Das Grundgesetz - Peter Zolling - E-Book

Das Grundgesetz E-Book

Peter Zolling

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Beschreibung

Wir sollten Das Grundgesetz nicht nur feiern, sondern auch kennen Das Grundgesetz war noch nie so gefährdet wie heute. Wir sollten es kennen, damit wir wissen, was sich zu verteidigen lohnt. Es sollte nur ein Provisorium sein, bis ein geeintes Deutschland sich eine endgültige Verfassung gibt. Im wiedervereinigten Deutschland ist es unbestritten diese Verfassung – die freiheitlichste und zugleich stabilste, die wir je hatten. Sein Grundrechtekatalog stellt die Würde des Menschen über alles und diszipliniert entsprechend die staatliche Gewalt – oder sollte es jedenfalls. Dass Deutschland ein föderativer, demokratischer und sozialer Rechtsstaat sein soll, legt es verbindlich fest. Wie das alles im Einzelnen ausgestaltet werden soll, lässt es offen: als Sache der Bürger. Dass die ihre Grundrechte alle gut kennen würden, wird niemand behaupten. Peter Zollings Buch will sie zugleich vorstellen und erklären.

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Seitenzahl: 283

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Über das Buch

Im Mai 2024 wird das Grundgesetz 75 Jahre alt. Zuerst als nur vorläufig gedacht, ist es heute die Verfassung unseres wiedervereinigten Landes – die freiheitlichste und stabilste, die Deutschland je hatte. Der bekannte Historiker Peter Zolling erklärt diese Verfassung nicht nur, er erzählt auch, wie sie entstand und sich in 75 Jahren wechselvoller Geschichte bewährt und weiterentwickelt hat. Sein Buch ist zugleich ein vehementes Plädoyer dafür, sie gegen diejenigen zu verteidigen, die in Deutschland etwas anderes wollen als eine freiheitliche und pluralistische parlamentarische Demokratie.

Peter Zolling

Das Grundgesetz

Die Verfassung unserer Demokratie

Für Andrea und Hermann Zolling

I. 75 Jahre Grundgesetz – Einleitung zur Neuausgabe

Kompass in Zeiten der Konfusion

Als dieses Buch 2009 zum 60. Geburtstag des deutschen Grundgesetzes erstmals erschien, standen Staaten und Gesellschaften in der ganzen Welt im Bann einer globalen Finanz- und Wirtschaftskrise – wie zuletzt Anfang der Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts. In Deutschland gelangten damals die Nationalsozialisten an die Macht, bis dahin eine als nicht regierungsfähig geltende radikale Rechtspartei, nun aber Nutznießer einer dramatisch ansteigenden Arbeitslosigkeit und des dadurch verursachten sozialen Elends. Mit der schrittweisen Errichtung einer Diktatur machten ihr »Führer« Adolf Hitler und dessen Gefolgsleute der demokratischen Verfassung der Weimarer Republik den Garaus. Die entsetzlichen Folgen sind bekannt. Nun, 80 Jahre später, sahen wir wieder eine weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise, und glücklicherweise blieb diesmal eine Katastrophe aus.

Dennoch: Die vom Fall der US-amerikanischen Großbank Lehman Brothers im September 2008 ausgelöste Erschütterung der meisten Volkswirtschaften der Welt verschärfte alte und erzeugte neue gesellschaftliche Spannungen, die bis heute fortwirken. Dazu beschwor sie weitere Herausforderungen herauf, wie etwa die Euro- und Staatsschuldenkrise, die nur wenig später Europas Einheit auf die Probe stellte. Seitdem, so das weitverbreitete Zeitgefühl, sind Krisen zum Erkennungsmerkmal, ja eine Art Markenzeichen unserer Epoche geworden. Ihr anschwellendes Begleitrauschen im Alltag, also in der subjektiven Wahrnehmung eines jeden Einzelnen, wurzelt im Aufstieg der sogenannten sozialen Medien zu einer neuen Kommunikationstechnik mit all ihren Möglichkeiten leider nicht nur zur Meinungsäußerung, sondern auch zur Meinungsmanipulation.

Nicht alle diese Krisen haben direkte verfassungspolitische oder verfassungsrechtliche Folgen. Aber viele beeinflussen doch auf längere Sicht und im weitesten Sinne die Verfassung eines Landes und damit ebenfalls das Bau- und Regelwerk seines Staates und seiner Gesellschaft. So auch im Fall des Grundgesetzes, der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die 2024 seit 75 Jahren besteht.

Das Jubiläum unserer Verfassung wäre für sich allein betrachtet vielleicht noch kein Anlass für eine Neuausgabe eines Buches, das vor allem als Einführung in eine komplexe Materie gedacht war. Aber schon 2009 war auch vom Wandel die Rede, dem eine Verfassung wie das Grundgesetz Rechnung tragen muss, einem Wandel, der in unterschiedlicher Gestalt auf die politisch-soziale Bühne treten kann: Einmal verdrängen neue Wertvorstellungen alte und verlangen nach Repräsentation, so etwa bei den Debatten um die Ehe für alle oder die geschlechtliche Selbstbestimmung. Ein andermal werfen wirtschaftliche und technologische Durchbrüche Fragen auf, etwa nach dem erweiterten Schutz von Grundrechten im digitalen Zeitalter oder zum Verhältnis von künstlicher Intelligenz (KI) und menschlicher Autonomie und Kreativität.

Daneben oder besser darüber erleben wir im 21. Jahrhundert globale Krisen und Herausforderungen, auf die das Grundgesetz allein zwar keine Antworten geben kann, die es aber berücksichtigen, ja verinnerlichen muss. So, um nur das drängendste der weltumspannenden Themen zu nennen, der vom Menschen mit zu verantwortende Klimawandel, der uns Voraussetzungen und Grenzen unserer Existenz auf dem Planeten Erde drastisch vor Augen führt.

