Das grimmige Grau - Alf Antoni - E-Book
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Das grimmige Grau E-Book

Alf Antoni

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Beschreibung

Das erfolgreiche Hörbuch jetzt auch als Taschenbuch! Buch: Andie Andersson ist zehn Jahre alt und sieht in allem freundliche Gesichter: In Mamas Pizzateig genauso wie im Lehmklecks vor dem Garagentor. Auch Clarence ist eines dieser freundlichen Gesichter und er spricht sogar mit Andie! An ihrem letzten Tag in der Grundschule verschwindet er jedoch plötzlich. Andie ist untröstlich. Ohne Clarence fühlt sich alles ganz traurig und leer und grau an! Sie muss ins Land ihrer Fantasie reisen, um dort nach ihm zu suchen. Doch der einzige, der ihr bei ihrer Suche helfen kann, ist ein schlecht gelauntes Einhorn ... Gemeinsam brechen sie in ein großes Abenteuer auf. Eine Geschichte für Träumerchen - und solche, die es werden wollen! Am Ende des Buches findet ihr einen Link zum Hörbuch, das ihr euch kostenlos anhören und herunterladen könnt!

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Impressum

Autor und Buch

Titel

Teil 1 – Grau

1. Pinkie

2. Melissa

3. Frau Löbner

4. Clarence verschwindet

5. Grimmiges Grau

Teil II - Das Allmögliche

6. Das Allmögliche

7. Eine seltsame Hütte

8. Ein grummliger Geselle

9. Der Wald der Wehklagen

10. Der Tümpel der Tränen

11. Die bissigen Bedenken

12. Clarence

13. Die Kiste unter dem Bett

14. Licht an einem dunklen Morgen

Hörbuch

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

Cover-Gestaltung und Buchsatz: Alf Stiegler

© 2025 Alf Stiegler

Alf Stiegler

Frankendorf 37

96155 Buttenheim

Weitere Informationen findet ihr unter:

www.alfantoni.de

www.alfstiegler.de

Das Buch

Andie Andersson ist zehn Jahre alt und sieht in allem freundliche Gesichter. In Mamas Pizzateig genauso wie im Lehmklecks vor dem Garagentor. Auch Clarence ist eines dieser freundlichen Gesichter und er spricht sogar mit Andie! An ihrem letzten Tag in der Grundschule verschwindet er jedoch plötzlich … Andie ist untröstlich. Ohne Clarence fühlt sich alles ganz traurig und leer und grau an! Sie muss ins Land ihrer Fantasie reisen, um nach ihm zu suchen. Ein großes Abenteuer wartet dort auf sie. Doch der einzige, der ihr dabei helfen kann, ist ein schlecht gelauntes Einhorn!

Der Autor

Alf Antoni heißt eigentlich Alf Stiegler und schreibt gruslige Bücher für Erwachsene. Aber eben nicht immer! Manchmal erzählt er nämlich auch freundliche, kleine Geschichten. Geschichten mit phantasievollen Mädchen, mit Flüssen aus geschmolzener Schokolade – und mit schlecht gelaunten Einhörnern. Dann nennt er sich »Alf Antoni«, damit auch jeder weiß, dass man sich in dieser Geschichte ganz bestimmt nicht gruseln muss! Na ja. Manchmal vielleicht doch. Aber nur ein kleines Bisschen.

 

 

 

 

Als Andie Andersson am Morgen ihres letzten Tages in der Grundschule aufwachte, hatte sie noch keine Ahnung, dass sie dem grimmigen Grau begegnen würde. Sie hatte ja noch nicht einmal eine Ahnung davon, was das grimmige Grau überhaupt sein sollte! Dabei kannte sie sich mit dem Grau gut aus und machte einen weiten Bogen, sobald sie es irgendwo entdeckte.

