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Eingeschneit! Elisa versucht sich damit abzufinden, ihre Reise nach Freiburg nicht fortsetzen zu können. Dass sie im Waldgasthof festsitzt, ist nur ein Teil des Übels, denn das seltsame Betragen ihrer Mitgefangenen ist zuweilen besorgniserregend. Elisa versucht einen Ausweg zu finden und die Geheimnisse zu ergründen, die in der Luft liegen. Bald geht es für sie nicht länger darum, endlich weiterreisen zu können, sondern nur noch um das eigene Überleben.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Glossar
Nachwort
Danksagung
Das Grab im Schnee
Ein Schauerkurzroman von
Tanja Hanika
Impressum
1. Auflage Oktober 2015
Copyright © 2015 by Tanja Hanika
www.tanja-hanika.de
Gartenstr. 12, D-54595 Weinsheim
Korrektorat: Doris Eichhorn-Zeller, www.perfekte-texte-coburg.de/
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Für meine Eltern.
Ich danke euch für eure Begeisterung, eure Unterstützung
und vor allem für eure Zuneigung.
Inhaltsverzeichnis
1. Tag
In einem Waldgasthof vor Loßburg bei Freudenstadt, Schwarzwald, 1846
Elisa Gieseke schlug die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, wo sie sich befand. Aus Romanen kam ihr das durchaus bekannt vor, aber dass es ihr einmal selbst so ergehen würde, hätte sie nicht für möglich gehalten. Hinter den Fensterläden drang nur spärliches Licht in ihr Zimmer. Das Bett, in dem sie lag, war ihr fremd. Sie wusste nicht einmal, ob sie freiwillig hier war. Auch die sich in der Düsternis andeutenden Umrisse des Raumes erkannte sie nicht wieder. Ein kleiner Tisch mit einem Stuhl, ein Waschschrank, ein Kleiderschrank. Alles schlichte, bereits ältere Holzmöbel. Wie in einer Herberge.
Damit kehrte die Erinnerung so plötzlich zurück, wie es gestern zu schneien begonnen hatte: Aus dem grauen Himmel war erst eine einzelne Schneeflocke an Elisas Kutschenfenster vorbeigefallen, innerhalb weniger Augenblicke jedoch war die Außenwelt verschwunden, so dicht war der Schneesturm geworden. Der Kutscher hatte Elisa zum Waldgasthof gebracht, wo sie nächtigen sollte. Er hatte die Postkutsche samt Inhalt dort abgestellt, war aber selbst mit dem Pferd weitergeritten. Offensichtlich vertraute er auf die Abgeschiedenheit des Gasthofes oder aber darauf, dass die Schneedecke seine Kutsche verbarg.
»Kein Einheimischer würde da übernachten. Und so schnell lasse ich mich von ein bisschen Schnee nicht unterkriegen! Das wäre ja gelacht, Sapprement noch emol ni«, so etwas hatte der Kutscher in seinen Bart gemurmelt, als sich Elisa von ihm bei einsetzender Dunkelheit verabschiedet und gefragt hatte, ob er nicht sicherheitshalber ebenfalls im Gasthof unterkommen wollte. So ganz verstand sie diesen schwäbischen Dialekt nicht. Das Wetter kam ihr bedrohlich hier im Schwarzwald vor, aber der Mann war ihr zuversichtlich erschienen, dass er sein Ziel erreichen würde. Wenn der Gasthof so heruntergekommen war, wie Elisa befürchtete, sodass der Kutscher schon nicht bleiben wollte … zumindest eine Nacht würde sie darin überstehen, hatte sie sich Mut gemacht.
Ein letztes Mal gähnte Elisa und streckte ihren Fuß unter den kratzigen Laken hinaus, um aufzustehen. Die Kälte, die scharfzahnig an ihrem Bein nagte, ließ sie sich jedoch unter die Decke zurückziehen. Es spräche bestimmt nichts dagegen, wenn sie erst in einigen Minuten nachsah, wie viel es über Nacht noch geschneit hatte und was es im Waldgasthof zu frühstücken gab. Ein wenig döste sie noch und stellte sich vor, was sie in Freiburg, ihrem Reiseziel, wohl erwarten würde, bis ihr vor Hunger grummelnder Magen Elisa aus dem Bett in die Kälte scheuchte.