Es hinterlassen, wie gesagt, nicht alle kleinen und großen Krisen sichtbare Verfassungsspuren. Aber Auswirkungen auf das Verfassungsverständnis haben die globalen Brandherde mit ihren oft dramatischen Folgeeffekten sehr wohl. Sei es die Gefahr durch den Terrorismus, wie ihn die islamistischen Anschläge am 11. September 2001 in New York und Washington versinnbildlichen, seien es die Weltwirtschaftskrise am Ende der Nullerjahre und die darauf folgende Euro- und Europakrise, sei es die Fluchtbewegung über den Balkan 2015 und der fortwährende Migrationsdruck oder der als »Zeitenwende« verstandene Überfall Russlands auf die Ukraine im Winter 2022 – stets waren und sind durch solche gravierenden Ereignisse auch die das Grundgesetz tragenden Werte berührt, nämlich Freiheit, Sicherheit, Gleichheit, Recht und Gerechtigkeit. Damit verweisen sie zugleich auf den obersten und höchsten Wert, das Leitbild unseres Grundgesetzes: die alle Grundrechte überwölbende, unantastbare Menschenwürde.

Von vielen aufwühlenden Ereignissen aber hat in der jüngeren Vergangenheit nichts die deutsche Verfassung und die darin verbürgten Grundrechte so stark unter Druck gesetzt wie die sich seit Anfang 2020 weltweit ausbreitende Corona-Pandemie. Nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, weder vor noch nach der Vereinigung mit dem Osten Deutschlands, hatte es derart tiefe Eingriffe des Staates in die Grundrechte seiner Bürgerinnen und Bürger gegeben. Doch um es gleich vorwegzunehmen: Keineswegs ist das Grundgesetz dabei außer Kraft gesetzt worden oder drohte gar die Errichtung einer Diktatur, wie es auf Demonstrationen gegen die Anti-Corona-Politik von Bund und Ländern vielerorts laut tönte.

Ganz im Gegenteil hat sich das Grundgesetz in dieser Krise bewährt, und entscheidenden Anteil daran hatte der Grundsatz der Gewaltenteilung, also die Unabhängigkeit von Gerichten und Richterinnen wie Richtern. Sie prüften, bestätigten oder verwarfen die Rechtmäßigkeit der von staatlichen Stellen beschlossenen Maßnahmen und kontrollierten so die politisch Verantwortlichen. Auch die oberste richterliche Instanz, das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, war an diesem Prozess beteiligt und zeigte sich in seinen Urteilen so unabhängig, wie es unsere Verfassung vorsieht.

Die große Aufgabe des Karlsruher Gerichts ist es, den von der Politik gestalteten gesellschaftlichen Wandel kritisch zu begleiten und im Zweifelsfall – das heißt in seinen Urteilen – mit den Spielregeln und Anforderungen unserer Verfassung in Einklang zu bringen. Ja mehr noch: Mit seinen zwei Spruchkammern, dem Ersten und dem Zweiten Senat, entwickelt das Karlsruher Gericht die Verfassung unterhalb ausdrücklicher, mit Zweidrittelmehrheiten im Bundestag und Bundesrat förmlich zu beschließenden Veränderungen weiter. Man könnte auch sagen, es sorgt dafür, dass unsere Verfassung keinen Staub ansetzt. Das gelingt, wie alles im Mit- und Gegeneinander menschlicher Leidenschaften, Ansichten und Interessen, nicht immer perfekt. Aber doch immerhin so gut, dass das Bundesverfassungsgericht bei über 80 Prozent der Bevölkerung ein hohes bis sehr hohes Vertrauen genießt. Sieht man im Grundgesetz den Bauplan unserer Demokratie, stellen die inzwischen 160 Bände füllenden Urteile des Bundesverfassungsgerichts eine Art »Betriebsanleitung für die Bundesrepublik Deutschland« dar. So die treffende Bezeichnung, die der ehemalige Bundesverfassungsrichter Peter M. Huber in seiner Abschiedsrede am 24. März 2023 dafür gefunden hat.

Es waren, um auf das vorliegende Buch zurückzukommen, ereignisreiche Jahre seit dessen erstem Erscheinen vor 15 Jahren, und weil das Grundgesetz davon nicht unberührt bleiben konnte, haben sich Autor und Verlag entschlossen, es zu überarbeiten und zu aktualisieren. Dabei konnte vieles Grundsätzliche bleiben, wie es war, denn bei allen Veränderungen verkörpern Verfassungen wie das Grundgesetz in erster Linie das Bleibende und sind vor allem dazu da, die nicht selten konfliktreichen Prozesse des Wandels durch bewährte Institutionen und Verfahren in geordnete Bahnen zu lenken. Ein Charakterzug von Verfassungen ist ihre Beständigkeit im unablässigen Strom der Vergänglichkeit. Anker und Kompass zugleich zu sein, damit Stabilität und Richtung von Staaten und Gesellschaften stimmen – so könnte man ihre Aufgabe vielleicht definieren.

Für uns in Deutschland erscheint das umso wichtiger, als wir augenscheinlich in einer »Demokratie in Zeiten der Konfusion« leben – so der Titel einer Studie des Sozialwissenschaftlers Helmut Willke. Was der Forscher damit anspricht, nimmt seit Jahren immer bedrückendere Ausmaße an: Desinformation und Desorientierung, die bestimmte Milieus der Gesellschaft so heftig infiziert haben, dass sie – ähnlich dem Corona-Virus, das sie gern verharmlosen oder gar leugnen – zur epidemischen Gefahr werden könnten. In Fake News, Halbwahrheiten und Verschwörungsmythen wird Kompliziertes verführerisch vereinfacht und werden für alles, was in der Welt geschieht, Sündenböcke präsentiert. Verbreitet und vervielfältigt wird dies alles durch Kommunikationsplattformen im Internet, in denen jeder und jede rund um die Uhr und in Echtzeit Sender und Empfänger zugleich sein kann. Wir sprechen von social media, sozialen Medien, und erinnern uns, dass sie einmal ein großes demokratisches Versprechen waren. Heute müssen wir feststellen, dass sie mindestens so sehr, wie sie unser Leben bereichern können, zu Foren und Verstärkern von Hetze, Hass und Manipulation geworden sind.