Andie Andersson war zehn Jahre alt und hieß eigentlich Andrea Andersson, aber sie mochte es überhaupt nicht leiden, wenn man sie so nannte. Andrea Andersson, wie furchtbar langweilig das klang! Es war ein grauer Name, wie der einer Reporterin aus einer dieser schrecklich grauen Nachrichtensendungen: Und nun, live vor Ort, Andrea Andersson im Interview mit dem Wirtschaftsstromwasserhaushaltsminister über die Energieverkehrsdefizitkostenerhöhung von einem prozentualwirtschaftlichkalkulierten Schätznennwertbeitrag von 0,174 Cent … Brrr! Und so ein grauer Name passte nun wirklich nicht zu ihr! Andie hatte braune lange Haare, eine kleine Stupsnase und einen kleinen Mund, der sagenhaft frech grinsen konnte. Auf ihrer Stirn war eine Wolke lustiger Sommersprossen, die immer irgendwie in Bewegung zu sein schien, besonders wenn sie nachdachte, oder, (und das kam viel häufiger vor), wenn sie in den Tag hinein träumte.

Und heute gab es wirklich genug Grund zum Träumen! Es war der letzte Tag vor den Sommerferien, und buntere Tage gab es selten! So lag Andie wach in ihrem Bett, voller Vorfreude auf einen herrlichen Tag, an dem die Farben nur so sprudeln würden! Sie hatte noch ein wenig Zeit, bis der Wecker klingelte, also betrachtete sie die Schatten, die der Kastanienbaum an ihre Zimmertür warf. Es war, als malte die Morgensonne Gesichter an die Wand: Es waren viele heute, sie zwinkerten ihr zu, winkten ihr, oder schnitten ihr so lustige Grimassen, dass sie kichern musste. Das machte Andie öfter, wenn ihr irgendwo ein besonders ulkiges Gesicht begegnete: Stehen bleiben und kichern. Zwar wurde sie dann manchmal komisch angesehen, und manche hielten sie vielleicht sogar für verrückt, aber das war Andie egal. Sie war nämlich der Überzeugung, dass JEDER diese Gesichter sehen müsste, wenn er nur genau hinsah. Sie waren nämlich keine Einbildung, oh nein, sie waren Bewohner aus der Welt der Fantasie, die neugierig zu ihnen in die normale Welt herüberspähten. Und dass es eine solche Welt gab, stand für Andie außer Frage. Wo sonst sollten die tollen Geschichten und Ideen herkommen, die ihr immer einfielen? Nein, es gab einen Ort, an dem tolle Geschichten entstanden, und wo alle Dinge freundliche Gesichter hatten. Und weil Andie nicht nur Gesichter und Geschichten in den Dingen fand, sondern auch sofort ihre Namen wusste, wusste sie, dass dieser Ort das Allmögliche hieß.

Sie gähnte und streckte sich und spähte hinüber zu ihrem Wecker. 6:59 Uhr stand da, und Andie könnte ihn jetzt einfach ausschalten, ehe er loslegte. Aber sie wollte ihm den Spaß nicht verderben. Immerhin wartete er die ganze Nacht auf seinen großen Auftritt, und es kam Andie nicht richtig vor, wenn sie ihm diese Freude verwehrte. Nun, sie wusste nicht, wie ein Wecker empfand, doch es fühlte sich bestimmt so an, als würde man stundenlang zu einem tollen Schwimmbad fahren, um dann zusehen zu müssen, wie ein »Geschlossen!«-Schild an die Eingangstür gehängt wurde, ehe man mit seiner Schwimmtasche hineinrennen konnte!

Es wurde sieben, der Wecker piepte, und Andie ließ ihn. Vier, fünf, sechs, zählte sie mit, das ist genug! Ach, noch zweimal, immerhin kommen jetzt die Sommerferien und da darf er sich vorher schon nochmal austoben. Als sie ihn schließlich ausschaltete, lag ein zufriedener Blick in seinem Uhrzahlengesicht.