Sie versuchte die Fensterläden zu öffnen, damit Licht für ihre Morgentoilette in ihr Zimmer fallen konnte. Doch so fest sie auch gegen die Läden drückte, sie ließen sich nicht einen Spaltbreit öffnen. Verflixt!, schimpfte sie in Gedanken vor sich hin und musste sich mit dem wenigen Licht begnügen, das ihr zur Verfügung stand. Eine Hilfe für ihre Frisur und zum Ankleiden wollte sie sich nicht rufen, sie hatte lange dafür gekämpft, selbst zurechtzukommen. Auf die Fensterläden muss ich den Gasthofbesitzer – wie hieß er noch? Wendelin? – aufmerksam machen, nahm sich Elisa vor. Auch wenn sie sogar über das einfachste freie Zimmer glücklich gewesen war, dass die Fensterläden nicht zu öffnen waren, konnte nicht angehen.
Sie schnürte nur locker ihr Mieder und schlüpfte in das vom letzten Tag leicht knittrige Kleid, dessen Kornblumenblau im dämmrigen Licht traurig stumpf wirkte. Mit längst verinnerlichten Handgriffen steckte sie sich die Haare mehr schlecht als recht zur einer simplen Frisur auf, da sie sich im Spiegel kaum erkennen konnte. Es erwies sich letztlich als Vorteil, seit einigen Jahren stets die gleiche Frisur zu tragen. Anschließend war es dringend Zeit für ein Frühstück, darauf wurde Elisa von ihrem Magen erneut hingewiesen. Diesem Protest sollte Einhalt geboten werden und sie hoffte, dass auch bald der Kutscher einträfe, um sie abzuholen.
Das Esszimmer war nicht schwer zu finden, da ihr Gästeraum wie alle anderen auch an einen Flur angrenzte. Dieser Flur führte direkt zur Treppe, an deren Fuß der große Raum lag, in dem eine Theke sowie ein enormer Tisch den ersten Blick auf sich lenkten. Außerdem lud eine Sitzecke am Kamin zum Verweilen ein. Auch hier gab es kaum Tageslicht, aber viele Kerzen flackerten emsig in ihren Halterungen. Sie verbargen allerdings nicht, dass die Teppiche ausgetreten und die ehemals weiße Wandfarbe gräulich waren. Dennoch gefiel Elisa die Atmosphäre, die durch die vielen Häkeldeckchen und Bordüren behaglich wurde.
Wendelin Idemann, an dessen Namen sich Elisa bei seinem Anblick sofort erinnerte, schürte bereits ein knisterndes Kaminfeuer. Dem Speckgeruch nach zu urteilen, tischte seine Frau Maria ein herzhaftes Frühstück auf, nach dem sich Elisas Magen sehnte. Auch das frisch gebackene Brot, dessen Duft ihre Nase erhaschte, ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die Gerüche machten das abgenutzte Aussehen des Gasthofes mehr als wett und sie konnte es kaum erwarten, die ersten Bissen zum Mund zu führen.
»Guten Morgen, Herr Idemann!«, grüßte Elisa ihren Gastgeber, außer dem noch niemand im Raum war.
»Guten Morgen, Fräulein. Gut geschlafen?«
Elisa nickte artig. »Vielen Dank. Sehr gut. Es gibt aber ein Problem mit den Fensterläden. Ich bekomme sie nicht geöffnet. Sie scheinen zu klemmen.«
Herr Idemann legte den Kopf schräg, schaute sie dabei abschätzend an. Schließlich brach er in Gelächter aus und schlug sich mit der flachen Hand auf das Knie. Hätte er nicht einen solch lustigen Anblick geboten, hätte sich Elisa gewiss vor den Kopf gestoßen gefühlt. So fiel sie in seinen Heiterkeitsausbruch ein, auch wenn sie gar nicht so genau wusste, weshalb. Herr Idemann schnappte schließlich nach Luft, hustete einen schleimigen Pfeifenraucherhusten und sagte: »Kind. Bei dem Schnee, wunderet dich des?«
»Entschuldigen Sie bitte, aber was genau meinen Sie?«, fragte Elisa, die sich an ihr unverständliches Gespräch mit dem einheimischen Kutscher erinnert fühlte. So freundlich diese Menschen hier im Schwarzwald auch alle waren, so wenig verstand sie sie manchmal. Bereits vor zwei Jahren war sie zur Recherche für einen ihrer Zeitungsartikel im Schwabenland zu Besuch gewesen und damals hatte dieses Kauderwelsch sie ebenfalls verzückt.
