Das große Ja - Christoph Quarch - E-Book

Das große Ja E-Book

Quarch Christoph

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Beschreibung

Wie man sich mit Platon verliebt, mit Sokrates gelassen wird und trotz Kant den Sinn des Lebens findet. Die kostbarste Ressource der Menschheit ist nicht Gold, nicht Kohle, nicht Uran oder Algorithmen - es ist der SINN. Sinn scheint jedoch in unserer Epoche zur Neige zu gehen. Wie können wir ihn uns neu erschließen? Der Philosoph Christoph Quarch lädt zu einer klugen und vergnüglichen Sinnsuche in die Welt der Philosophie ein: Sinn ist das, was uns begeistert und hinreißt, was wir mit all unseren Sinnen erleben. Wenn wir unseren Geist von falschen Glaubensvorstellungen entrümpeln, eröffnen Sokrates, Platon & Co einen neuen, freien Zugang zu Lebenssinn und damit verbunden Lebensglück. SINN können wir nicht machen, SINN ereignet sich immer dann, wenn es stimmt, wenn wir ohne wenn und aber JA sagen können.

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Christoph Quarch

Das große JA

Ein philosophischer Wegweiser zum Sinn des Lebens

INHALT

VORSPIEL IM HIMMEL

Nicht denken ist auch keine Lösung.

Von der Sinnfinsternis der Gegenwart, dem Licht in einem bayrischen Gehöft und der Sokratischen Sorge um die Seele

Sinnfinsternis

Ein sieghaftes »Ja!«

Die Frömmigkeit des Denkens

ERSTES ZWISCHENSPIEL IM HIMMEL

Laternen am Vormittag.

Vom Tode Gottes und dem Verlöschen der alten Sonnen

Gott ist tot

Also hat Gott die Welt gewollt …

Fort von allen Sonnen

ZWEITES ZWISCHENSPIEL IM HIMMEL

Da capo!

Vom Sinn der Erde und einem (post)modernen Versuch, sich das Leben schön zu machen

Schaffen, wollen, sinnvoll sein. Nietzsches Projekt Übermensch

Die Ästhetik der Existenz. Wilhelm Schmids Lebenskunst

Aporie! Jetzt oder nie – auf in andere Welten!

DRITTES ZWISCHENSPIEL IM HIMMEL

Die Welt ist vollkommen.

Von Lichtgestalten, Pferdewagen und der guten Stimmung des alten Platon

Apollon. Der göttliche Erleuchter

Idea. Platons Einrichtungshaus

Psyche. Alles, was lebt, will Harmonie

Kosmos. Platons Kosmetikkoffer

VIERTES ZWISCHENSPIEL IM HIMMEL

Man muss noch Chaos in sich haben!

Von der Kunst, einen tanzenden Stern zu gebären, und warum Tragödien sinnvoll sind

Vom Sinn des Wahnsinns. Dionysos und der Zauber der Raserei

Des Wider-Spännstigen Zähmung. Heraklit und der Zusammenfall der Gegensätze

Incipit Tragoedia. Nietzsche und sein Ja zum Leiden

FÜNFTES ZWISCHENSPIEL IM HIMMEL

Ins Herz!

Von der Hellsichtigkeit der Liebe und warum Sinn und Sinnlichkeit nicht zu trennen sind

Wer Sinn finden will, muss fühlen

Aphrodite. Wo Sinn und Sinnlichkeit verschmelzen

Eros. Man sieht nur mit dem Herzen gut

NACHSPIEL IM HIMMEL

Dank

Zitierte und erwähnte Literatur

Anmerkungen zu den literarischen Szenen

Über den Autor

Die wahre Zukunft kann nur das gemeinschaftliche

Ergebnis der zerstörenden und der erhaltenden Macht sein.

Eben darum sind es nicht die schwachen, von jedem

neuen Evangelium einer neuen Zeit ergriffenen, sondern

nur die starken, zugleich an der Vergangenheit

festhaltenden Geister, welche die wahre Zukunft

zu schaffen vermögen.

(Joseph Schelling)

Alles wirkliche Leben ist Begegnung.

(Martin Buber)

VORSPIEL IM HIMMEL

Es geschah an einem Wintermorgen in der Ewigkeit, dass dem höchsten GOTTder Kragen platzte. Er hatte es lange genug mit angesehen. So konnte es nicht weitergehen. Seine lieben Menschenkinder waren völlig aus dem Ruder gelaufen. Sie hetzten wie besessen durcheinander, sie rechneten und handelten; sie rannten dem nach, was sie »Glück« nannten, und wurden dabei immer unglücklicher; sie rackerten sich ab, doch ihre Seelen verödeten mehr und mehr; sie bangten um ihre Gesundheit, aber schleppten sich gequält durchs Leben; um sich zu erholen verreisten sie, doch innerlich vereisten sie. So jedenfalls kam es GOTT vor. Ihm schien, dass die Menschen zwar nicht den Verstand verloren hätten, dass ihnen aber das Herz in der Brust gefroren sei; und dass sie deshalb nicht mehr klar denken konnten. Er stellte fest, dass sie den Sinn für den Sinn verloren hatten. Und also beschied er, es müsse Abhilfe geschaffen werden. So kam es, dass er den Rat der Denker einberief.