Andie schlug die Bettdecke zurück und streckte ihre Füße in die Morgensonne, die ins Zimmer fiel. Das warme Licht kitzelte ihr an den Zehen und sie kicherte. Letzter Schultag an der Grundschule!, dachte sie und wurde wieder ganz aufgeregt. Und wie stets, wenn sie aufgeregt war, tauchte genau in dem Moment Clarence auf.

Auch Clarence war ein Gesicht, das immer und überall erscheinen konnte: In einer Milchwolke, wenn Mama Kaffeesahne in ihre Tasse goss, in einem Klecks Apfelmus auf einem Reibekuchen, in einem Regenfleck, der an ein Fenster getrocknet war. Anders als die anderen Gesichter sprach Clarence jedoch mit ihr! Nun, vielleicht war es nicht wirklich sprechen, aber Andie wusste immer, was er dachte, und seine Worte tauchten mit leuchtend warmen Buchstaben in ihrem Kopf auf. Jetzt jedenfalls erschien Clarence in dem zerknautschten Kopfkissen neben ihr. Er hatte die faltigen Kopfkissen-Augenbrauen tief ins Kopfkissen-Gesicht gezogen. Raus aus den Federn!, verlangte er.

»Jaja«, Andie schmunzelte und strubbelte ihm den Kissenkopf, worauf aus dem raus aus den Federn!-Gesicht ein Jetzt hör schon auf, ich bin kitzlig!-Gesicht wurde, und Andie musste noch mehr kichern. Sie stellte sich gern vor, dass Clarence sie aus dem Allmöglichen beobachtete und stets begleitete und spürte, sobald sie ihn brauchte. Zu gern hätte sie gewusst, wie er wirklich aussah, aber dazu müsste sie einen Weg in das Allmögliche finden, und das gelang einem ja nur, wenn man träumte. Und dass die Traumwelt ein unübersichtlicher und launischer Ort war, an dem man selten das fand, was man gerade suchte, wusste ja nun wirklich jeder.

Zehn Minuten später war sie angezogen und tappte mit den Socken zu ihrem Schreibtisch, der direkt an dem großen Fenster stand. Er strahlte im Sonnenlicht. Andie jedoch runzelte die Stirn. Wo war ihre Schultasche? Normalerweise kuschelte die sich an ihre Schreibtischlampe und Andie stellte sich gern vor, dass die beiden sich nachts heimlich Geschichten zuflüsterten, bis einer von ihnen eingeschlafen war. Heute allerdings stand die Lampe einsam da und blickte Andie mit ihrem Glühbirnenauge ratlos an.

Auch unter ihrem Schreibtisch war ihre Schultasche nicht.

Andie setzte sich auf die Schreibtischplatte und sah sich in ihrem Zimmer um. Die Morgensonne wärmte ihr den Rücken und die Schattengesichter des Kastanienbaums versteckten sich hinter Andies Schatten.

Der Rucksack war normalerweise nicht zu übersehen, auch wenn sein einst strahlendes Pink mittlerweile ein wenig blass und müde aussah.

Heute jedoch war keine Spur von ihm zu entdecken.

Rechts an der Wand stand das Schränkchen mit ihren Schulsachen, doch das war randvoll mit Heften und Büchern und Arbeitsblättern, die eselsohrig übereinanderlagen und heraushingen. Mama wollte immer, dass sie endlich aufräumte und Ordnung hineinbrachte, aber Andie dachte gar nicht daran. Immerhin sah doch sogar ein Blinder, dass die da jede Menge Spaß hatten!

Links war ihr Bett, und die Decke und die Kissen machten angestrengt zerknautschte Gesichter, als wollten sie ihr beim Suchen helfen. Am Ende des Zimmers schließlich – zwischen Kleiderschrank und Zimmertür – stand ihr Spielzeugregal. In den Regalfächern tummelten sich Spielzeugfigürchen und Brettspielschachteln und kleine Kistchen, aus denen bunter Krimskrams herauslugte.