»Na, eingeschneit sind wir. Auf den äußeren Fensterbrettern wird der Schnee sich zur Barriere für die Fensterläden türmen. Wir werden hier wohl die nächsten paar Tage nicht herauskommen. Machen Sie doch nicht so ein Gesicht, Fräulein!« Wendelin Idemann begann wieder breit zu grinsen. »Das passiert hier öfter. Zu essen und zu trinken haben wir genug da. Keine Sorge. Und sein eigenes Bett hat immerhin auch jeder. Ich glaube, Maria und ich haben beinahe mehr eingeschneite Tage hier verbracht als uneingeschneite.« Erneut brach ihr Gastgeber in schallendes Gelächter aus.
Elisa hingegen fand keinen Grund, dieses Mal mit in den Heiterkeitsausbruch einzustimmen. »Das passiert hier öfter? Aber ich muss dringend nach Freiburg! Kann man denn nicht … nun ja … irgendetwas tun?«
»Sie werden´s schon aushalten mit uns. Und Freiburg läuft ja auch nicht weg, Kind.«
Kläglich hakte sie nach: »Aber was machen Sie denn, wenn jemand krank wird?«
»Fräulein, Sie sterben uns schon nicht unter den Händen weg.« Herrn Idemanns gute Laune war ihm nicht auszutreiben, das stand für Elisa fest. Ihr Gastgeber drehte sich in Richtung Küche und rief: »Maria, ich glaub, das Fräulein braucht etwas in den Magen!« Er wandte sich zurück zu Elisa und fügte leiser hinzu: »Sie heißen Gieseke, richtig?«
Zunächst einmal blieb Elisa die Sprache weg. Sie war in ihrem Leben niemals zuvor an einem Ort gefangen gewesen, ohne Möglichkeit, hinauszugehen. Sie dachte kurz an ihren Gatten, der ihr Eingeschneitsein als eine ihrer »Kapriolen« bezeichnen würde, wie er es gerne mit Missgeschicken tat, für die Elisa nichts konnte, die ihr aber regelmäßig widerfuhren. Ihr undamenhafter Sonnenbrand auf der Nase letzten Sommer beispielsweise: Elisa hatte sich mit Sonnenschirm in ihrem Garten in den Schatten gesetzt und war über ihrer
Lektüre eingeschlafen. Der Schirm musste ihr aus der Hand gerollt sein, während zugleich die Sonne gen Westen gewandert war. So schnell war ihre zuvor edle Blässe ruiniert und Elisas Gatte hatte erneut einen Grund gehabt, seine bleiche Nase zu rümpfen.
Nach einem herzhaften Seufzer, der ihrer Lage galt und nicht ihrem amüsanten Gegenüber, sagte sie: »Ach, nennen Sie mich doch Elisa, ein Fräulein bin ich ohnehin nicht mehr. Wenn wir hier schon miteinander festsitzen, dann können wir uns das sparen.«
»Sehr erfreut! Elisa, ich bin der Wendelin.« Frau Idemann trat samt übervollem Teller aus der Küche und Wendelin fügte hinzu: »Und das ist Maria. Maria, Elisa ist das erste Mal eingeschneit, glaube ich. Hast du ihren Teller auch schön vollgeladen?«
»Ja sicher, wie du sehen kannst«, antwortete die dralle Gasthofköchin und zwinkerte Elisa aufmunternd zu.
Es hätte schlimmer kommen können. Hier wird es bestimmt lustig zugehen, dachte Elisa und versuchte sich nicht zu wünschen, dass sie einfach aus der Haustür treten und zu Fuß nach Freiburg laufen könnte. Mit welchen weiteren »Kapriolen« sie noch zu rechnen hätte, wollte sie sich gar nicht erst ausmalen.
Elisa hatte es noch nicht bis zum Tisch geschafft, um mit ihrem Frühstück zu beginnen, da erschienen auf der Treppe zwei Männer, die dem Aussehen nach ebenso alt wie sie selbst wirkten.
So manches Mal entlockte Elisa ihren Gesprächspartnern einen überraschten Ausruf, wenn sie zugab, bereits Mitte zwanzig zu sein. Ein wenig Stolz erfüllte sie, wenn man ihr daraufhin versicherte, dass man sie ein paar Jährchen jünger geschätzt hätte. Das Kratzen an ihrem Herzen, dass dies unter Umständen auf ihre Kinderlosigkeit zurückzuführen war, ignorierte sie geflissentlich.
Beide Männer hatten braunes Haar, eher blasse Gesichter und trugen modische Cutaway-Anzüge. Sie liefen geschwind, ja federnd die Treppe hinab, sodass sie Elisa an junge Knaben erinnerten: Sie sah die beiden vor ihrem geistigen Auge mit ihren Hosenböden auf dem Geländer hinunterrutschen und dachte an ihren kleinen Bruder, der das zum Verdruss ihrer Mutter nur zu gerne praktiziert hatte. »Ernst!«, hallte der Aufschrei ihrer Mutter in ihrer Erinnerung, wie sie ständig Elisas zwei Jahre jüngeren Bruder tadelte, der weder als Kind noch heute den nötigen Ernst bezüglich seines Daseins an den Tag legen wollte, womit er seinem Namen keinesfalls gerecht wurde.