Und da saßen sie nun, in langen Reihen am ortlosen Ort, und sollten dem höchsten GOTT erläutern, was ihrer Meinung nach zu tun sei, um der Krisen auf Erden Herr zu werden – da saßen die Philosophen aller Zeiten, legten ihr Kinn in die Hand und dachten nach. Vielleicht sollte erwähnt werden, dass GOTT in seiner endlosen Weisheit nur die Denker des Westens zum Konzil gebeten hatte. Sie, so meinte er, hatten die ganze Sache vergeigt. Und so schien es ihm nur recht und billig, dass diese gravitätisch grübelnden Herren nun auch den Karren aus dem Dreck ziehen sollten. Außerdem ergingen sich die Weisen des Ostens ja ohnehin lieber in der gedankenfreien Schwerelosigkeit ihrer Meditationen …

Nachdem sie eine hübsche Ewigkeit vor sich hin gedacht hatten, hielt GOTT die Zeit für gekommen, seine Stimme zu erheben und die erhabene Gesellschaft um Antwort auf die Frage der Fragen zu ersuchen: »Was müssen wir den Menschen geben, auf dass sie den Sinn ihres Lebens entdecken?« Kaum war das letzte Wort Gottes im Weltall verhallt, da schnippte ganz vorne ein Mann mit den Fingern – einer, den die anderen spöttisch den »Primus« nannten; den sie also nicht recht leiden mochten.

»Sprich, Augustinus«, tönte der EWIGE.

Und Augustinus sprach: »Unruhig ist mein Herz, wenn ich vor dir sprechen darf, mein …«

»Keine langen Bekenntnisse, Augustin«, mahnte die mächtige Stimme, »komm ER zur Sache.«

»Na denn«, stammelte der irritierte Heilige, »also, wenn ich das alles richtig verstanden habe, dann sollten wir die Menschen von dort nach hier bringen, so dass sie sich auf ewig an deiner großen Herrlichkeit ergötzen können.«

Ein gewisser Dante, der auf den hinteren Rängen saß, brach ob dieser Rede in schallendes Gelächter aus und rief: »Welch göttliche Komödie!«, doch als er sah, dass sich der HÖCHSTE gelangweilt abwandte und den heiligen Kirchenlehrer mit resigniert abwinkender Geste auf seinen Platz verwies, verstummte er genauso wie all die anderen klugen Köpfe.

Dunkles Schweigen legte sich auf die Gesellschaft. Nach diesem gründlich verpatzte Auftakt wollte sich niemand mehr vorwagen. Nur einer erhob sich. Aufrecht stand er da, klar, gerade – eine prächtige Erscheinung, ganz Anstand, Disziplin, geistige Strenge. Alle respektierten ihn, auch wenn keiner ihn liebte: Kant. Immanuel Kant. Kühl konzentriert erhob er die Stimme: »Es ist meine Pflicht, Ihnen zu antworten, werter Herr«, sprach er. »Meine Antwort lautet: Geben wir ihnen eine Maxime, durch die sie zugleich wollen können, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«

»Hä?«

Alle Augen wandten sich zum Thron. Hatte der HÖCHST und BESTE wirklich »Hä?« gesagt? Er hatte, und er saß da und kratzte sein weises Haupt.

»Noch einmal, mein Freund«, erging sein Wort, »ich habe dich nicht verstanden!«

»Ganz einfach, Sire«, erwiderte der hagere Denker. »Sorge dafür, dass sie so handeln, als ob die Maxime ihrer Handlung durch ihren Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.«

»Ah, äh«, der EWIGE rutschte auf seinem Thron hin und her. »Aber, hm, haben wir das nicht schon versucht? Ich meine, die Zehn Gebote, Moral, Sittengesetz, Bergpredigt – mein Gott, das ganze Programm, aber es hat nichts geholfen.«

»Yes, indeed«, sprang da ein fixes Bürschchen auf, den keiner so recht kannte, der sich aber sogleich in gewandter Wendung als »John Stuart Mill, Verfechter des Utilitarismus und Liberalismus« vorstellte. Das war zwar recht anmaßend, doch ging man darüber hinweg, um zu hören, was das quirlige Männlein zu sagen habe. »Es hat nichts geholfen, weil Ihr den Menschen keine Belohnung in Aussicht gestellt habt. Machen Sie sich doch einmal Folgendes klar, mein Herr«, dabei blickte er auf zum Thron, »die Menschen wollen alle glücklich sein.«

»Richtig«, brummte der alte Aristoteles in der ersten Reihe, was Mill offenbar beflügelte, so dass er keck fortfuhr: »Also müsst Ihr sie glücklich machen, wenn sie sich an die Gebote halten. Sie brauchen eine Belohnung für ihre Moralität; und zwar nicht erst im Himmel, sondern schon auf Erden.«

Er lächelte triumphierend und sah nicht, dass Kant kotzte. Ein schrecklicher Anfall überkam den Königsberger. Alle waren peinlich berührt, und es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis er sich erholt hatte.

»Mit Verlaub«, warf er ein, »so wird das nichts. Glück als Belohnung – was für ein billiger Handel. Ach, mein Herr«, und dabei wandte er sich unter innerer Pein zu Mill, »Sie sind eine Krämerseele, die sich wohl aufs Rechnen versteht, nicht aber aufs Denken.«

Kaum hatte Kant so gesprochen, da brauste ein Sturm auf: »Recht hat Kant«, riefen Nietzsche, Heidegger, Schelling und eine befremdlich anmutende Schar deutscher Denker.

