Das Haus am Meeresufer - Joséphine Nicolas - E-Book
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Das Haus am Meeresufer E-Book

Josephine Nicolas

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Beschreibung

Paris in den 1920er-Jahren: Die einstige Kunststudentin Eileen Gray avanciert zur Interieurkünstlerin, die mit außergewöhnlichem Gespür die Formensprache der Zeit zu interpretieren vermag. Inspiration sind ihr die selbstbewussten Frauen der Left Bank, die literarischen Salons von Natalie Barney und Gertrude Stein, verwegene Nächte an der Seite ihrer Amour fou, der Chansonnière Damia. Als sie dem fünfzehn Jahre jüngeren Jean Badovici begegnet, nimmt das Leben der Visionärin eine jähe Wendung. Rasch erfasst der Architekturkritiker das Talent Eileens. Mit Kalkül lehrt er sie Wissen über neuartige Bewegungen wie das Bauhaus und De Stijl. Sie verliert ihr Herz an Jean, Widrigkeiten zum Trotz, und errichtet dem Geliebten ab 1926 an der Küste nahe Monaco die Villa E.1027, ein schmaler, lang gestreckter Bau zwischen Zitronenbäumen, darunter das azurblaue Meer. Das Gesamtkunstwerk der Autodidaktin erregt Aufsehen. Ihre Kreativität erstaunt noch Le Corbusier, den Meister der Moderne. E.1027 gerät zur Kulisse, wird Schauplatz von Neid und Selbstsucht, von Enttäuschung und Verrat.

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Seitenzahl: 517

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Paris in den 1920er-Jahren: Die einstige Kunststudentin Eileen Gray avanciert zur Interieurkünstlerin, die mit außergewöhnlichem Gespür die Formensprache der Zeit zu interpretieren vermag. Inspiration sind ihr die selbstbewussten Frauen der Left Bank, die literarischen Salons von Natalie Barney und Gertrude Stein, verwegene Nächte an der Seite ihrer Amour fou, der Chansonnière Damia. Als sie dem fünfzehn Jahre jüngeren Jean Badovici begegnet, nimmt das Leben der Visionärin eine jähe Wendung. Rasch erfasst der Architekturkritiker das Talent Eileens. Mit Kalkül lehrt er sie Wissen über neuartige Bewegungen wie dem Bauhaus und De Stijl. Sie verliert ihr Herz an Jean, Widrigkeiten zum Trotz, und errichtet dem Geliebten ab 1926 an der Küste nahe Monaco die Villa E.1027, ein schmaler, langgestreckter Bau zwischen Zitronenbäumen, darunter das azurblaue Meer. Das Gesamtkunstwerk der Autodidaktin erregt Aufsehen. Ihre Kreativität erstaunt noch Le Corbusier, den Meister der Moderne.

E.1027 gerät zur Kulisse, wird Schauplatz von Neid und Selbstsucht, von Enttäuschung und Verrat.

© Irène Zandel

Josephine Nicolas ist das Pseudonym von Christiane Adlung. Sie absolvierte u.a. die Studiengänge Architektur und Innenarchitektur. Bei DuMont erschien 2021 ihr erster Roman ›Tage mit Gatsby‹. Christiane Adlung lebt in Hannover und Nizza.

Joséphine Nicolas

DAS

HAUS AM

MEERESUFER

Roman

Von Joséphine Nicolas ist bei DuMont außerdem erschienen:

Tage mit Gatsby

© Joséphine Nicolas 2023

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Michael Gaeb.

E-Book 2023

© 2023 DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildung: © Ute Lübbeke unter Verwendung des Bildes »Côte des Maures et de L’Esterel« von Julien Lacaze und einem Foto von Manuel BougotSatz: Fagott, Ffm

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-8321-8286-1

www.dumont-buchverlag.de

Erstaunlich seid ihr Reisenden! und

welche erhabenen Geschichten lesen

wir in euren Augen, die wie die Meere

tief sind! Eröffnet uns die Schätze

eurer reichen Gedächtnisse, zeigt uns

jene wunderbaren Kleinodien aus

Sternenglanz und Himmelsklarheit.

Sagt, was habt ihr gesehn?

Charles Baudelaire.

PROLOG

OKTOBER 1976

Paris. 21, rue Bonaparte.

Weil alles um mich herum lärmte, war ich still.

Dachte in leisen Farben, oft in Schwarz.

Ein sichtbares Schweigen.

Das Dunkle ist Poesie, ist Leidenschaft und Tragik zugleich. Denken Sie an eine mondlose Nacht.

Gedämpftes Morgenlicht. Linien dringen durch die leicht geöffneten Fensterläden, tasten nach Gegenständen im Raum. Vor mir auf dem Tisch eine Holzschachtel aus Nordafrika, unvollendete Collagen. Ein einzelner Pinsel im Glas, daran Schlieren getrockneten Wassers und mein Unvermögen, ich kann nicht malen, konnte es nie. Dann, im gleißend Hellen, das verstaubte Modell eines Architekturentwurfs. Dahinter im Schatten ein Gedichtband Baudelaires, die Seiten aufgeschlagen, zerlesen, all die Erinnerungen darin. Mein Kind, meine Schwester, denk doch, wie köstlich es wäre, aufzubrechen in die Ferne und dort gemeinsam zu leben! Wie viele Male er mir die Zeilen vorgetragen hat, im Haus, am Strand, das seichte Meeresrauschen überall, als hielte man eine Muschel ans Ohr, lauschte ihrer ewigen Melodie. Schließe ich die Augen, höre ich ihn die Worte mit sachtem Klang sagen, immer noch, ich höre sie ihn gern vor dem Schlafengehen sagen und spüre Ruhe in mir, diese vollkommene Ruhe, die ich allein in seiner Gegenwart empfand.

Die mich glücklich stimmte.

Mein Blick folgt den Linien. An den Griffen der hohen Flügeltüren hängen Winkelmesser und Lineale, mehrere Schablonen. Auf dem Sims die Skulptur von Zadkine, ein Kopf, sehr schlicht, die Lippen glutrot. Er mag da seit Jahrzehnten stehen, fünf, vielleicht sechs. Vor dem Kamin der ›S-Chair‹; seine geschwungenen Formen spiegeln sich im Lack des Wandschirms, fügen sich gemeinsam mit der an dünnen Schnüren von der Decke herabhängenden Leuchte zu etwas Harmonischem, einem Ganzen. In der beginnenden Dämmerung, wenn ich das elektrische Licht betätige, kreist es wie ein Satellit dort oben, dieses Gebilde aus Ringen und Kegeln, als würde die Zukunft über mich hinwegschweben. Und eine kurze Zeit lang habe ich gedacht, sie würde es beständig tun, schweben, sich öffnen. Mir den Weg weisen für alles, was kommt.

Die Zukunft wirft Licht, die Vergangenheit nur Schatten.

Anfangs wurden meine Entwürfe verlacht. Ich wollte Objekte schaffen, die unserer Zeit entsprachen, die modern waren; ein Versuch, dem Gewesenen zu entfliehen. Doch niemandem gefielen meine Ideen, die Leute fürchteten sich vor dem Lack, vor dem Dunklen, reagierten très choqué. Kritiker verrissen mein Werk, demütigten mich auf jede erdenkliche Weise, keiner verstand. Es war tatsächlich kompliziert, und meine inneren Dämonen wurden groß und größer, drohten mir alsbald das Herz zu entreißen. An manchen Tagen rettete mich die Liebe, an anderen die Architektur. Ich überwand meine ärgsten Zweifel und errichtete ein Haus für den Mann, an den ich mich lehnte. Ich wollte ihm zeigen, was ich konnte. Mochte. Unerwartet schaute die Welt auf mich, einen Augenblick lang hielten alle den Atem an. Im nächsten geriet ich in Vergessenheit. Ich hatte mich wie eine Unwegsame gefühlt, wie eine mir Fremde, die am Meeressaum stand, sich apathisch ihrer Kleidung entledigte und in die kalten Fluten schritt. Erst zögerlich, dann stetig tiefer, bis sie keinen Boden mehr unter den Füßen verspürte, mit schwachen Zügen ins Weite schwamm. Irgendwann die Kraft verlor, versank.

Verschwand.

Ich wünschte, ich wäre stärker gewesen, ich hätte mich mehr im Leben getraut. Aber das habe ich nicht.

Ich dachte in leisen Farben, oft in Schwarz.

Ein Windhauch streicht die Fensterläden entlang, bauscht die Vorhänge. Linien werden zu Wellen werden zu Linien. Die Luft ist weich, ganz klar, und ich nehme den Geruch von feuchter Erde wahr, von Kastanien. Sonne. Ich stelle mir vor, ich könnte ein letztes Mal das Rascheln des Herbstlaubs hören, wie es dort unten im Hof über die geborstenen Pflastersteine weht. Oder die Wildgänse, wenn sie über Paris hinwegziehen, dem Süden entgegen, das Schwingen der Flügel, pudrig, klagend.

Alles verblasst.

Die Zeiger der Wanduhr schieben sich beharrlich voran, dem Nichts entgegen. Louise, mein Mädchen, hat vor einer Weile das Appartement verlassen, um in der Tischlerei nahe dem Boulevard Saint-Michel Holz für mich zu besorgen. Ich vertreibe mir die Endlosigkeit. Warte, schaue. Denke. Der Kater schreitet auf samtenen Pfoten herbei, schmiegt sich um meine Beine. In einem Stapel verblichener Papiere erblicke ich das Schreiben Le Corbusiers. Nie habe ich es verbrennen können, wie ich anderes verbrannte, das mir im Laufe meines langen Daseins Qual geworden war. Langsam, unter Mühen, greife ich nach dem gefalteten Bogen, lese noch einmal die anerkennenden Worte über das Haus, den seltenen Geist, den er darin zu schätzen lernte. Dessen Organisation das Innen und Außen bestimmte, Wohlgestalt verlieh. Die wenigen Sätze bergen Schönheit, sie bedeuteten mir Glück, das doch so flüchtig schien, und ich wollte es berühren, fortwährend halten. Wie sehr ich den Architekten verehrt hatte, ihn, den Meister der Moderne, ein Leitstern, zu dem wir alle aufsahen. Hätte ich ahnen können, was geschehen sollte?