Wendelins Gesicht erhellte sich und er sagte lauter, als es nötig war: »Die Engländer! Good morning, Cyril! And good morning, David!«
In beinahe akzentfreiem Deutsch antwortete einer der angeblichen Engländer: »Guten Morgen auch dir, Wendelin. Hervorragend, wie du dir das gemerkt hast.«
Der andere der beiden ging nicht auf die Begrüßung ein, sondern brachte dasselbe Anliegen wie Elisa vor: »Wir bekommen unsere Fensterläden nicht auf. Kann es sein, dass sie klemmen?«
»Ja, heute Nacht hat es nicht aufgehört zu schneien. Durch den Schneesturm sind wir eingeschneit«, erklärte Wendelin und versuchte eine betrübte Miene hervorzubringen, was ihm Elisas Meinung nach misslang. Er wiederholte, dass kein Grund zur Sorge bestehe, und fügte hinzu: »Aber wo sind meine Manieren? Gentlemen, darf ich Ihnen die hinreißende Elisa Gieseke vorstellen? Sie suchte hier gestern vor dem Sturm Zuflucht. Und Elisa, es freut mich, Sie mit unseren beiden englischen Gästen bekannt zu machen: Cyril Hodgson und David Millner.«
Elisa reichte beiden ihre Hand. Cyril war der etwas kleinere und schmächtigere der beiden und hatte beinahe schwarze Augen, von denen sie sich ein wenig durchbohrt fühlte. Sein ihm auf den ersten Blick so ähnlicher Freund David hingegen unterschied sich von Cyril durch ein paar Zentimeter Körpergröße und helle Augen. Elisa war gespannt, welche Charaktereigenschaften die beiden verband und trennte. In unserem Inklusorium haben wir sicherlich genügend Gelegenheit, uns kennenzulernen, vermutete Elisa. Freudige Sympathie brodelte in ihrem Herzen, als sie reihum die Gesichter der ihr eigentlich so fremden Menschen betrachtete.
Noch bevor alle Höflichkeiten ausgetauscht waren, knarzte die Treppe und zwei weitere Personen erschienen. Eine junge Frau, Elisa schätzte sie auf knapp 20 Jahre, stieg untergehakt am Arm ihres gut zehn Jahre älteren Mannes die Treppe hinunter. Dieser nickte in die Runde und vermutete sofort richtig: »Eingeschneit, nicht wahr? Habe ich hier im Schwarzwald schon öfter erlebt. Kann richtig gemütlich werden. Bietet häufig Stoff für gute Geschichten, wenn man nach Hause zurückkehrt.«
»Guten Morgen«, grüßte seine Frau in die Runde. »Maria, ist der Kaffee fertig?« Dunkle Augenringe verunstalteten ihr ansonsten ansehnliches Gesicht. Fahrig kratzte sie sich am Arm und ihr Blick huschte unstet umher. Elisa vermutete, dass hieran nicht nur eine schlaflose Nacht die Schuld trug. Das verängstigte Verhalten der jungen Frau rührte sie.
Wendelin sprang wieder ein und erfüllte begeistert seine Gastgeberpflicht. »Dann sind wir ja beinahe vollzählig. Wenn mich nicht alles täuscht, wird Conrad Oberender erst zum Mittagessen zu uns stoßen. Herr und Frau Tappmeyer, unsere Engländer kennen Sie ja bereits. Die junge Dame hier heißt Elisa Gieseke. Elisa: die Tappmeyers.«
Man nickte einander zu und reichte sich die Hände. Elisas Bauch grummelte erneut. Er hatte eindeutig all die Bekanntmachungen satt und wollte, dass sie endlich das Essen zu sich nahm, das so verführerisch auf dem Teller lag und duftete. Elisa folgte ihrem Hunger, setzte sich und konnte sich nur schwer beherrschen, nicht sofort die ersten Bissen zum Mund zu führen. Allem gebotenen Anstand gehorchend, schaffte sie es, so eben zu warten, bis Maria weitere großzügig gefüllte Teller ausgeteilt hatte. Mit Schinkenwürfeln gespicktes Rührei türmte sich zu saftig glänzenden Bergen auf. Ein wenig Käse verlief zwischen den einzelnen gelb-weißen Bröckchen und wartete sehnsüchtig darauf, von Elisa mit Brot verzehrt zu werden, die es kaum mehr schaffte, ihre Augen von der Nahrung loszureißen. Nach endlosen zwei Minuten saßen alle am Tisch und frühstückten gemeinsam.
