern. »Hier ist es.«

Sie hielten vor einem kleinen alten Herrenhaus aus der Zeit der Jahrhundertwende. Breschnow stieg aus und streckte sich. Die kalte Luft roch gut und er atmete tief ein.

Noch bevor sie die Haustür erreicht hatten, wurde sie aufgerissen und ein Mann um die fünfzig stand im Türrahmen. Er trug einen dunkelbraunen Anzug und ein rostrotes Hemd. Maßanzug, dachte Breschnow.

»Sie kommen spät«, beschwerte sich der Mann.

Breschnow hielt ihm seinen Dienstausweis unter die Nase.

»Ich bin Hauptkommissar Breschnow und das ist Kommissarin Delego. Und wer sind Sie?«

Der Mann winkte sie, ohne einen Blick auf die Dienstausweise zu werfen, ungeduldig ins Haus. Sie gelangten in einen kleinen Windfang und anschließend in einen Flur. Vor dem Anrufbeantworter stoppte er und deutete auf das Gerät.

»Ich bin Ninas Vater«, sagte er.

»Können wir?«, fragte Breschnow.

Herr Sebastian nickte und drückte auf den Abspielknopf.

Es knackte.

»Mama?«

»Mama«, schluchzte die Tochter.

Sie hielten die Luft an.

»Mama, es ist so kalt.«

Dann war es still.

Sie hörten, dass der Hörer abgenommen wurde.

»Nina, mein Kind«, sagte die Frau.

Wieder Stille.

»Nina? Nina, was ist los?«

Am anderen Ende klackte es leise, als die Leitung unterbrochen wurde.

»Ihre Frau hat sich noch gemeldet«, stellte Breschnow fest.

»Aber zu spät«, schluchzte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um. Frau Sebastian trug ein blaues Kostüm und schwarze Pumps.

Delego legte eine Hand auf ihre Schulter und redete tröstend auf sie ein.

»Gehen wir ins Wohnzimmer«, sagte Herr Sebastian und ging voran.

Der Raum war groß und sehr ordentlich. Breschnows Blick fiel auf einen Glasschrank mit kostbarem Porzellan und ein Bücherregal mit sehr alten Büchern. Der Fußboden war gekachelt und er spürte die Wärme der Fußbodenheizung durch die dicken Sohlen. Herr Sebastian war stehen geblieben und deutete auf die Sofagarnitur, die den Raum dominierte, schwarzes Leder in weißem Holz. Breschnow und Delego setzten sich auf die eine Seite, Herr Sebastian und seine Frau auf die andere.

»Wir nehmen den Anruf sehr ernst«, begann Breschnow mit Blick auf die Frau.

»Deswegen sind wir sofort gekommen«, ergänzte Delego.

Breschnows Blick wanderte zu dem Mann. »Wir möchten so viel wie möglich über Ihre Tochter erfahren.«

»Was heißt hier erfahren, Sie sollen sie suchen«, sagte Herr Sebastian ungehalten.

Seine Frau strich ihm beruhigend über den Arm.

»Wenn wir die Gewohnheiten und Freunde Ihrer Tochter kennen, ist es leichter, sie zu suchen«, fuhr Breschnow fort und sah dem Mann fest in die Augen. Er hielt seinem Blick stand.

»Aber nachher ist es vielleicht zu spät und …«

Herr Sebastian ließ den Satz unvollendet und legte den Arm um seine Frau, die leise schluchzte.

Breschnow räusperte sich. »Ihre Tochter ist neunzehn Jahre alt und bei Ihnen gemeldet. Hat sie hier gewohnt?«

Das Ehepaar wechselte einen Blick.

»Bis vor Kurzem war sie noch da«, murmelte die Frau.

»Wie meinen Sie das?«

»Unsere Tochter wohnt bei uns«, übernahm der Mann, »aber in den letzten Wochen war sie nicht mehr oft zu Hause.«

»Wo war sie?«

»Bei einer Freundin und Kollegin, hat sie gesagt. Nina arbeitet seit drei Monaten als Assistentin von Peter Polen.«

»Peter Polen?«, erkundigte sich Breschnow.

»Der Showmaster von ›Spielen und Gewinnen‹, die Quizshow«, antwortete Delego.

»Nina arbeitet also seit drei Monaten als Assistentin, wohnt aber erst seit wenigen Wochen nicht mehr hier. Ist das korrekt?«

Herr Sebastian nickte.

»Seit wann genau?«

Das Ehepaar sah sich an.

»Drei«, sagte die Frau.

»Vier«, sagte der Mann.

»Also, seit drei oder vier Wochen wohnt Ihre Tochter nicht mehr hier. Wissen Sie, warum?« Breschnow presste die Lippen fest aufeinander, um ein Gähnen zu unterdrücken. Die schlaflosen Nächte am Bett seiner Nichte forderten ihren Tribut.