Großen Anteil hatten die sozialen Medien auch an den zwei großen Radikalisierungsschüben, die Deutschland in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten erlebt hat: den ersten 2015/16 im Zusammenhang mit der Aufnahme von über einer Million Geflüchteten vor allem aus dem vom Bürgerkrieg geplagten Syrien, den zweiten nach Beginn der Corona-Pandemie 2020, als selbst ernannte »Querdenker« gegen die politischen und behördlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Seuche agitierten. Beide Ereignisse wirkten bis in den Lebensalltag der Menschen hinein, erzeugten entsprechend große Spannungen und dürften den Aufschwung der in maßgeblichen Teilen mittlerweile rechtsextremen Partei »Alternative für Deutschland« (AfD) mit erklären.

Aber wie bedrohlich sind diese Radikalisierungsschübe für unsere Verfassung? Schließlich hat die nun schon seit 75 Jahren Stabilität und Wandel in Deutschland moderiert und so manche Herausforderung gemeistert. Verfassungsfeinde, rechts wie links, hat es in der bundesdeutschen Geschichte zu allen Zeiten gegeben, und immer haben das Grundgesetz, Politik und Gesellschaft solche antidemokratischen Kräfte kleinhalten können. Doch seit 2015 haben sich die Gewichte verschoben. Mit den erstmals im Herbst 2014 organisierten fremdenfeindlichen Pegida-Demonstrationen gegen eine vermeintliche »Islamisierung des Abendlandes« begann sich aus der Mitte der Gesellschaft heraus eine politische Bewegung am rechten Rand zu formieren, die ab 2020 Anschluss an das »Querdenker«-Milieu verschwörungsgläubiger Corona-Leugner fand.

Viele Aktivisten und Sympathisanten dieser beiden teils offen militanten Strömungen haben ihre politische Heimat inzwischen bei der AfD gefunden, die in Wahlumfragen Mitte 2023 bei rund 20 Prozent landete, als zweitstärkste Partei noch vor der SPD. Dieser Befund gewinnt dadurch an Brisanz, dass laut einer Untersuchung der Universität Hohenheim aus dem Jahr 2023 genauso viele Deutsche inzwischen ein geschlossenes rechtspopulistisches Weltbild haben, was die These von bloßen Protestwählern als Mär entlarvt. Ins Bild fügt sich, dass nach dieser Studie 25 Prozent der Deutschen mit der Demokratie in Deutschland unzufrieden sind, glatte zehn Prozent mehr als noch im Jahr zuvor.

Und bei diesem besorgniserregenden Aufschwung der Neuen Rechten, der ja vielerorts in Europa, aber seit der Präsidentschaft von Donald Trump auch in den USA unübersehbar geworden ist, bei der Wiederkehr von Autoritarismus, Nationalismus und Minderheitenfeindlichkeit gerät auch zunehmend das Grundgesetz ins Fadenkreuz der Feinde der Demokratie. Niemand sollte sich durch die vermeintlichen Verbeugungen dieser Freiheitsverächter vor der Verfassung täuschen lassen: Schon die Pegida-Anhänger führten gern das Grundgesetz im Munde und beriefen sich auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit in Art. 5 GG und skandierten »Wir sind das Volk«, die Parole der Bürgerrechtler in der 1989 untergegangenen DDR. Das eine wie das andere aber stellte die Dinge auf den Kopf: 1989 war es um den Sturz einer Diktatur gegangen, 2015 protestierte man in einer Demokratie. Und während beim Thema Flüchtlinge scheinheilig vom Recht auf Meinungsfreiheit schwadroniert wurde, griff der Pegida-Mob zugleich mit Hassparolen, aber auch tätlich die von ihm so bezeichnete »Lügenpresse« an, Journalistinnen und Journalisten, die gemäß Art. 5 Abs. 1 GG ihrer Pflicht nachkamen und über solche Kundgebungen berichteten.

Noch stärker instrumentalisierten, ja missbrauchten die sich als »Querdenker« ausgebenden Verschwörungsideologen das Grundgesetz während der Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen des Bundes und der Länder, wenn sie, wie vor ihnen schon die Pegida-Anhänger, das in Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes niedergelegte Widerstandsrecht für sich in Anspruch nahmen. Die radikalsten und fanatischsten unter der Pegida- und »Querdenker«-Gefolgschaft versuchten gar einen Sturm des Reichstags – eher eine Posse und dennoch so symbolträchtig wie bedrohlich auch deshalb, weil Ausfluss einer völligen Fehlinterpretation des im Grundgesetz gemeinten Widerstandsrechts. Es kann nämlich von den Bürgerinnen und Bürgern nur und erst dann in Anspruch genommen werden, wenn die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik so gut wie abgeschafft ist, was, wie jeder, der noch ganz bei Sinnen ist, weiß, noch nie auch nur ansatzweise der Fall war.

Und noch eine Gruppe von eigentlich Grundgesetz-Feinden wäre hier zu nennen. Wie bei den Pegida-Anhängern und nicht wenigen »Querdenkern« handelt es sich um Menschen, die eine offene Gesellschaft ablehnen und von einem anderen Staat mit einer ethnisch »reinen«, homogenen Volksgemeinschaft träumen – wenn sie dieses aus der deutschen Geschichte nur zu bekannte Ziel nicht sogar offen propagieren. Die Rede ist von sogenannten »Reichsbürgern«, die nicht nur die Legitimität und Legalität der Bundesrepublik Deutschland bestreiten, sondern mit haarsträubenden Argumenten auch gleich deren Existenz. Unverblümt fordern sie die Abschaffung des Grundgesetzes, und seit die Mitglieder eines mutmaßlich terroristischen Stoßtrupps um einen gewissen Heinrich XIII. Prinz Reuß im Dezember 2022 beim größten Anti-Terror-Einsatz in der Geschichte der Bundesrepublik festgenommen worden sind, wissen wir, dass sie sich in ihrem Wahn sogar einen gewaltsamen Umsturz auf ihre Fahnen geschrieben haben. Dass 20 000 Menschen den »Reichsbürgern« zugerechnet werden, erschreckt.