Ein Schmatzen beim Verzehren des köstlichen Frühstücksmahls unterdrückend, erfuhr Elisa einiges über ihre Mitgefangenen, während sie ihren Teller leerte: Die Tappmeyers hießen Joseph und Theresia und waren hier auf Hochzeitsreise. Seinen Urlaub verbrachte der Hesse am liebsten im Schwarzwald. Die beiden Engländer waren zur Bildungsreise in Deutschland. Als solche hatten sie ihr Vorhaben zumindest ihren Eltern verkauft, die sie bereits als Kinder in der deutschen Sprache unterrichten ließen. Allerdings bildeten sich die beiden weniger, als dass sie ihre Zeit genossen und ein Abenteuer nach dem nächsten suchten. Mit der Gefangenschaft unter Schneemassen haben sie eine geeignete Geschichte gefunden, die sie einmal ihren Enkelkindern werden erzählen können, dachte Elisa.
Sie schob sich eine letzte Gabel voll Ei und Speck in den Mund, da richtete Cyril sein Wort an sie: »Und wohin sollte dich dein Weg führen, als dich der Schneesturm zwang, hier einzukehren?«
»Ich fürchte, ich verpasse eine der spannendsten Gerichtsverhandlungen unserer Zeit. Gewiss ist allen der Stilett-Mörder ein Begriff? Ich schreibe Zeitungsartikel und hätte dazu gerne etwas beigetragen.« Elisa runzelte unwillkürlich ihre Stirn und dachte an das, was ihr entging. Ärgerlich war, dass sie sich bei ihrem Gatten für diese Reise so hatte einsetzen müssen. Normalerweise hieß er ihre Arbeit durchaus gut. Sie hatten keine Kinder bekommen können und deswegen ging nun jeder seinen eigenen Interessen nach – zugegeben, sie fand Gefallen an dieser modernen Lebensweise und fühlte sich damit manchmal anderen gleichaltrigen Frauen überlegen. Wenn Elisa allerdings zu weiter entfernten Reisen aufbrechen wollte, die zumindest nicht im Frankfurter Umkreis lagen, wo sie wohnten, konnte es sein, dass ihr Gatte das nicht dulden wollte. »Was sollen die Leute sagen? Ist es nicht genug, dass ich dich überhaupt für dieses Blatt schreiben lasse?«, pflegte er ihr dann an den Kopf zu werfen. Um keinen ehelichen Unmut zu wecken, hatte Elisa deshalb ihr Interessengebiet auf den Raum um Frankfurt verlegt, das sie allerdings in solchen Sonderfällen beliebig ausweitete.
»Du bist Journalistin?«, hakte David nach. Er kniff leicht die Augen zusammen und schaute sie intensiv an, als suche er ein äußeres Merkmal, das alle Journalisten einte.
»Hin und wieder. Mein Großonkel ist ein hohes Tier bei einer Zeitung in Frankfurt und nimmt meine Artikel, wenn ich welche für ihn habe.« Um allmählich von sich selbst wieder abzulenken, fragte Elisa: »Wo genau befinden wir uns hier eigentlich? Ich muss gestehen, dass ich mich nicht um die Route gekümmert habe, sondern dem Fahrer der Postkutsche blind vertraute. Und durch den Schneesturm kann ich nun gar nicht sagen, wo dieser Waldgasthof hier liegt.«
Durch das allgemeine Gelächter, das durchaus wohlwollend klang, färbten sich Elisas Wangen rot, aber sie hielt den Blicken in der Runde stand.
»Mädchen, du bist in der Nähe von Freudenstadt, falls dir das etwas sagt«, erklärte Joseph Tappmeyer großzügig. Auf ihr Nicken hin fuhr er fort: »Südlich davon liegt Loßburg. Davon wiederum westlich im Wald befindet sich dieser traute Gasthof. Willkommen im Schwarzwald! Aber darüber warst du dir wohl im Klaren, oder?«
»In Freudenstadt gibt´s Freuden satt!«, murmelte David, woraufhin Cyril prustete. David zwinkerte Elisa dezent zu.
