Das große Spiel - Michael Lederer - E-Book

Das große Spiel E-Book

Michael Lederer

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Beschreibung

The Great Game ist eine Sammlung von achtzehn Kurzgeschichten die in englischer Sprache geschrieben wurden. Es wird behauptet, der Westen Amerikas sei wild im Vergleich zum Osten. In Europa ist es genau umgekehrt. Lederer hat auf beiden Kontinenten gelebt und schreibt über jede dieser Lebenswelten. Dabei stellt er fest, dass ihre Unterschiede unbequemer sind als ihre Mythen. Ein Trampertour durch die USA. Ein betrunkenes Pferd in Kalifornien. Eine Zugfahrt von Berlin nach Warschau. Machtlosigkeit unter den Reichen. Unschuld in New York City. Heimat. Dies sind einige der Themen in diesem Buch.

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Seitenzahl: 300

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Das große SpielBerlin-Warschau-Express und andere Geschichten

Michael Lederer

Das große Spiel

Berlin-Warschau-Expressund andere Geschichten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Bitte besuchen Sie auch www.palmartpress.com

ISBN 978-3-941524-13-2ISBN 978-3-941524-27-9 (eBook)

Originalausgabe- 1. Auflage 2012

© 2012 Michael Lederer

PalmArtPress

Pfalzburger Str. 69, 10719 Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Genia Chef, Transformation, Öl auf Holz, 2011

Umschlag hinten: Foto von Zeljko Tutnjevic

Herausgeber: Catharine J. Nicely

Satz und Gesamtgestaltung: Pauline A. Peters

Hergestellt in Deutschland

Für Katarina, meine Liebe,und nochmals für Nicholas

„Eine bittersüße Symphonie ist dieses Leben.“

- The Verve (aus ihrem Hit Bittersweet Symphony,der als Rolling Stones-Plagiat gilt)

Sternschnuppe

Wie eine Sternschnuppe ist unser Leben:

Für einen Augenblick könnt Ihr uns leuchten seh’n,

Denn wir verweilen nicht, obschon wir es erstreben,

Und bleiben als Gedanken nur besteh’n.

Denkt Ihr daran, wie unser Weg einst war,

Gleicht Eurer Jugend er: vorbei, doch wohlbekannt,

Und die Erinnerung an beides – schön und klar –

Ist treuste Wahrheit, dem Gedächtnis eingebrannt.

So wahr wie Licht noch strahlt und Echos hallen,

Bewahren Geist und Herz Vergangenheit.

So will Natur mit ihrem Kinderspiel gefallen,

Bis das Vergang’ne lebt in Ewigkeit.

Indes, auch Euer Stern eilt flüchtig durch die Zeit;

Seid für den Tag, an dem er meinem folgt, bereit.

Inhalt

Prolog: Sternschnuppe

Ein Vater und ein Sohn

Das Loch im Zaun

Dreieinhalb

Happy End

Champagne

Ein sehr netter Mann

Die Dinge im Spiegel sind uns näher, als es scheint

Dulcinea

Ein Wunsch wird wahr

Berlin-Warschau-Express

Keine Science Fiction

Eine üble Geschichte

Alles Klar

Das Familienalbum

Für die Kinder

Nichts da draußen, nur der Wind

Butternut

Spain II

Eine Rückkehr an den See

Epilog: Der Zauber der Welt

Ein Vater und ein Sohn

Das City Café hatte sich in den letzten fünfzig Jahren kaum verändert. Die Stühle mit Lehnen aus Rohrgeflecht, die runden Tische und der lange Spiegel an der Wand. Die schmiedeeisernen Geländer und die Theke aus Holz, die glänzend polierte Espressomaschine aus Kupfer. Alles sah im Großen und Ganzen genauso aus, wie es immer ausgesehen hatte, so weit die alten Männer zurückdenken konnten. Sie kamen jeden Morgen in der Ecke neben dem großen Fenster mit dem Blick auf den Platz zusammen. Sie saßen zusammen, nippten an ihrem Kaffee und erinnerten sich an allerlei und dann erzählten sie sich gegenseitig, woran sie sich erinnerten. Das eine war immer so gewesen, die andere war immer, sie hatten immer…und so ging es weiter. Irgendwie war alles, was gesagt wurde, nie aktuell genug, um wirklich interessant zu sein, und doch war es gleichzeitig vertraut genug, um diesen alten Männern ein Trost zu sein, die einander schon gekannt hatten, als sie noch nicht alt waren. Jetzt jedoch bestanden ihre Tage weit mehr aus vergangenen Jahren als aus Künftigem. Sie alle wussten es, aber sie sprachen nicht darüber, abgesehen von dem einen oder anderen Witz zu diesem Thema, über den sie alle lachten, bevor sie für einen Augenblick oder zwei ganz still wurden.

