Das Gras auf der anderen Seite - Joseph Maria Gerhard - E-Book

Das Gras auf der anderen Seite E-Book

Joseph Maria Gerhard

4,0

Beschreibung

Die Eigenart des Menschen zu begehren was nicht sein Eigen ist, birgt stets Potenzial für Unvorhersehbares. Für Beziehungen gilt dies gleichermaßen wie für Besitztümer, möglicherweise sogar mehr. Als Christine, eine hübsche Frau in ihren Dreißigern, ihren wohlhabenden Freund für einen mittellosen Mann verlässt, löst sie eine Reihe von unvorhersehbaren Ereignissen aus. Fünf fremde Menschen geraten unversehens in einen Konflikt aus Neid, Gier und Rachsucht, in dem jeder mit seinen Waffen für das kämpft was ihm wichtig scheint. Die Grenzen die sie dafür bereit sind zu überschreiten zeigen: Das Gras auf der anderen Seite des Zauns ist immer grüner.

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JaneDoh11

Gut verbrachte Zeit

Sehr spannend.. man muss Leser, lesen. Den Schluss finde ich ziemlich unpassend
00


Ähnliche


Ei|fer|sucht

Eifersüchtelei, Misstrauen, Neid, Zweifel; (gehoben) Argwohn; (salopp) Futterneid

starke, übersteigerte Furcht, jemandes Liebe oder einen Vorteil mit einem anderen teilen zu müssen

oder an einen anderen zu verlieren.

Duden

Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Eins

Sie starrte ihn regelrecht an. Wie lange sie sich wohl schon an seinem schütteren Haupthaar, oder was davon übrig war, stören würde fragte sich Christine während sie an ihrem Seezungen Filet, oder was es auch immer für ein Fisch sein mochte, herumstocherte. Ihr Blick hing weiter an ihm fest und sie neigte ihren Kopf etwas zur Seite, ähnlich wie es fragende Hunde tun. Die Frisur ihres Gegenübers war ihr eigentlich bis dato nie so recht aufgefallen oder hatte zumindest keine große Rolle gespielt.

Ihr Gegenüber war Alexander und aktueller Freund. Oder vielmehr Lebensgefährte, denn Christine war sechsunddreißig Jahre alt und man hat mit sechsunddreißig keinen Freund mehr. Man hat Lebensgefährten oder Partner.

Seinem schwindenden Haupthaar setzte Alexander einen deutlichen Bauchansatz entgegen und über kurz oder lang würde dieser dem kahlen Kopf sicher die Show stehlen. Er war in seinem bisherigen Leben nie sonderlich sportlich oder körperlich aktiv gewesen und es war auch nicht davon auszugehen das er es jetzt, mit vierundvierzig, noch werden würde.

Und so würde es früher oder später nicht bei einem Bauchansatz bleiben, sondern Recht bald ein ordentlicher Bauch daraus werden. Zu allem Übel würden sich Glatze und Bauch auch noch an einem eher klein gewachsenen Mann wiederfinden, was seinem Gesamtbild noch ab träglicher war. Dabei war Alexander nicht unbedingt unattraktiv oder gar hässlich.

„Aber eigentlich überhaupt nicht mein Typ“, dachte sich Christine und nahm, der entlarvenden Erkenntnis wegen, einen kräftigen Schluck Wein.

Er würde auch erst recht nicht zu ihrem Typ werden, wenn Glatze und Bauch erst einmal sein Erscheinungsbild dominieren. Alexander bemerkte seine nachdenkliche, geistig abwesende Freundin und griff nach ihrer freien Hand auf dem Tisch. Lächelnd strich er mit seinem Daumen sanft über ihren Handrücken. Christine lächelte zwar zurück, aber es war kein ehrliches Lächeln. Alexanders hingegen hatte etwas Verzweifeltes an sich aber Christine beschloss es zu ignorieren und ohne dass beide ein Wort verloren hätten, aßen sie weiter.

„Meine Zweifel sind ihm wohl aufgefallen“, dachte Christine und stocherte weiter in ihrem Essen.

„Aber das war irgendwann auch zu erwarten. Er war mir gegenüber immer sehr Aufmerksam gewesen“, überlegte sie weiter.

Der Fisch schmeckte ihr nicht wirklich und auch der sonst so köstliche Wein hatte seinen Geschmack verloren.

In letzter Zeit hatte sie immer weniger versucht die aufkommenden Zweifel an der Beziehung zu verbergen oder zu ergründen. Fast war es als begrüße sie diese. Unangemeldet und urplötzlich schlich sich ein Gedanke bei ihr ein.

„Warum bin ich noch mit ihm zusammen?“, fragte sich Christine. „Warum bin ich überhaupt mit ihm zusam men? Oder war ich es?“

Christine überlegte ob es nicht schon längst Zeit und fair gewesen wäre, mit Alexander reinen Tisch zu machen. Für Alexander hingegen konnte man die Frage einfach beantworten, denn Christine war einfach eine umwerfend schöne Frau. Schlank, blond, hochgewachsen und mit einem Gesicht wie man es sich nicht schöner hätte zeichnen können.

Beinahe zwei Jahre waren die beiden nun schon ein Paar und jedem halbwegs intelligenten Menschen musste aufgefallen sein, dass Christine in einer völlig anderen Liga spielte wie Alexander.

In einem Café hatten sie sich kennengelernt, hier in der Stadt. Es war zu jener Zeit Christines Lieblings Café.

Sie sprach ihn damals direkt an, ohne Umwege, erinnerte sie sich. Er holte sich gerade einen Kaffee und eine Kleinigkeit zum Mittag, Christine hingegen war noch beim Frühstück obwohl es schon weit nach elf Uhr gewesen war. Das war in Ordnung so fand sie damals. Denn Christine schlief gerne lange und hatte auch alle Zeit dazu, einem Beruf oder geregelter Arbeit ging sie nicht nach. Seit sie sich erinnern konnte hatte Christine eigentlich nur Schulen besucht. Veterinärin hatte sie einst studiert aber dann abgebrochen. Kaum zwei Semester hatte sie durchgehalten.

„Wegen einem Typen damals. Gott, das müsste jetzt schon über acht Jahre her sein“, überlegte Christine.

„Darf es noch etwas sein? Vielleicht einen Wein für die Dame?“

Der Kellner war sehr höflich und stand in diskretem Abstand zum Tisch. Dennoch riss er Christine aus ihren Gedanken.

„Nein Danke, die Rechnung bitte“, erwiderte Alexander und griff nach seiner Brieftasche.

Alexander bemerkte die abwesend wirkende Christine und wie er sie dabei übergangen hatte.

„Oder doch noch einen Schluck, Schatz?“ vergewisserte er sich eilig. „Christine? Schatz?“, wiederholte er.

Christine aber saß am Tisch und hing ihren Gedanken nach.

„Christine?!“, hakte Alexander einfühlsam nach.

„Nein, äh, nein danke“, erschrak sie sich.

Sie war so in Gedanken versunken, dass sie nicht mal bemerkte, dass ihr Teller bereits abgeräumt wurde und das Glas leer und trocken war. Der Kellner quittierte die Szene mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken und wandte sich ab. Wieder saß Christine einem lächelnden Alexander gegenüber und es schien ihr noch jämmerlicher als vorhin. Mehrfach beteuerte er, wie sehr er den Abend doch genossen habe und wie wunderschön Christine heute wieder aussehen würde. Eigentlich wie jeden Abend.

„Die Komplimente und Gesten eines hilflosen Mannes, der ahnt, dass er im Begriff ist etwas zu verlieren“, verurteilte ihn Christine.

Und doch lächelte sie zurück. Pflichtbewusst aber Unehrlich. Eigentlich wie jeden Abend.

Der Kellner informierte die beiden diskret über die Rechnung und legte sie auf den Tisch. Sofort drehte Alexander das dicke Lederetui in seine Richtung und warf einen flüchtigen Blick hinein, ohne es dabei ganz zu öffnen.