»Recht hat Mill«, rief Adam Smith und mit ihm ein ganzes Heer englisch sprechender Herren in Maßanzügen. Ein großes Durcheinander entstand, und es bedurfte eines donnernden »Stopp« vom himmlischen Thron, um der drohenden Saalschlacht ein Ende zu bereiten.

»So nicht!«, sprach GOTT und schaute streng. »So nicht! Wir haben euch machen lassen, meine Herren. Wir haben eure Moral zugelassen! Wir haben eure Erziehungsmodelle zugelassen! Ja, wir haben sogar eure Ökonomie zugelassen! Pah, ›unsichtbare Hand‹, lächerlich!« Der EWIGE blickte angewidert auf die Herren in den Anzügen (dabei hatte er selber einen schicken Maßanzug im Schrank hängen!). »Es hat alles nichts geholfen. Es ist alles immer nur schlimmer geworden. Selbst mein Sohn hat nicht viel bewirken können – weil ihr mit euren dämlichen Philosophien alles verhunzt habt!« – Betretenes Schweigen. – »Ich will davon nichts mehr wissen! Wenn ich nicht sogleich einen vernünftigen Vorschlag höre, dann, dann …« – Angst breitete sich im Universum aus – »… dann knallt es!«

»Was, ein neuer Urknall?« Herr Einstein, der bis dato vor sich hin geträumt hatte, war plötzlich aufgewacht.

»Ach was!«, rief da der HERR DER HEERSCHAREN, »viel schlimmer: Ich schicke ein Bataillon Propheten!«

Da zuckten sie zusammen, die Herren Philosophen. Ausgerechnet ihre Erzrivalen sollten das Rennen machen! Und dennoch brachte keiner ein Wort hervor – wirklich keiner? Nein, einer stand auf, zupfte sich am Bart, kratzte sein wirres Haar und sprach: »Gesetzt die Wahrheit ist ein Weib, könnte es wohl sein, dass keiner der hier versammelten Herren sich gut auf Weiber verstanden hat?« Feurigen Auges blickte Nietzsche in die Runde. »Dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen?« Er blickte auf und sah mit Genugtuung, dass der Mächtige ihn mit der Rechten ermutigte, fortzufahren. »Fest steht, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen.« Alle blickten gebannt auf den komischen Kauz mit dem Walrossbart. »Nun«, sprach er weiter, »ist die Zeit der letzten Menschen gekommen. Sie wissen nicht mehr, wie man einen tanzenden Stern gebiert. Sie haben wohl ein Lüstchen für die Nacht und ein Lüstchen für den Tag. Sie ehren die Gesundheit und behaupten, das Glück erfunden zu haben«, hier warf er einen verächtlichen Blick auf Mill, Smith und die Anzugträger, »aber sie sind klein geworden – klein wie Erdflöhe. Denn«, er erhob sein Haupt, und eine leuchtende Aureole umgab ihn, »sie haben kein Chaos mehr in sich!«

»Gut gesprochen«, donnerte GOTT. »Und was ist zu tun?«

»Maestro«, sprach Nietzsche, »ich habe Sie zwar für tot erklärt, aber das galt nur für das, was dieser elende Pöbel aus Ihnen gemacht hat. Darum habe ich mich erkühnt, meinen eigenen Propheten zu erfinden: Zarathustra. Schicken Sie ihn – ihn, den Propheten des Gottes, der zu tanzen versteht. Schicken Sie ihn, auf dass er den Menschen gibt, was sie brauchen; auf dass er den Sinn für den Sinn neu in ihnen entfacht! Denn eines tut not, Maestro: Lehren wir sie … tanzen!«

Ein Raunen ging durch die Versammlung. Welch unerhörte Rede! Und da war keiner, der nicht gebannt zum Thron geblickt hätte.

GOTT schaute nachdenklich, doch dann hub er an, in die Hände zu klatschen. Und die Herrlichkeit der Himmel leuchtete um ihn. Er klatschte und klatschte. Der ortlose Ort bebte, die Philosophen warfen die Käppis in die Höhe – und Nietzsche lachte.

Und dabei wäre es wohl geblieben, wenn nicht, ja wenn nicht zwei betagte Greise den allgemeinen Tumult genutzt hätten, um sich unbemerkt vor den göttlichen Thron zu schleichen. Da standen sie nun – mit ihren langen, weißen Bärten in altertümlich anmutender Gewandung. Was aber das Befremdlichste war: Sie standen dort und hielten Händchen.