»Nina sagte, dass sie eine neue Show vorbereiten müsste«, antwortete Frau Sebastian mit leiser Stimme. »Und deswegen wollte sie lieber in der Stadt schlafen … Wir wohnen ja auch wirklich weit draußen«, fügte sie entschuldigend hinzu.

»Kennen Sie den Namen der Kollegin?«

»Cosma«, antwortete Frau Sebastian.

Breschnow stöhnte leise, Delego warf ihm einen tadelnden Blick zu.

»Kennen Sie sie? Müssen wir uns Sorgen machen?«, erkundigte sich der Mann. Seine Stimme vibrierte leicht.

»Haben Sie auch einen Nachnamen?«, fragte Breschnow.

Die Eheleute schüttelten den Kopf.

»Nein, nur Cosma.«

»Wissen Sie, wo Cosma wohnt?«

»Sie wohnt in der Nähe des Studios. Nina sagte, dass sie nicht lange fahren müssten.«

»Die Studios in der Oberlandstraße?«

Frau Sebastian nickte.

Breschnow ließ den Stadtplan vor seinem inneren Auge auftauchen. Tempelhof, Kreuzberg und Neukölln.

Verdammtes Maybachufer. Nicht schon wieder, dachte er.

Delego musterte ihren Chef.

»Hat Ihre Tochter noch andere Freunde?«, fragte sie, als Breschnow stumm blieb.

»Es gibt eine kleine Clique hier in Schildow. Sie kennen sich schon seit der Schulzeit. Die meisten wohnen hier nicht mehr, sind in alle Winde verstreut und studieren, aber ab und zu kommen sie an den Wochenenden wieder zusammen.«

»Können Sie uns bitte die Namen aufschreiben?«, bat Delego.

»Jetzt gleich?«

Die Kommissarin nickte.

Frau Sebastian erhob sich langsam und verließ den Raum. Delego folgte ihr. Nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte, beugte sich der Mann vor und flüsterte.

»Es ist ihr doch nichts passiert, oder?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Breschnow, »aber ich verspreche Ihnen, dass wir alles tun werden, um sie zu finden.«

»Tot oder lebendig«, murmelte der Mann.

Breschnow nickte und wunderte sich über die Theatralik des Satzes. Fast hätte er ihn wiederholt.

Frau Sebastian kehrte zurück in den Raum und zeigte ihrem Mann die Liste. Er fügte noch einen Namen hinzu.

»Fällt Ihnen sonst noch irgendetwas ein, was wir wissen sollten?«, erkundigte sich Breschnow.

Das Ehepaar schüttelte erneut synchron den Kopf.

»Gut. Dann möchte ich jetzt ihr Zimmer sehen.«

»Wie viel Zeit wollen Sie denn noch verschwenden?«, schimpfte Herr Sebastian und sprang auf.

Breschnow folgte ihm hinaus in die Diele und die Treppe hoch in den ersten Stock.

Vom Flur oben gingen drei Türen ab. Das Elternschlafzimmer, das Bad und das Zimmer von Nina. Der Vater blieb vor der letzten Tür stehen und öffnete sie einen Spalt weit.

»Ich kann da jetzt nicht rein«, sagte er.

Breschnow nickte und zwängte sich an ihm vorbei. Das kleine Zimmer strahlte eine wohlige Wärme aus. Die meisten Möbel und der Fußboden waren aus hellem Holz, die Wände in einem leichten altrosa Ton gestrichen. Vor dem Fenster stand ein schmales Bett mit einigen Kuscheltieren, am Kopfende eine rosa gestrichene Kommode mit einem Spiegel, einem Schminktablett und einem silbernen Fotorahmen. Breschnow kämpfte erneut gegen ein Gähnen an und griff nach dem Bild. Es zeigte zwei junge Frauen, lachend, eine schwarzhaarig, die andere blond.

»Welche ist Ihre Tochter?«

»Die Dunkelhaarige, die andere ist ihre beste Freundin.«

»Wie heißt die Freundin?

»Knöller, Barbara Knöller.«

»Wann wurde das Foto gemacht?«

»Ich glaube, im Oktober. Barbara war zu Besuch.«

»Ich brauche ein aktuelles Foto für die Suche. Kann ich das hier mitnehmen?«

Herr Sebastian nickte und Breschnow ließ den Rahmen in seiner Jackentasche verschwinden. Dann ging er zu dem Kleiderschrank im hinteren Winkel des Zimmers und öffnete die schwere Tür. Das Möbelstück war alt und massiv, sein Inneres mit kleinen Wurmlöchern durchsetzt. Ninas Kleidung lag ordentlich zusammengelegt in den vier Regalen. Auf dem Boden standen ein Paar weiße Turnschuhe und ein Paar feste Wanderschuhe.

»Ist Ihre Tochter gerne gewandert?«, erkundigte sich Breschnow.