Früher oder später wusste ich, dass sich nicht jede Leere füllen lässt, so war ich damals gegangen. Ich verließ das Haus, das ich liebte, als Le Corbusier es hasste. Und dann hasste ich es, als er es zu lieben begann. Als er die weißen Wände bemalte. Die aggressiven, lauten Farben sind abscheulich, tosen wie die See, brüllen weithin. Die Malereien zerstören mein Werk, berauben mich der Würde. Nichts weniger hatte er gewollt.

Unsere Leben sind tragisch miteinander verwoben. Seins und meins und das des Mannes, an den ich mich lehnte.

Das Bunte, das Grelle, es lärmt noch heute in meinem Kopf, und manchmal denke ich, diese Geschichte wird nie ihr Ende finden.

Was alles hätte sein können.

Was war.

EINS

VOM SCHATTEN ZUM LICHT

To create, one must first question everything.

Eileen Gray

KAPITEL 1

SEPTEMBER 1921

Paris. Rive Droite, Rive Gauche.

Les Halles bei Tagesanbruch. Gedränge auf den breit angelegten Straßen zwischen den Pavillons, dem Bauch der Stadt. Marktleute, Großhändler und Passanten konzertierten Tiraden brüsker Worte. Peitschenknallen. Lieferwagen bahnten sich unter nervösem Gehupe ihren Weg. Der Gestank nach Abgasen. Commissionaires schoben Karren aufgetürmter Pastinaken durch die Menge; Träger, dürre Jungen, wankten schwer bepackt mit Körben auf dem Rücken. Irgendwo die wehmütigen Töne eines Akkordeons; an der Ecke ein Paar, sich eng umschlungen im Takt wiegend, hin und her.

»Lust auf das ›Pharamond‹?« In Damias Stimme schwang stets Verruchtes, trieb all ihre Chansons in düstere Nischen, wo Leidenschaft und Verzweiflung eine Liaison miteinander eingingen. »Meine Seele verlangt nach Deftigem.«

Übernächtigt wand ich die Pelzstola um die Schultern, legte den Kopf in den Nacken und stieß letzte Züge meiner Gauloise in den Himmel hinauf. Er wirkte samtig, zum Fühlen nah. Wie bloß hatte diese Frau erreicht, mich der elaborierten Einsamkeit zu entfremden, mir jenes Paris zu zeigen, das zeit meines Studiums erloschen schien? Mit gereckten Armen drehte ich mich um die eigene Achse, einmal, zweimal. Genoss diese Atmosphäre, hier, im Morgengrauen, eine verdichtete Variation des Romans Émile Zolas. »Warum nicht?«, sagte ich.

Sie hauchte mir einen Kuss entgegen, stellte das linke Bein auf einen rostigen Poller und öffnete die Schnallen ihres Spangenschuhs. »Meine Füße schmerzen entsetzlich. Was zur Hölle habe ich getan?«

Ich lachte verhalten, dachte an die mondänen Etablissements, in denen wir den vergangenen Stunden entronnen waren, die zu lauten Orchesterklänge, in die wir uns hatten fallen lassen. Beobachtete sie. Das schwarze, hoch aufgeschlitzte Seidenkleid folgte jeder ihrer Bewegungen, schimmerte im Licht der Laternen wie das Gefieder einer Krähe, smaragdfarben, tiefblau. Es harmonierte mit ihrem dunklen Haar, den Locken; sie strich sie ständig aus der Stirn, ich mochte diese Geste. Damia war attraktiv, keine dreißig, über eine Dekade jünger als ich. Sie war anders, womöglich das Kostbarste, das je meine Nähe gesucht hatte, mit mir verschmolz, wenn ich es nur gewährte. Sie streifte den zweiten Schuh von der Ferse, entblößte im Beugen den hellhäutigen Schenkel. Die metallene Puderdose unter dem Strumpfband funkelte auf, und ich erfasste die Gravur, sie war mein. Ein Pulk hemdsärmeliger Arbeiter johlte. Klatschte.

Hinter dichten Wimpern verdrehte die Chansonnière die Augen, nach Jahren auf der Bühne war sie Anzüglichkeiten gewohnt, sie waren ihr zu einer eigenen Art Applaus geworden. Damia betörte Männer, zog sie mit Leichtigkeit in den Bann, ohne je einen von ihnen geliebt zu haben; ich wusste, sie würde es nicht tun, niemals. Mit unbändiger Verve schleuderte sie die Mary Janes in die Meute. »Hübsch, aber wertlos.«

Könnte ich mich meiner Ängste auf die gleiche Weise entheben, ich wäre eine glückliche Frau …

»Wie du sie doch täglich aufs Neue enttäuschst.« Chevalier, Guitry und wie sie alle hießen. Nichts als Aspiranten, wenig mehr als Staub.

»Wer sind die, wenn ich dich haben kann?« Besitzergreifend nahm sie meine Hand, zog mich auf zarten Strümpfen davon.

Weitere Karossen hielten vor den Toren, entluden beständig Nachtschwärmer, die sich dem Ruf ins Bett versagten. Die Markthallen waren damals der Ort der Stunde. Inbegriff dessen, was es bedeutete, jung zu sein, schön zu sein, am Puls der Zeit zu leben. Ob ich dieses Begehr für mich erhob, auf irgendeine Weise dazugehörte, dazugehören wollte, glich einem Fragen nach dem Augenblick, der einen Sekunde, die im nächsten Moment Erinnerung war.

Während des frühmorgendlichen Treibens fanden auf dem Areal verkörperte Schicksale zueinander; die Künstler, die Gangster, die Nutten und Stricher, die Boheme von Paris. Arm in Arm promenierte man durch die prachtvollen Gebäude, stieg über Berge von Kohlköpfen und Karotten hinweg, lief durch Schwaden exotischer Gewürze. Traf inmitten der Verkaufsstände auf lederbeschürzte Metzger, auf eine Abendgesellschaft in nicht mehr blütenweißen Hemden, welken Roben.

Die Umgebung von Les Halles prägten kleine Lokale wie das ›Pharamond‹, das ›Pied de Mouton‹ oder das ›Au Père Tranquil‹, sie boten eine herzhafte Zwiebelsuppe, das Frühstück der Standhaften. Wie oft hatten Damia und ich die Nächte seit dem Kriegsende in diesem quartier vergehen lassen? Wie oft war ich hier ihrer Anmut ein weiteres Mal erlegen? Ihrem Selbstbewusstsein, dem Eigensinn?

Catsy von der Rue Pigalle lehnte gegen den Türpfosten unserer Lieblingsbar, rauchte. Ihr Dekolleté umschmeichelte eine Federboa, wand sich an den üppigen Kurven entlang. »Da geht noch was, ihr zwei«, raunte sie.

»Ach, Liebes«, entgegnete Damia kühl. »In deiner Welt herrscht zu viel ennui.«

Die Räumlichkeiten waren überfüllt, zu eng, das Gewölbe drückte herab, schien in trägem Einklang mit der Nostalgie. Zwischen den bekannten gab es unaufhörlich fremde Gestalten zu sehen. Sie lungerten am Tresen, vor den schwülstig rot lackierten Wänden, hockten an den wenigen Tischen, auf Sperrholzkisten aus Übersee. Der Geruch von gedünstetem Lauch und überbackenem Gruyère lag in der Luft, ebenso Jazz, der unser Dasein täglich mehr umhüllte. Berauschte. Ich fühlte mich matt und doch auch nicht. Es war ein herrliches Durcheinander in meinem Hirn, es tobte, klagte, vibrierte, wollte ruhen.

»Ich hole die Suppen.« Ein schmaler Lichtstrahl, gleich einem gerichteten Scheinwerfer, streifte Damias Gesicht, die Iris ein elektrisierendes Grün. La Joconde. Das Leben verstand sie zu inszenieren. »Suchst du uns eine ruhige Ecke? Machst du das Unmögliche möglich?«

Ich nickte und schaute umher. Entdeckte Brancusi, Bryher und McAlmon, Djuna Barnes. An der gusseisernen Säule lehnte Romaine Brooks; ihre amour fou, Miss Barney, dürfte nur einen Katzensprung weit entfernt sein. Wir winkten einander. Die Malerin und ich hielten seit Ewigkeiten Freundschaft, Romaine war die Meisterin des Grau, eine Beschaffenheit aus Glas; sie und ich, wir dachten ähnlich. Wussten, in zerbrechlichen Zeiten sind Freundinnen bedeutender als Geliebte, ist die Distanz das Nähere. Schließlich fand ich eine ausgetretene Stufe auf der Treppe, die zum Privaten ins Obergeschoss führte, nahm Platz und ließ die Dinge um mich herum geschehen.

»Sie gestatten, Madame?« Vor mir balancierte ein gut aussehender Mann, Ende zwanzig ungefähr, eine dampfende Terrine auf einem Unterteller, mit der anderen Hand wies er neben mich, schickte sich zu setzen an. Neigte dabei den Kopf, lächelte. Charmant.

»Nur zu«, sagte ich, hängte meine Stola über die eichene Balustrade und rückte beiseite.

Sein schwarzes Haar wirkte so tadellos wie der gestärkte Kragen seines Hemdes, die Bügelfalte, die seine dunkelgraue Anzughose hinab verlief, die Two-Tones, die er trug. Das ganze Äußere eine Komposition. Dankend kam er meinem Angebot nach, unsere Schultern berührten sich. Er lagerte das Geschirr auf den Knien, und während er schweigsam aß, bemühte ich mich, ihm nicht im Weg zu sein. Welches Verhalten wäre schicklicher? Eine Weile betrachtete ich die Patina des Alters auf dem Holz; zahllose kleine Schrammen in der Oberfläche, die von der Abnutzung polierten Kanten. Spuren, die das Leben in besonderer Weise aufluden. Durchsuchte dann mit den Augen den Saal nach Damia, Konturen von Hüten und Mänteln, wogend, dahintreibend, erfasste sie im Gewirr mit einer Schriftstellerin ins Gespräch vertieft. Ich hatte ihren Namen vergessen, eine wortmächtige femme fragile, ausgesprochen elegant. Jene Art Frau, die Eindruck wie Parfum zerstäubte. Achtlosen Schwungs wurde ein Silberkühler auf der untersten Stufe zu unseren Füßen gestellt, er war beschlagen, Flasche und Gläser darin mit winzigen Tauperlen benetzt. Sie zerrannen alsbald.