Keine Spur von Pinkie.

Andie spürte einen Verdacht in sich aufsteigen. Sie rutschte von der Schreibtischplatte, tappte zu ihrer Zimmertür und riss sie auf. »Mama!!!«, rief sie ins Treppenhaus, »Hast du Pinkie gesehen?« Niemand antwortete, obwohl Andie hören konnte, dass unten in der Küche herumgefuhrwerkt wurde. Teller klapperten, eine Kaffeemaschine gurgelte. Ihr Verdacht erhärtete sich. Ihre Eltern mochten den Rucksack nämlich nicht, weil er alt und ausgeleiert ist, wie sie sagten, weil der Reißverschluss der Mäppchentasche löchrig ist und sich nicht richtig schließen lässt, weil die Rucksackträger dünn und durchgewetzt sind, und irgendwann reißen werden. Und der schlimmste Dorn in ihrem Auge: Die Filzstiftmuster, mit denen Andie den Rucksack bemalt hatte. Schlampig sieht das aus! Aber Andie liebte das zerknautschte Gesicht von ihrem Rucksack, sie liebte die ausgeleierten Träger, die wie lustige Schlappohren baumelten, sie liebte den kaputten Reißverschluss an der Mäppchentasche, (er sah für sie wie ein frecher Mund aus, der ständig strahlend lachte), und am meisten liebte sie die Muster, in denen sie immer neue, neugierige Gesichter entdeckte, wenn sie sich damit beschäftigte.

Andie blickte in ihr Spielzeugregal und erspähte den Karton mit ihren Plüschtieren. Sie spähte aus ihrem Zimmer und vergewisserte sich, dass da niemand war, der ihr zuhörte. »Habt ihr Pinkie gesehen?«, flüsterte sie dann in den Karton hinein. Magnus lachte sie nämlich immer aus, sobald sie mit ihren Plüschtieren sprach, und wenn sie ihre Eltern dabei erwischten, machten sie stets ihr vielleicht sollten wir mit ihr zum Doktor-Gesicht. Besonders seit sie zehn Jahre alt geworden war! Deswegen hatte Andie beschlossen, das nicht mehr an die große Glocke zu hängen. Aber manchmal gaben ihre Stoffkameraden wirklich Antwort! Na ja, nicht so richtig, doch als sie gestern Minka Miezekatze gefragt hatte, ob sie ihr Hausaufgabenheft gesehen hätte, war ihr genau in dem Moment eingefallen, dass sie es beim Spielen unten am Kirschbaum hatte liegen lassen. Heute jedoch blickten auch die Knopfaugen ihrer Plüschkameraden ratlos. Sie konnte die freundlich brummige Bärenstimme von Petsy-Panda schier hören, Keine Ahnung Andie, tut mir leid.

»Komm schon Andie!«, rief Mama von der Küche endlich, »Putz dir die Zähne und beeil dich! Es gibt Pfannkuchen!«

Pfannkuchen. DAS machte sie Erstrecht misstrauisch. Mit gerunzelter Stirn huschte sie ins Bad, ehe ihr Magnus zuvorkam und die Fliesen in einen glitschigen Wasserpark verwandelte. Sie drehte die kleine Sanduhr am Waschbecken um, und betrachtete nachdenklich, wie der grüne Sand verrann, während sie sich die Zähne putzte. Pfannkuchen. Mama wusste natürlich, wie sehr Andie Pfannkuchen liebte. Und sie wusste auch, wie wenig Andie ihr böse sein konnte, wenn sie ihr gerade eine dicke Portion warmer Schokosoße darübergoss.