Wie gefährlich die »Reichsbürger« tatsächlich sind, lässt sich schwer sagen. Aber sie eint mit den anderen Gruppen aus dem extrem rechten Spektrum ein Weltbild, das den Werten des Grundgesetzes konträr entgegengesetzt ist. Es ist geprägt von Rassismus und Antisemitismus, vom Hass auf Andersdenkende, von Intoleranz gegenüber religiösen und geschlechtlich nicht eindeutig definierten Minderheiten, von Frauenfeindlichkeit, antipluralistischen und antiliberalen Affekten, von übersteigertem Nationalismus und völkischen Reinheitsfantasien. Wer diesem Weltbild anhängt, verachtet folgerichtig den Rechtsstaat und die Demokratie einschließlich der beide auszeichnenden Ausgleichs- und Kompromissverfahren. Und diese Feindseligkeit schließt, ausgesprochen oder unausgesprochen, auch das Grundgesetz ein und dessen Ursprungsimpulse und Leitwerte. Freiheit, Gleichheit, Humanität, die unveräußerlichen Menschenrechte eines jeden Einzelnen, all das gilt in diesem politischen Lager nichts. Umso mehr schweißt es stattdessen die radikale Leugnung des menschlichen Anteils am Klimawandel zusammen und die Verharmlosung von dessen Folgen.

Freilich: Angriffe auf die Demokratie sind, wie wir wissen, kein allein deutsches Problem. Vielmehr scheinen Autoritarismus und Nationalismus in großen Teilen der Welt auf dem Vormarsch zu sein: in Diktaturen mit Scheinabstimmungen wie Russland und China, wo der Nationalismus gar mit einem neuen Imperialismus einhergeht, in alten Demokratien wie den USA und Großbritannien, wo rechte Demagogen wie Donald Trump und Boris Johnson die Bevölkerung ihrer Länder in unversöhnliche Lager gespalten haben, aber auch auf dem europäischen Kontinent, etwa in Frankreich, wo eine Präsidentschaft der rechtsnationalistischen Putin-Bewunderin Marine Le Pen nicht mehr unvorstellbar ist, oder in Italien, wo ein Rechtsbündnis unter Führung der Postfaschistin Giorgia Meloni regiert. In Ungarn und über einige Jahre auch in Polen wiederum sind nach und nach sogenannte »illiberale Demokratien« entstanden, in denen die Unabhängigkeit der Justiz, Pressefreiheit und Minderheitenschutz geschliffen wurden und für Missstände im eigenen Land in schöner Regelmäßigkeit die Einrichtungen der Europäischen Union herhalten müssen.

Selbstverständlich sind die Demokratieverächter weltweit nicht einfach gleichzusetzen. Zu unterschiedlich sind die Länder und Staaten, in denen sie sich finden, und die nach außen gerichtete Aggressivität Russlands und die Drohgebärden Chinas suchen in der Welt von heute ihresgleichen. Und doch verbindet die Internationale der Rechten und Rechtsradikalen ein alter propagandistischer Trick: die Berufung auf das Volk, so, wie sie es verstehen. Immer reklamieren sie für sich die Demokratie, den Demos, das Volk, und behaupten, durch Wahlen legitimiert zu sein. Dass echte Wahlen Chancengleichheit, Meinungsfreiheit und Fairness gegenüber allen Beteiligten, also Wählern und zur Wahl Stehenden voraussetzen, diese Grundbedingung der Demokratie wird bewusst missachtet. Ebenso die Tatsache, dass Wahlen nur ein Kriteriumfür die Existenz einer funktionierenden Demokratie sind, eine notwendige Bedingung, aber eben keine hinreichende. Wir kommen darauf zurück.

Hier halten wir fest, dass ohne Grundrechte für die Menschen, ohne Menschenrechte als Schutz vor dem Staat und untereinander, ohne die Gewähr, dass die in einer Wahl unterlegene Minderheit die Mehrheit von morgen sein und einen Regierungswechsel herbeiführen kann, ohne unabhängige parlamentarische und gerichtliche Kontrolle der Regierenden, ohne einen Rechtsstaat, der jedem Individuum Klagewege eröffnet und verbürgt – dass ohne all dies Demokratie nur vorgegaukelt wird. Ein solches Scheingebilde war bis 1989 die Deutsche Demokratische Republik, die entgegen ihrer Selbstbezeichnung in Wahrheit eine Diktatur war, in der das anfängliche Befreiungs- und Glücksversprechen des Kommunismus unablässig mit Füßen getreten wurde. Zu einer wirklichen Demokratie gehört schließlich auch ein Sozialstaat, um zu große wirtschaftliche Ungleichheit zwischen den Bürgerinnen und Bürgern aufzufangen, damit nicht nur Wohlhabende die Früchte der Freiheit genießen können, sondern möglichst viele.