In dem Intervall, als das Victrola zum wiederholten Male erstarb, schob der Mann die geleerte Terrine auf einen Mauervorsprung, fügte Löffel und Serviette bei. »Haben Sie den Champagner geordert?«, wandte er sich mir zu, den Hauch eines osteuropäischen Akzents im Unbefangenen. Polnisch? Rumänisch?

»Nein«, entgegnete ich.

Flüchtig rieb er sich das Kinn. »Wir sollten uns seiner annehmen, alles andere erschiene mir unhöflich.«

»Sie treiben Ihr Spiel mit mir.«

»Ich würde es nicht wagen, Madame. Nur kann ich kaum der Versuchung widerstehen.« Mit versierter Drehung entfernte er die Agraffe, den Korken, befüllte zwei Gläser, reichte mir eines. »Sie mögen doch Taittinger?«

»Diese Frage kann nicht ernst gemeint sein.«

Wir stießen miteinander an, ich spürte kaltes Wasser die Tresse meines Kleids betropfen.

»Der Auftakt eines herrlichen Tages.« Mit flacher Hand glättete er sein zurückgekämmtes Haar, und zwischen all den Gerüchen nahm ich die Andeutung von Brillantine wahr, assoziierte sie mit leuchtendem Gelb, Bergamotte vielleicht.

»Ich denke, meiner endet nun«, erwiderte ich, ein Gähnen unterdrückend, obwohl mich leichte Nervosität überkam, dachte ich an all die unerledigte Arbeit zu Hause, an das enervierende Schrillen des Fernsprechapparats, die Nachfragen, wann ich meine Aufträge auslieferte. Wann? Die Leute hatten falsche Vorstellungen vom Prozess des Lackierens, er war langwierig, schwierig, nötigte mir und meinen Kunden Geduld ab. Ich wünschte, solche Scharade ließe mich gleichgültig, und stieß einen Seufzer aus.

»Nichts für ungut«, kommentierte er meine Gedanken, als wollte er sie von ihrer Last befreien. »Nur die Überwindung von Schwierigkeiten kann einer Sache Bedeutung verleihen.«

»Ein vortreffliches Bonmot«, hörte ich mich antworten, kämpfte aber mit einer Reihe widersprüchlicher Gefühle. »Erlauben Sie mir die Anmerkung, die Bedeutung dürfte zügiger daherkommen. Derzeit gleicht jeder meiner Tage einem Roman, keiner Kurzgeschichte.«

»Ich habe nichts gegen gute Romane. Sie bergen Wendungen, enden oft überraschend.« Er leerte den Rest seines Glases in einem Zug, unsere Blicke hefteten sich Momente länger aneinander. Lebendige Augen, Neugier.

»Was lesen Sie gerade?«, kam ich seinem nächsten Satz wie auch der eigenen Verlegenheit zuvor.

Er zog ein dünnes, abgegriffenes Buch von Paul Valéry aus der Innentasche seines Jacketts. »Eupalinos oder Der Architekt. Sie kennen es?«

»Nein. Beurteile ich seinen Zustand, dürften Sie es jedoch lieben.« Interessiert blätterte ich zwischen den markierten, teils losen Seiten umher, überflog ein paar Zeilen. »Es ist in Dialogform verfasst.«

»Eine fantastische Art der Darstellung«, sagte er. »Der Autor hat der abendländischen Ästhetik eine Urszene erfunden.«

»Zweifelsohne eine Herausforderung.«

»Sie funktioniert. Sokrates und Phaidros sprechen über die Architektur, die Musik und den Vergleich der Künste.« Er schenkte uns Champagner nach und ließ die Flasche in den Kühler zurückgleiten, das Eis darin klirrte. »Wie schuf der Architekt aus einem unförmigen Haufen Steine eine Welt genauer Kräfte? Warum gibt es Häuser, die stumm sind, während andere reden oder sogar singen?«

»Gesang als Ideal des Gebauten? Eine angenehme Vorstellung.«

»Ich hätte es nicht gefälliger formulieren können.«

»Sie sind vom Fach, nehme ich an?«

»Vorletztes Jahr habe ich mein Studium an der ›École Spéciale d’Architecture‹ abgeschlossen.« Der Mann drehte sein Glas zwischen den schlanken Fingern, suchte vielleicht nach Worten, Sätzen; mir war, ein bestimmter Gedanke beschäftigte ihn.

»Und?«, widerstand ich meiner zutiefst verinnerlichten Zurückhaltung abermals. »Werden Sie nun Ihre Entwürfe zum Singen bringen?«

Er lachte heiser auf. »Ehrlich gesagt beabsichtige ich nicht, dem eigenen Bauen Gewicht zu verleihen.«

»Sondern?«

»Ich setze vielmehr auf meine Intuition und versuche die gewaltige Fülle unserer Zeit zu ordnen, zu bewerten und anderen zur Verfügung zu stellen.«

»Das klingt nach einer wahren Symphonie, nicht nach Gesang.«

»Erst einmal nach schlaflosen Nächten.«

Als wäre sie aus einem schummrigen Bühnenhintergrund hervorgetreten, stand Damia plötzlich vor uns. Die Fäuste gebieterisch in die Hüften gestemmt, versperrte sie die Sicht in den Raum, schaute von einem Glas zum anderen. »Die Suppe ist aus«, verkündete sie mokanten Tons. »Aber du scheinst dich bereits anderweitig zu amüsieren.«

»Möchtest du einen Schluck?«, bot ich ihr an, richtete mich auf, strich mein Kleid zurecht.

»Ein paar Leute von der Show wollen in die neue Bar des ›Ritz‹ hinüberfahren. Lass uns dort einen letzten Champagner trinken.«

»Ich begebe mich besser nach Hause«, erwiderte ich. »Die Arbeit wartet.«

Sie schnippte mit den Fingern, ungehalten, senkte die geschminkten Lider, ihre Makellosigkeit nicht im Ansatz gefährdend. »Komm schon, Eileen. Bloß einen Drink, sei nicht langweilig.«

Ich schüttelte den Kopf. Gestattete mir den schalen Bruchteil einer Sekunde, mich zu ärgern; Damias Launen wechselten allzu rasch, sobald ihr Wille keine Durchsetzung versprach. Entschlossen zog ich meine Pelzstola von der Balustrade und verabschiedete mich von dem Unbekannten. »Haben Sie Dank für die anregende Unterhaltung.«

Er erhob sich von der Stufe, deutete eine knappe, distinguierte Verbeugung an, eine Geste, die Frauen zu gefallen pflegte. »Meine Empfehlung, Miss …«

Wir nickten einander zu. Ich drängte durch die Massen, spürte kratzenden Tweed, Ellbogen, Knie, roch Schweiß, Geläster überall, und erneut gelangte ich zu der Erkenntnis: Alleinsein war mein Elixier. Nur in der Einsamkeit konnte ich Kräfte sammeln, voranschreiten. Den zahlreichen Vorhaben Sinn verleihen.

Vor der Tür schlug mir die Kühle des Morgens entgegen. Tief sog ich sie ein und machte mich auf den Weg in mein gewohntes Leben, meine Ungebundenheit. Gedankenversunken überquerte ich den Pont Neuf, lief von einem Ufer zum anderen, die Rive Gauche ersehnend. Betrachtete die aufgehende Röte auf den gusseisernen Laternen, den Kähnen der Seine. Fern, sehr fern schwindender Dunst.

Paris, du Schöne.

Ich streifte am Quai Malaquais entlang, ließ die verschlossenen Holzläden der bouquinistes hinter mir, das zartgrüne Rascheln der Bäume in stählernen Korsetts. Tauchte schließlich in das Häusermeer ein, in jenes Arrondissement, dessen Rhythmus ich mir seit zwei Jahrzehnten gewahrer wurde, Tag um Tag, dessen Anblicke das Gefühl berührten. Sandsteinfassaden gesetzter Melancholie. Hoch aufragende Brandmauern, sich nach theatralischen Abenddämmerungen verzehrend. Flatternde Weißwäsche in Hinterhöfen. Der Jardin du Luxembourg. Und dann die Cafés, die den Franzosen die Welt bedeuteten; diese Gastlichkeit auf sämtlichen Boulevards, ein Kommen und Gehen ganz eigener Maxime, würde ich – als Irin – ihre Geheimnisse je ergründen? Nach ausgiebigem Umherschweifen durch das Viertel verlangsamte ich meine Schritte vor dem ›Deux Magots‹. Besah die Bistrottische, deren Beine im Sägemehl geflochtener Schneckenkörbe ruhten, die schlichten hellen Baumwolltücher, durchtränkt vom gestrigen vin rouge. Den Garçon, der sie mit routinierter Hand zu wechseln begann.