Aber Andie brauchte Pinkie! Es gab manchmal Gelegenheiten, bei denen Clarence nicht auftauchen wollte, wie im weiß gestrichenen Wartezimmer ihres Zahnarztes, oder vor einer besonders schwierigen Mathematik-Probe. Doch wenn sie dann auf Pinkies Filzstift-Muster blickte, tauchte immer ein freundliches Gesicht auf, das aus dem Allmöglichen zu ihr herüberleuchtete und ihr Mut machte.

Der Sand in der Sanduhr war durchgerieselt. Andie spuckte die Zahncreme aus, spülte sich den Mund und verließ das Bad. Aus dem Esszimmer drang bereits der verlockende Duft von Pfannkuchen. Es war ein komisches Gefühl ohne Pinkie die Holztreppe hinab zu steigen, irgendwie ein graues Gefühl, als wäre mit Pinkie ein wichtiges Stück Farbe aus diesem Tag verschwunden.

Hinter ihr tappten Magnus kleine Kinderfüße über den Holzboden, dann donnerte die Badtür zu und Wasser begann zu rauschen.

Unten im Esszimmer fiel Morgensonne durch die Fenster, und die Holzwände und Möbel und Böden des Hauses leuchteten wie mit Honig übergossen.

»Ich kann Pinkie nicht finden!«, rief sie abermals. Aber sie bekam noch immer keine Antwort. Eine Pfanne brutzelte. Aus dem Bad drang lautes Wassergeplätscher und irgendein Unsinnslied, das ihr kleiner Bruder angestimmt hatte. Unten im Esszimmer warf sie prüfende Blicke umher, ob sie irgendwo ein verräterisch ausgewaschenes Rosa erspähen konnte. Nichts zu finden. An der Eingangstür standen ihre Schuhe brav aufgereiht. Durch das Glas an der Haustür fiel gelbes Licht herein und malte ein Viereck auf den Boden. Keine Spur von ihrem Rucksack. Sie setzte sich auf die Eckbank am Esstisch.

Zu ihrer Überraschung kam aber nicht Mama aus der Küche, sondern Papa! Er stellte einen Teller mit Pfannkuchen auf den Tisch und ließ sich dann selbst auf der Bank nieder, die unter seinem Gewicht knarrte.

»Du solltest essen, ehe sie kalt werden«, sagte er freundlich. Er lächelte, aber auch von ihm ging heute etwas Seltsames aus, etwas Graues. Normalerweise hatten ihre Eltern eine klare Aufteilung: Wenn Mama Dienst hatte, kümmerte sich Papa früh um alles, und wenn Papa arbeiten musste, machte Mama Frühstück. Es war sehr ungewöhnlich, dass sie unter der Woche beide am Frühstückstisch saßen.

»In Pinkie sind meine Schulsachen«, begann Andie. Sie machte sich allmählich wirklich Sorgen.

»Deine Schulsachen sind hier!«, rief Mama freundlich aus der Küche heraus. Andie jedoch hatte sehr wohl gehört, dass sie deine Schulsachen, gesagt hatte. Nicht deine Schultasche. Sie beobachtete, wie Papa einen besonders dicken Schöpfer Schokosoße auf ihren Teller kippte, und wusste, dass die Zeichen immer schlechter standen. Zwei zähflüssige Soßenblasen zerplatzten auf den Pfannkuchen und gaben ein leises Blibb von sich.

Andie schnitt einen Bissen ab und spießte ihn auf die Gabel. Bevor sie ihn sich aber in den Mund schob, beobachtete sie ihre Eltern am Esstisch. Obwohl ihre Klamotten durchaus farbig waren, sahen sie für Andie trotzdem irgendwie grau aus. Papa war glattrasiert und hatte seinen Geschäftspullover angezogen. Auch Mama trug diesen grünen Rock, den sie nur für »wichtige Arbeitstreffen« aus dem Schrank holte. Die Haare lagen ihr glatt und glänzend auf den Schultern. Beide verströmten einen Duft von Seife und Parfüm, aber für Andie fühlte es sich an, als würden sie von einer Wolke Grau umgeben. Schokosoße tropfte mit leisem plitsch auf ihren Teller.