Wir sprachen von einem politischen Trick, mit dem die Neuen Rechten ihre eigenen politischen Ziele mit denen eines ominösen Volkswillens gleichsetzen. Dass dieser Trick verfängt, sieht man daran, dass viele journalistische und wissenschaftliche Beobachter irreführend von »Rechtspopulismus« sprechen. Das verharmlost aber diese globalen Strömungen, weil es den totalitären Kern der Ineinssetzung von Volk und verschworener Gemeinschaft übersieht – einem Grundpostulat des klassischen Faschismus. Und es unterschätzt die Entschlossenheit der neurechten Bewegungen, ein postdemokratisches Zeitalter einzuläuten, in dem alle Macht auf Dauer in ihren Händen konzentriert sein soll. Sehr viel genauer charakterisiert der Rechtsextremismus-Forscher Wilhelm Heitmeyer daher solche Kräfte und Regime als Verkörperungen eines »autoritären Nationalradikalismus«, der statt Vielfalt in Gesellschaften Homogenität propagiert. Zentrale Instrumente dafür sind die Überbetonung der eigenen Identität und die Ab- und Ausgrenzung von allem und jedem, was auch nur als fremd und störend empfunden wird.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Was hier mit Blick auf die extreme Rechte und ihre verschiedenen Spielarten ausgeführt wurde, gilt in der Analyse und den Konsequenzen selbstverständlich genauso für den Linksextremismus und seine Gewalt bejahenden Kräfte, in Deutschland etwa bei der Antifa und den Autonomen. Auch ihre gegen friedliche Konfliktaustragung gerichtete Aggressivität verträgt sich nicht mit dem Geist des Grundgesetzes, das sie gewiss lieber überwunden denn ausgebaut sehen wollen. Anders zu bewerten sind dagegen die durchaus radikalen Formen zivilen Protests wie etwa die Klebeaktionen von Aktivisten des Umweltbündnisses Letzte Generation. Sie verstoßen zwar gegen Gesetze, aber wir werden noch sehen, dass sie damit nicht unbedingt einen Verfassungsbruch begehen.

Und wie verhält es sich insgesamt mit den »Gefahren von rechts und links«, die hierzulande gern in einem Atemzug beschworen werden? – Es verhält sich so, dass die größte Gefahr für die freiheitlich-demokratische Grundordnung in Deutschland schon seit vielen Jahren von rechtsradikalen und rechtsextremen Kräften ausgeht. So steht es in den Berichten des Bundesamts für Verfassungsschutz, und wir handeln im Sinne unserer Verfassung, wenn wir uns gegen die Bedrohung von rechts wehren.

Wehrhaftigkeit ist unserer Verfassung sogar ausdrücklich eingeschrieben: Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten die Radikalisierung des politischen Klimas in der Weimarer Republik und den Terror der nationalsozialistischen Herrschaft noch hautnah erlebt und wollten die neue deutsche Demokratie gegen mögliche Feinde wappnen. Unsere Verfassung hat deshalb Zähne und weiß sich gegen ihre Feinde zu wehren. Wer sich auf sie einlässt und ihr feines Räderwerk zu verstehen beginnt, erkennt schnell, wie viel Wandel sich auf ihrem festen Fundament gestalten lässt. Oft stellen Prozesse der Veränderung die Menschen vor Herausforderungen. Was die einen begrüßen, können andere als Überforderung empfinden, und der Zusammenhalt einer Gesellschaft kann darüber in Gefahr geraten, ja regelrecht zerbröseln und zerbrechen – schon jetzt in einer Gesellschaft der Singularitäten zu leben, bescheinigt uns der Soziologe Andreas Reckwitz und meint eine Lebenswelt, in der mehr oder weniger alle zu einsamen Glückssuchern geworden sind. Wir werden sehen, welche Antworten das Grundgesetz darauf geben kann.

Fassen wir kurz zusammen: Unsere Verfassung sah sich in den vergangenen 15 Jahren in immer schnellerer Abfolge mit sich teils überlappenden und auch gegenseitig verstärkenden Krisen konfrontiert. Die wiederkehrenden und das grundgesetzlich verbriefte Asylrecht stark unter Spannung setzenden Flüchtlingswellen, die Corona-Pandemie, der Klimawandel und der Krieg, den Russland gegen die Ukraine vom Zaun gebrochen hat, sind dabei nur die wichtigsten. Zu nennen wären auch die großen Fragen der Digitalisierung, der Kindergrundrechte, der sozialen Gerechtigkeit, des Einwanderungsrechts. Und nicht zuletzt ging und geht es auch um die Stellung des Grundgesetzes im zähen Ringen um die europäische Integration und um die Europäisierung des Rechts. All das wird uns in der Folge beschäftigen, und am Ende des Buches werden wir darüber hinaus die Perspektiven einer stärkeren Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Politik in den Blick nehmen.

Der Brückenschlag von der Erstausgabe zur Neuerscheinung dieses Buches im Jubiläumsjahr 2024 rückt wegen der erwähnten Ereignisdichte und Schieflagen die Zeitgeschichte deutlicher in den Fokus. Der frühere Bundesverfassungsrichter und international hoch angesehene Jurist Dieter Grimm hat jüngst in seinem Buch »Die Historiker und die Verfassung« zu Recht kritisiert, das Grundgesetz werde in Darstellungen zur Geschichte Deutschlands seit 1945 eher stiefmütterlich behandelt. Vielleicht können wir diese Lücke zu schließen helfen.

Im Gedankenaustausch wie durch Hinweise auf bedeutsame Gerichtsentscheidungen und neuere verfassungsrechtliche Debatten bereichert, hat diese Neuausgabe dankenswerterweise Micha Heilmann, von Haus aus versierter Jurist und Kenner des Grundgesetzes, obendrein ein scharfer Beobachter des politischen Geschehens. Sein Großvater Ernst Heilmann, der von den Nationalsozialisten ermordet wurde, zählte als einflussreicher sozialdemokratischer Jurist, Parlamentarier und Publizist zu den bis heute viel zu wenig bekannten Führungspersönlichkeiten, die den Rechtsstaat der Weimarer Republik maßgeblich mitgeprägt haben.

Gabriele Leja von der dtv Verlagsgesellschaft setzte sich mit Leidenschaft und schlagenden Argumenten für diese Neuausgabe ein. Dafür sei ihr herzlich gedankt. Desgleichen wieder einmal meinem unersetzlichen Lektor Friedbert Stohner, der den Text mit seiner ihm eigenen, unnachahmlich feinen Feder geschliffen hat.