»Bonjour, Miss Gray«, rief er herüber. »Zu so früher Stunde unterwegs?«

Ich winkte ab. »Sie haben mich nicht gesehen, Arthur.«

»Sehr wohl.« Mit galanter Pose hielt er in der Drehung inne. »Werden Sie nachher vorbeischauen? Die ersten Austern sind eingetroffen.«

»Krustentieren habe ich abgeschworen«, erklärte ich im allmählichen Weitergehen. »Während eines Aufenthalts in Spanien war ich nach dem Genuss von Austern lebensbedrohlich an Typhus erkrankt.«

»Les Espagnoles«, betonte der Garçon seine Aussage nun mit der unbeugsamen Arroganz des Großstädters, zuckte die Schultern. »Wir in Paris verstehen uns auf die Zubereitung.«

Sein Selbstverständnis in den Ohren, passierte ich den schmalen Platz, ließ das ehrwürdige Gemäuer der Église Saint-Germain des Prés hinter mir, all die Tauben, die gurrten und ruckten, gurrten, und bewegte mich geradewegs der Rue Bonaparte entgegen. Dachte an jene qualvollen Wochen der Bettlägerigkeit, dem Tod so nah. Damals, es muss um 1904 gewesen sein, kam Mutter besorgt in die Stadt gereist und hatte mich, sobald ich Anzeichen der Genesung zeigte, zur Erholung nach Hyères im Süden Frankreichs gebracht. Der Ort, das älteste Winter-Seebad an der Küste, war mit seinen vornehmen, sich dicht aneinanderschmiegenden Häusern und den von Schatten spendenden Palmen gesäumten Alleen eine der wenigen Erinnerungen, derer ich mich gern entsann. Die in meine Gegenwart gehörten. Derlei Illusion machte das Herz nicht weniger schwer, doch die Traurigkeit blieb schwach umrissen, war nur ein Wort. Das endlos blaue Meer rauschte weiterhin durch meine Gedanken, wurde unablässig vom Zirpen der Zikaden begleitet, und wehte der Wind von den Hügeln der Provence herüber, verströmte er den würzigen Geruch von Rosmarin, den süßen Duft von Oleander.

Wie sehr ich die Spaziergänge am Strand vermisste.

KAPITEL 2

SEPTEMBER 1921

Paris. 21, rue Bonaparte.

Mein Appartement lag in der ersten Etage eines hôtel particulier des Marquis de Cyr, ein wohlproportionierter klassizistischer Bau aus dem achtzehnten Jahrhundert. Nachdem ich drei Jahre zur Miete gewohnt hatte und Paris zu meinem ständigen Aufenthaltsort erkor, beschloss ich es 1910 mit Mutters finanziellem Hintergrund zu kaufen. Schon länger hatte ich den Drang verspürt, all die mich umgebenden Scheußlichkeiten darin zu entfernen, eine Art Atelier einzurichten und möglichen Kunden meinen eigenen Stil zu präsentieren. Welchem Interessierten hätte ich die altmodischen pâtisseries unterhalb der Decken zumuten können? Die dunkelbraunen Tapeten, die sich von den Wänden schälten? Oder die reich verzierten Spiegel, aus denen nichts als ein Gestern hervorzukriechen schien?

Das dreigeschossige Gebäude verbarg sich hinter einer Mauer, deren Torpfosten von steinernen, mit Efeu berankten Vasen flankiert wurden. Die geräumige Unterkunft erreichte man über den geschwungenen Aufgang eines Treppenhauses. Meine Liebe galt den vier großen französischen Fenstern, von denen man auf den mit Kopfsteinen gepflasterten Innenhof hinunterschaute. Wie häufig ich schon hinter den halb geschlossenen Läden gestanden und die sich räkelnden Katzen auf der noch warmen Motorhaube meines Automobils beobachtet hatte. Oder die Spatzen, die unentwegt zwischen dichtem Blattwerk herumflogen. Bereits im Eingang roch ich die Ausdünstungen verschiedenster Lösemittel, Resultate meines Arbeitens zu Hause, das ich trotz Anmietung zweier Werkstätten zum Lackieren und Weben im quartier noch immer nicht aufgegeben hatte. Als ich die Wohnungstür öffnete, stach mir der Geruch beinahe beißend in die Nase, Schleifstaub wirbelte auf. Ich streifte die Schuhe von den Füßen, ließ die Pelzstola nachlässig zu Boden fallen und stieg über Dutzende Hölzer farbiger Proben hinweg. Schritt von Raum zu Raum, stieß die Läden zurück, die Flügel. Schatten der schmiedeeisernen Brüstungen zeichneten erste Bilder auf dem Boden, würden im Laufe des Tages stetig andere Gegenstände berühren; sie waren im Werden, nie im Sein, Schönheit allenthalben. UNSERE AUGEN SIND GESCHAFFEN, DIE FORMEN UNTER DEM LICHT ZU SEHEN: LICHTER UND SCHATTEN ENTHÜLLEN DIE FORMEN. Im Salon langte ich nach der Schachtel Gauloises auf dem Kaminsims, entzündete eine Zigarette. Lief in die Küche. Der Anblick ließ mich erschaudern, er kränkte meinen Ordnungssinn, aber was erwartete ich ohne Mädchen? Modeste hatte ihren Dienst im Frühjahr quittiert, Tranquille war vor einigen Wochen plötzlich verschwunden, wortlos, nicht eine hinterlassene Zeile auf Papier, kein Abschied. Mein ganzes Leben lang hatte ich befürchtet, Menschen zu vergrämen.

Es traf zu.

Die Kirchturmuhr schlug sechsmal, ein tiefes Dröhnen, darin Dringlichkeit. Der Zeitdruck lastete enorm auf mir, entfachte Facetten schlechten Gewissens. Sollte ich mich noch amüsieren gehen? War ich mit meinen dreiundvierzig Jahren nicht zu alt für derartige Eskapaden? Erschöpften sie mich, inspirierten sie mich, ich wusste es nicht. Wie gern hätte ich mir jetzt einen starken Kaffee servieren lassen, die alte Madame Berger, meine Köchin, war jedoch seit Monaten unpässlich. Vagaries malicieuses. Zwischen ungespültem Geschirr, geleerten Weinflaschen und übrig gebliebenen Croissants des gestrigen Morgens suchte ich ungeduldig in den Fächern des Buffets nach einer sauberen Porzellantasse. Brühte auf der einzig akzeptablen Herdplatte einen tiefschwarzen Mokka, Reminiszenz an die Tage in der Wüste Nordafrikas, ein Abenteuer mit Jackie. Wie es ihr wohl nach all der Zeit erging. Noch immer in meinem bestickten Abendkleid von Poiret setzte ich mich schließlich im Badezimmer seitlich an den Wannenrand, drehte das heiße Wasser auf, um die Luftfeuchtigkeit zu erhöhen; und während sich die dampfenden Schwaden langsam wie Nebelgeister ausbreiteten und mit klammen Händen nach mir langten, gab ich mich dem intensiven Geschmack gerösteter Kaffeebohnen hin, rauchte die Zigarette. Schloss kurz die Augen, sah ein sepiafarbenes Nichts, Flecken, in Auflösung begriffen. Ich musste die Müdigkeit vertreiben, wenigstens die nächste Lackschicht auf die unzähligen Quader der Paravents auftragen. Ich seufzte erneut; die Worte des Fremden stahlen sich in meinen Kopf, sie hallten nach, leise, schwollen an zu erzählter Melodie. Wurden Haltung. Warum? Nur die Überwindung von Schwierigkeiten kann einer Sache Bedeutung verleihen …

Die Arbeiten für das Appartement in der Rue de Lota hatte ich vor zwei Jahren voller Ehrsamkeit angenommen. Es war mein erster umfassender Auftrag, in dem ich nicht nur um einzelne Möbelstücke gebeten wurde, sondern mich als ganzheitliche Interieurkünstlerin beweisen durfte.

Das hing zum Teil mit dem Krieg zusammen. Er hatte Paris verändert und einen entsetzlichen Tribut gefordert. Anfangs mangelte es an Geld, nach entbehrungsreichen Jahren aber suchten alle Vergessen, und ein vorsichtiger Optimismus begann sich wie ein seidenes Tuch über die Wehmut der Stadt zu legen. Ich entsinne mich, Monate nach dem Waffenstillstand in tranceartigem Zustand durch die Straßen gelaufen zu sein, stieß noch an jeder Ecke auf Fragmente jener Gräuel. Die lichten Platanen auf den Boulevards, da man Brennholz benötigt hatte. Der Bombenkrater im nahegelegenen Jardin des Tuileries. Und die Berge angehäuften Schutts, als hätte jemand die Sprachlosigkeit zusammengekehrt, wollte sie entsorgen. Doch dann, ganz sachte, verdrängte die untergehende Sonne die Tristesse jener Bilder, färbte sie in ein abendliches Gold, ein atemberaubendes Spiel aus Licht und Schatten, Schatten und Licht. Es ließ uns hoffen. Ich spürte eine unverkennbare Regung. Auf der noch warmen Asche erfand sich La Grande Dame ein weiteres Mal, formte sich zu etwas Modernem, nie Geahntem. Einige der Stilrichtungen zeigten vor dem Krieg vages Erscheinen, nun jedoch entfalteten sie sich zu prächtiger Blüte. Verschiedenste Strömungen sollten die Variablen der bildenden wie auch angewandten Kunst in den kommenden Jahren zunehmend beeinflussen. Expressionisten, Dadaisten, Surrealisten und all die anderen -isten und -ismen. Nicht geglaubter Reichtum schwemmte die Metropole, beanspruchte Kultur, Wandel. In der Oberschicht wurde die Umgestaltung der eigenen vier Wände Gepflogenheit, das vergangene Jahrhundert musste weichen, die Biederkeit samt unnötigen Zierrats vergehen. Ein Gedanke, den ich seit Langem in den Herzen der Menschen hervorzurufen versuchte, der belächelt, gar verhöhnt wurde.

Scheiterte.

Und plötzlich entwickelte das Geschehen eine Eigendynamik, so geschwind, es versetzte selbst mich in Erstaunen. Die Welt drehte sich tatsächlich. Viele der Wohlhabenden engagierten für die illustren Einrichtungen ihrer Häuser und Appartements namhafte Künstler. Jean Dunand, Albert Rateau, Pierre Legrain – sie bildeten die neuen sogenannten ensembliers, gehörten in Fragen des Geschmacks zu den Tonangebenden. Und ich war auf einmal Teil der Riege, ein winziger Splitter im Funkelnden. Nach deprimierenden Zeiten der Unsichtbarkeit, des Herumstocherns im Gewölk, interessierte man sich für die von mir aufwendig gefertigten Lackarbeiten, das erglühende Orangerot meiner Wandschirme, das metaphysische Blau. Die Sessel, die Tische. Wie konnte das sein? Wir alle ließen das floral Geschwungene endgültig hinter uns, wandten uns einer kühneren Geometrie zu, dekadenteren Details. Inspirationen entstanden aus der Begeisterung für den Orient wie auch an allem Afrikanischem, den Aufführungen der ballets russes, der zeitgenössischen Malerei, der Lust an Bewegung, Geschwindigkeit, Reisen. Dem Sinn für erlesene Materialien wie Makassar, Onyx und Elfenbein.