»SOMMERFERIEN!«, brüllte es plötzlich von der Treppe, und Magnus kam herunterstürzt wie ein durchgedrehter Meteorit, »SOMMERFERIEN, SOMMERFERIEN, SOMMERFERIEN!« Der Schulranzen hing ihm nur an einer Schulter und pendelte wie verrückt umher, donnerte gegen die Holzwand, verhedderte sich am Knauf am Ende der Treppe, brach einen Zweig von Mamas Geldblattbaum ab und riss Papas Zeitschriftenstapel um: Motorrad-Magazine verteilten sich feierlich über den Holzboden.

Papa hatte ein verzweifeltes Gesicht und holte bereits Luft, aber Mama legte ihm eine Hand auf den Arm. »Letzter Schultag«, sagte sie nur, als würde das alles erklären.

»Aber …«

»Nichts aber«, sagte Mama, drückte ihm ihre leergetrunkene Frauenpower!-Tasse in die Hand, und gab ihm einen Schmatz auf die Wange. Ein wenig ratlos stand er auf und räumte die Tasse mit dem restlichen Geschirr in die Spülmaschine.

Magnus entdeckte Andie, stürmte auf sie zu, ergriff sie am Arm, »Andrea!«, rief er und hüpfte wie ein Verrückter auf und ab, »Andrea! Andrea! Andrea!«, denn natürlich wusste er genau, dass Andie es nicht ausstehen konnte, wenn man sie so nannte.

Dann jedoch hatte er die Pfannkuchen entdeckt, schnappte sich einen mit bloßen Händen, tunkte ihn in den Topf mit der Schokosoße, und stopfte ihn sich in den Mund, ehe er ein Geräusch wie ein Motorrad von sich gab, das gerade mit Vollgas dahinraste. Ein Motorrad, das Schoko-Pfannkuchenstückchen verspuckte. »Bus!«, schrie er und stürzte zur Eingangstür, »Bus! Bus! Bus!« Er hinterließ eine Spur aus Schokosoßen-Tropfen auf dem Boden und griff nach der Türklinke. Dann jedoch schien ihm etwas einzufallen und er drehte sich noch einmal um. »Bis gleich, Andie!«, rief er, grinste, und rauschte dann endgültig aus dem Haus. Auf dem Türgriff blieb ein klebriger kleiner Schoko-Händeabdruck zurück.

Auch Andie musste grinsen. Bis gleich, Andie. Das machte er immer, wenn er sie geärgert hatte. Eine Geste der Versöhnung. Als wollte er sagen: He, ich bin acht Jahre alt und dein kleiner Bruder! Es ist mein JOB, dich zu ärgern! Also nichts für ungut.

»Oh Mann«, sagte Papa und betrachtete die münzgroßen Schokoflecken auf dem Holzboden, die verteilten Motorradhefte und die abgerissenen Geldblattbaum-Stücke. Die Tür stand sperrangelweit offen, und ein warmer Morgenwind blies herein. Die Motorradzeitschriften am Boden flatterten, als würde ein Unsichtbarer in ihnen blättern. Magnus hatte bereits das Gartentor erreicht und rannte in die Ortschaft hinab, sein Geschrei konnte man noch bis hierher hören.

»Ist er schon die ganze Woche so aufgedreht?«, fragte Papa und klang ernsthaft erschrocken.»Aber nein«, sagte Mama. »Gestern ist er auch wirklich nur ganz kurz auf dein Motorrad geklettert um Rennfahrer zu spielen.« Natürlich war das ein Scherz. Papa jedoch sah so erschrocken aus, dass Mama lachen musste und ihm noch einen Schmatz auf die Wange drückte. Darauf begann auch er zu lachen und rempelte Mama sanft mit der Schulter an. »Du willst wohl, dass ich einen Herzinfarkt bekomme, was?«, sagte er und lächelte. Fast glaubte Andie, dass sie sich das Grau nur eingebildet hatte.