„Der Rest für Sie, guter Mann“, meinte er gönnerhaft und steckte mit einer eleganten Geste Geld in die schicke Mappe.

Obwohl man davon ausgehen musste, dass in einem Etablissement wie diesem die Angestellten üppige Trinkgelder gewohnt seien, bemerkte Christine wie aufgeregt der junge Mann sein Trinkgeld aus dem Etui nahm. Das wiederholte und beinahe überschwängliche Bedanken des Kellners quittierte Alexander mit einem, wieder gönnerhaften, Kopfnicken.

„Darum bin ich mit ihm zusammen“, fuhr es Christine wieder ins Gedächtnis. „Weil er in einem fünf Sterne Restaurant ein derartiges Trinkgeld gibt, das selbst gestandene Kellner noch fröhlich jauchzen.“

Man kam tatsächlich nicht umhin zu bemerken, dass Alexander wahrlich kein armer Mann war. Nein, er schwamm förmlich im Geld. Im Grunde wusste es Christine natürlich schon die ganze Zeit. Aber insgeheim hoffte sie doch auf eine andere, ehrvollere Antwort. Eine die ihr und und ihrem Charakter etwas mehr schmeicheln würde. Aber einen ehrbaren Grund fand sie, wie schon so oft, einfach nicht.

Im Gegenteil, es waren sogar immer der gleichen Gründe aufgrund derer Christine ihre Beziehungen ein ging. Das Interesse an der finanziellen Situation war stets größer als an optischen Erscheinungen oder gar den charakterlichen Eigenheiten ihrer Partner. Oder an der Person überhaupt.

Ihr zweiter richtiger Freund zu Schulzeiten war bereits elf Jahre älter. Sie war sechzehn und er siebenundzwanzig, hatte ein Haus und einen gut bezahlten Job. Damit war er selbstredend viel interessanter als die Jungs in ihrem Alter. Wirklich geliebt hatte Christine ihn nicht, soweit sie sich erinnern konnte. Der Erste von vielen dem dieses Schicksal noch wiederfahren sollte.

Während ihre Schulfreundinnen mit ihren Freunden gerade einmal über ein Wochenende mit dem Fahrrad zum Zelten fuhren, war Christine schon früh an ausschweifende Urlaube in luxuriösen Hotels gewohnt.

Wenn ihre Freundinnen noch zu Pizzaläden und Burger Buden geschleppt wurden, speiste Christine bereits in vornehmen Restaurants und feinen Lokalen. Von Geschenken wie Schmuck, Mode, Autos und anderweitigen Aufmerksamkeiten ganz zu schweigen.

Das mit dem Freund und der einseitigen Liebe hielt Naturgemäß nicht ewig. Von da an aber wollte Christine keinen Mann mehr, der ihr nicht etwas bieten kann. Lebensqualität nannte sie das damals und war fest davon überzeugt diese auch verdient zu haben. Bis heute.

Warum sich auch mit weniger zufrieden geben? „Und“ ist schließlich mehr wie „oder“.

Nachdem Christine die Schule beendet hatte beschloss sie zu studieren. Zu jenem Zeitpunkt hatte sie zumindest noch eine grobe Idee von ihrer Zukunft. Aber schon bald danach trat Dominik in ihr Leben, der erste wirklich wohlhabende Mann. Auch ihm gegenüber empfand Christine keine Liebe, vielmehr liebte sie das Leben das Männer wie er ermöglichen.

„Wenn man jung ist“, rechtfertigte sich Christine, „ist es doch spitze einen Freund mit Geld zu haben.“

Irgendwann würde sie sich schon ihren Traummann fürs Leben suchen. Möglichst mit Geld natürlich. Mit reichlich Geld und bis dahin wolle sie einfach sehen, wie es sich ergibt.

Alexander half ihr in den Mantel und legte beim Hinausgehen seinen Arm um Christine. Seinen Kuss auf ihre Wange erwiderte sie nicht. Während die beiden auf dem penibel gerechten und schneeweißen Schotter auf ihren Wagen warteten, dachte Christine weiter an ihre Jugend und wie im Laufe der Jahre nach und nach der Kontakt zu alten Freunden und Freundinnen verloren ging.

Christine war einfach früh, vielleicht zu früh, in anderen Kreisen unterwegs und verlor so auch das Interesse an ihren gewöhnlichen Freunden. Die meisten waren mittlerweile verheiratet, manche hatten sogar schon Kinder. Das hatte sie so oder so ähnlich jedenfalls über Umwege erfahren.

Als Christine, damals im Café, den verlegenen und verdutzten Alexander fragte, ob er sie nicht auf einen weiteren Kaffee einladen möchte, dachte sie freilich nicht an Sesshaftigkeit oder gar Familienplanung. Er war lediglich ein weiter wohlhabender Mann. Ihre Beute erkannte Christine sofort, war sie doch mittlerweile in der Jagd geübt. An der Kleidung, den Schuhen und die Art und Weise wie er damals das Café betreten hatte, erkannte sie es. Christine ließ nichts anbrennen und sprach ihn sofort an. Die Jägerin hatte Beute gewittert, darin konnte sie nichts trügen.

Vor ein paar Monaten aber, kurz nach ihrem sechsunddreißigsten Geburtstag und unmittelbar nach der Nachricht, das auch die letzte ihrer alten Klassenkameradinnen geheiratet hatte, spürte Christine das plötzliche und dringende Verlangen nach einer ernsthaften Beziehung. Nach etwas Ehrlichem und Dauerhaften. Etwas das ihr Abseits des Luxus Halt geben würde. Nach dem Ende der Jagd, nach Ruhe und Familie. Die Jägerin war müde geworden.

„Da muss es passiert sein. Da ist mir sein schütter werdendes Haar richtig aufgefallen. Zumindest hatte es ab da gestört“, dachte Christine und warf wieder einen flüchtigen Blick auf Alexanders Kopf, während er ihr die Tür aufhielt.

Auch den zweiten Kuss im Wagen, bevor Alexander den Motor startete, erwiderte Christine nicht.

„Eigentlich ist die Geschichte mit Alexander bereits beendet“, dachte sie während sich der Wagen in Bewegung setzte.

Jetzt, da die Trennung für Christine immer näher rückte, empfand sie beinahe Mitleid für Alexander, der das Offensichtliche nicht wahrhaben wollte und weiter gute Miene zum bösen Spiel machte. Die Fahrt verbrachten beide schweigend und Christine war froh um diesen Umstand.

Zuhause angekommen ging Christine direkt ins Haus und die große Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Sie wartete nicht auf Alexander, der noch den Wagen in die Garagen auf der Rückseite des Hauses fuhr.

Ebenfalls oben angekommen suchte er zu ihrem Bedauern ein Gespräch mit Christine. Auch das gab es in letzter Zeit öfter, diesmal allerdings war ihr ganz flau im Magen. Und, ebenfalls wie so oft, fand er nicht den passenden Einstieg. Unbeholfen gab er gequält freundliche Belanglosigkeiten von sich. Hoffend, Christine würde den Anfang machen.

Ihr war aber nicht nach reden zumute, hatte sie doch die Befürchtung Alexander würde eine vermutete Trennung von ihm zu Sprache bringen wollen. Außerdem wurde ihr schlecht bei dem Gedanken wie Alexander es wohl aufnehmen würde.

Sie entschuldigte sich und verschwand im Badezimmer, schloss die Tür hinter sich und vergrub ihr Gesicht in ihren zarten Händen. Sie musste sich von ihm trennen, zumindest so viel war ihr nun klar.

„Aber warum ein gemachtes Nest aufgeben, wenn nicht bereits eine Alternative in Reichweite ist?“, sagte Christine zu sich als sie in den Spiegel sah.

Zumal sich dieses gemachte Nest sehen lassen konnte.

„Ich geh noch einmal nach unten ins Arbeitszimmer, Papiere für morgen herrichten“, drang es durch die Tür.