Bedauerlicherweise gerieten die Ausführungen in der Rue de Lota zur Tortur, zerrten unerbittlich an den Nerven. Immerfort stattete mir die Auftraggeberin Madame Mathieu-Lévy, Besitzerin des stadtbekannten Modesalons Suzanne Talbot, Besuche ab, zitierte mich auf die Baustelle im äußersten Westen der Stadt. Unterbreitete weitere Wünsche, Anweisungen, wollte Veränderungen, Aufmerksamkeit, obwohl sie eingangs sämtlichen meiner Vorschläge enthusiastisch zugestimmt hatte. Seit Wochen bedrängte sie mich, Barhocker zu entwerfen.

Ich weigerte mich.

Die Situation grenzte an Absurdität. Wenn ich aber einige Jahre zurückdachte, hätte ich wissen müssen, worauf ich mich einließ. Jaques Doucet, einer der renommiertesten Modeschöpfer Frankreichs und Kunstsammler, war 1913 mein erster wichtiger Kunde gewesen. Bereits er hatte mich damals mit seinen exaltierten Ansprüchen an die Grenzen des Machbaren gedrängt. Doch Starrsinn trieb mich an, ich war nicht gewillt aufzugeben. Eher klammerte ich mich an so etwas wie Verzweiflung und versuchte, mein Arbeitspensum zu erhöhen, ein feineres Gespür für Menschen zu entwickeln, ihre Charaktere zu ergründen. Trotz Einfühlungsvermögens besaß ich wenig Geschick darin, es fiel mir nicht leicht.

Ich suchte meine Werkzeuge zusammen, kontrollierte im Gegenlicht sämtliche Schnittkanten der Pinsel; die breiten aus Frauen-, Katzen- oder Kaninchenhaar gefertigt, die flachen aus Achselhaar der Schiffsratten. Die Lackkunst übte eine ungeahnte Faszination auf mich aus, besagte Vollkommenheit, Reinheit. Mit ihr hatte ich zu Beginn des Jahrhunderts eine fremdartige Welt entdeckt, die mich bald in ihren Bann zog, Berufung werden sollte. Sie kam meiner eher schüchternen Persönlichkeit entgegen, meinem Dasein als Einzelgängerin. Es war eine abgeschiedene Tätigkeit, die ein stetes Ausprobieren erforderte. Mit Beharrlichkeit und Disziplin hatte ich die Technik erlernt, mithilfe des Künstlers Seizo Sougawara, einem asiatischen Meister, verfeinert.

Eigene Wege beschritten.

Der Lack, meist aus dem Harz von Bäumen gewonnen, war transparent und zäh, trocknete rasch. Nach japanischer Tradition trug man in festgelegter Reihenfolge mindestens zweiundzwanzig, oft mehr Schichten übereinander auf das Objekt. Jede einzelne von ihnen wurde poliert, um den Glanz zu erhöhen, mit dünner Seide oder Gaze überzogen, durch einen Leimanstrich aus Reisgummi rissfest gemacht. Ab der achtzehnten Schicht ließen sich den letzten Überzügen Farbpigmente in Pulverform beimengen, Intarsien einlegen. Das Abreiben mit einem Bimsstein erbrachte schließlich den geheimnisvollen, tiefen Schimmer. Jeder Arbeitsgang, jedes Material erforderte meine Konzentration, Fehler machten sich auf spiegelblanker Fläche unvermittelt bemerkbar. Eine Mühsal. Während des Lackierens sollte der Raum möglichst staubfrei und feucht sein. Sougawara, ein Mann immenser Weisheit und von Anbeginn Leitung meiner Werkstatt, hatte erzählt, dass die Lackhandwerker im alten Japan auf der Suche nach solchen idealen Bedingungen oft in Booten auf das offene Meer hinausfuhren. Angeregt von seinen Beschreibungen imitierte ich die Bedingungen im Badezimmer, bessere Ergebnisse zum Ziel.

Vor der Wanne mit den Klauenfüßen kniend, bearbeitete ich nun ein gutes Dutzend der rund vierhundertfünfzig Quader mit einer weiteren gräulichen Schicht Lack. Sie nahmen sich aus wie flache Ziegelsteine, trugen sinnbildlich nicht selten deren Gewicht. Recht bald würde ich sie im Vestibül Madame Mathieu-Lévys zu teils beweglichen Paravents vor den Wänden montieren lassen. Mit ruhiger Bewegung, annähernd mechanisch, strich ich den Pinsel über das Holz, versenkte mich meditativ in dem, was ich liebte, konnte. Entfloh so auf meine Weise der Gefahr gesellschaftlicher Einengung, der Lebensgewohnheiten, wie sie die Menschen ringsumher pflegten. Dachte an Damia, an die Fertigstellung der Rue de Lota. Fügte der zähen Masse einen Hauch Silberpigment hinzu, etwas Sabi. Dachte an so vieles. Würde mir dieser erste große Auftrag endlich jene Anerkennung bringen, nach der ich mich seit Jahren sehnte? Was bedeutete mir Wertschätzung? Und was Erfolg?

*

… Einige von uns malen Miniaturen, weben wundersame Stoffe. Andere, wie Kipling es ausdrückt, ›machen Dinge mit einem Stift‹. Aber keiner von uns – oder gibt es da wohl noch jemanden? – hat sich wie Miss Eileen Gray für Lack als Ausdrucksmittel entschieden …

Vogue, August 1917

… Wandverkleidungen und Möbel aus Lack verdrängen die alten Götter in Paris und London … Paris überflügelt allerdings noch die englische Hauptstadt, denn dort wohnt Miss Gray, unbestritten die Meisterin ihres schwierigen Fachs. Sie beherrscht als Erste auf ihrem Gebiet handwerkliches Geschick in bisher nicht erreichter Perfektion … Die Wände scheinen Skizzen der letzten Kubistenausstellung; zumindest eines der Paneele könnte heißen ›Akt, die Treppe herabsteigend‹ …

Harper’s Bazaar, September 1920

… das Faible für Lack, das im 17.Jahrhundert herrschte, ist heute erneut zu bemerken, und einige bedeutende Künstler haben die Materie zu ihrem ganz eigenen Ausdrucksmittel gemacht. Zu den bekanntesten von ihnen zählt Miss Gray …

London Times, März 1921

*

Dann schien alles getan. Ein letzter prüfender Blick. Die ätherische Sinnlichkeit, die ich zu modellieren versuchte, gewann allmählich an Aussehen, wenngleich ich meinen Ansprüchen niemals gerecht würde. Die Perfektionistin in mir machte mich zu einer harschen Kritikerin meiner selbst, vor deren Urteilen ich nur allzu gern davonlaufen und keinen Blick zurückwerfen wollte. Meine Hände brannten, ich arbeitete ohne Schutz, brauchte die Nähe zur Substanz, das Gleiten, das Suchen, Fühlen. Kleine rote Bläschen wanden sich wie Sternenregen die Gelenke entlang, fanden sich noch auf den Unterarmen. Urushi-Kaburé, die Lackkrankheit, sie plagte mich mal mehr, mal weniger. Minutenlang ließ ich mir Wasser über die Haut laufen, Kühles erbrachte Linderung. Hinter all den Vorgängen bedrängte mich immer vernehmbarer die Frage, ob dieser bedachtsamen, nur mit Ausdauer zu begegnenden Tätigkeit in rastlosen Zeiten wie diesen nichts Paradoxes anhing.

Ich wusch die Pinsel, reinigte Spatel und Messer mit einem in Öl getränkten Wattebausch. Rieb mir die schmerzenden Glieder, rauchte eine weitere Zigarette und ging ins Schlafzimmer hinüber. Bleierne Müdigkeit. Ich schloss die Läden, die Fenster, legte mich im Abendkleid auf das Bett, zu erschöpft, es auszuziehen. Betrachtete im Halbdunkel die Schatten an den Wänden. Muster, hellere wie dunkle. Sie tanzten.

Über den Schlaf.

Was erwarteten wir vom Schlaf? Von den Träumen? Sollten sie nicht unseren Kummer verdrängen, uns jene Ängste und Sorgen nehmen, die das Geschehen des Tages bestimmten?

Flüchteten wir nicht von einem Zustand in den anderen, vom Wachen zum Schlafen, vom Schlafen zum Wachen, um dem zu entgehen, was wir wussten? Nicht wussten?

Auf der Suche nach dem, was war, und dem, was sein könnte, geriet die Seele an Grenzen.

Wirklichkeit und Täuschung.

Wahrheit und Lüge.

MÄRZ 1885

Irland. Enniscorthy, Brownswood House.

Vollmond. Das Knarren war furchterregend, ich verspürte Angst, allein in dem großen Raum, dem riesigen alten Herrenhaus, in dem die Kälte umherwaberte und mich vom Schlafen abhielt. Immer wieder hörte ich ein Ächzen auf dem zugigen Flur vorüberwehen. Waren es tatsächlich die Gespenster, denen meine älteren Brüder James und Lonsdale so oft auf dem Dachboden hinterherjagten? Sie kommen, dich zu holen, Eileen. Oder war Vater aus Italien zurückgekehrt? Stimmte es vielleicht doch nicht, was ich die Dienstboten unten in der Küche hinter vorgehaltener Hand hatte reden hören? Hatte er Mutter nicht verlassen? Klopfenden Herzens schlug ich die Decke zurück, schlich auf Zehenspitzen zur Tür, lauschte. Spähte. Nahm all meinen Mut zusammen, lief über die endlos langen Gänge, die Treppen hinauf, in den anderen Trakt, zu Mutters Schlafgemach. Ich war sechs Jahre alt, und ich wusste, dass ich sie nicht stören durfte, sie war traurig. Leise schob ich zwei Stühle vor die hohen Flügeltüren, rollte mich auf den Polstern zusammen, fuhr mit den Fingern über den rauen Stoff. Vor und zurück, es beruhigte mich. Ich fror, aber ich war nicht einsam. Mutter befand sich in der Nähe, sie schlief gleich hinter der Tür, und wenn sie aufwachte, würde sie herauskommen und mich fest in die Arme schließen. Vater hatte mich stets an sich gedrückt, dann nahm er mich auf seinen Schoß und las mir das Märchen vom Perlenbrunnen vor. Ich liebte die bunten Bilder des Buchs, die herumschwirrenden Elfen darin, all die Naturgeister, freundliche Wesen, die er eigenhändig gemalt hatte. Vater war ein Künstler, und wäre ich ein Junge, ich hätte werden wollen wie er.