Widmen möchte ich das Buch meiner Mutter Andrea, die mein publizistisches Wirken zeitlebens mit großer Anteilnahme begleitet hat, und meinem Vater Hermann Zolling. Nachdem er in amerikanischer Kriegsgefangenschaft »zum ersten Male«, wie er später schrieb, »das Gefühl« kennengelernt hatte, »ein freier Mann zu sein«, war er, der als 17-Jähriger für den »Führer« und Verführer Adolf Hitler in den Krieg gezogen war, als junger Journalist 1948/49 Zeitzeuge bei der Entstehung des Grundgesetzes – beruflich und aus persönlicher Passion. Vor etwas mehr als 50 Jahren war es dann Hermann Zolling, der im Nachrichtenmagazin DERSPIEGEL, damals noch »Sturmgeschütz der Demokratie« genannt, die heimliche Überwachung prominenter demokratischer Politiker wie z. B. Willy Brandt, Herbert Wehner und Gustav Heinemann durch den Bundesnachrichtendienst (BND) aufdeckte. Diese Beschattungspraxis verstieß gegen die Verfassung, denn der BND hat die Aufgabe, die eigene Regierung mit Informationen aus dem Ausland zu versorgen, und nicht, die Bürgerinnen und Bürger des eigenen Landes auszuschnüffeln. Das skandalöse Tun des BND aufzuklären, war ganz im Sinne des Grundgesetzes.

Ein kurzer Höhenflug

Was sind eigentlich Verfassungen, was zeichnet sie aus und warum werden sie benötigt? Um diese Fragen zu beantworten, wollen wir uns kurz aufschwingen und die Welt aus der Vogelperspektive, also mit etwas Abstand betrachten. Verfassungen strahlen Souveränität aus – je älter und erprobter sie sind, desto mehr. In ihnen kommt nämlich der Souverän, der Herrscher, zu Wort. In vordemokratischen Zeiten waren dies Kaiser, Könige und Landesfürsten, die mal mit, mal ohne Teilhabe einzelner Gesellschaftsgruppen durch Verfassungen ihre Macht selbstherrlich verewigen wollten. In diktatorischen oder autoritären Staaten, an denen es auch in der globalisierten Welt bedauerlicherweise nicht mangelt, ist es heute noch so, dass das Volk bei der Verfassungsgebung keine Rolle spielt.

In Demokratien freilich, die auf dem Prinzip der Volksherrschaft beruhen, verhält es sich genau umgekehrt. Hier ist das Volk der Souverän, und die Verfassung garantiert ihm seine Mündigkeit. Nur mit dieser Art Verfassung, die auch Leitbild des deutschen Grundgesetzes ist, beschäftigt sich das vorliegende Buch. Es will nachdrücklich an die Wurzeln der westeuropäischen und nordamerikanischen Verfassungstradition erinnern.

»Eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und die Trennung der Gewalten nicht festgelegt ist, hat keine Verfassung.« Dieser kurze und bündige Satz aus der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, dem Auftaktjahr der bürgerlichen Revolution in Frankreich, ist die eine Säule des demokratischen Verfassungsstaates. Wir werden darauf später noch zurückkommen. Der andere Pfeiler verdankt sich Thomas Paine (1737–1809), einem der geistigen Gründerväter der Vereinigten Staaten von Amerika. Er formulierte ebenso knapp wie treffend: »Eine Verfassung ist nicht der Akt einer Regierung, sondern der Akt eines Volkes, das sich eine Regierung gibt.« Damit ist die Frage, was Verfassungen ausmacht, zwar längst nicht erschöpfend beantwortet. Aber diese beiden Kernaussagen umreißen scharf, woher demokratische Verfassungen im Wesentlichen ihre Legitimität, ihre Rechtmäßigkeit, nehmen.

Vom Souverän, dem Volk, das sich in der Verfassung verkörpert, war eben schon die Rede. Mit einer guten Verfassung, die von Menschen für Menschen gemacht worden ist, verbindet sich Souveränität aber noch auf eine andere Weise. Sie wird manchmal übersehen, weil durch den Siegeszug des technisch-naturwissenschaftlichen Denkens in den modernen Wissensgesellschaften Tugenden, die einst lebenswichtige Erkenntnis und Orientierung boten, an Wertschätzung verloren haben. Es haftet ihnen etwas Altmodisches an, etwas Überzeitliches, das eher in sinnstiftenden Religionen und alten Mythen zu finden ist als in den exakten Wissenschaften. Zu diesen seltenen Gaben zählen die Klugheit und die Weisheit – Begriffe, ohne die man eine Verfassung nicht erfassen kann.

Sie sind Maßstäbe für das Gelingen oder Scheitern eines solchen Wurfs, eines Verfassungswerks. Für diesen Schöpfungsakt versammeln sich gewählte Frauen und Männer in einem bestimmten historischen Moment an einem Ort, um zu beraten und zu beschließen. Sie debattieren und entscheiden im Licht von Erfordernissen der Gegenwart, Erfahrungen der Vergangenheit und in Vorsorge für eine Zukunft, die immer offen und ungewiss ist. So ist es in allen Staaten geschehen, die schriftlich niedergelegte Verfassungen haben – und das sind die meisten. Seiner Logik nach gilt dieses Verfahren aber ebenfalls in denjenigen Nationen, die unter dem Dach ungeschriebener Verfassungen leben. Wie beispielsweise im britischen Königreich, trotz seiner monarchischen Spitze eine parlamentarische Demokratie, die mehr oder weniger auf der Überlieferung von Rechten und Gesetzen und fortentwickeltem Gewohnheitsrecht (Common Law) fußt. Ausgangspunkt der Verfassungswirklichkeit sind jedoch auch dort grundlegende Freiheitsdokumente, wie etwa die Magna Charta (1215) und die Bill of Rights (1689).