Es war wieder diese übertriebene, irgendwie unheimliche freundliche Stimme eines Mannes, der das Unausweichliche nicht annehmen mochte.

„Arbeitszimmer“, dachte Christine. „Zwei Jahre bin ich mit diesem Mann zusammen und weiß bis heute nicht womit er sein Geld verdient.“

Erfolgreich war er, ganz offensichtlich, und das war ihr bisher genug an Information gewesen. Es führte Christine aber auch vor Augen, dass sie keinerlei Interesse an dem Menschen Alexander zeigte. Die erhöhte Aufmerksamkeit und die Geschenke, die er ihr in den letzten Wochen zukommen ließ, resultierten nicht nur allein aus seiner Angst, Christine zu verlieren.

Alexander war ab der ersten Minute sehr in sie verliebt, schien jedoch auch von Beginn an immense Verlustängste zu haben. Was angesichts der unterschiedlichen Erscheinungen der beiden von seinem Standpunkt aus nur verständlich war. Zudem konnte man es nicht übersehen das Alexander mehr als Stolz war, mit einer Frau wie Christine gesehen zu werden. Stellenweise fühlte sie sich wie eine Trophäe, die man Freunden unter die Nase hielt.

Der begehrte Siegerpokal im Großen Wer-bekommt-dasschönste-Mädchen-Wettbewerb.

„Hättet ihr wohl nicht gedacht, was?“ hätte Alexander am liebsten jedem ins Gesicht gerufen.

Dennoch wirkten seine Geschenke, Liebesbekundungen und Treueschwüre zuletzt immer verzweifelter und flehender. Als wolle, oder vielmehr müsse er sich ihre Liebe mehr denn je erkaufen. Anfangs war das Christine natürlich nur recht und billig, schließlich ging sie diese Art von Beziehungen des Geldes und nicht der Liebe wegen ein.

Jetzt da in ihr der Wunsch nach einer tiefen und ehrlichen Beziehung wuchs und sie erkannte, dass diese mit Alexander nicht zu erreichen war, fand Christine diese Art der Anbiederung plötzlich abstoßend. Zum ersten Mal in einer Beziehung, ja sogar in ihrem Leben, fühlte sie sich bezahlt. Gekauft. Wie ein Pokal.

„Widerlich“, sagte Christine laut erschrocken und fuhr vom Waschtisch auf. „Ich habe mich über all die Jahre kaufen lassen wie eine, eine…“, Christine brachte den Satz nicht zu Ende. Diesen Gedanken wollte sie nicht laut hören.

Schon mehrfach hatte Christine ihren Lebenswandel in Frage gestellt, darüber nachgedacht wie sie ihre Beziehungen führte und die Gründe in Frage gestellt. Jedoch verschwanden diese Selbstzweifel immer ebenso schnell wie sie gekommen waren. Nun aber waren sie geblieben und begannen es sich in ihren Gedanken so richtig gemütlich zu machen. Die Selbsterkenntnis wirkte wie ein Schock.

Sechsunddreißig war Christine nun und konnte sich nicht erinnern wann oder ob sie je einen Freund hatte, den sie wirklich geliebt hatte. Oder ob sie überhaupt jemals irgendjemanden ehrlich geliebt hatte. Einen Menschen mit dem man gerne zusammen ist. Bei dem egal ist ob das Restaurant einen eigenen Kellner für jeden Tisch und Parkservice hat. Einen mit dem man lacht, einen versteht und die Zukunft plant und den sie genau so liebt wer er sie. Mit dem man eine Familie gründen und Kinder haben möchte.

„Kinder“, dachte Christine.

Sie unterbrach das Auftragen ihrer Nachtcreme und starrte in den Spiegel. Während sie ihre Wangen mit zwei Fingern straffzog und wieder los lies, wiederholte sich der Gedanke wie ein Echo in ihrem Kopf. Dieser Gedanke an Kinder war ein weiterer, anfangs allenfalls flüchtiger, Wunsch, der sich nun ebenfalls öfter und hartnäckiger zeigte. So bekam sie von Alexander zwar alles was sie sich nur wünschen konnte. Kinder wünschte sie sich jedoch nicht. Mit ihm nicht.

„Sechsunddreißig“, sagte Christine so laut und deutlich als wolle sie ihr Gegenüber im Spiegel auf die Tatsache hinweisen.

Von einem Seufzer begleitet stand sie auf, legte ihr Nachtgewand an und ging aus dem Badezimmer hinaus ins angrenzende Schlafzimmer, wo ihr Blick auf die noch halb geöffnete Doppeltür fiel. Als sie die die Tür schließen wollte konnte sie Alexander von unten beim Arbeiten hören.

Christine warf noch einen Blick von der Galerie vor dem Schlafzimmer nach unten ins Erdgeschoss, wo man das Licht aus dem Arbeitszimmer in den weitläufigen Flur schimmern sah. So schwach wie es schien hatte er nur die Lampe am Schreibtisch an und Christine stellte sich vor, wie er wohl diverse Papiere lochte und sortierte um sie dann sorgfältig in seiner großen Aktentasche zu verstauen.

Wieder erwischte sich Christine dabei, wie es ihr eigentlich egal war was Alexander da unten tat. Sie versuchte lediglich in Erfahrung zu bringen ob mit seinem baldigen Gang zu Bett zu rechnen wäre.

„Wann kommst du?“, rief Christine vorsichtig nach unten.

Zu Leise wie es schien. Christine wiederholte die Frage etwas lauter. Beinahe hatte sie schon Angst vor einer Antwort.

„Einen Moment wird es noch dauern, geh ruhig schon zu Bett Liebes“, rief Alexander zurück.

Für die Antwort war er eigens zur Tür des Arbeitszimmers geeilt. Sicherlich aber auch um noch einen Blick auf seine geliebte Christine zu erhaschen. Erleichtert und ohne Kommentar drehte sie sich um, ging ins Schlafzimmer und schloss die Doppeltür hinter sich. Christine legte sich ins Bett und löschte das diffuse Licht der schicken aber nutzlosen Lampe auf ihrem Nachttisch.

„Sechsunddreißig“, flüsterte Christine.

Beim Umdrehen fiel ihr Blick auf die leere Seite des Bettes, Alexanders Seite.

„Sechsunddreißig“, murmelte sie ein letztes Mal und schlief ein.

Kapitel Zwei

Das leichte und unregelmäßige Klopfen an der Fensterscheibe störte Christine anfangs überhaupt nicht. Sogar als angenehm empfand sie es, beinahe wie eine Melodie die sie beim Erwachen begleiten würde.

Jetzt schon aufzustehen empfand Christine dessen ungeachtet jedoch lästig, wo es doch so gemütlich im Bett war. Ein wenig Schlummern würde wohl noch gehen beschloss sie. Allzu spät konnte es ohnehin noch nicht sein, dafür war es nicht hell genug und sowieso hatte sie für den Tag keine großartigen oder gar wichtigen Pläne, die ein frühes Aufstehen überhaupt notwendig machen würden.

Zufrieden mit dieser Erkenntnis drehte sich Christine noch einmal um. Dabei fiel ihr Blick, wie am Abend zuvor, auf die leere Seite des Bettes. Laken, Kissen und Decke waren zwar noch an Ort und Stelle, nun aber unordentlich und aufgewühlt. Alexander musste sich in aller Frühe aus dem Bett geschlichen haben, vorsichtig genug um Christine nicht zu wecken. Oder hatte sie, der Umstände des letzten Abends halber unerwartet, doch fest geschlafen?

Mit einem Mal waren die gemütliche Stimmung und das Bedürfnis zu dösen verflogen. Sie erinnerte sich an ihre Situation mit Alexander und wie sehr sich am Tag zuvor ihre Gedanken an eine Trennung verdeutlicht hatten. Auch das Klopfen an den Scheiben war kein Wohlklang mehr. Sondern einfach nur noch „Scheiß Regen“, wie Christine sauer feststellte nachdem sie sich auf ihre Ellenbogen gestützt hatte. Durch die dünnen, langen Vorhänge sah sie dicke Tropfen an die bodentiefen Fenster klatschen. Genervt von ihrem Stimmungswandel riss Christine die Bettdecke zur Seite, setzte sich kurz auf die Bettkante und ging dann ins Badezimmer. Sogar von hier konnte man das schwere Prasseln der Regentropfen hören.