In der Morgendämmerung weckte mich Ceallagh, das Hausmädchen, indem sie sanft meine Schulter rüttelte: »Was für ein unbequemes Lager. Sie müssen aufstehen, kleine Miss!«, befahl sie mit leiser, dennoch nachdrücklicher Stimme und setzte mich hoch. »Ihre Frau Mutter wird es nicht gutheißen, Sie hier vorzufinden.«

»Aber ich will sie trösten«, widersprach ich mit gesenktem Kopf, betrachtete meine blau geäderten Hände. Ihre Farbe ähnelte den Fischen im Seerosenteich, nah unter der Oberfläche, wenn das Sonnenlicht hineinfiel. Ich dachte an ihre blassen Mäuler, die unentwegt nach Luft schnappten. Die hässlich und schön waren.

»Ihre Frau Mutter benötigt keinen Trost. Sie verlangt allerhöchsten Respekt, seit sie das alleinige Familienoberhaupt ist. Als zukünftige Baroness muss sie Ihnen und Ihren vier Geschwistern Manieren beibringen und für Ihre Erziehung und Zukunft sorgen.«

»Ich will keine Prinzessin sein.«

»Sie werden einmal eine Honourable sein, kleine Miss. Eine Ehrwürdige, die sich zu benehmen weiß und niemandem Schande bereitet.«

Ihre Worte verstand ich kaum. Aber ich erahnte sie. Ich denke, in jenem Moment sah ich den weißen Tropfen zum ersten Mal, schloss ich die Lider, sah ich ihn leuchtend vor dunklem Hintergrund schweben, er hatte etwas Zähes, Klebriges an sich, war einfach da. Seine Bedeutung sollte sich mir erst Jahre später eröffnen. Ich allein trug für Mutters Kummer Verantwortung, kein Mensch außer mir konnte an Vaters Verschwinden schuld sein. Ich hatte meinen einzigen Freund vertrieben. Es war schlimm.

Und doch sollte alles noch schlimmer kommen.

SEPTEMBER 1921

Paris. 21, rue Bonaparte.

Als ich aus unruhigen Träumen erwachte, strichen die Erinnerungen weiterhin an mir vorüber, saß ich noch immer zwischen meinen Geschwistern an der langen Tafel im mit Eichenholz verkleideten Frühstückssalon. Fror. War umgeben von verrußten Ahnenporträts in wuchtigen Goldrahmen; Augen, überall Augen, missbilligend starrten sie auf mich herab, verfolgten mich. Mahlzeiten waren stets schweigend in The House eingenommen worden, ein quälendes Ritual. Mutter duldete keine Gespräche bei Tisch, und auch geraume Zeit nach der Trennung (ein Wort, das sie sich nie zu äußern gestattet hätte) interessierte sie nichts als Ethik und Moral; gesellschaftliche Werte, denen sie sich einst rebellisch zu widersetzen gewusst hatte. Inmitten dieser viktorianischen Wirren jedoch schienen diese Unveränderlichen ihre einzig Verbündeten. Gemeinsam mit ihnen hatte sie meine Kindheit unter einem plumeau der Überspanntheit, der Exzentrik zu ersticken gedroht. Gelang es mir auch in späteren Jahren mich von dieser Schwere zu befreien, ein Gefühl der Verlassenheit sollte sich tief in einem verborgenen Winkel meines Herzens einnisten, Ängstlichkeit und Selbstzweifel schüren.

Die Hausglocke ertönte. Ruckartig erhob ich mich, brauchte im schwachen Zwielicht einen Moment der Orientierung. Womöglich unangekündigte Klientel, diese Besuche in den eigenen vier Wänden, ich begann sie zu verabscheuen. Ich warf einen Blick in den Spiegel über der Kommode. Sah ein mit Fältchen überzogenes Gesicht, sich verbindende Linien, mehr als gestern, bleiche Lippen. Mit fahrigen Händen richtete ich mir das über die Schultern fallende Haar, flocht es grob. Zwei Schildpattkämme. Ging schwelenden Unbehagens zur Tür, schaute flüchtig auf die Standuhr in der Ecke der Halle, ich hatte Stunden auf dem Bett zugebracht.

»Es dauert Ewigkeiten, bis du mir öffnest«, empörte sich Damia, eine cloche tief ins Gesicht gezogen, die schmale Krempe ihren Argwohn überschattend. Tropfen geschliffenen Jetts funkelten auf. Divengleich trat sie ein. An der Leine den gezähmten Panther, den ihr vor Monaten ein Verehrer nach der Darbietung von Le fou in die Garderobe hatte bringen lassen; jenem Lied, bei dem sie über die Bühne rannte, sich zu Boden warf und das sie auf Knien singend beendete. »So beschäftigt, ma chère?«

Diese bittersüße Schwingung im Raum. Ich beherrschte mich, widerstand ihrer Provokation. Strich dem Tier über das nachtschwarze Fell, fühlte die geschmeidigen Muskeln, jeden Strang, als wäre es augenblicklich zum Sprung, zum Töten bereit. »Ich bin müde, Damia.«

Abfällig, während ich die Tatzen erhaben über das Parkett davonschreiten hörte, nahm sie mein zerknittertes Kleid in Augenschein. »Ein Zusammenhang mit diesem beau am Morgen mag kaum bestehen, oder?

»Ein zufälliges Aufeinandertreffen.«

»Du läufst niemandem aus Versehen über den Weg, einem Jüngling schon gar nicht.« Ein harscher, anfeindender Ton, ihre Gestalt siedend. »Welcher Art war eure Unterhaltung? Das Wetter? Des choses vulgaires? Sag nicht Nichtigkeiten.«

»Habe ich dir je gestanden, dich um deine Theatralik zu beneiden?«, versuchte ich das Kantige ihres Empfindens zu mildern, ihre getriebene Eifersucht, dieser niederste Instinkt unseres Seins, der schlagartig ein Zuviel darbot. Ich hatte keinen Zweifel, wusste, dass sie den Fremden im ›Pharamond‹ zur Sprache bringen würde. Aber sie war auch die letzte Person auf Erden, von der ich mich heute in Tausende Stücke zerreißen ließe. Ich berührte ihr Kinn, zart, die Narbe daran, als berührte ich fragile Schmetterlingsflügel. Küsste die Wange meiner Chansonnière, einer aus ärmsten Verhältnissen stammenden Gendarmentochter, die sich ihre Sichtbarkeit hart hatte erkämpfen müssen, jeden ihrer Auftritte mittlerweile zu choreografieren genoss. Spürte die weichen Härchen, die Haut, die nach Eleganz roch, nach Talkum. Sinnlichkeit. »Marisa Damia, wie gern wäre ich so dramatique und tragique wie du.«

»Ich begehre dich«, flüsterte sie heiser, Kehrtwende schillernder Launen. »Ich brauche dich.«

Die dunklen Vokale strichen an meiner Seele entlang. Zogen mich an, stießen mich ab. Ein Kräftemessen, ein Räuber. Aber ich wusste, mit diesen beiden Sätzen, dem einen wie dem anderen, war vorübergehend alles gut, waren die Wogen eine Weile geglättet. Wie still ist die See? »Warum sonst hätten wir einander in Paris begegnen sollen?«

Sie legte den Kopf in den Nacken, lachte gelöst, ein Perlmuttlachen, weiße Zähne dominierten die Momente. »Du umgibst mich mit der Stabilität, an der es mir mangelt.«

An manchen Tagen war ich Halt, an anderen ruhender Pol im unsteten Getriebe ihrer Existenz. Die Sonne, die alles erhellte. Ich setzte mich einem geschwinden Gefecht mit meinem Gewissen aus. Es war seltsam, was ich fühlte und nicht sagte, und sagte, was ich nicht fühlte. Wie gern hätte ich Herz und Verstand in Einklang gebracht. Doch es widersprach meinem Naturell, über Emotionen wie Vertrauen oder Liebe zu reden, Gedanken tiefster Intimität zu offenbaren. Ein schier unlösbares Problem in mir, oder, wie ich in späteren Jahren sagen sollte, die Quadratur des Kreises.

Ich hatte Angst vor Verletzungen.

Angst vor dem Verlassen, dem Verlassenwerden.

Dem Versagen.

Angst.

Stattdessen berichtete ich von dem Haus in Samois-sur-Seine, ein Wochenenddomizil am Ufer des Flusses, das ich nach reiflicher Überlegung zu kaufen gedachte, das ich nach Aneignung einiger Kenntnisse möglicherweise ein wenig umbauen wollte. Erste Ideen, zu empfindsam, sie zu entbinden. Ich war häufig dort gewesen, hatte schon vor dem Krieg von etwas Eigenem an diesem Ort geträumt, am Wasser. Ich erwähnte Verschönerungen, schwärmte vom laisser-faire.

»Wir werden an den Sonntagen während stundenlanger Spaziergänge den Wald von Fontainebleau erkunden.«

»Den Bois haben wir inzwischen auch ausgiebig durchwandert. Ich meine dort jeden Baum, jede Wurzel zu kennen«, befand sie und bot mir tatkräftige Hilfe an. »Ich kann Eimer voller Schutt hinaustragen, Wände streichen, was immer du willst.«

»Wunderbar.« Ich wusste, es würde nie geschehen.