Trotz der großen Unterschiede zwischen diesen beiden Verfassungsformen überwiegen letztlich die Parallelen. Sie sind demokratisch verankert, sie bekennen sich zu Grundsätzen und Grundrechten, an die von niemandem gerührt werden darf, und sie geben dennoch Raum für Anpassungen an die sich ständig verändernden Lebensverhältnisse. Diese drei Eigenschaften hüllen demokratische Verfassungen in den Mantel der Souveränität, heben sie über das Tagesgeschehen hinaus. Wie ein großer Vogel, unter dessen Schwingen die Menschen Schutz finden, »schweben sie über den Dingen« und betrachten das Treiben unter ihnen von einer höheren Warte aus. Solche Verfassungen sind zwar den Zeitläuften nicht entzogen, aber nie für den Augenblick gedacht, sondern auf Dauer angelegt. In ihnen verdichtet sich das politische Erfahrungswissen einer Nation, das von Generation zu Generation weitergereicht wird. Dieses Verfassungserbe sollte man nicht ausschlagen, es ist ein Schatz, den es zu hüten, und eine Chance, die es fortzuentwickeln gilt.

Das klingt ja alles ganz schön staatstragend, fast ein wenig hochtrabend, stöhnt jetzt vielleicht die eine Leserin oder der andere Leser. Geht es denn nicht auch eine Nummer kleiner? Oder zugespitzt gefragt: Kämen die Menschen nicht auch ohne Verfassungen gut über die Runden? Benötigen wir sie tatsächlich so dringend, und weshalb ist das so? Darüber grübelten schlaue Köpfe, Juristen, Staatsdenker und Gesellschaftsphilosophen, zu allen Zeiten – bis heute. Im Grunde beschäftigen uns diese Fragen, seitdem Menschen in Verbänden leben – egal ob, wie ursprünglich und mancherorts immer noch, in Stämmen oder, wie in der Gegenwart zumeist, in Nationalstaaten.

Die Antworten auf diese Fragen hängen eng mit dem Menschenbild zusammen, das jemand besitzt, also damit, ob er oder sie die menschliche Gattung eher für gut oder für schlecht hält, eher biologisch durch ihre Anlagen bestimmt oder durch kulturelle Einflüsse und Erziehung geprägt. In diesem Streit, der möglicherweise wie jener berühmte um die Henne und das Ei nie eindeutig enden wird, soll hier nicht Partei ergriffen werden. Wie es auch zu weit führen würde, die über zwei Jahrtausende alte Geschichte der Verfassungstheorien zu verfolgen und zu bewerten. Schließlich soll dieses Buch denjenigen als Einführung in das deutsche Grundgesetz dienen, die sich mit Verfassungen noch nicht so oft beschäftigt haben.

Ich erlaube mir deshalb Umwege nur dort, wo sie das Verständnis fördern, also das Ziel des Buches im Blick bleibt. Es darf auch nicht verschwiegen werden, dass Verfassungsbetrachtungen politische Wertentscheidungen und Vorlieben enthalten. Jede solche Betrachtung erfolgt von einem Standpunkt aus. Objektivität und Wahrheit sind Leitsterne, nach denen wir streben müssen, um nachvollziehbare und überzeugende Einsichten zu erlangen. Abwägende Argumentation ist das Instrument dieses Erkenntnisdrangs – was nicht zu verwechseln ist mit einer vermeintlichen absoluten Neutralität, die bei verfassungspolitischen Aussagen von der Sache her ausgeschlossen ist. Wir hörten bereits, dass man es auch bei Verfassungsdenkern immer mit einem bestimmten Bild von der Natur des Menschen zu tun hat, das an Wertvorstellungen gebunden ist. Auch das Grundgesetz ist, wie wir sehen werden, keineswegs wertneutral.

Wenn ich selbst einem skeptischen Menschen- und Gesellschaftsbild zuneige, das liberale, konservative und soziale Züge trägt, dann nicht aus Sympathie für eine politische Strömung, sondern weil mich die Geschichte Vorsicht gelehrt hat. Denn jenseits aller Debatten um die genetische und moralische Beschaffenheit des Homo sapiens, des vernunftbegabten Menschen, steht doch außer Frage, dass er von der Vernunft nur sehr begrenzt Gebrauch macht.

Kriege, ob zwischen Staaten oder verfeindeten Gruppen eines Territoriums wie im Bürgerkrieg, ziehen eine blutige Spur durch die Menschheitsgeschichte und beherrschen auch nach dem Ende der alten Weltordnung des Kalten Krieges im denkwürdigen Jahr 1989 die Schlagzeilen der Nachrichtensendungen. Zuletzt haben uns das der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und der im Herbst 2023 erneut entbrannte Nahost-Konflikt brutal vor Augen geführt. Nun macht der Begriff »Zeitenwende« die Runde – nicht ganz zu Recht, denn, wie gesagt, Kriege sind im Rückblick auf die Geschichte eher die Regel, Friedensperioden wie in Europa nach 1945 eher die Ausnahme. Immer geht es in der Geschichte um Macht und Herrschaft, Freiheit und Sicherheit. Sie sind die bewegenden Kräfte in diesem Drama.

Der Mensch ist, wie uns die Wissenschaft von der sozialen Welt, die Soziologie lehrt, ein geselliges Wesen. Seine Geselligkeit ist jedoch nicht rein freiwilliger Natur, sondern sie entspringt einer Not. Allein auf sich gestellt könnte der Einzelne nämlich nicht lange überleben. Deshalb sucht er Anschluss und Schutz in Gruppen. Außerdem erreicht er erst im sprachlichen Austausch, in der intelligenten Kommunikation mit anderen seine Bestimmung.

Wie dankbar war der auf einer unbewohnten Insel gestrandete Robinson Crusoe, das berühmteste Beispiel eines vereinsamten Individuums, für seinen Gefährten Freitag! Aber das menschliche Zusammenleben ist nicht konfliktfrei. Gefahren, die von außen drohen, müssen zwar gemeinsam abgewehrt werden; zwischen den Gruppenmitgliedern entstehen aber auch Reibereien, weil alle ihre eigenen Interessen rücksichtslos verfolgen. Freiheitsdrang und Schutzbedürfnis liegen auf Kollisionskurs, dazwischen klafft ein gefährlicher Abgrund, in dem Mord und Totschlag lauern. Macht schließt diese Lücke, indem sie Herrschaft organisiert und Frieden erzwingt.