Lustlos den Morgenmantel über den Schlafanzug gezogen ging sie nach unten in die Küche. Dort stand zu ihrer Überraschung ein kleines Frühstück am Tresen bereit. Ei, Toast, Käse, Marmelade dazu Kaffee und Orangensaft hatte Alexander ebenso für Christine hergerichtet, wie er die Zeitung parat gelegt hatte.

Dem gruseligen Zustand des Käses und der Temperatur des Kaffees nach zu urteilen, wurde das Frühstück bereits vor geraumer Zeit serviert. Demnach musste Alexander schon vor Stunden das Haus verlassen haben.

Wann er nun genau gegangen war interessierte Christine eigentlich wenig, aber es regte sie schon auf das sie überhaupt an ihn denken musste. Führte es ihr doch wieder das Dilemma vor Augen in dem sie sich befand, was ein Aufhellen ihrer Stimmung weiter in Ferne rückte.

Der Blick auf die riesige Küchenuhr über dem Durchgang zum Esszimmer verriet zudem, dass es bereits kurz vor elf war. Überrascht ging Christine zur großen Glastür in der Küche, die auf die ausladende Terrasse hinausführt und lies den Rollladen nach oben fahren. Das düstere Licht, das sie vorhin noch als Morgendämmerung gedeutet hatte, stellte sich als Teil des scheußlichen Wetters heraus das draußen wütete. Dem grauen und wolkenverhangenen Himmel nach würde es wohl den ganzen Tag regnen anstatt besser zu werden.

„Fabelhaft“, kommentierte Christine zynisch.

Nach der enttäuschenden aber zu ihrer Stimmung passender Aussicht auf das Wetter nahm Christine eine Tasse aus dem Schrank und wandte sich der Kaffeemaschine zu. Eine halbvolle Kanne stand noch darin. Dem kalten Kaffee, der bei dem kleinen Frühstück stand, schenkte sie keine weitere Beachtung.

Während dem eingießen hielt Christine kurz inne und betrachtete das Arrangement. Die Farben, die Käse und Wurst angenommen hatten, konnten nicht gesund sein.

Wie das Frühstück auf dem großen Marmortresen zwar liebevoll angerichtet war, aber unberührt blieb. Wie sinnlos es war Frühstück für sie zu machen. Sie schlief doch immer lange, dachte Christine, während der immer stärker werdende Regen unermüdlich gegen die Glastür schlug. Und doch hatte sich Alexander die Mühe gemacht.

Wieder fühlte Christine sich angewidert, sah in der kleinen Mahlzeit erneute lediglich eine verzweifelte Tat von ihm, sich einzuschmeicheln und das Unabwendbare aufzuhalten.

Auf einmal sah sie alles um sich herum mit anderen Augen, mit ihren neuen Augen. Das Haus, die Küche, die Kleidung, die lächerlich große Küchenuhr, selbst den Kaffee den sie eben noch im Begriff war zu trinken. Es waren mit einem Mal nur Werkzeuge Alexanders, Christine an ihn zu binden. Übelkeit kam in ihr auf und es lief ihr kalt den Rücken hinab. Der Gedanke sich prostituiert zu haben, nie war er ihr in all den Jahren in den Sinn gekommen, schlug jetzt binnen kurzer Zeit zweimal hart zu. Und er hinterließ Spuren.

„Eine gekaufte Frau“, ekelte sich Christine.

Den aufkommenden Gedanken an das umgangssprachliche Wort für Damen aus diesem Geschäftsfeld, das ihr bereits gestern nicht über die Lippen kommen konnte, schob sie schnell und angewidert beiseite.

Eilig stellte Christine die Kanne zurück in die Maschine. So schnell, dass trotz des halbleeren Füllstandes noch Kaffee heraus schwappte. Die Tasse knallte sie daneben und lief nach oben ins Badezimmer und stellte das Wasser in der Dusche an. Christine war schneller fertig als man es jemals von einer Frau hätte erwarten können.

Das leichte Makeup und die Kleidung waren ebenfalls in Windeseile erledigt und sie war die Treppe so schnell wieder unten wie sie hinaufgerannt war. Hastig riss Christine ihre Handtasche von der Garderobe und verschwand durch die große Eingangstür in den weitläufigen Hof hinaus. Die massigen Türflügel fielen mit einem lauten Schlag ins Schloss.

Den Anruf bei der Taxizentrale erledigte Christine beim hinunterlaufen der ellenlangen Auffahrt, die vom opulenten Anwesen hinunter zum eisernen Tor an der Straße führte. Erst unten, als sie vor selbigem stand, bemerkte sie, dass sie keinen Schirm bei sich hatte. Christine schaute die Auffahrt hinauf zurück zum Haus.

In dem starken Regen sah es mit seiner üppigen Außenbeleuchtung, den Zinnen und Gaupen aus wie eine Festung. Oder ein Gefängnis. Sie beschloss nicht mehr zurück zu gehen. Irgendwie war Christine froh das Haus verlassen zu haben und so sollte es erst einmal auch bleiben.

Das Taxi ließ jedoch auf sich warten und Christine verbrachte die Zeit unter einem Baum auf der anderen Straßenseite, der das Wetter allerdings mehr schlecht als Recht zurückhielt. Die Scheinwerfer kündigten einen Wagen lange vorher an und ließen den Regen noch stärker wirken. Die schnell laufenden Scheibenwischer machten ihr endgültig deutlich, dass ein Schirm wohl angebracht gewesen wäre.

„Café Rabanne bitte“, wies Christine den Fahrer bereits beim Einsteigen an.

„Alles OK bei ihnen? Sie sind ja völlig durchnässt.

Wohnen Sie hier? Soll ich Sie nach oben zum Haus fahren?“, bot der Fahrer an nachdem er Christine von oben bis unten gemustert hatte.

„Ja, nein. Nein danke, es geht schon“, hörte der Fahrer stammeln. „Café Rabanne bitte“, wiederholte Christine die sich dafür erst etwas sammeln musste.

„Wie Sie wünschen“, nahm der Taxifahrer mit hochgezogenen Augenbrauen zu Kenntnis.

Er drehte sich um und setze den langen Hebel der Automatik wieder in den Fahrmodus. Durch den Rückspie gel warf er vorsichtig noch einmal einen prüfenden Blick auf die durchnässte Frau auf seiner Rückbank. Dann setzte er langsam den Wagen in Bewegung.

***

Christine hatte das kleine Café nicht mehr aufgesucht seit sie Alexander dort kennen gelernt hatte und als sie durch die gläserne Tür den kleinen Gastraum betrat, sah sie erfreut, dass sich nichts geändert zu haben schien.

Im Raum verteilt waren immer noch dieselben, etwa zehn bis zwölf der natürlich viel zu kleinen runden Tischchen mit jeweils zwei oder vier Stühlen. In der Ecke befand sich auch immer noch der dunkle Tresen, der sich über zwei Wände erstreckte und mit der Vielfalt an Spirituosen auch ohne weiteres in jeder Bar eine gute Figur gemacht hätte.

Christine überkam ein wohliges Gefühl beim Anblick des Cafés, fragte sich dabei aber auch warum sie so lange nicht hier gewesen war. Etwa zwei Minuten, vielleicht auch drei, stand sie einfach nur im Eingangsbereich und sah sich im Gastraum, der wohl etwa zur Hälfte besetzt gewesen sein musste, um.

„Hallo, ein schreckliches Wetter heute nicht wahr?“, grüßte unvermittelt ein kleiner Mann, der gerade einen der Tische neben der Tür abräumte.

Ein Kellner, so vermutete Christine.