Elisas Unmut, nicht bei dem Stilett-Mörder sein zu können, dem seine Opfer vergeblich versucht hatten fernzubleiben, bröckelte immer mehr, je besser sie die anderen Gäste kennenlernte. Die wilde Hoffnung, sich durch diesen einen großartigen Artikel in der Heimat einen Namen als Journalistin zu machen, musste sie endgültig begraben. Losgezogen war sie in dem Irrglauben, dass sie durch einen brillanten Artikel über die Verhandlung in Freiburg womöglich eine feste Anstellung bei einer Zeitung fand und nicht länger auf die Mitleidsartikel ihres Onkels angewiesen wäre. Sie hätte sich mehr Freiheiten erkämpft und hätte sich vielleicht sogar von ihrem Mann losreißen können. Eine ganz utopische Vorstellung zeigte ihr ein neues Leben mit einem anderen Mann, der ihr Herz wild zum Schlagen brachte und dem sie eine kleine Kinderschar schenken würde. Wie immer versagte sie sich dieses letzte Wunschbild, bevor es richtig Gestalt annehmen konnte, und konzentrierte sich auf die Gegenwart: kein Freiburg, kein Artikel. Damit kein neues Leben, das ihr nüchtern betrachtet, auch nicht bevorgestanden hätte, wenn sie es nach Freiburg geschafft hätte.
Rasanter, als es unter normalen Umständen üblich gewesen wäre, herrschte ein freundschaftlicher Umgangston, wodurch Elisa es verschmerzen konnte, nicht der Verurteilung des Stilett-Mörders beizuwohnen. Ihrer journalistischen Neugierde konnte sie wenigstens dahingehend folgen, die Geheimnisse dieser Leute aufzudecken, sofern sie überhaupt lange genug hier festsaß. Dass jeder hier seine Geheimnisse hütete, selbst bildete sie darin keine Ausnahme, dessen war sie sich sicher. Vielleicht wird es hier gar nicht so viel schlechter als bei der Verhandlung in Freiburg, tröstete sie sich. Und vielleicht werde ich heute Abend einmal nicht erleichtert sein, dass wieder ein Tag überstanden ist, und ich kann mit einem Gefühl der Zufriedenheit einschlafen.
Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Die allgemeine Stimmung war stetig heiterer geworden, was nicht zuletzt an Wendelins Selbstgebranntem lag, den er gerne ausschenkte. Seine »Medizin gegen die Kälte« wirkte und die Nebenwirkung, dass sich ein Frohsinn in die Gemüter schlich, fand Elisa gar nicht übel. Sogar Theresias Angst hatte sich nach einer gewissen Dosierung von Wendelins »Medizin« gelegt. Sie war lockerer geworden, hatte aufgehört zur Haustür zu starren und sich über die Arme zu reiben. Elisa amüsierte sich köstlich über Theresias freche, geflüsterte Kommentare über Männer, über Josephs Parodien bekannter Persönlichkeiten und über die Berichte der beiden Engländer über ihre Abenteuer. Genau genommen konnte sie sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so heiteren Gemüts gewesen war.
Als allmählich nicht einmal mehr andeutungsweise Tageslicht durch die Fensterritzen zu erspähen war, rückten sie alle näher zueinander und machten es sich vor dem Kamin gemütlich. In die weichen, wenn auch rissigen Polstermöbel konnte man tief einsinken und sich entspannen. Dass der abgewetzte Stoff wohl reichlich benutzt worden war, erschien Elisa aufgrund der Gemütlichkeit verständlich und nachsehbar. Das Kaminfeuer prasselte und die Holzverkleidung der Wände wirkte urig. Es war fast, als hätte man im Nest eines schwäbischen Vogels einen Unterschlupf gefunden. Wenn Elisa in die Runde blickte, dann glaubte sie, dass sie sich glücklich schätzen konnte, mit welchen Menschen sie hier gefangen war. Wenn sie an die Ziege Frau Mitterbrühl dachte, deren Gesellschaft sie zu Hause leider ab und an ertragen musste, konnte sie ein befreites Durchatmen kaum unterdrücken.
Inzwischen saß Conrad Oberender zu ihrer Rechten, der, wie von Wendelin vermutet, tatsächlich erst zum Mittagessen erschienen war, seither aber bei ihnen blieb. Auch er erwies sich letztlich als geselliger Herr. Stolz trug er seinen hellgrauen Bart, in den er gerne mal etwas hineinbrummte, sollte ihm eine Aussage seiner Mitmenschen nicht passen. So schlichte Kleidung er auch trug, so gutmütig blitzten seine Augen.