Als die Herren Denker nach und nach der wunderlichen Erscheinung gewahr wurden, hielten sie inne und zogen sich auf ihre Plätze zurück – gespannt, welche Sensation sich nun zutragen werde. Auch das göttliche Klatschen verhallte. Der EWIGE beugte sich vor, maß die würdigen Alten mit einem achtsamen Blick, runzelte die Stirn und ließ sich wie folgt vernehmen: »Sokrates, Platon – was habt ihr zu sagen? Hat euch nicht gefallen, was der junge Mann über das Chaos und den Tanz …«

»Durchaus, durchaus«, fiel ihm Sokrates ins Wort, »das war ganz in meinem Sinne! Oh, wie ich den Tanz liebe! Komm, mein lieber Platon, lass uns ein Tänzchen wagen!« Und er legte die Linke auf seines Freundes Schulter, schnippte mit den Fingern, wiegte seine Hüfte und begann: »Badan, badan, badadadan …«

Und nun hätte er wohl wirklich den Sirtaki zu tanzen begonnen, wenn nicht Platon ihn in die Rippen gestoßen hätte: »Meister, du wolltest etwas fragen!«

»Richtig«, fiel es Sokrates ein, »mein lieber ZEUS, da war eine winzige Frage, die ich nicht unterdrücken kann. Darf ich sie stellen? Bitte!«

GOTT, der diese Anrede lange nicht mehr vernommen hatte, lächelte freudig in sich hinein und winkte dem Sokrates sein Einverständnis zu.

»Sag, mein Freund«, hub dieser an, »dünkt nicht auch dir, dass hier etwas fehlt?«

»Etwas fehlt?«, der EWIGE blickte ratlos in die Runde. Allgemeines Achselzucken. Sokrates galt als Nervensäge. – »Ja, was soll denn fehlen?«, fragte er schließlich.

»Hast du nicht einst die Welt geschaffen?«, erwiderte Sokrates.

»Aber gewiss doch.«

»Und nicht nur die Welt als solche, sondern auch alles, was darin kreucht und fleucht?«

»Na sicher!«

»Also auch die Menschen, oder?«

»Sokrates, komm zur Sache! Wir wollen dich nicht noch einmal wegen Gotteslästerung strafen.« Der EWIGE schien genervt.

Sokrates ließ sich davon nicht beirren: »Und, sag mir, mein Freund: Als was schufst du den Menschen?«

»Zu meinem Bilde schuf ich ihn.«

»Selbstredend, aber da war doch noch was: Du schufst ihn als Mann und …, na?«

»… als Frau!«

»Richtig!« Sokrates hüpfte in die Höhe und drehte sich einmal im Kreis. »Und was fehlt hier also?«

»Eine Frau?« GOTT kratzte sich am Bart.

»Genau dies«, fiel nun Platon ein, »und eben deswegen rufe ich nun meine liebe Freundin Diotima in unsere Mitte, denn so viel ist gewiss, meine verehrten Herren, die ihr – mit Verlaub – ja ohnehin nichts anderes seid als – ähäm – Fußnoten zu meinen Werken (Platon galt als ein bisschen arrogant); so viel also ist gewiss, dass ihr allein aus ihrem Munde hören werdet, was es ist, das wir den Menschen geben müssen. So wahr mein Freund Nietzsche – ach, hätte er doch nur erkannt, dass er mein Freund und nicht mein Rivale ist. Aber das ist nun wieder eine andere Geschichte …« Er schien jetzt richtig in Fahrt zu kommen: »So wahr also mein junger Freund hier gesprochen hat, so versäumte er doch zu sagen, was es braucht, damit der Tanz des Menschen auch gelinge. Und eben das wird euch diese hier verkünden.«

Kaum dass er so gesprochen hatte, stand auch schon zu seiner Seite eine ehrwürdige Dame, deren milde Schönheit und liebliche Aura so manchen der knöchernen Denker im Innersten erwärmten.

GOTT lehnte sich zufrieden zurück, lächelte ihr ermutigend zu und sprach: »Nun, Diotima, es heißt, du habest die Weisheit, uns zu sagen, was den Menschen fehlt, auf dass sie den Sinn für den Sinn zurückgewinnen. Es heißt, deine Weisheit gehe noch über die unseres jungen Nietzsche hinaus, der uns empfahl, die Menschen tanzen zu lehren. Es heißt, du habest Besseres und Schöneres zu sagen als neue Gebote und Imperative. Es heißt, du kenntest das Gegengift gegen den niederen Sinn von Handel und Kommerz? – Wohlan, so rede!«

Was nun geschah, ward lange nicht gesehen im Himmel. Und es gilt als gewiss, dass bis in alle Ewigkeit davon erzählt werden wird: Diotima lächelte. Ihr Lächeln durchdrang das Universum bis in seine letzte Ritze. Und dann sagte sie nur ein Wort, doch es klang zugleich in allen Sprachen: »Eros, Amor, Love, Amore, Liebe …«

Und GOTT? GOTT erhob sich, GOTT verneigte sich, GOTT schritt die Stufen von seinem Thron hinunter zu ihr, GOTT küsste sie und schüttelte den beiden Greisen die Hand. »So sei es!«, sagte er nur. Und Sokrates tanzte.