Einer der Männer war Teo, ein alter Arzt. Wenn die anderen gingen, blieb er immer zurück und sprach weiter, ganz so, als wäre er nicht alleine. Die Leute des Ortes sahen nicht zu ihm hinüber, denn sie kannten ihn und sie mochten ihn und wenn jemand ihm zu nahe getreten wäre, hätten sie ihn auch beschützt, aber niemand trat ihm je zu nahe. Selbst Touristen auf der Durchreise schauten nur für einen Moment zu ihm hin und wandten sich dann ab. Sie verstanden irgendwie, dass er ebenso wie alles andere und auf ganz natürliche Art ein Bestandteil des City Cafés war. Die Kellner brachten Teo seinen Sherry und Espresso mit zwei Stück Zucker, ohne Milch, und sein Mineralwasser ohne Kohlensäure, und wenn er später ging, bekam er nie eine Rechnung, nur ein „Bis bald“. Dann zog er los zum Mittagessen, ein Nickerchen machen, duschen, bevor er abends wieder zurück zum Café kam, auf einen weiteren Sherry, einen Espresso mit zwei Stücken Zucker, ohne Milch, und ein Mineralwasser ohne Kohlensäure. Die Kellner fragten nie, was er wollte. Sie brachten es einfach.

Er hatte dicke Brillengläser und weißes Haar, lang wie eine Künstlerfrisur, aber mit einem gepflegten Schnitt. Seine Kleider waren sauber und er trug immer eine Krawatte, sogar im Sommer. Da er mit sich selbst sprach, vermittelte er den Eindruck, dass sich jemand um ihn kümmern musste. Eine Frau vielleicht oder eine Haushälterin, oder vielleicht hatte er erwachsene Kinder, die ihre eigenen Familien hatten, und jemand aus der Familie sorgte für ihn. Denn, bei jemandem, der so mit sich selbst redete, da kam man leicht auf den Gedanken, dass er nicht für sich selbst sorgen konnte.

Der älteste Kellner im Café hieß Marko. Er hatte die Stelle als junger Mann bekommen, als sein Onkel noch Oberkellner war. Marko hatte nie irgendwo anders gearbeitet. Jetzt war sein Onkel schon lange tot und Marko war selbst Oberkellner. Wenn er nicht gerade bediente, stand Marko gerne in einer Ecke des großen Saals mit der hohen Decke und dem Messingleuchter und all den Leuten. Er schaute sich um in „seinem“ Café, mit seinen scharfen, braunen Augen, die alles sahen und alles verstanden. So sah er, dass mit all den elektronischen Utensilien, die heutzutage jeder dabei hatte, der alte Teo oft nicht der einzige war, der alleine am Tisch saß und redete. Viele Leute sprachen in ihr Handy, oder mit ihrem Handy, und sogar ohne irgendein Telefon in der Hand wirkte der alte Mann natürlicher, der dort vor sich hin sprach. Er hielt eine Zigarette in einer Hand und gestikulierte beim Sprechen mit ihr, obwohl die Zigarette nie angezündet war, denn Rauchen war im Café nicht gestattet. Trotzdem hielt er die Zigarette und gestikulierte elegant, schaute unverwandt auf den leeren Stuhl ihm gegenüber und redete mit ihm.

Der Sommer war jetzt vorbei. Die Tage wurden kühler und der Wind stärker und jeder saß drinnen, ausgenommen diejenigen, die unbedingt rauchen mussten. Die Raucher, die nicht nicht-rauchen konnten, kamen draußen in den Ecken der großen steingefliesten Terrasse zusammen, die Krägen hochgestellt und die Rücken an der Wand. Der alte Teo hatte sicherlich Probleme, aber drängende Nikotinabhängigkeit gehörte nicht dazu. Er saß drinnen an dem großen Fenster, dort wo man noch einen guten Blick auf den Platz hatte, und es genügte ihm, die Zigarette in der Hand zu halten und elegant mit ihr zu gestikulieren, während er zu dem leeren Stuhl hin sprach.