„Darf ich ihnen einen Platz anbieten?“, fuhr er fort.

Er stellte leere Tassen auf sein Tablett und bestätigte Christines ersten Verdacht. Sie erwiderte seine Frage nicht, hängte ihren nassen Mantel an den überfüllten Garderobenständer neben der Tür und schlängelte sich durch den engen Gastraum an den anderen Tischen vorbei, direkt auf einen Platz an der gegenüberliegenden Seite des Tresens zu.

Es war ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen, vermutlich noch kleiner als die ohnehin schon kleinen anderen Tische. Aber Christine war froh, dass dort niemand saß. Es war schon damals ihr Lieblingsplatz gewesen, da er weder zu nahe am Eingang lag um durch gehende oder kommende Gäste gestört zu werden, noch zu nahe am Tresen um die dort typische Geräuschkulisse der Bediensteten mitzubekommen.

Außerdem konnte man von hier das ganze Café überblicken und zudem noch bequem zu zwei Seiten aus den großen Fensterflächen hinaus auf die Straße sehen. Sie hatte kaum Platz genommen, da stand der kleine Kellner bereits am Tisch und erkundigte sich nach Christines Wünschen.

„Erstmal bitte nur einen Kaffee“, klang es mehr wie eine Frage.

Dann schlug Christine eine der schmalen, hohen Speisekarten auf. Sie sah dem Kellner kurz nach und fragte sich wie lange er wohl schon hier arbeiten würde. Denn früher aus ihrer aktiven Zeit hätte sie ihn oder er sie wohl wiedererkennen müssen. Immerhin war Christine über lange Zeit häufiger Gast im Café Rabanne und obwohl sie keinen engeren Kontakt zu den Beschäftigten hatte, so kannte man sich doch und pflegte einen freundschaftlichen Umgang. Aber weder der kleine Kellner noch die junge Frau hinter dem Tresen, die im Übrigen die einzigen beiden Mitarbeiter zu sein schienen, weckten Erinnerungen bei ihr. Die früheren Besitzer, ein älteres Ehepaar, mussten das Geschäft wohl verkauft oder verpachtet haben dachte sich Christine. Denn zumindest einer von beiden war immer anwesend, beide hatten sich mit Herz und Seele der Gastronomie verschrieben, und weder von den beiden noch von den damaligen Mitarbeitern war jemand zu sehen. Also musste das Café unter neuer Leitung stehen. Ihr Verdacht verhärtete sich nachdem sie die veränderte Karte bemerkte.

„Ich brauche noch einen Moment“, entgegnete Christine auf die Frage was es denn sein dürfe, nachdem der Kellner die Tasse Kaffee geschickt und unauffällig auf dem kleinen Tischchen abgestellt hatte.

„Lassen Sie sich Zeit“, bot er freundlich an und wandte sich ab.

Mit dem leeren Tablett bedeckte er dabei sein Gesäß.

Christine bemerkte die feminine Geste und musste schmunzeln. Beim Lesen der Karte stellte Christine erfreut fest, dass die ohnehin schon gute Auswahl durch den Besitzerwechsel noch an Qualität gewonnen hatte.

Immer wieder fuhr ihr Blick hoch, durch den Gastraum und durch die großen Fenster hinaus auf die leeren, nassen Straßen. Das ungemütliche Treiben vor dem Fenster ließ das Innere des Cafés deutlich an Gemütlichkeit gewinnen. Sie genoss es hier zu sein und fühlte sich so gut wie seit Wochen nicht mehr. Dieses verlebte, ja fast schäbige aber durchaus liebenswerte Lokal gab ihr jetzt innerhalb weniger Augenblicke ein derart wohliges Gefühl wie es Christine in den teuren Restaurants, schicken Boutiquen und edlen Häusern zuletzt vergeblich gesucht hatte.

Sie versuchte den Moment regelrecht aufzusaugen, das Gefühl noch einen Moment in die Länge zu ziehen und wandte sich dann wieder der Karte zu.

„Vielleicht sollten Sie gleich aus der Mittagskarte wählen, bis Sie sich entschieden haben gibt es wohl kein Frühstück mehr“, brummte es.

Eine tiefe und zugleich sanfte Stimme hatte Christine bei ihrem Wechsel zwischen Tagträumerei und dem studieren der Karte unterbrochen.

„Oder Sie sparen sich ihren Appetit gleich auf ein Abendessen auf“, fuhr die Stimme fort.

Christine erschrak sich, blickte von der Karte auf und sah einen lächelnden Mann an ihrem Tisch stehen der ihr freudig aber diskret seine rechte Hand entgegenstrecke.

„Vielleicht sogar ein Abendessen mit mir?“, fragte er mit einem Lächeln und seiner ungemein beruhigenden Stimme.

„Ich...äh...bin noch, hm, nicht...“, stammelte Christine, die Speisekarte zitternd vor sich haltend.

„Richard, mein Name ist Richard.“

Kapitel Drei

Richard freute sich sichtlich über Christines Verunsicherung. So oder so ähnlich schien er es sich erhofft zu haben. Zumindest war er froh, dass ihre erste Reaktion nicht gleich ein Korb gewesen war.

„Entschuldigen Sie bitte meinen spontanen und sicher auch aufdringlichen Auftritt, ich wollte Sie keinesfalls in Verlegenheit bringen“, beschwichtigte er während er eine Hand auf seine Brust legte und seine andere Christine, nun noch deutlicher, entgegenstreckte.

„Nun“, Christine räusperte sich ohne dabei eine Hand vor den Mund zu nehmen. „Ich äh“, stammelte sie weiter.

Das Räuspern hatte nichts gebracht.

„Ich musste einfach herüberkommen und Sie ansprechen“, unterbrach Richard. „Große Gedanken um das was ich sagen wollte habe ich mir allerdings nicht gemacht. Im Nachhinein keine glückliche Entscheidung. Ich wollte Sie wirklich nicht in Bedrängnis bringen. Verzeihung!“, entschuldigte er sich erneut.

Christine versuchte sich zu sammeln, legte die Karte zur Seite und erwiderte dabei Richards Handschlag.

„Nein, das haben Sie sicher nicht. Ich war nur…“ Wieder wurde sie unterbrochen.

„Darf ich mich zu ihnen setzen?“, fragte Richard und fasste bereits mit einer Hand zur Stuhllehne.

„Oh. Aber bitte, natürlich.“ Christine machte eine unbeholfene Handbewegung in Richtung des Stuhles.

Sie wusste, dass sich Richard die Antwort schon selbst gegeben hatte.

Christine machte jetzt einen deutlich gefassteren Eindruck als noch in den ersten Sekunden, als sie sich beinahe plump überrumpelt gefühlt hatte. Sie nahm nun Richard erstmals richtig wahr während dieser an den Tisch heranrückte.

„Aufdringlich aber charmant und irgendwie Eindrucksvoll“, dachte Christine. “Vor allen Dingen aber verdammt...“, ihren Gedanken brachte sie nicht zu Ende.

Mit einem Mal war es als hätte man alle Umgebungsgeräusche in einem dicken, gefütterten Sack gesteckt. Als wäre der Raum abgedunkelt und nur Christines Tisch würde in einem Lichtkegel stehen. Weder den Cafébetrieb noch den schweren Regen an der Fensterscheibe nahm sie noch wahr. Gleichzeitig wurde die gesamte Atemluft schlagartig aus dem Raum gesaugt und die Heizung auf dreiundfünfzig Grad gedreht. So vermutete Christine jedenfalls.

Das Einatmen glich einem zittrigen Stottern, gefolgt von einem schweren, trockenen Schlucken. Christine bekam kaum noch Luft und ihr wurde warm, unangenehm warm. So sehr, dass ihre Handflächen zu schwitzen begannen. Zu alledem schlug ihr Herz derart kräftig, das sie für einen kurzen Moment befürchtete jeder um sie herum könne es nicht nur hören, sondern sogar sehen.