Der Rest ist rasch erzählt. GOTT nahm wieder Platz auf seinem Thron und verkündete seinen Ratschluss. Zunächst wandte er sich dabei an die würdigen Weisen aus Griechenland: »Wohlan, meine Freunde, weil ihr es wart, die ihr die ewige Wahrheit herbeirieft, so wollen wir eure alten Götter in Dienst nehmen, auf dass sie den Menschen unsere Gaben bringen. Als Erstes rufe ich den Hermes. Er kennt sich aus in der Menschenwelt. Ist doch der Handel sein Geschäft. Doch soll er nur der Führer sein. Die Türen soll er drunten öffnen. Vor allem meinem guten Apollon. Seine Aufgabe als Gott der Heilkunst und der Harmonie wird es sein, die Menschen wissen zu lassen, worin der Sinn des Lebens liegt. Sodann braucht es meinen alten Freund Dionysos. Denn er allein weiß zu tanzen. Und so soll er die Menschen lehren, wie sie das Chaos in sich pflegen und ihre berauschte Seele tanzen lassen. Zuletzt soll ihnen noch die Liebste folgen, die goldene Aphrodite. Damit die Liebe und die Schönheit das Eis in der Menschen Herzen schmelzen. Denn was das Leben sinnvoll macht, das sieht der Mensch nur mit dem Herzen.« Nachdem er so gesprochen, hielt Gott inne. Er sah glücklich aus. »Die Sitzung ist beendet. Ich danke euch, ihr Denker!«, ließ er sich noch vernehmen, bevor er sich in die stille Gesellschaft der östlichen Weisen zurückzog.

Zu uns aber kamen die alten Götter und wandelten auf Erden. Was sie den Menschen bringen sollten, war der Sinneswandel.

Von der Sinnfinsternis der Gegenwart,dem Licht in einem bayrischen Gehöft und der Sokratischen Sorge um die Seele

Nicht denken ist auch keine Lösung

Man denkt ja immer, die Philosophie sei eine fruchtlose Kunst. Ein Zeitvertreib für bildungsbeflissene Bürger ohne Relevanz für das tägliche Leben – betrieben von blutarmen Akademikern, die in ihren Elfenbeintürmen zu Wolkenkuckucksheim mit fast manischer Beharrlichkeit ihren Glasperlenspielen nachgehen: wunderlichen Männern (an Frauen denkt man dabei eher selten), die ganz wie ihr antiker Ahnherr Thales von Milet dazu neigen, so in ihren Gedankenwelten entrückt zu sein, dass sie die Bodenhaftung verlieren. Von jenem Thales nämlich erzählte man schon in der Antike, er sei einst so in Betrachtung des gestirnten Himmels über ihm versunken gewesen, dass er den Brunnenschacht vor seinen Füßen nicht bemerkte und prompt hineinstürzte. Weiter erzählt die Legende, dass eine »witzige und reizende thrakische Magd« dem Vorfall beigewohnt habe und in herzhaftes Gelächter ausgebrochen sei, da sie den weisen Mann durchnässt gefunden. Und verspottet soll sie ihn haben mit den Worten, er sei wohl »begierig, die Dinge am Himmel kennenzulernen, habe aber keine Ahnung von dem, was hinter ihm sei und zu seinen Füßen liege«.

Wie dem auch sei: Seit das Lachen der thrakischen Magd erschallte, ist der weltabgewandte Philosoph zu einem festen Typus der westlichen Kulturgeschichte geworden. Und das nicht einmal zu Unrecht. Denn von Diogenes in der Tonne bis zu Heidegger in der Schwarzwaldhütte fehlte es nicht an leicht skurrilen Gestalten, in denen sich Kauzigkeit und blendende Intelligenz zu eigentümlichen Konstellationen verbanden. Für Thales allerdings traf das gar nicht zu. Im Gegenteil. Er war äußerst geschäftstüchtig, wie eine Anekdote erzählt: »Als man ihm nämlich wegen seiner Armut Vorhaltungen machte, als ob die Philosophie zu nichts nütze sei, da soll er, nachdem er aufgrund seiner astronomischen Studien bemerkt hatte, dass die Olivenernte reichlich ausfallen würde, noch im Winter mit dem wenigen Geld, das ihm zur Verfügung stand, als Handgeld sämtliche Ölpressen in Milet und Chios für einen geringen Preis gemietet haben, und dabei habe ihn niemand überboten. Als aber die Zeit der Ernte kam, und mit einem Mal und gleichzeitig viele Ölpressen verlangt wurden, da habe er seine Pressen so teuer vermietet, wie er nur wollte, und dadurch viel Geld verdient.«

Nun, gemessen an den Maßstäben einer Zeit – unserer Zeit -, die Sinn und Nutzen einer Sache allein nach ihrem Geldwert zu schätzen vermag, waren die naturphilosophischen Studien des Thales offenbar keineswegs fruchtlos. Und ich wage zu behaupten: nicht nur sie. Im Ernst, ich wage – komische Käuze hin oder her – zu behaupten: Philosophie ist ein äußerst nützliches Geschäft; mehr noch, sie ist ein wertvolles und sinnvolles Unterfangen, heute mehr denn je. Was Sie in Händen halten, ist geschrieben, um den Beweis dafür anzutreten: dass ein leidenschaftliches und mutiges Philosophieren für ein gelingendes Leben auf Erden absolut notwendig ist.

Eine steile These, finden Sie? Aber klar doch. Und ich bin mir wohl bewusst, dass ich Ihnen und mir einiges zumute, wenn ich sie Ihnen ans Herz legen möchte. Aber glauben Sie mir, es geschieht um Ihretwillen, um unser aller willen. Denn die Zeit braucht denkende Menschen. Sie braucht Menschen, die den Mut haben, das zu tun, was laut Heidegger und Sokrates das Kerngeschäft des Philosophierens ist: das Selbstverständliche in Frage zu stellen; unsere Denkmuster zu knacken; unsere Weltsicht zu erschüttern; unsere oft leeren Begriffshülsen zu entsorgen; den geistigen Müll rauszubringen, der sich in unser aller Köpfen über die Jahre und Jahrhunderte angesammelt hat.