»Und dann werden wir Freunde einladen.«

»Mit einem Picknickkorb im Ruderboot auf die einsame Insel übersetzen.«

»Splitternackt in die Fluten springen.«

»Klingt verheißungsvoll.« Zärtlich biss sie mir in den Hals, küsste ihn in langer Gerade bis zum Ansatz meines Haars hinauf, biss. Küsste. Es schmerzte, und doch nicht genug.

»Aber sag«, meinte Damia später, als sie in den Bändern ihrer cloche nach der Nadel tastete, sie schließlich mit manierierter Geste aus dem Stoff hervorzog, »was machen wir kommenden Freitag? Lassen wir uns auf einen Drink bei Miss Barney blicken? Und fahren wir dann mit deinem Automobil über die Champs-Élysées, dem Mondschein entgegen?«

Sie erweckte den Anschein von Leidenschaft, von absoluter Hingabe, es war das, was ich an ihr liebte. Es war jenes allegorische Hindernis, das den gemeinsamen Träumen zunehmend die Sicht nahm.

Wurde höher, immer höher.

KAPITEL 3

MÄRZ 1895

London. South Kensington, The Little Boltons …

Das Frühjahr hing lastend in einem Nebel, der fast alles Leben aufzulösen vermochte. Lief ich mit Thora, meiner drei Jahre älteren Schwester, über die Brücken, konnten wir die dahinfließende Themse kaum erkennen. Ab und an wanden sich gräulich braune Schaumkronen, gleich schmutzigen Sorbets, zitternd an den Ufern entlang. Nur wenige Tauben segelten durch den Wind. Die Tage vergingen, selbst die Statuen im Hyde Park schienen die steinernen Kragen ihrer Mäntel hochzuschlagen, kein Kind trieb lachend einen hölzernen Reifen voran. Die Luft war feucht, benetzte die Avenuen, tropfte die Markisen der Cafés hinab; dieses deprimierende Nass verfolgte uns nach Spaziergängen bis in die schwarz-weiß geflieste Eingangshalle unseres herrschaftlichen Stadthauses hinein.

Die Beine dicht an mich herangezogen, saß ich im Erker des gemeinsamen Mädchenzimmers, ein Buch neben mir liegend. Beschlug die Scheiben mit warmem Atem und schrieb The world’s mine oyster darauf. Ein Wassertropfen rann meinen Finger entlang. Kalt wie Schnee. Dick wie Blut.

»Nietzsche?«, fragte Thora, während sie ihr dunkles, rot glänzendes Haar der abendlichen Routine mit einer Bürste unterzog.

»Shakespeare«, widerlegte ich abwesend, entsann mich entlang ihres gelangweilten Tons ungeahnt all der Gouvernanten, die gekommen und gegangen waren und uns heranwachsenden Kindern mit sporadischem Hausunterricht selten Bleibendes hatten vermitteln können. Sobald ich des Lesens mächtig war, ließ ich mich in andere Welten sinken, verschwand tief und tiefer zwischen dicht gesetzten Zeilen, aus denen ich kaum zurückkehrte. »Vielleicht solltest du dich eingehender mit den Klassikern beschäftigen.« Demonstrativ hielt ich meine ledergebundene Ausgabe in die Höhe. »Unsere Bibliothek birgt ungeahnte Schätze.«

»Also wirklich«, rügte sie meinen Vorschlag.

»Welche Büchse der Pandora habe ich nun wieder geöffnet?«

»Genau wie du besitze ich Grundkenntnisse in Französisch und Deutsch, kann etwas malen und zeichnen, musiziere, habe einschließlich Der scharlachrote Buchstabe sämtliche Trivialitäten unserer Dienerschaft gelesen.« Sie holte Luft, machte eine kunstvolle Pause. »Ich bin zum Heiraten bereit, Eileen. Ich brauche nichts mehr zu lernen.«

»Wo ist er?«

»Wenn ich das wüsste.« Thora betrat die Estrade, klopfte, um das Glück zu beschwören, dreimal auf die hölzerne Fensterbank und deutete mit diffuser Handbewegung ins Nichts. »Irgendwo dort draußen.«

Wir begannen zu lachen, schüttelten ungläubig die Köpfe. Gemeinsam mit Lonsdale war sie diejenige unter meinen Geschwistern, mit der mich mehr vereinte. Die mir etwas bedeutete, obwohl ihr Wesen so ganz anders war als meins. Mutters Vorstellungen näher. Formbarer, gehorsamer, weniger neugierig.

»Oh, Gott steh mir bei. Ich bin froh, dass uns Ethel nicht hören kann«, beteuerte Thora, während sie kurze Zeit später aus einer Kaskade von Rüschen des Unterrocks hervorstieg und sich an den Schließen ihres cremefarbenen Korsetts zu schaffen machte. »Hilfst du mir, Liebes?«

»Natürlich.« Routiniert, mit flinker Hand, löste ich die Schnüre, unzählige Häkchen. »Ich wünschte, ich müsste sie nicht einmal mehr sehen.«

»Ethel oder dieses grässliche Fischbein, in das wir uns zu zwängen haben?«

»In das wir uns samt Ansichten zu zwängen haben«, ergänzte ich, dachte an Gitterstäbe, die fest in ihrer Verankerung ruhten, nicht nachgaben, und befand: »Meinetwegen beides.«

»Eine Partie Cricket mit ihr hast du immer gewollt, glaub mir, auf dem Land würde dir die Gute fehlen.«

»Ethel ist eine Falschspielerin«, fasste ich meine Enttäuschung über unsere Schwester, von der mich zwölf Jahre trennten, zusammen. »In jeder Hinsicht.«

»Sei nicht sarkastisch, Eileen Moray Gray«, kritisierte sie meine Worte. »Das ist Mittelklasse.«

»Und wenn schon.« Die Grenze zwischen einem Sinn für Anstand und Sarkasmus ist fließend. Ich wandte mich wieder dem Fenster zu, schaute zwischen hölzernen Sprossen in den Vorgarten hinunter. Eine einsame Amsel sang ihr Lied in die Dämmerung hinaus, lauschte nach Antwort. Die akkurat geschnittenen Buchsbaumhecken wirkten in dem wattierten Licht noch statischer, als wäre William Morris soeben an ihnen vorbeigelaufen, hätte an die Leitsätze des Arts and Crafts Movement erinnert. Die Klarheit der Linien und Formen, eine Ästhetik, die in meinem Bewusstsein zu einer Meinung gedieh. Noch vor einer Weile machten mich die Straßenzüge mit ihren gleichförmigen Reihenhäusern schwindelig, hatte ich in ihnen doch nur das Triste, das Endlose gesehen. Je mehr ich aber in der Zeitschrift The Studio über die Bewegung las, desto weiter rückte das übertrieben viktorianische Ornament in den Hintergrund, gewannen Einfachheit und Ernsthaftigkeit in meinem Denken an Bedeutung. Mittlerweile fand ich Gefallen an der Großstadt, hier war ich unbeobachtet, konnte mich treiben lassen, in meine Zukunft hineinträumen.

Ein Mann kam bisher nicht darin vor.

Unsere Familie verbrachte den Winter seit jeher in London, um der Kälte auf dem irischen Landsitz zu entfliehen. Eine Tradition, der ich als Kind nur widerwillig nachkam, denn ich liebte The House mit seinen weitläufigen Wiesen, den seicht geschwungenen Hügeln, die ich während vieler einsamer Stunden mit einem ausrangierten Rollstuhl hinunterrauschte; liebte die sich windende Slaney, in die ich meine nackten Füße tauchte, wann immer ich mich nach Abkühlung sehnte. Ein Leben, das ich trotz erzieherischer Zucht für ein freies, ungebundenes Dasein gehalten hatte. Doch dieses altehrwürdige, mit Efeu berankte Herrenhaus, das mich später an die Romane Jane Austens denken ließ, gehörte der Erinnerung anheim. Allein die Gedanken an den ausgewogenen, schlichten Bau erfüllten mich mit Traurigkeit. Henry Tufnell Campbell, der überhebliche Ehemann Ethels, ließ es derzeit mit Mutters Zustimmung aufwendig sanieren. Er war es auch gewesen, der sie vor einigen Jahren hatte überreden können, endlich ihren Anspruch auf den schottischen Adelstitel ›Baroness Gray‹ anzumelden, das Erbe eines entfernten Onkels. Ich entsinne mich, damals als Zehnjährige in Vaters verlassenes Arbeitszimmer geschlichen zu sein, um die Schubladen seines gewaltigen Schreibtischs nach einem Blatt Papier sowie einem Stift zu durchsuchen. Vaters Geruch stieg noch immer klar und wunderbar aus jedem Fach, aus jeder Mappe hervor. Bourbon und Seife, süßlicher Tabak. Fein säuberlich setzte ich Buchstabe um Buchstabe auf den vergilbten Briefbogen eines italienischen Hotels, in dem er sich einmal aufgehalten haben musste, schrieb, dass ich ihn vermisste, dass ich mich niemals mit Honourable anreden lassen wolle. Es war ein Versprechen, ein Pakt mit mir selbst, kein Wunsch. Ich versteckte die gefaltete Nachricht unter einer losen Diele neben dem Herrentisch, schob den Perserteppich sorgfältig darüber. Dank meiner Fantasie sah ich die Botschaft noch heute so verborgen und wahr dort liegen. Versprechen sind die süßesten Lügen.

Henry war ein Geck, snobistisch, versessen. Selbstgefällig. Tagtäglich lief er mit einer Schar wichtig aussehender Architekten über unser Grundstück, die weißen, weit dahinleuchtenden Pläne unter dem Arm, und ließ The House in eine anmaßende Villa im Tudorstil umgestalten. Als weckte er Gewesenes; Giebelchen, Erker, schmiedeeiserne Wintergärten, Vordächer.