»Ich muss jetzt dann auch langsam los …«, sagte Andie vorsichtig. Ebenso vorsichtig begannen ihre Eltern zu lächeln. Das Grau schlich sich wieder heran.

»Wir haben eine Überraschung für dich!«, behauptete Mama, und irgendetwas sagte Andie, dass ihr die Überraschung kein bisschen gefallen würde.

»Eigentlich wollten wir damit bis nach den Ferien warten«, sagte Papa.

»Bis zu deinem ersten Schultag an der neuen Schule«, sagte Mama.

»An der Schule für große Mädchen«, sagte Papa, mit diesem Tonfall, als wäre Andie doof, oder so. Sie konnte diesen Tonfall nicht ausstehen. Da kam nie etwas Gutes dabei heraus, wenn ihre Eltern von großen Mädchen sprachen. Große Mädchen essen nicht nur Nachtisch, sondern auch etwas Vernünftiges. Große Mädchen lesen nicht nur Bücher über Elfen und Einhörner. Große Mädchen machen erst ihre Hausaufgaben und gehen dann erst spielen.

»Und große Mädchen«, sagte jetzt sogar Mama in diesem Tonfall, »Brauchen auch Schulsachen für große Mädchen!«

»Tadaaaa!«, machte Papa und holte etwas auf den Tisch. Eine Schultasche. Andie versuchte ein Gesicht in ihr zu entdecken. Es gelang ihr auch. Und sofort konnte sie die Tasche nicht ausstehen. Wenn du ein unfreundliches Gesicht siehst, guckst du nur nicht richtig hin!, sagte Clarence stets. Aber so sehr Andie sich auch anstrengte: In dieser komischen Tasche konnte sie beim besten Willen kein freundliches Gesicht entdecken. Es war eine kantiges, steifes Ding mit einem rund gewölbten Kopf, an dem ein Tragegriff hing. Sie sah aus, wie ein Lehrer. Streng und mit geradem Rücken blickte er sie an. Der Griff auf seinem gewölbten Kopf sah aus wie ein alberner Haarklecks auf einer Glatze, und die Taschenklappe wie eine wütende Stirnfalte. Die beiden Verschlüsse waren zwei grimmige Augen, die rot funkelten. Die Mäppchentasche sah aus wie ein kerzengerader, strenger Mund, und überall gleißten Reflektoren wie Kriegsabzeichen in der Sonne.

»Hier! Sieh mal!«, Mama klang nervös. Sie klappte den Deckel der Tasche auf. Das sah so gruselig aus! Sie musste nämlich in die beiden roten Reflektoren-Augen drücken, und konnte dann erst die Stirnglatze nach hinten klappen. Andie schauderte. Sie näherte sich der Tasche so vorsichtig, als könnte sie jeden Moment aufspringen und sie anschreien, »Erwischt!«, würde sie mit dunkler Lehrerstimme sagen, »Strafarbeit, Strafarbeit, Strafarbeit!«

Auch in der Tasche sah es so steif aus, wie Andie sich den Kopfinhalt eines strengen Lehrers eben so vorstellte: Lauter kleine Taschen und Reißverschlüsse und Fächer, alles mit Plastik verstärkt, ungemütlich, und pingelig sortiert. Wenn man Pinkie öffnete, sah es immer so aus, als hätte man Andies Schulsachen gerade beim Spielen erwischt: Wild durcheinander lagen sie, die Hefte gebückt, als würden sie sich vor Lachen krümmen, und am Boden tollten Stifte und Lineale und Radiergummis herum. Und sobald Andie ein Schulheft aus Pinkie herausnahm, schien es den anderen zuzurufen: »Keine Sorge, ich komme gleich zurück, dann können wir weiterspielen!«, und sobald sich Pinkies Reißverschluss wieder verschloss, ging im Inneren das lustige Treiben weiter.