Auf Elisas linker Seite hatte Theresia Platz genommen, deren scharfe Zunge Elisa sehr genoss und die trotz Theresias junger Jahre genau in ihr Ziel traf. Schnell hatte sich eine sachte Freundschaft zwischen den beiden angebahnt und Elisa fiel umso mehr auf, wie ihr in Frankfurt die Verbundenheit mit einer richtigen Vertrauten fehlte. Die Männer priesen momentan ihre eigenen Jagderfolge an und jeder meinte, das größte Tier erlegt zu haben, als Theresia ihr zuflüsterte: »Männer! Wie simpel diese Wesen manchmal gestrickt sind. Genau dieses Gespräch hätte schon vor Hunderten von Jahren so stattfinden können – wenn man einmal die Waffen außer Acht lässt.«
»Das ist wahr!«, pflichtete Elisa ihr schmunzelnd bei. »Mein Gatte frönt ebenfalls gerne der Jagd, was ich ganz abscheulich finde. Wenn er dann verdreckt – und im schlimmsten Fall blutbeschmiert – nach Hause kommt, dann war der Hirsch so groß, dass wir uns angeblich ein ganzes Jahr daran werden satt essen können. Und sein Geweih ist stets zu groß, um es durch die Haustür zu bekommen.«
»Du bist verheiratet? Wieso bist du dann alleine unterwegs?«, fragte Theresia nach.
»Das ist eine lange Geschichte … «, versuchte Elisa ihr auszuweichen. Ihr Privatleben war nichts, womit sie sich die Stimmung ruinieren wollte. Häufig begegnete sie Verständnislosigkeit, dass sie sich nicht in die ihr zustehende Rolle als Frau einfügte. Gerade eingeschlossen mit diesen Fremden, gedachte sie sich nicht vorzeitig zum Außenseiter zu machen. »Weißt du, Theresia, ich würde mir den Abend lieber nicht verderben, indem ich über meinen Gatten spräche.«
»Ich verstehe«, sagte Theresia und nickte verständnisvoll. Sie zwirbelte eine ihrer blonden Locken zwischen Daumen und Zeigefinger.
Du hast ja keine Ahnung, dachte Elisa, war aber froh, dass sie Theresia und ihre Neugierde hatte abwimmeln können. Sie rechnete es ihr hoch an, dass sie nicht weiter in sie drang, um ihr das Geheimnis zu entlocken. In Gedanken entschuldigte Elisa sich noch bei Justus, der kein so übles Monster war, wie sie gerade impliziert hatte. Sie nahm sich dennoch vor, sein Gesicht in nächster Zeit nicht mehr in Gedanken vor sich zu sehen.
Nachdem Elisa aus ihrer kurzen Träumerei, einer ihrer »Kapriolen«, aufgetaucht war, hörte sie Joseph sagen: » … dann hat der Eber seinen Kopf zu mir gewandt und ich dachte nur: Du oder ich! Dem Biest habe ich eine Kugel zwischen die Augen gesetzt, dass das Hirn nur so spritzte – und es hat später fabelhaft gemundet, nicht wahr, Resi?«
Theresia tätschelte ihm das Knie und verdrehte träumerisch die Augen. »Fabelhaft, absolut köstlich!«
In der von Wildschweinbratenahnungen beladenen Stille ertönte ein quietschendes, gar kreischendes Knarzen. Es klang, als litte das gesamte Haus Qualen. Als sänge das Holz ein Lied des Kummers. Elisa war versucht den Kopf einzuziehen, ließ dies aber ob der Nutzlosigkeit dieser Geste bleiben. Das Geräusch schnitt sich schmerzhaft durch ihre Ohren. Alle Gespräche verstummten. Nicht nur Elisa war die Bedrohlichkeit aufgefallen. Man schaute sich im großen Speiseraum um. Aber keiner fand den Auslöser dieses schreihaften Klanges. Elisa biss die Zähne zusammen. Ihre Finger verkrampften, so fest klammerte sie sich im Polster des Sessels fest.
So schnell, wie es gekommen war, verschwand das Geräusch auch wieder. Zurück blieben eine Gänsehaut auf Elisas Armen und ein paar ratlose bis erschütterte Gesichter.
»Was um Himmels willen war denn das gerade?«, fragte Cyril.
Theresia war vollkommen bleich geworden. Selbst die Röte ihrer Lippen war ihr abhandengekommen. Elisa beobachtete, wie Theresia auf der Innenseite ihrer Wangen herumkaute. Als der Boden im Nachhall des Geräusches einmal kurz bebte, brach Theresias Furcht auch ihr heraus. »Lass uns gehen, bitte, lass uns gehen!«, schrie sie ihren Gatten an.