Sie musste noch einmal schlucken. Wieder war es schwierig und ohne ein deutliches Glucksen kaum zu bewerkstelligen. Sie rieb ihre Handflächen zwei-, dreimal über ihre Oberschenkel.

„Attraktiv, sehr attraktiv sogar“, beendete Christine ihren Gedanken doch noch, obwohl ihr für einen kurzen Moment ein deutlich animalischerer Ausdruck durch den Kopf gehuscht war.

Wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel hatte es Christine erwischt. Sie war wie gefesselt von dem was passierte und wen sie sah. Dunkle, leicht lockige Haare, nicht zu lang und nicht zu kurz. Angenehm gebräunte Haut, scheinbar ein Urlaubstyp. Seine kleine unauffällige Brille fiel im markanten Gesicht kaum auf. Rund und rahmenlos war sie, fast altmodisch. Altmodisch war eigentlich auch sein voller Schnurrbart, der zu Christines Überraschung aber keinesfalls unangenehm oder gar peinlich wirkte. Es passte auf eine Art und Weise wie man es nur aus einem dieser Mode oder Trendmagazinen zu kennen glaubte.

„Oder von Tom Selleck“, fiel Christine ein.

Sie musste innerlich schmunzeln, kannte sie doch die alten Serien nur zu gut. Auch Richard war groß und ganz offensichtlich gut gebaut. Eigentlich fehlten nur das bunte Hawaiihemd und die Shorts.

„Vor allem wenn man sein Alter bedenkt. Wie alt mag er wohl sein, vielleicht Mitte oder Ende vierzig?“

Christine war in ihren Gedanken vorsichtig. Als könnte Richard in ihren Kopf hineinsehen, sie dabei erwischen wie sie unmittelbar mit seiner Musterung begonnen hatte. Modisch, vielleicht altmodisch, aber unauffällig und elegant, mit kariertem Hemd unter einem einfarbigen Pullover, traf es Christines Vorstellung eines gut gekleideten Mannes genau.

„Perfekt“, dachte sie und erschrak sich wieder.

Christine konnte nicht mehr genau unterscheiden ob der letzte Gedanke nur seiner Kleidung oder Richard an sich galt. Ihre Blitzschnelle Auffassungsgabe bei der Beutejagd war ihr ja bekannt, aber bisher schien dies nur in Bezug auf den Vermögensstand zu funktionieren. Das sie sich innerhalb von Sekunden aber bereits Gedanken um Statur und Alter machte, verwunderte Christine schon etwas. Erst jetzt wurde ihr bewusst das Richard mittlerweile gespannt gegenüber saß und freundlich lächelte.

Seine Hände hatte er vor sich auf dem Tisch gefaltet.

Vermutlich hätte er wirklich nur zu gerne gewusst was in Christines Kopf vorging.

Christine zuckte zusammen. Wie lange mag sie ihn jetzt so gemustert haben? Minuten? Oder waren es doch nur einige Sekunden? Ja regelrecht angestarrt haben musste sie ihn. Ob es ihm aufgefallen war? Bestimmt sogar dachte sie. Hatte sie sogar ihre träumerischen Gedanken laut ausgesprochen? Christine wurde rot und geriet in Verlegenheit, befürchtete ihre Musterung wäre nur allzu offensichtlich gewesen.

Ihre Befürchtung ließ Christine noch nervöser werden.

Stärker noch als zu Beginn, als Richard sie nur durch seine Stimme aus dem Takt brachte, nicht noch durch sein makelloses Äußeres. Wieder konnte sie es nicht lassen ihre Blicke über sein Gesicht streifen zu lassen.

„Jetzt starre ich ja schon wieder“, ertappte sich Christine und versuchte sich krampfhaft etwas einfallen zu lassen, mit dem sie ein Gespräch eröffnen konnte.

„Sagen Sie“, riss Richard Christine erlösend aus ihren Anstrengungen, „der Kaffee den Sie da vor sich kalt werden lassen, schmeckt der hier etwa nicht?“

Die Frage diente mehr als offensichtlich nur um das Eis zu brechen und um Christine die Bürde der Gesprächseröffnung abzunehmen. Sie war heilfroh darüber, lachte erleichtert und holte kurz Luft um sich etwas Zeit zu verschaffen. Ihre Antwort wollte sie sich wohl überlegen um nicht wieder ins Stammeln zu verfallen.

„Ich habe nämlich auch noch nichts gefrühstückt müssen Sie wissen“, fuhr Richard fort noch bevor Christine etwas erwidern konnte.

Ein Blick in die kleine Tasse vor sich zeigte, dass sie tatsächlich noch keinen Schluck getrunken oder gar betrachtet hatte, was der Kellner ihr gebracht hatte. Sie habe noch gar nicht davon probiert und aktuell wäre es ihr auch eigentlich egal wie der Kaffee schmecken würde, erklärte Christine. Sie sei nicht des Kaffees wegen in das Café gegangen.

„Zumindest nicht heute“, gab Christine zu.

Die Worte kamen ihr vergleichsweise locker und leicht über die Lippen und sie war froh, dass sie sich nicht vollends blamiert hatte. Gleichzeitig bemerkte sie den Hauch von Wehmut, der in ihrer Äußerung steckte. Christine war aber dennoch froh es so gesagt zu haben, da dadurch offensichtlich Richards ohnehin schon deutliches Interesse noch merklich gesteigert wurde. Zufrieden lächelte sie und war gespannt auf Richards weitere Fortführungen.

„Wir sollten es vielleicht wirklich so machen“, so seine für Christine überraschende Reaktion.

„Wirklich so wie?“, fragte sie zögerlich.

„Wir sollten tatsächlich das Frühstück zugunsten eines Mittagessens ausfallen lassen“, fuhr Richard fort und stützte seinen Kopf dabei auf dem Daumen seiner linken Hand ab.

„Lassen Sie sich von mir einladen. Machen Sie mir bitte, bitte die Freude, ja?“

Seine Augen leuchteten dabei und kaum ausgesprochen, Christine konnte sich kaum gerade aufsetzen um ein schüchternes „Okay?“ mit einem peinlich langen „O“ von sich zu geben, rief Richard schon den Kellner mit einer souveränen Handbewegung herbei.

„Okay“, murmelte Christine und war so aufgeregt wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Tanz aufgefordert wird.

Christine war tatsächlich zum letzten Mal derartig aufgeregt, als es zu ihrem ersten Tanz ging oder kurz vor ihrem ersten Kuss. Es war derselbe Abend gewesen. Wie damals war es dieser angenehme Verlust von Kontrolle, der starke Sog ohne die Richtung bestimmen zu können.

Wieder war sie gewillt sich einfach mitziehen zu lassen.

Ihre Hände zitterten ein klein wenig und ihr Herz schlug wieder so heftig das sie mit ihrer Hand über die Brust fuhr. So als würde die das vermeintlich auffällige Klop fen des Herzens verbergen wollen. Mit der anderen Hand strich sie ihr langes blondes Haar hinter ihr Ohr.

„Okay!“

Die erneute Bestätigung galt eher ihr selbst als Richard, der beim ersten „Okay“ schon verzückt aufgelacht hatte.

Es klang zwar selbstbewusster aber wurde immer noch mit zittriger Stimme vorgetragen.

„Sehr gerne“, bestätigte Christine ein drittes Mal.

„Sie machen mich bereits schon jetzt sehr glücklich“, sagte Richard während er einen zerknüllten Geldschein aus der Hosentasche holte und dem herangeeilten Kellner reichte.

„Die Dame möchte kein Frühstück, nur den Kaffee.

Dankeschön.“

„Vielen Dank und einen angenehmen Tag noch“, nickte der Kellner und verschwand wieder.

Richard erhob sich galant als Christine aufstand.