Eines Morgens kam ein junger Amerikaner ins Café. Er ging durch bis zum hinteren Ende und setzte sich alleine an den Tisch, der am weitesten von der Tür entfernt war. Marko kam zu ihm hinüber. Der junge Mann bestellte einen doppelten Espresso. Als Marko wegging, zog er einen Laptop aus seiner Umhängetasche, öffnete ihn und schaute sich um.

Der Name des jungen Mannes war Jack. Er hatte beschlossen, einen fantastischen Roman zu schreiben und hatte daher getan, was so viele große Schriftsteller, die er bewunderte, vor ihm getan hatten. Er hatte das Gegenstück seiner Generation zu Füller und Papier gekauft und war nach Europa gezogen. In der Hoffnung, dass das, was für sie so gut funktioniert hatte, auch bei ihm Wirkung zeigen würde, hatte er sich für dieses alte Café als den Ort entschieden, wo er sein Lebenswerk beginnen würde.

Marko brachte ihm seinen Kaffee. Während er ihn trank, sah Jack sich um und wartete auf die Eingebung für seinen großen Roman. Endlich hatte er eine Idee. Er fing an und schrieb über eine Katze, die er am Abend zuvor in einer der gepflasterten Gassen der Altstadt gesehen hatte. Die Katze sah hungrig und verlassen aus, und die Story fing ziemlich gut an, aber dann kam sie plötzlich zum Stillstand, weil Jack sich nicht entscheiden konnte, wo die Katze hergekommen war oder wo sie hinwollte. Nach einer Weile gab er auf. Er sagte sich, dass das wohl ein Fehlstart war. Wieder schaute er im Café umher und versuchte nachzudenken, was nicht das Gleiche ist wie Nachdenken selbst. Die Idee mit der Katze führte zu der Idee mit einem Hund, die wiederum zu der Idee mit einem Jungen und die führte…nirgendwohin. Er bezahlte seinen Espresso und ging.

Am nächsten Morgen kam er zurück, setzte sich an den gleichen Tisch und bestellte bei Marko seinen doppelten Espresso. Als Marko zurück zur Theke ging, fühlte der junge Mann sich schon zu den Einheimischen gehörig. Er fragte sich, wie oft er wohl hierher kommen müsste und wie viele Tassen Espresso er wohl bestellen müsste, bis Marko auch anfangen würde, ihn als Einheimischen zu sehen. Er nahm seinen Laptop aus der Tasche und öffnete ihn, und wie so viele junge Männer vor ihm, zu seiner Zeit und für alle Zeiten, hoffte er, dass jemand ihm zusehen und verstehen würde, dass er dabei war, Großes zu schaffen. Aber Großes geschah im Moment nicht. Noch nicht. Und so lehnte er sich, eine halbe Stunde später, als ihm die Idee für einen großen Roman immer noch nicht gekommen war, nach vorne gegen den Tisch, rieb sich die Schläfen und schaute sich im Café um.

Drüben am Fenster war wieder der alte Mann mit seinen Freunden. Er war Jack schon am Tag zuvor aufgefallen. Als nun seine Freunde aufstanden und sich anschickten zu gehen, fragte er sich, ob der alte Mann wieder anfangen würde, mit sich selbst zu reden. Genau das tat er.

Sowohl auf seinen Reisen als auch zu Hause in New York hatte Jack zahllose Leute gesehen und gehört, die mit sich selbst redeten. Auf Parkbänken und an Kircheneingängen, an Bushaltestellen und, den einen Wintertag würde er nie vergessen, auf dem Markusplatz, als er dachte, ein Irrer mit Schaum vor dem Mund würde ihn anschreien. Aber dann stieg er in ein Taxi und schaute zurück und es stellte sich heraus, dass der Typ einfach nur so herumschrie.