Wir brauchen eine geistige Entgiftungskur, denn es könnte ja sein, dass die vielfältigen Krisensymptome unserer Gegenwart etwas damit zu tun haben, dass unser Denken intoxiniert ist – dass wir Begriffen, Konzepten, Strukturen, Ideen anhaften, die uns den Blick auf uns selbst, das Leben, die Welt und (gerne auch) auf Gott trüben und verschatten; und dass wir deswegen unser Denken neu durchdenken müssen. Nicht denken ist auch keine Lösung – auch wenn es manchmal verführerisch scheint, sich ganz der gedankenlosen Stille der östlichen Weisheitslehren zu überlassen.

Womit nichts gegen diese gesagt sein soll, sondern nur eine ganze Menge für das so gar nicht gedankenlose Projekt der Philosophie. Im Ernst: Wir sind heute gut beraten, unser Denken zu durchdenken. Wir sind gut beraten, der Philosophie einen Ort in unserem Leben zu geben, weil sie uns tatsächlich zu heilen vermag – zu heilen von dem Irrsinn, der auf Erden wütet. Und dabei denke ich nicht einmal so sehr an solche Phänomene wie die maßlos heißlaufende Finanzwirtschaft, die mannigfaltigen ökologischen Katastrophen oder den durch nichts zu rechtfertigenden Hunger in der Welt. Ich rede von der Leere und Verzweiflung, die unser Lebensstil in immer mehr Menschen hinterlässt. Sie wissen nicht, was ich meine? Dann lassen Sie mich deutlicher werden.

Sinnfinsternis

Ich möchte mit einem Zitat beginnen. Es handelt sich um die Ankündigung zu einem Themenabend auf ARTE: »Depression ist in den Industriestaaten mittlerweile die Volkskrankheit Nummer eins. Mehr als fünf Prozent der Bevölkerung sind akut betroffen. Und jeder fünfte Mensch wird einmal in seinem Leben depressiv. Trotzdem wird die Krankheit immer noch tabuisiert und unterschätzt. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass Depressionen nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen bereits im Jahr 2020 weltweit zu den zweithäufigsten Krankheiten gehören werden. Ein weiterer dramatischer Befund besagt, dass ungefähr zwei- bis dreimal so viele Frauen wie Männer an Depressionen erkranken.«

Dramatisch, fürwahr. Oder wie geht es Ihnen, wenn Sie lesen: »Vier Millionen Deutsche leiden an einer Depression. Vielen Betroffenen erscheint das Leben sinnlos, nichts bereitet ihnen Freude.« Und wenn wir den Demoskopen und Gesundheitswissenschaftlern Glauben schenken, ist das nur die Spitze des Eisbergs. So drängt sich der Eindruck auf, die Seuche unserer Zeit heiße Sinnverlust. Die Menschen wissen nicht mehr, was der Sinn ihres Lebens ist. Sie haben den Sinn für den Sinn verloren. Oft haben sie alles, was man zu einem angenehmen Leben braucht, die wenigsten (hierzulande, wohlgemerkt) leiden materielle Not, und doch hat sich in ihren Seelen ein Gefühl des Ungenügens eingenistet. Sie sind nicht glücklich. Wie in einem Hamsterrad rennen sie unaufhaltsam durch ihr Leben, ohne dabei je von der Stelle zu kommen. Sie konsumieren und kaufen, suchen Zerstreuung und Unterhaltung und klagen doch über Stress, fehlende Zeit, innere Erschöpfung. Vor allem die Arbeit scheint ein unversieglicher Quell von Unbehagen und Niedergeschlagenheit zu sein. Nach Belegen dafür muss man nicht lange suchen. Ende 2010 ergab eine Studie, dass die meisten Menschen in Deutschland mit ihrem Arbeitsplatz unzufrieden sind: Eine Mehrheit von 52 Prozent beschrieben ihre Arbeitsbedingungen als mittelmäßig, nur 15 Prozent empfanden ihren Job als nicht belastend. Und der DAK-Gesundheitsreport von 2013 vermeldet: „Wird das Arbeitsunfähigkeitsgeschehen auf der Ebene von Krankheitsarten betrachtet, zeigt sich im Vorjahresvergleich, dass Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen stark angestiegen sind.“ Wenn das nicht alarmierend ist, weiß ich auch nicht.

Es scheint, als habe eine große Verunsicherung die Menschen ergriffen. Sie fragen sich, was das Ganze soll. Aber da ist niemand, der ihnen Antworten gibt. Sie schalten den Fernseher an, doch da hören sie von Gewalt und Verbrechen, von Korruption und Intrige. Oder sie sehen Politiker, die sich mächtig wähnen, in Wahrheit aber Sklaven eines Wirtschaftssystems sind, das sie ohnmächtig vor sich her treibt. Manche Menschen suchen Zuflucht in den Kirchen, aber dort speist man sie allzu oft mit moralischen Ansprachen und theologischen Theorien ab, die keiner mehr versteht. Andere gehen auf Reisen, bevölkern Wellness-Hotels, buchen Events, doch wenn sie wieder daheim sind, fühlt sich ihr Leben genauso grau und fad an wie zuvor. Sie sparen, ohne zu wissen worauf. Sie geben Geld aus, ohne zu wissen wofür. Sie zahlen Millionen für ihr Gesundheitswesen und werden doch immer kränker. Und warum? Weil eine Sinnverfinsterung eingetreten ist. Weil wir den Zugang zur Dimension des Sinns verloren haben. Weil, wie der englische Philosoph Terry Eagleton treffend schreibt, eine »Sinnfinsternis« über dem Lande liegt.