Joseph nahm ihre Hand, drückte sie und flüsterte laut wie eine Figur im Theater: »Ist schon gut. Wir können noch nicht weg. Alles ist gut.«
Wendelin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das Haus ächzt lediglich unter der Schneelast. Dunderwätter! Ist es ihm zu verdenken bei den Mengen, die es tragen muss?«
Conrad schüttelte den Kopf und brummte in seinen Bart: »Für dumm verkaufen lasse ich mich nicht. So klingt gewiss kein Holz.«
Elisa glaubte als Einzige seine Worte aufgeschnappt zu haben, aber Marias Ohren waren sie ebenfalls nicht entschlüpft. Sie sprang ihrem Mann zur Seite. »Der Wendelin hat recht. Im Winter knarzt und ächzt es manchmal, dass einem angst und bang wird. Aber bisher hat das Dach immer gehalten. Im Sommer reparieren wir es immer anständig für das nächste Jahr, nicht wahr, Wendelin?«
»Das trägt den Schnee noch viele Jahre. Des wär noo scheener, wenn es des nit packe dät!« Für Wendelin war damit die Sache beendet und er schenkte eine weitere Runde seines Selbstgebrannten aus. »Und wer errät denn nun die Geheimzutat?«, fragte er in die Runde.
Keiner wollte dem unheimlichen Vorkommnis länger als nötig seine Aufmerksamkeit schenken. Lediglich Theresia kam nicht mehr zur Ruhe und klammerte sich weiterhin an die Hand ihres Gatten. Joseph erduldete das, ohne darauf zu reagieren.
Es wurden munter Vorschläge in die Runde gerufen.
»Nelke?«
»Pfefferminze?«
»Anis?«
Conrad beteiligte sich ebenfalls nicht. Er lehnte sich zu Elisa und raunte: »Kind, du solltest heute Nacht deine Tür gut verschlossen halten. Auch wenn sich das, was du ausschließen möchtest, wahrscheinlich nicht von einer Tür aufhalten lässt.«
Elisa spürte, wie sich ihr die Kehle zusammenzog. Ihr wurde flau im Bauch und der Mund trocken, dass sie nicht mehr schlucken konnte. Was hätte denn, abgesehen vom alten Holz, solch ein Geräusch erzeugen können?, rätselte Elisa. Die Warnung Conrads ging ihr unter die Haut. »Conrad, was meinst du?«
Elisa sah den älteren Mann aufmerksam an, aber er hielt seine Augen geschlossen und war tief in seinen Lehnsessel gerutscht. Conrad versuchte offenbar auszusehen, als wäre er eingeschlummert, aber Elisa fiel darauf nicht herein. Für sie schien es, als läge er auf der Lauer.
»Lavendel?«
»Holunderbeeren?«
»Ihr kommt nicht drauf«, triumphierte Wendelin.
David lachte. »Machst du es jetzt wie das Rumpelstilzchen und verrätst es uns erst, wenn wir es ohnehin bereits erraten haben?«
Theresia zuckte durch Davids Lachen zusammen.
Elisa entschied, nicht in dieselbe Panik zu verfallen und vernünftig zu bleiben. »Woher kennt ihr Engländer denn unser Rumpelstilzchen?«, hakte Elisa nach und versuchte ihre Stimmung wieder aufzulockern. Von einem rational erklärbaren Geräusch und dem Gerede eines womöglich wirren, alten Schwätzers wollte sie sich den Abend nicht verderben lassen.
»Wir sind schon seit einer ganzen Weile in Deutschland. Und um wenigstens ein bisschen Bildung nach Hause tragen zu können, haben wir uns mit den Märchen beschäftigt. Wir sind in Frankfurt sogar Wilhelm Grimm begegnet. Wir konnten ihn nach seiner Rede beim Germanistentag in eine kleine Spelunke locken und uns sehr angenehm mit ihm unterhalten. Und trinkfest ist der Bursche auch. Der ist vielleicht ein Märchenerzähler!« Cyril nickte zu Davids Worten zustimmend und ein kurzes, wissendes Lächeln rann über seine Lippen.
»Ihr wart in Frankfurt? Dort wohne ich. Wie hat euch die Stadt gefallen?« Elisa wurde unerklärlicherweise ganz unruhig. Es bereitete ihr großes Vergnügen, mit den beiden Engländern über Frankfurt zu sprechen, und sie war stolz darauf, dass die beiden ihren dortigen Aufenthalt genossen hatten. »Ich habe mich am Germanistentag auch am Römer aufgehalten. Vielleicht sind wir ja aneinander vorbeigelaufen.«
»Dann hätten wir dich bestimmt auch zu einem Bier überredet«, sagte David und Cyril fügte hinzu: »Oder zu mehreren.