»Ja, auch mit uns. Erst vor vier Wochen waren wir im Elbsandsteingebirge.«

Breschnow sah sich die Garderobe an. »Und sie hat Wert auf Klamotten gelegt?«

Herr Sebastian nickte. Er war nun doch ins Zimmer getreten und betrachtete es, als ob er es zum ersten Mal sähe.

»Wo hat sie ihre Notizen aufbewahrt? Ich sehe hier keinen Schreibtisch.«

Der Vater deutete auf eine schmale Tür.

Breschnow öffnete sie und blickte in eine geräumige Kammer mit zwei Regalen, die bis zur Decke reichten. Die meisten Sachen waren in bunten Kartons verstaut. Er fand Wolle, Stoffe, Fotos, Kerzen und Andenken, die wahrscheinlich nur der Besitzerin etwas sagten.

»Den würde ich gerne mitnehmen«, sagte er und deutete auf den Fotokarton.

»Das geht nicht«, sagte Herr Sebastian, »da ist ihr Leben drin.«

»Eben deshalb«, erklärte Breschnow. »Ich bringe ihn hundertprozentig wieder zurück.«

Er ging in die Hocke, warf einen Blick auf die Aktenordner im untersten Regal, blätterte sie oberflächlich durch und entschied, dass Delego sie sich später sorgfältig ansehen sollte. Dann warf er einen letzten Blick auf die Regale und verließ rückwärts die Kammer.

»Sie hat gar keine Bücher«, stellte er fest, nachdem er sich noch einmal im Zimmer umgesehen hatte.

»Sie hat lieber Fernsehen geschaut«, antwortete Herr Sebastian, der jetzt wieder im Türrahmen stand.

Breschnow schob sich mit dem Karton an ihm vorbei.

Frau Sebastian wartete am Fuß der Treppe.

Sie sehen sich sehr ähnlich, dachte Breschnow, Nina Sebastian mit vierzig. Aber wird sie das überhaupt noch? Oder finden wir sie …

Er schnitt diesen Gedanken rabiat ab und hielt den Karton hoch. »Soll ich Ihnen quittieren, dass wir den mitnehmen?«

Frau Sebastian schüttelte den Kopf. »Sie können den Karton behalten«, flüsterte sie. »Bringen Sie mir lieber meine Kleine wieder nach Hause.«

Schluchzend griff sie nach dem Arm ihres Mannes. Breschnow und Delego verließen schnell das Haus.

***

Als er das Dorf erreichte, sah er, dass ihre Freundin auf der Bank am Platz wartete. Er ging zu ihr hin und setzte sich neben sie. Sie fragte ihn nach dem Mädchen. Er errötete und sie lachte ihn aus.

Nach einer Weile ging er nach Hause. Seine Eltern waren noch nicht da. Oben in seinem Zimmer legte er eine Platte auf. Er hörte immer dieselben Scheiben. Dann legte er sich auf sein Bett, dachte an das Mädchen und spürte die Erregung.

***

DIENSTAG

Er flanierte mit Iris und Mona durch den Tierpark. Der sonnige Frühlingstag war mild und er trug das Kind auf seinen Schultern. Die kleinen Füße traten ihn leicht in die Rippen, weil Mona ihm Tempo geben wollte, so wie sie es bei Lucky Luke gesehen hatte. Iris lief ein kleines Stückchen voraus und drehte sich lachend zu ihnen um. Plötzlich fing Mona an zu zappeln und er hatte Angst, dass sie herunterfiel und stellte sie vorsichtig auf den Boden. Freudig kreischend rannte die Kleine zu dem See und zeigte aufgeregt auf die jungen Entchen, die erschrocken Schutz bei ihren Eltern suchten. Auf einmal fing das Muttertier an zu klingeln, laut und aufdringlich ansteigend, bis Breschnow verstand, dass es sein Handy war. Schlaftrunken tastete er nach dem Gerät auf dem Nachttisch. Es rutschte ihm aus der Hand. Fluchend setzte er sich auf und ließ sich auf den Fußboden gleiten. Das Handy hatte nun seine Maximallautstärke erreicht und schmerzte in seinen Ohren. Blind tastete er unter das Bett, bis er das Gerät greifen konnte, zog es hervor und meldete sich müde.

»Kommst du?«, erkundigte sich Drass.

»Wieso?«

»Weil es acht Uhr ist.«

Breschnow drückte seinen Kollegen weg, schlurfte ins Bad und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Zurück im Schlafzimmer, suchte er in den diversen Kleiderhügeln, die den Fußboden wie eine Mittelgebirgslandschaft überzogen, nach frischer Wäsche. Als er nichts fand, stieg er in die Klamotten des Vortags, suchte seine Autoschlüssel und verließ das Haus. Eine Viertelstunde später stand er vor der Schranke, die sich dieses Mal ohne Kontrolle öffnete.

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