Die Diagnose ist freilich nicht neu, was sie nicht weniger erschütternd macht. Schon in den fünfziger Jahren spürten wache Zeitgeist-Analysten, welches Stündlein geschlagen hatte. Paul Tillich, der große Theologe, war einer von ihnen. In einem denkwürdigen Essay von 1958 (!) schrieb er, was an uns Heutige adressiert sein könnte: »Das entscheidende Element in der gegenwärtigen Situation des westlichen Menschen ist der Verlust der Dimension der Tiefe«, und er erläutert, »›Tiefe‹ ist eine räumliche Metapher – was bedeutet sie, wenn man sie auf das Leben des Menschen anwendet und sagt, dass sie ihm verloren gegangen sei?« Und jetzt kommt’s: »Es bedeutet, dass der Mensch die Frage nach dem Sinn seines Lebens verloren hat, die Frage danach, woher er kommt, wohin er geht, was er tun und was er aus sich machen soll in der kurzen Spanne zwischen Geburt und Tod. Diese Fragen finden keine Antwort mehr, ja, sie werden nicht einmal mehr gestellt, wenn die Dimension der Tiefe verlorengegangen ist. Und genau das hat sich in unserer Zeit ereignet.«

Wenn das stimmt – und ich bitte Sie, das zumindest als eine bedenkenswerte These anzuerkennen -, dann könnte es eine dringende Aufgabe unserer Zeit sein, den Sinn für den Sinn neu zu wecken, wachzukitzeln und auszubilden; den Blick neu zu schärfen für das, was dem Leben Orientierung und Halt gibt. Ohne das wird es so weitergehen wie bisher. Wir werden ziel- und planlos durch die Zeit segeln – auf einem Schiff, das von Leuten gelenkt wird, die nicht zu navigieren verstehen. Weil wir verlernt haben, zu den Sternen aufzublicken. Geschweige denn, nach ihnen zu greifen.

Vielleicht kommt Ihnen das alles etwas dick aufgetragen vor. Okay, ich gestehe, dass ich zuweilen zum Pathos neige. Aber sehen Sie es mir nach. Denn es geht wirklich ums Ganze. Es geht darum, Hand an die Wurzeln unseres Denkens zu legen, weil dieses Denken eine Welt hervorgebracht hat und befeuert, die uns krank macht. Und weil dem nur Einhalt geboten werden kann, wenn wir dieses Denken bloßstellen und entmachten; wenn wir es durch ein anderes, besseres Denken ersetzen – ein Denken, das uns die Augen für den Sinn des Lebens öffnet, und das uns, indem es dies tut, die innere Kraft zufließen lässt, »Ja« zu sagen. »Ja«, auch wenn so vieles aus dem Ruder läuft. »Ja«, weil wir eine Ahnung davon haben, was Leben sein kann, was es tatsächlich ist, worin sein unendlicher, zeitloser Sinn liegt. Ihn zu entdecken, würde ein neues Denken beflügeln. Denn Sinn ist die kostbarste Ressource, die es gibt – viel kostbarer als Gold, Öl, Uran oder Erz. Sie zweifeln? Dann lassen Sie mich einen Kronzeugen herbeirufen; einen, der wie wenige sonst die lebensnotwendige Bedeutung des Sinns erkannt hat – und das nicht allein aus grauer Theorie, sondern, ganz im Gegenteil, aus grauenhafter Erfahrung. Die Rede ist von Viktor Frankl.

Ein sieghaftes »Ja!«

Falls Sie Viktor Frankl nicht kennen, lassen Sie mich ihn kurz vorstellen. Er war nicht im engeren Sinne Philosoph, sondern Arzt. Seine Fachgebiete waren die Neurologie und die Psychiatrie. Und auf diesem Wege kam er zur Psychotherapie, in der er eine neue und einflussreiche Richtung einführte: die Logotherapie. Geboren wurde Frankl am 26. März 1905 als Sohn einer jüdischen Beamtenfamilie. Von Jugend auf galt sein Interesse der Psychologie, wobei ihn besonders Themen wie Depression und Suizid beschäftigten. Er legte eine medizinische Bilderbuchkarriere hin, die es ihm erlaubte, trotz erheblicher Einschränkungen wegen seiner jüdischen Herkunft bis 1942 als Arzt tätig zu sein. Doch dann schlugen die Nazis zu. Wegen ihrer jüdischen Religion wurden er, seine Frau und seine Eltern am 25. September 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert. Sein Vater starb dort 1943, seine Mutter wurde in Auschwitz ermordet, seine Frau starb im KZ Bergen-Belsen. Am 19. Oktober 1944 wurde Frankl von Theresienstadt nach Auschwitz verlegt und einige Tage später in das KZ-Kommando Kaufering VI (Türkheim), ein Außenlager des KZ Dachau, gebracht. Am 27. April 1945 wurde er in dort von der US-Armee befreit.«