„Bitte“, sagte er. „Ich hole ihren Mantel, warten Sie.“

Christine, fast peinlich berührt ob seiner zuvorkommenden Art, blieb an dem kleinen Tischchen stehen und rückte unbeholfen den Stuhl zurecht. Sie sah ihm nach wie Richard zum Garderobenständer ging und zielsicher Christines Mantel vom Haken nahm. Obwohl dort weitere Kleidungsstücke dicht gedrängt hingen, schien er zweifellos zu wissen welcher der ihre war. Wie er ihn wohl erkannte haben mochte, dachte sich Christine und nutzte die Gelegenheit um Richard noch einmal aus der Ferne zu mustern.

„Wirklich sehr attraktiv“, stellte sie zufrieden fest.

„Ich bemerkte Sie bereits beim Hereinkommen, darum wusste ich welcher Mantel der ihre ist“, lüftete er ungefragt das Rätsel während er den noch leicht feuchten Mantel öffnete und Christine hineinhalf.

„Außerdem gereicht nur ein Mantel wie dieser einer schönen Frau wie ihnen.“

Christine kicherte.

„Ich wollte keinesfalls indiskret sein oder gar aufdringlich sein, verzeihen Sie bitte.“, fuhr Richard fort und strich gekonnt mit den Händen über Christines Schultern um den akkuraten Sitz des Mantels zu prüfen.

„Perfekt“, sagte er und lies seine Hände von ihren Schultern über die Oberarme hinuntergleiten.

Christine drehte sich um und sah in seine tiefgrünen Augen.

„Danke“, hauchte sie ohne wirklich einen Ton hervor zu bringen.

Für einen kurzen Moment, nur ein paar wenige Augenblicke, standen sie sich inmitten des Cafés gegenüber und schauten einander einfach nur an. Richard schluckte.

„Wollen wir?“, unterbrach er den Moment mit sanfter Stimme.

Den Moment zu beenden fiel beiden unangenehm schwer, Richard gar schien sich fast dafür zu schämen. Er wies mit einer Hand zur Tür und mit der anderen führte er Christine an der Hüfte. Die Berührung, auch wenn sie noch so sanft und durch den Mantel hindurch kaum spürbar war, wirkte auf Christine elektrisierend. Ihr Herz schlug wieder wie wild und durch ihren Körper floss ein wohliges, aufregendes Zittern. Sie genoss es, die anfänglichen Nervosität wich nun langsam aber sicher gänzlich einer ungeheuren Neugierde und Vorfreude auf die kommenden Stunden. Dem drohenden Kontrollverlust und der aufregenden Sogwirkung der Ereignisse wollte sie sich nun endgültig ergeben.

„Ich bin gespannt“, sagte Richard während die beiden zur Tür gingen.

Christine drehte den Kopf und sah in fragend an. Ihr Atem wurde flach und schnell. Auf was er wohl gespannt sei fragte sie sich.

„Aber egal was es war, ich bin ebenso gespannt“, ging es ihr durch den Kopf.

Das Herz pochte Christine erneut bis zum Hals.

„Ich bin gespannt welche Geschichte dahintersteckt, warum einer Dame egal ist wie ihr Kaffee schmeckt.“

Löste Richard augenzwinkernd auf.

Christines Gesicht erhellte sich wieder und sie musste schmunzeln. Sie zog ihre Augenbrauen in einer verheißungsvollen Geste nach oben und schritt voran durch die Tür.

„Das verspricht ein interessantes Essen zu werden“, stellte Richard zufrieden fest während er ihr die Tür aufhielt.

„Unter einer Bedingung“, stieß er noch fordernd hervor.

Christine blieb stehen, zuckte am ganzen Körper zusammen.

„Sie müssen mir unbedingt noch ihren Namen verraten“, forderte er frech.

Christine drehte sich um und sah Richard, wie er sie mit erwartungsvollen Augen ansah. Sie erwiderte seinen Blick und verlor sich erneut in Richards Augen. Beide strahlten sich mit der Gewissheit an, dass ein Abenteuer vor ihnen lag, in welches sich beide bereitwillig Hals über Kopf stürzen würden. Obwohl er die Tür weiter offenhielt und es draußen immer noch regnete, blieben beide wieder wie erstarrt stehen und blickten einander an. Sein Ärmel war bereits ganz nass, es schien ihm jedoch nichts auszumachen.

„Christine“, ihre Stimme war leise und zittrig.

„Christine“, wiederholte Richard sanft.

Es wirkte auf Christine, als wäre ihr Name die Antwort auf eine lange gestellte Frage gewesen. Als hätte es gar keine andere Antwort geben können. Eine Frage die Richard schon lange zu quälen schien. Beide lächelten und verließen das Café und leise fiel die Tür hinter den beiden zu.

Kapitel Vier

„Scheiße“, dachte sich Christine und zog den Kopf ein als ihr die große Eingangstür aus der Hand glitt und mit einem gewaltigen Schlag ins Schloss fiel. Das Echo schallte durch die große Eingangshalle.

„Verdammt, das muss er ja gehört haben“, fluchte sie leise.

Christine fürchtete jeden Moment irgendwo im Haus ein Licht zu sehen. Noch während sie ihre Schuhe auszog und den Mantel über das Geländer legte, wurde ihr aber klar, dass es ihr egal war ob Alexander es gehört hatte.

Ab heute würde sich ohnehin alles ändern, war sie sich sicher. Vielleicht war er sowieso schon weg, zur Arbeit oder sonst wohin, dachte sich Christine während sie in ihrer Handtasche wühlte.

„So spät?“, sie kniff die Augen zusammen als sie die Uhrzeit auf dem Smartphone erblickte. „Oder vielmehr früh.“

Der Tag mit Richard war wie im Flug vergangen. Nach dem Essen verbrachten die Beiden nicht nur den ganzen Tag, sondern wohl auch die halbe Nacht, wenn man die Uhrzeit bedenkt.

Sie gingen spazieren, nach dem Essen als der Regen nachgelassen hatte. So kurz nach dem Unwetter schien die Stadt mit ihren leeren Straßen nur ihnen zu gehören.

Am Abend waren sie etwas trinken gegangen und dazu, für Christine untypisch, waren sie sogar tanzen. Selbst auf dem kleinen, eigentlich wenig einladendem Jahrmarkt am Hafen waren die beiden gewesen. Auch hier war nach dem Regen nicht viel los und sie hatten beinahe den ganzen Markt für sich. Auch wenn einige der Schausteller und Budenbetreiber des Wetters wegen das Handtuches bereits geworfen hatten und es fast nichts zu entdecken gab, außer einander. Und so unterhielten sie sich.

Über dies und jenes, über alles und jeden.

Christine war über beide Ohren verliebt. Daran hatte sie keinen Zweifel mehr, nicht den geringsten. Möglicherweise zum ersten Mal überhaupt. Nie zuvor in ihrem Leben empfand sie solch starke Gefühle für einen Menschen oder hatte derart viel Spaß an einem Tag. Ungewohnt tiefgründig war er obendrein verlaufen.

Richard hörte Christine bereitwillig zu, von ihren ursprünglichen Plänen nach dem Studium hatte sie erzählt, wo ihre Wurzeln waren und die Zukunft die sie einst sah. Auch über Alexander redeten die beiden beinahe zwangsläufig. Zum einen war Alexander der Grund für den kalten Kaffee am Morgen gewesen, der Richards Interesse geweckt hatte. Zum anderen war Christine bereits, auch ohne Richard, an einem Punkt angelangt an dem ihr Alexander nicht nur überdrüssig war, sondern sogar zuwider. Sie wollte nicht mit einer Lüge in etwas starten, von dem sie sich nicht weniger erhoffte als ihre erste ernsthaften Beziehung. Die Zukunft ihres Lebens.

Denn Richard war der Traummann, ihr Neustart, das war ihr klar. Vielleicht auch ihre letzte Chance. Und auch er zeigte über den Tag ein ehrliches Interesse an Christi ne, ohne aber zu forsch oder gar aufdringlich zu sein. All die Dinge nach denen Christine sich in letzter Zeit sehnte schien Richard erfüllen zu können. Sie war überglücklich, fast schon euphorisch. Wie ein Teenager vor dem ersten Tanz.