Dieser alte Mann war anders. Er sah so normal aus, sauber, ausgeglichen. Nicht verwirrt wie die anderen, sondern wohlsortiert und ganz klar. Es sah sogar so aus, als führte er ein normales Gespräch, nur dass sein Gegenüber nicht da war. Man hatte den Eindruck, das war mehr ein Fehler der anderen Person, die nicht gekommen war, und nicht der Fehler des alten Mannes, dass er ins Leere sprach.

Jack beobachtete ihn unauffällig. Nach einer Weile versuchte er wieder zu schreiben, aber irgendwie konnte er nicht aufhören, über diesen alten Mann nachzudenken, der mit sich selbst sprach. Schließlich gab er auf, wie am Tag zuvor, zahlte seine Rechnung und ging. Im Hinausgehen hörte er, wie der alte Mann sagte:

„Ich würde dir das nicht so sagen aber ich finde, du solltest diese Dinge wissen.“

Am nächsten Tag kam Jack wieder ins Café. Er wollte sich gerade wieder an den gleichen Tisch setzen, als er den alten Mann am Fenster sah, schon allein und schon dabei, mit sich selbst zu sprechen. Jack beschloss, diesmal einen Tisch näher dran zu nehmen, damit er zuhören konnte.

Marko kam zu ihm hinüber und Jack bestellte „das Gleiche wie immer“ und während er darauf wartete, hörte er den alten Mann sagen:

„Wenn du etwas von anderen möchtest, denk nur ja nicht, dass sie das einfach so wissen. Frag sie oder sag es ihnen, aber warte nicht einfach nur darauf. Wenn du auf Dinge wartest, dann treffen sie nie ein.“

Der alte Mann nippte an seinem Sherry, gestikulierte mit seiner nicht angezündeten Zigarette und sagte dann:

„Ein kleines Boot wird von den Wellen hin und her geworfen, aber ein großes Schiff pflügt sich durch die Wellen und erreicht sein Ziel. Sieh zu, dass du ein großes Schiff bist und kein kleines Boot.“

Er fügte hinzu:

„Und vergiss nicht, die Brust eines Mädchens ist etwas sehr Schönes. Aber übersieh dabei ihr Herz nicht. Wenn du wirklich glücklich sein willst, ist beides wichtig.“

Der Kaffee kam.

„Marko?“

Er kannte den Namen des Kellners von seinem Namensschild.

„Ja?“

Jack senkte die Stimme, damit der alte Mann ihn nicht hören konnte.

„Wer ist der alte Mann?“

„Er heißt Teo.“

„Mit wem spricht er?“

„Mit seinem Sohn.“

„Wo ist sein Sohn?“

„Tot.“

Eine Pause.

„Wie?“

„Motorrad. Möchten Sie sonst noch was?“

„Nein. Danke.“

Marko ging.

Jack hörte weiter zu. Es ging immer so weiter. Ein wertvoller Rat nach dem anderen.

„Wenn es etwas an dir gibt, von dem du nicht überzeugt bist, finde etwas anderes, an das du glauben kannst. Und dann stütze dich darauf, voll und ganz. Bau alles andere darauf auf, denn das ist dein Fundament. Denk daran, wie sollen andere an dich glauben, wenn du selbst nicht an dich glaubst?“

Es gab noch mehr. So viel mehr.

„Man sagt, gut reden können ist eine Gabe, aber gut zuhören können ist eine noch kostbarere Gabe. Und das stimmt. Ein guter Lehrer muss zuallererst ein guter Schüler sein. Die besten Lehrer hören eigentlich nie auf, Schüler zu sein. Es ist immer so, dass die Menge dessen, was du nicht weißt, bedeutend größer ist als dein Wissen.“

Und einen Augenblick später:

„Du beginnst mit einem Traum. Schön und gut. Du denkst daran, wie etwas aussehen wird, wenn du es abgeschlossen hast, deshalb fängst du an. Aber der Traum ist nicht genug. Jeder will reich sein. Oder will diese bestimmte Frau. Oder will vielleicht die Welt in Ordnung bringen. Aber dann musst du einen Plan entwickeln, wie du dahin kommst. Und dann…und das ist der schwierigste Teil…dann musst du sehr hart arbeiten, und wahrscheinlich sehr lange. Denn vergiss nie, Träume werden nicht wahr, sie werden wahr gemacht.“

Jack versuchte, den alten Mann nicht anzusehen. Er hatte Angst, dass, wenn er ihn dabei ertappte, wie er zu ihm hinsah, er aufhören würde zu sprechen. Und Jack wollte nicht, dass er aufhörte zu sprechen. Mehr als alles andere wollte er, dass er nicht aufhörte. Es gab einen Grund dafür.