Dieser Friede kann, muss aber nicht mit Unterdrückung einhergehen. Macht, sei sie politisch oder wirtschaftlich begründet, ist die Voraussetzung, um Gutes oder Schlechtes zu tun. Und Macht wird immer über andere ausgeübt. Macht- und Freiheitsstreben sind aufeinander bezogen. Menschen rivalisieren um Machtpositionen, die Einflussnahme gewähren, und Menschen kämpfen für ihre Freiheit von Fremdbestimmung. Das Ziel ist das gleiche: nämlich möglichst große Unabhängigkeit zu erlangen.

Damit aus diesem Spiel kein zerstörerisches Chaos erwächst, braucht es Regeln, eine Ordnung, die Dauer und Wandel verbürgt und das eigene wie das Handeln der anderen berechenbar macht. Ohne diese äußere Sicherheit wäre der Mensch sich selbst schutzlos ausgeliefert. Denn gleichviel, ob man nun den Menschen von Natur aus für gut oder schlecht hält, eines ist er gewiss nicht: perfekt. Der englische Staatsdenker Thomas Hobbes (1588–1679) ging sogar noch einen Schritt weiter und prägte die Formulierung »Homo homini lupus« – »Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf«.

Um zu überleben, so die Überlegung von Hobbes, haben die Menschen einen Vertrag geschlossen. Damit wird einer übergeordneten Macht, dem Herrscher, das Recht zur Gewalt übertragen. Im Gegenzug sorgt der Herrscher – notfalls mit Gewalt – für Ordnung. Er sichert auf diese Weise das Leben und die Freiheit des Einzelnen, sodass jeder in Ruhe seinen Geschäften nachgehen kann. Man spricht deshalb von einem Gesellschaftsvertrag. Ob es sich wirklich irgendwann so zugetragen hat oder Hobbes nur eine Annahme gemacht hat, um die Geburt des Staates in der Neuzeit zu erklären, spielt für das Ergebnis keine Rolle. Denn Tatsache ist ja, dass der Staat die beschriebene Aufgabe wahrnimmt.

Mag Hobbes’ pessimistische Sicht auf die menschliche Natur auch ein wenig übertrieben erscheinen, so kann doch kaum bestritten werden, dass der Mensch ein verführbares Wesen mit vielen Schwächen ist. »Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut«, lautet ein geflügeltes Wort, das die Notwendigkeit umschreibt, Macht zu begrenzen und zu kontrollieren. Für den Weg zur modernen Demokratie sind deshalb zwei Errungenschaften von herausragender Bedeutung: Um Rechtsfrieden herzustellen, musste ein staatliches Gewaltmonopol durchgesetzt werden. Das heißt, nur der Staat ist befugt, durch Polizei und Militär körperliche Zwangsmittel einzusetzen. Zugleich war und ist immer wieder Vorsorge dafür zu treffen, dass diese Form von Herrschaft nicht in Tyrannei umschlägt. Als bestes Mittel hierfür hat sich die Gewaltenteilung erwiesen, also die Trennung von Legislative (Gesetzgeber, Parlament), Exekutive (Regierung) und Judikative (Rechtsprechung, Gerichte) mit fest umrissenen, voneinander unterschiedenen Aufgaben.

Macht, Staat sowie Herrschaftsgestaltung und -kontrolle sind die eine Seite; das Grundbedürfnis des Menschen, sein Leben in eigener Regie zu führen, sich frei zu entfalten, ist die andere. Deshalb haben sich über Jahrhunderte in Demokratien Menschenrechte einen festen Platz erobert. Gemeint sind damit die Rechte des Einzelnen, an denen nicht gerüttelt werden darf, die ihn schützen und ihm Handlungsfreiheit gewährleisten sollen. Handlungsfreiheit, die allerdings ihrerseits auch wieder nicht grenzenlos ist, sondern dort Beschränkungen unterworfen wird, wo sie die Freiheit anderer Individuen berührt.

Wie es um Freiheit und Macht bestellt ist – diesen beiden Magnetpolen der Geschichte –, darüber gibt die Verfassung eines Landes Auskunft. Sie ist das Dach, das Staat und Gesellschaft überwölbt und für Zusammenhalt sorgt. Und zwar mit Regeln und Normen, die für alle gelten. Es handelt sich – freilich nur in Demokratien – im Grunde um eine Selbstbindung des Volkes, das als Verfassungsgeber seine Souveränität beschneidet. Daran erinnert bereits die antike Überlieferung von Odysseus, dem sagenhaften Helden, der sich an den Mast seines Schiffes fesseln ließ, um den Verlockungen der Sirenengesänge zu widerstehen.

»Verfassungen sind Ketten«, brachte das der amerikanische Senator John Potter Stockton (1826–1900) einmal auf den Punkt, »mit denen sich die Menschen in ihren lichten Augenblicken binden, um in der Raserei nicht selbstmörderisch handeln zu können.« Der Wirtschaftswissenschaftler Friedrich August von Hayek (1899–1992) zog aus diesen Überlegungen einen treffenden Vergleich: In Verfassungen zeige sich, dass Peter, wenn er nüchtern sei, tätig werden könne, um Peter, wenn er betrunken sei, Beschränkungen aufzuerlegen. Anders formuliert: Die Früchte der Freiheit können alle nur dann genießen, wenn sie bereit sind, auch Grenzen zu akzeptieren. Damit es in diesem Sinn in einer Gesellschaft annähernd gerecht und fair zugeht, müssen demokratische Verfassungen ein Grundgerüst an Rechtssätzen enthalten, deren Gebrauch es ermöglicht, das Verhältnis von Freiheit und ihren Grenzen immer wieder neu auszubalancieren. Sonst versinkt die Freiheit in der Anarchie, im gesetzlosen Chaos oder wird – in der Despotie, der Willkürherrschaft – zum Vorrecht einiger weniger Nutznießer.

Ein Warnsignal, dass die erwähnten Verfassungsketten auch reißen können, erlebte die ganze Welt im Januar 2021, als ein vom abgewählten US