Aber in dieser Tasche … Es aus, als hätte man ihre Schulsachen eingesperrt! Ihr Federmäppchen drückte sich gegen ein Haltenetz, ein paar Stifte lugten heraus, als ob sie einen vergeblichen Fluchtversuch wagten. Die Hefte standen Rücken an Rücken, den Blick geradeaus, wie zum Gefängnis-Appell. Ihr Lineal war einsam an die Seite gestellt, ihre Bücher in ein finsteres Fach gepfercht und mit einem Reißverschluss von den anderen getrennt.

Andie verschloss die Tasche wieder, und wich vor ihr zurück. Sie suchte nach Clarence. Er wartete in der erstarrten Schokopfütze auf ihrem Teller. Komm schon, ermunterte er sie, letzter Schultag. Er zwinkerte ihr zu, mit einer Schokosoßen-Locke über dem Schokosoßen-Auge und mit Sommersprossen aus Puderzucker im Gesicht. Danach kannst du ihnen erklären, warum dir Pinkie so wichtig ist. Sie nickte und blickte tapfer auf. Ihre Eltern sahen sich an und hielten sich an den Händen, und das Grau, das sie umwölkte, war dicht wie nie zuvor. Ja, dachte Andie. Ich werde ihnen von den Gesichtern erzählen. Vielleicht nicht unbedingt von Clarence und dem Allmöglichen, aber von den Gesichtern sollten sie erfahren. Dass sie gut zu mir sind. Dass sie mir helfen. Und dass man mich deswegen nicht zum Doktor schaffen muss.

Den heutigen Tag würde sie mit der Lehrer-Schultasche schon überstehen. Also lächelte sie tapfer und schnappte sich die Tasche. Ein paar Pappschildchen baumelten an dem Tragegriff. Ergonomischer Griff, stand darauf. Rückenschonend, intelligentes Fächermanagement – von Pädagogen empfohlen! Und da hatte sie schon den Namen für diese Tasche:

Pädagogen-Paul.

»Ich muss los«, sagte sie, und wuchtete sich Pädagogen-Paul auf den Rücken. Die Tasche fühlte sich steif an, und die dicken Tragegurte drückten sich ihr streng in die Schultern. Es war ganz anders als das luftige Geflatter von Pinkie! Auch vermisste sie das ausgelassene Geraschel ihrer Schulsachen. Jetzt pochten ihre Hefte und Bücher bei jedem Schritt nur dumpf gegen ihr Gefängnis, umpf, umpf, umpf. Sie versuchte ihre Eltern abermals anzulächeln, spürte aber, dass es ihr nicht gelang. Und da ihr Hals ganz trocken war, und sie kein Wort zustande brachte, winkte sie ihnen nur zum Abschied. Die beiden hielten sich immer noch an den Händen, angezogen mit grauen Klamotten, und eingehüllt von einer grauen Wolke, die so dicht wurde, dass sie kaum ihre Gesichter erkennen konnte.

Ehe sie ins Freie trat, ließ Andie ihren Blick nocheinmal durch das Haus wandern. Ich werde dich finden, Pinkie!, versprach sie und lief dann hinaus in den Sommermorgen.

Als Andie in den Garten trat, nahm sie der Sommer in seine Arme. Der Wind war warm und zupfte an ihren Haaren. Ein paar gelbe Schmetterlinge umtanzten sich bei Mamas Gemüsebeet und zwei dicke Schmeißfliegen jagten mit lautem Gebrumm über ihren Kopf hinweg. Sofort fühlte sie, wie die Farbe sie wieder durchströmte, wie das Lächeln in ihr Gesicht zurückkehrte. Sie drehte sich um und sah ihre Eltern in der Eingangstür.

---ENDE DER LESEPROBE---