Als Jack sieben war, lebte seine Familie in Kalifornien. Eines Abends war sein Vater auf dem Heimweg, auf der Küstenstraße von Santa Cruz nach Pescadero, wo ihr Haus stand. Wahrscheinlich fuhr er zu schnell, denn am nächsten Morgen fand jemand sein Auto am Fuß einer Klippe, zerschmettert auf den Felsen am Ufer des Meeres. Aber sein Vater wurde nie gefunden.

Zwei Jahre später, als Jacks Mutter verkündete, dass die Familie nach New York City ziehen würde, wo sie herkam, brach Jack in Tränen aus. „Wie soll der Papa uns denn dann jemals finden?“ Der Junge glaubte fest daran, dass sein Vater den Sturz irgendwie überlebt hatte, ins Meer geschleudert worden war, und, als das kalte Wasser ihn wieder zur Besinnung gebracht hatte, wahrscheinlich zu einem Strand in der Nähe geschwommen war. Dann hatte er bestimmt unter Gedächtnisverlust gelitten und war umhergeirrt, bis jemand ihn gefunden und in ein Krankenhaus gebracht hatte. Keine liebevolle Überzeugungskunst der Welt konnte den kleinen Jack davon abbringen. Und als der Möbelwagen kam, um den Hausrat abzuholen, rannte der Junge weg und versteckte sich in einem Gebüsch hinter dem Haus, fest entschlossen, dort zu bleiben und auf den Tag zu warten, an dem sein Vater heimkäme. Aber seine Mutter fand ihn und sie zogen nach New York City und sein Vater kam nie zurück.

Viele Jahre später, als Jack älter war und dabei, von zu Hause auszuziehen und zur Uni zu gehen, kam seine Mutter in sein Zimmer und brachte ihm ein kleines Päckchen, das in weißes Papier eingepackt war. Es war ein Tagebuch, das sein Vater geführt hatte.

„Es gibt sechs davon“, sagte sie ihm. „Dieses hier schrieb er, als du geboren wurdest. Eines Tages bekommst du sie alle, aber dies hier gebe ich dir jetzt. Es stehen Dinge darin, die du lesen solltest.“

In dieser Nacht, im Flugzeug, schlug er es auf. Er las es ganz. Jedes Wort. Sein Vater hatte eine saubere, leicht geneigte Handschrift. Er schrieb mit blauer Tinte. Einer der Einträge war nur zwei Tage nach Jacks Geburt verfasst worden.

„Willkommen in der Welt, kleiner Jack“, schrieb er. „Sie ist so groß und du bist noch so klein. Aber eines Tages wirst du nicht mehr so klein sein. Du wirst viele Abenteuer erleben. Wir werden viele Abenteuer zusammen erleben. Aber denke immer daran, dein bester Freund, das werde nicht ich sein. Oder Mama. Das wird immer dein älteres Ich sein. Sieh dieses Ich als einen Freund, der immer bei dir ist. Wenn du 20 bist, denke an den 40 Jahre alten Jack. Wenn du 40 bist, denke an den 60 Jahre alten Jack. Und so weiter. Und wenn du einmal vor einer großen Entscheidung stehst, und du wirst vor großen Entscheidungen stehen, dann frag einfach dein älteres Ich was er denkt, was du tun sollst. Und hör ihm gut zu. Du kannst ihm vertrauen, denn was in seinem Interesse ist, ist immer das gleiche, was in deinem Interesse ist. Wenn er denkt, dass etwas die richtige Entscheidung ist, dann tu es und tu dein Bestes dafür! Wenn er dir aber sagt, dass etwas keine gute Idee ist, hör auch dann auf ihn. Er wird dich zum Beispiel bitten, ihm zuliebe nicht zu rauchen. Und nicht zu viel zu trinken. Aber er wird dich auch auffordern, diese Abenteuer zu erleben, damit er das Gefühl bekommt, wirklich gelebt zu haben. Das ältere Ich ist für einen Menschen der beste Freund, den man haben kann, und wenn du ihn lässt, dann wird er immer und überall bei dir sein.“

Und plötzlich war hier in diesem Café, fast auf der anderen Seite der Welt, ein Mann, der seinen Sohn verloren hatte. Und dieser Mann verschenkte hier die gleiche Art von Weisheit und Liebe, wie sie Jack im Tagebuch seines Vaters gefühlt hatte, ja buchstäblich gespürt hatte.