Seine Erfahrungen und Deutungen des Lebens im Konzentrationslager hat Frankl später in dem Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen niedergeschrieben. Und in ebendiesem Buch stellte er auf eindrückliche Weise dar, wie es allein das Wissen um den Sinn des Lebens war, das ihn das Grauen überleben ließ. In einem Abschnitt, der überschrieben ist mit »Nach dem Sinn des Lebens fragen«, schreibt Frankl: »Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.« Das ist ein Zitat von Nietzsche, das Frankl seinen Gedanken voranstellt. Dann fährt er fort: »Man musste also den Lagerinsassen, sofern sich hie und da einmal die Gelegenheit hierzu bot, das ›Warum‹ ihres Lebens, ihr Lebensziel bewusst machen, um so zu erreichen, dass sie auch dem furchtbaren ›Wie‹ des gegenwärtigen Daseins, den Schrecken des Lagerlebens, innerlich gewachsen waren und standhalten konnten. Umgekehrt: wehe dem, der kein Lebensziel mehr vor sich sah, der keinen Lebensinhalt mehr hatte, in seinem Leben keinen Zweck erblickte, dem der Sinn seines Daseins entschwand – und damit jedweder Sinn eines Durchhaltens.« Und an anderer Stelle resümiert er: »Es war allein der Wille zum Sinn, was sie [die Lagerüberlebenden] letzten Endes am Leben gehalten hatte.« Worin sich für Frankl ein Wort Albert Einsteins bewahrheitete, der einst sagte: »Wer sein eigenes Leben als sinnlos empfindet, der ist nicht nur unglücklich, sondern auch kaum lebensfähig.«

Aber was ist das für ein Sinn, von dem Frankl hier spricht? Was ist das für ein Sinn, den zu wollen seiner Erfahrung nach die kostbarste Energieressource ist, die den Menschen im Konzentrationslager das Überleben ermöglichte? Nun, die Antwort, die Frankl auf diese Frage anbietet, ist ganz einfach – erschütternd einfach. Sie leuchtet auf in einer bewegenden Szene aus seiner Zeit in Dachau:

»Du stehst im Graben bei der Arbeit; grau ist die Morgendämmerung um dich, grau ist der Himmel über dir, grau ist der Schnee im fahlen Dämmerlicht, grau sind die Lumpen, in die deine Kameraden gehüllt sind, grau sind ihre Gesichter. Wieder hebst du an mit deiner Zwiesprache mit dem geliebten Wesen, oder, zum tausendsten Mal, beginnst du dein Klagen und dein Fragen zum Himmel zu schicken. Zum tausendsten Mal ringst du um den Sinn deines Leidens, deines Opfers – um den Sinn deines langsamen Sterbens. In einem letzten Aufbäumen gegen die Trostlosigkeit eines Todes, der vor dir ist, fühlst du deinen Geist das Grau, das dich umgibt, durchstoßen, und in diesem letzten Aufbäumen fühlst du, wie dein Geist über diese ganze trostlose und sinnlose Welt hinausdringt und auf deine letzten Fragen um einen letzten Sinn zuletzt von irgendwoher dir ein sieghaftes ›Ja!‹ entgegenjubelt. Und in diesem Augenblick – leuchtet ein Licht auf in einem fernen Fenster eines Bauerngehöfts, das wie eine Kulisse am Horizont steht, inmitten des trostlosen Grau eines dämmernden bayrischen Morgens.«

»… von irgendwoher dir ein sieghaftes ›Ja!‹ entgegenjubelt« – was für ein Satz! Erlebt und aufgezeichnet von einem KZ-Häftling. Inmitten der grauesten und gräulichsten Situation, die sich nur denken lässt. Ein »sieghaftes ›Ja!‹«: Das ist das Ereignis des Sinns. Es ist ein Ereignis, das uns trotzdem »Ja!« zum Leben sagen lässt. Das Ereignis eines Sinns, der einen Menschen nach Frankls Erfahrung auch unter widrigsten Umständen am Leben hält, ihn durchs Leben trägt.

Man könnte meinen, dass es sich bei Viktor Frankls Sinnerfahrung um einen Einzelfall handelt, aber das ist nicht so. Ganz ähnlich erging es einer jungen niederländischen Jüdin, der es nicht vergönnt war, die Hölle des Konzentrationslagers zu überleben. Etty Hillesum war gerade erst 29 Jahre alt, als die Nazis sie in Auschwitz ermordeten. In den Jahren davor führte die junge Frau ein Tagebuch, dessen Worte eine Seele zeigen, in der eine leidenschaftliche Liebe zum Leben mit einem klaren Geist verwoben ist. Einen Monat vor ihrem gewaltsamen Tod notierte sie darin: „Leben und Sterben, Leid und Freude, die Blasen an meinen wundgelaufenen Füßen und der Jasmin hinterm Haus, Verfolgungen, die zahllose Grausamkeiten, all das ist in mir wie ein einziges starkes Ganzes, und ich nehme alles als ein Ganzes hin….Ich finde das Leben sinnvoll, trotzdem sinnvoll“.