Christine hatte, durch Richard bestärkt, endgültig den Entschluss gefasst ihre Beziehung zu Alexander zu beenden. Richard zeigte ihr nicht nur einen anderen Blickwinkel auf ihr Leben, er half ihr sogar dabei wie sie es Alexander beibringen könnte. Durch ihn war der grobe Gedanke, etwas an ihrer Lebensweise ändern zu müssen, zu einem reifen Plan geschliffen worden. Wo Christine bisher nur in der Dunkelheit blinzeln konnte, hatte er ihre Augen geöffnet und einen Ausweg gezeigt. Die Signale zeigten sich für Christine deutlich, mehr als deutlich.

„Scheiß drauf“, sagte Christine laut während sie in der Küche auf und ab ging.

Aber jetzt war sie alleine und ohne Richard wirkte das vor wenigen Stunden noch so greifbare Ziel mit einem Mal so unerreichbar. Sie legte sich ein paar Sätze zurecht, mit denen sie Alexander ihren Standpunkt so schonend wie möglich klar machen wollte. Obwohl Christine nicht wusste ob er eigentlich im Haus war, wurde sie bereits beim Durchspielen der Situation nervös und wünschte sich Richard an ihrer Seite.

Alexander vor den Kopf stoßen wollte Christine bei alledem nicht, auf gar keinen Fall. So sehr er ihr auch überdrüssig war. Letztendlich hatte er im Grunde nichts falsch gemacht. Aber sie fürchtete seine Reaktion. Wie würde er es der Mann aufnehmen, der der schon seit längerem um die Beziehung zu Christine kämpfte? Wenn seine quälenden Ängste plötzlich schmerzhafte Gewissheit würden? Zwar hatte er um ihre Anerkennung mit plumpen Mitteln wie materiellen Dingen gekämpft. Aber das war ihm nicht zur Last zu legen. Schließlich war es Christine lange Zeit so lieb und teuer gewesen, und so nutzte Alexander eben nur seine Möglichkeiten dachte sie sich.

Das kurze Brummen ihres Handys auf dem marmorierten Tresen lies Christine ihre Gedanken unterbrechen.

Beim Lesen der Nachricht erhellte sich ihre Mine und sie nahm Platz auf einem der hohen Barhocker. Es war eine Nachricht von Richard, der eine gute Nacht wünschen wollte und sich für den tollen Tag bedankte. Weiter wünschte er Kraft für das Gespräch mit Alexander und er würde sich freuen in ein paar Tagen, gerne auch früher, wieder von ihr zu hören.

Christine las die Nachricht mehrere Male, immer wieder von vorne. Obwohl sie aus kaum mehr als drei Zeilen bestand war es der schönste Text den Christine seit langem gelesen hatte. Gebannt blickte sie eine Weile auf ihr Handy. Dann tippte sie schnell, fast hektisch, eine Nachricht. Kurz zögerte Christine noch, drückte dann doch den Sendebutton und lief die Treppe nach oben.

Christine war erleichtert, dass Alexander tatsächlich nicht im Haus zu sein schien als sie das Schlafzimmer betrat. Sie packte einige persönliche Dinge sowie Kleidung in zwei große Koffer, ging rasch ins Badezimmer um sich etwas frisch zu machen und eilte mit den beiden die Treppe wieder hinunter. Im Eingangsbereich stellte sie die Koffer zunächst ab und lief in Alexanders Arbeitszimmer. Zielgerichtet ging Christine durch den großzügigen aber dunkel getäfelten Raum und um den massiven Schreibtisch herum. Sie nahm ein Blatt Papier aus der Ablage und den Füllfederhalter aus der gläsernen Schatulle. Dann setzte sie sich in den großen Sessel, dessen knarzendes Leder die Stille nur unheimlicher wirkend ließ. Mehrmals setzte Christine zum Schreiben an, zog aber den Stift wieder zurück. Dann schließlich schnaufte sie so kräftig als müsse sie sich dazu zwingen.

„Lieber Alexander“, begann Christine wenig einfallsreich, hörte aber augenblicklich wieder auf.

„Lieber Alexander?“, fragten sie sich laut.

Es kam ihr sarkastisch und gemein vor, ihn mit „lieber Alexander“ anzureden. Wissend welchen Inhalt der Brief doch enthalten würde. Sie zerknüllte das Papier mehr als es notwendig wäre und warf es in den Papierkorb.

„Alexander“, fing sie auf einem neuen Bogen Papier an.

„Besser“, dachte Christine und schrieb die Zeilen die sie ihm schon so lange hatte sagen wollen.

Die Wörter schrieben sich fast wie von selbst, dennoch zitterte der Füllfederhalter kratzend bis zum letzten Punkt über das Papier. Christine schraubte den Deckel wieder auf den Stift und lies den Brief auf dem Schreibtisch liegen. Kurz vor dem Verlassen des Arbeitszimmers drehte sie sich an der Tür noch einmal um. Auf dem Schreibtisch konnte man auch von weitem den Brief mitten auf der schwarzen Unterlage liegen sehen. Das helle Papier zeichnete sich in dem bedrohlich dunklen Zimmer deutlich ab. Dabei wurde Christine bewusst, dass sie bis dato eigentlich noch nie in Alexanders Arbeitszimmer gewesen war. Das sie immer noch nicht wusste, womit er sein Geld verdiente und das es ihr immer noch völlig egal gewesen war. In diesem Zimmer mag Alexander seine größten Triumphe errungen haben, zumindest beruflich. Jetzt würde es zum Schauplatz seines privaten Scheiterns werden. Dieses Gefühl fesselte Christine für einen Moment. Es war kein außerordentlich Gutes.

Christine dachte noch kurz daran wie Alexander den Brief wohl finden und sich beim Lesen in seinen Sessel fallen lassen würde. Beinahe leid tat er ihr, wie sie ihn in ihren Gedanken so dasitzen sah. Den Brief in zitternden Händen und mit seinen Tränen kämpfend.

Mit einem kräftigen Ruck schloss Christine die Tür des Zimmers, so als würde die Tür nicht nur ein Zimmer verschließen, sondern auch ihre die Vergangenheit dahinter einschließen. Je fester sie zuzog, desto endgültiger wäre die Entscheidung. Sie nahm dazu beide Hände und wollte sichergehen das die Tür auch wirklich schließt.

Diesen Teil ihres Lebens wollte Christine schließen wie ein Kapitel eines Buches, das einem nicht gefallen hatte und man es nur weiterlas, damit man in der Geschichte vorrankommt. In der Hoffnung, dass nächste Kapitel würde besser werden. Jetzt erst war Christine überzeugt, dass das nächste Kapitel wirklich besser würde. Mit Richard würde es zu ihrem besten Kapitel bisher schwor sie sich, und zum längsten und letzten.

„Das finale Kapitel meines Lebens“, schwor sich Christine laut und willensstark.

Und sie würde alles dafür tun damit es gelingt. Wieder konnte sie das kurze Brummen des Smartphones in der Küche deutlich vernehmen. Sie eilte an den Tresen und las erwartungsvoll die Nachricht. Christine lächelte und drückte das Gerät kurz an ihre Brust, bevor sie aus der Anrufliste die gleiche Taxizentrale wie am Tag zuvor anwählte. Zum Telefonieren klemmte sie sich ihr Handy zwischen Schulter und Kopf um ihre Hände frei zu bekommen.

Beim Aufnehmen der Koffer bemerkte Christine einen Lichtschein durch den Raum wandern, er fiel durch die gläserneren Einsätze der Eingangstür, brach sich darin und ging durch den halben Eingangsbereich bis er mittig im Raum stehen blieb. Mit dem Verschwinden des Lichts war auch das knirschende, knarrende Geräusch verschwunden das Christine erst wahrnahm als es verstummte. Ein Auto war die Auffahrt hochgefahren und hatte vor der Haustüre geparkt.