Nur einmal trafen sich ihre Augen. Es passierte aus Versehen. Der alte Mann schaute aus dem Fenster hinaus auf den Platz und Jack schaute auf seinen Rücken. Plötzlich sah der alte Mann genauer auf die Spiegelung im Fenster. Und im spiegelnden Glas dieses Fensters sahen sie einander an. Jack wendete sofort den Blick ab. So sehr er sich auch wünschte, ihn kennenzulernen, er hatte ständig diese Angst, dass wenn es geschähe, der alte Mann nicht mehr mit sich selbst sprechen würde, wenn Jack in der Nähe wäre. Und mehr als alles andere wollte er diese Worte hören.

So kam Jack jeden Tag in das Café und er saß in der Nähe des alten Mannes und hörte zu. Er beobachtete ihn aus dem Augenwinkel und tat dabei, als schaute er andere Sachen an, oder als schriebe er. Nach einer Weile schrieb er wirklich, aber nicht seinen Roman. Er schrieb jedes Wort nieder, das er den alten Mann sagen hörte.

Eines Tages hörte er ihn sagen:

„Alles zu seiner Zeit. Du brauchst dich nicht so zu beeilen. Dieses dumme Motorrad. Wozu die Eile? Du hast noch dein ganzes Leben vor dir. Aber einmal, da habe ich dir gesagt, du sollst nicht einfach warten. Es tut mir Leid. Das war falsch von mir. Vielleicht hast du auf mich gehört und gedacht ‚Ich beeil mich besser‘. Aber manchmal, weißt du, ist es ganz in Ordnung, zu warten. Alles zu seiner Zeit.“

Aus dem Oktober wurde November. Bald war auch die Weihnachtszeit vorbei, und das neue Jahr bewegte sich auf den Frühling zu. Und eines Tages kam der alte Mann nicht. Es war schon ein paar Mal zuvor passiert, deshalb machte Jack sich keine weiteren Gedanken darüber. Auch am nächsten Tag kam er nicht, und Jack machte sich immer noch keine Sorgen. Aber dann, am Tag darauf, kam der alte Mann wieder nicht.

„Marko?“

„Ja?“

„Wo sind sie?“

„Die alten Männer?“

„Ja. Und besonders, ich meine, der alte Teo.“

„Er ist gestorben.“

„Was?“

„Er ist gestorben. Vor ein paar Tagen. Sie sind alle bei seiner Beerdigung. Möchten Sie sonst noch was?“

„Nein. Danke.“

Ein paar Touristen standen an einem der Tische in der Nähe auf. Marko ging hinüber und wischte ihn mit einem feuchten Tuch ab. Jack saß für einige Minuten einfach so da. Dann bezahlte er seine Rechnung und ging. Er ging durch die Altstadt und dann hinunter ans Wasser. Und lange, sehr lange ging er immer weiter.

Das Loch im Zaun

Ein halbes Jahrhundert hatte seinen Tribut gefordert. Alles war geschrumpft. Das Haus. Die Stadt. Die Welt.

Der Hügel war nicht so steil, wie er ihn in Erinnerung hatte. Eigentlich konnte man es kaum einen Hügel nennen. Eine abschüssige Wiese schon eher. Dabei war er ihm als Junge immer so gigantisch vorgekommen, wenn er ihn auf seinem Schlitten hinuntergejagt war. Als er ihn sich jetzt anschaute, fragte sich Cal, wie er, sein Bruder und ihre Freunde jemals so ein Tempo erreichen konnten. Er konnte noch immer hören, wie das Eis unter den Kufen kratzte, sehen, wie der Apfelbaum bedrohlich näher kam, die Anstrengung spüren, die es gekostet hatte, den Schlitten im letzten Moment so zu steuern, dass er nicht mit dem Baum zusammenprallte. Und es hatte etliche Beinahe-Zusammenstöße gegeben.

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