»Er baut unser Haus zu einem dünkelhaften Monstrum um, genauso gut könnte er es dem Erdboden gleichmachen«, flüsterte ich später am Abend, als Thora und ich zu Bett gegangen waren und das Petroleumlicht auf unseren Nachtkommoden gelöscht hatten. Stille. Dann eine Droschke, die sich mühsam ihren Weg über das Kopfsteinpflaster bahnte, klappernde Hufe, das Schnauben der Pferde in der Nacht.

Stille, Stille.

»Die Lokalpresse ist recht angetan«, schichtete Thora schließlich Zitate mehrerer Zeitungsartikel auf die Leere. Der Umbau entspreche dem Stil der Zeit, er sei makellos, ein Glanzstück, so die Zeilen, repräsentiere Wohlstand und Ansehen. »Ganz abwegig finde ich die Idee unseres Schwagers nicht.«

»Sein Tun bewirkt nichts als Verschandelung«, beharrte ich auf meinen Standpunkt, vernahm den Schmerz in der eigenen Stimme. »Warum kann man schöne Dinge nicht einfach belassen? Warum muss man vergangene Epochen auf unoriginelle, unschöpferische Weise imitieren? Wo bleibt das Neue?«

»Du meinst etwas wie den Eiffelturm?«

»Wie gern würde ich einmal von dort oben auf Paris hinunterschauen.«

Thora kam in ihrem hellen Nachtkleid aus Musselin durch die Dunkelheit herübergelaufen, schwebte womöglich. Kroch wie in alten Zeiten unter meine Steppdecke. Dicht drückte ich mich an sie, wärmte mich an ihrem Körper, wie ich es all die Jahre getan hatte. Die Macht des Immersogehabten.

»Viele Leute meinen, es sei die einzige Weise, die Konstruktion zu ertragen. Hunderte empörte Petitionen wurden verfasst, um ihn aus dem Stadtbild zu entfernen.«

»Die Leute haben seit jeher Probleme mit dem Andersartigen. Denk zurück an die Diskussionen um die ›Brompton Boilers‹ in den Fünfzigern, einen dreifachen Monsterkessel haben sie das Gebäude geschimpft«, erinnerte ich sie an einige Berichte, die vergilbt unter einem Stapel Büchern in der Bibliothek gelegen hatten. »Oder denk nur an unseren Besuch im ›South Kensington Museum‹ in der vergangenen Woche. Einige der Gänge ermatten vor Einsamkeit. Sammlungen werden gemieden, weil sie nicht in die Sehgewohnheiten der Engländer passen, sie weichen zu sehr von festgefahrenen Vorstellungen ab.«

»Dabei sollte es andersherum sein«, meinte sie. »Menschen sind merkwürdig.«

»Du sagst es. Wenn man doch die Kruste in so manchem Kopf zerbersten könnte, um ihn auf ein hoffentlich bewegendes Jahrhundert einzustimmen.«

Erneutes Schweigen.

Eine behagliche Wolke begann sich in meinem Hirn auszubreiten, mengte sich mit synkopischen Geräuschen eines endenden Tages; dem lauten Willen des Dienstmädchens, ihren Träumen zu begegnen – le rêve americain; der durchdringenden Zurückhaltung Mutters im Salon. Wie konnte aus einem einstigen Wildfang, der entgegen jegliche Etikette unverheiratet mit einem Abenteurer durchgebrannt war, derart Bitteres sprechen?

»Dir fehlt Vaters Gesellschaft, richtig?«

Ich gähnte, sah verschwommene Bilder gemeinsamer Reisen nach Deutschland, nach Österreich, Italien. Gleich seinen Aquarellen verliefen die Eindrücke wie Farben ineinander, schufen sich überlagernde Ebenen aus Melancholie und Pathos, Sentimentalem. »Am meisten vermisse ich seine lebensbejahende, fröhliche Art, sein Lachen.«

»Ewig wirst du nicht mit ihm auf Richard Wagners Spuren wandeln oder die Ruinen des Colosseums erklimmen«, insistierte Thora unerwartet. »Du kannst dich nicht zurücklehnen und tagein, tagaus die Sterne betrachten.«

»Das tue ich doch gar nicht, ich lese eine Menge.«

»Denk weiter, Eileen. An keinem einzigen jungen Mann uns bekannter Familien zeigst du Interesse. Mir scheint, du willst dich nicht verlieben, geschweige denn heiraten.« Sie rieb sich die Augen, sagte: »Als behäbige Jungfer wirst du enden, die Kranken und Siechenden pflegen.«

»Du klingst schon wie Mutter.« Mich bestürzte, wie sie die Worte aussprach. Wie sie Liebe, Ehe und Kindererziehung Glorie verlieh, ich sah sie nicht.

»Was hast du nur vor mit deinem Leben?«

Eine Frage, die ich mit meinen siebzehn Jahren vor mir herschob, die mich zunehmend beunruhigte, sobald ich über sie nachdachte. Die in meinem Kopf umherwogte wie aufgestörtes Wasser inmitten dichten Schilfgrases. Ich musste Enniscorthy entfliehen, eine Tatsache, doch vorerst alles, was ich wusste. Ich wollte nicht länger dazugehören, die zur Schau gestellten Attitüden meiner Verwandtschaft ertragen, den starren Vorstellungen von Anstand und Schicklichkeit entsprechen. Ich musste nach einem Ort suchen, an dem ich mich zu Hause fühlte, geborgen, an dem ich vollkommen ich sein konnte.

Das war das eine. Das andere waren meine Gefühle, über die ich noch nicht einmal mit Thora zu reden wagte. Ich konnte sie nicht vollständig begreifen.

Sie verwirrten mich.

SEPTEMBER 1921

Paris. 20, rue Jacob …

An späten Freitagnachmittagen war der Pariser Himmel angefüllt von lieblichen Klängen aus dem temple de l’amitié Natalie Clifford Barneys, ihrer selbst ernannten ›Académie des Femmes‹, das Pendant zur damals ausschließlich Männern vorbehaltenen ›Académie Francaise‹. Die unkonventionelle Bohemienne wohnte um die Ecke, wenige Meter von meinem Appartement entfernt. Ihren literarischen Salon umrankten ebenso viele Gerüchte wie den von Gertrude Stein in der Rue de Fleurus. Ich kannte die charismatischen Amerikanerinnen seit Langem, ohne ihre Leidenschaften und Lustbarkeiten je intensiver geteilt zu haben; ab und an jedoch trafen wir einander, redeten über la poésie pure, atmeten Inspiration.

Ich denke, wir alle wollten in jenen Zeiten die Muse küssen, von der Muse geküsst werden. Gemeinsam mit den jungen Buchhändlerinnen Adrienne Monnier und Sylvia Beach, die ihre Geschäfte mittlerweile beide in der Rue de l’Odéon betrieben, bildeten sie links der Seine ein weibliches Zentrum, das mit dem Ende des Krieges die kulturelle Landschaft der Stadt zu verändern begonnen hatte. Der Stimmungswandel war deutlich zu spüren. Frauen, die sich in den vergangenen Jahren aufopferungsvoll um Verwundete gekümmert und den Platz ihrer Männer eingenommen hatten, waren nicht bereit, die erworbene Eigenständigkeit wieder aufzugeben. Warum auch? Machtvoll drängten sie weiterhin in die Privilegien, in die Berufe, gründeten Verlage, Druckereien. Schrieben. Amerikanischen Bürgern schienen diese Entwicklungen wie ein Magnet, ein Sehnsuchtsort; und tatsächlich kamen mittlerweile täglich Scharen über den Ozean herbeigepilgert, mehr und mehr, als hätte sie eine gewaltige Welle erfasst und in die Häfen der Alten Welt gespült. Sie entflohen den Verboten, den Unterdrückungen des ungeliebten Vaterlandes. Insbesondere die Prohibition, the noble experiment, wirkte auf viele Kreative eher wie ein unehrenhafter Versuch, Verbrechen und Korruption in den Staaten einzudämmen. Unzählige Künstlerinnen kolonisierten unser Viertel, es versprach Aufregung. All die Frauen besaßen etwas Fortschrittliches, Progressives, jede auf eigene Weise, sie bereicherten die Left Bank mit mutigen Ideen. Dabei war Paris ihnen in seiner Einstellung gegenüber keineswegs liberaler als Amerika oder auch England, Ausländerinnen aber wurden hier ungehindert der Ruhe überlassen. Paris ließ uns die Individualität, unser Leben; der Grund, warum auch ich einst gekommen und nie wieder gegangen war.

»Ich weiß nicht, warum du es schaffst, mich heute zu diesem zweifelhaften Vergnügen zu überreden«, äußerte ich meine Bedenken, während ich den Schal unter dem Revers des dunklen Jacketts zurechtrückte. Das ›Ja‹ sagen ist einfacher als das ›Nein‹ sagen. »Ich sollte meiner Arbeit nachgehen.«

»Man sollte sich stets ein wenig mehr vom Leben nehmen, als es enthalten mag«, zitierte Damia Miss Barneys Worte, hakte sich unter und zog mich weiter zu der Kutscheneinfahrt des jahrhundertealten, baufälligen Stadthauses, in dessen hinterem Teil unsere Gastgeberin wohnte. »Wenn ich mir vorstelle, dass einst die Mätresse von Louis XIV hier logiert hat …«

»Die Barney hätte sie mit Haut und Haaren verschlungen.«

»Einzig mögliche Antwort.«

Sie ignorierte gesellschaftliche Tabus. Verstand sich beispiellos auf Affären und Verhältnisse, zu zweit, zu dritt. Betörte, um Herzen zu brechen; liebte, weil sie begehrte, obgleich Männern ein ausschließlich geistiges Interesse galt. Natalie bekannte sich in Paris ungehemmt ihrer lesbischen Lebensweise, eine Tatsache, die es in den Staaten und anderwärts weiterhin zu verheimlichen galt, die fortwährend unter Strafe stand. Möglicherweise ist jenes Stillschweigen das letzte Stück Irin in mir …

Unser Lachen hallte am Gemäuer hinauf. Nah am Fenster der Räume über dem Torbogen bewegte sich ein Vorhang, sicher Berthe, das treue Dienstmädchen Natalies. Die Klänge gerieten lauter, je näher wir dem Innenhof kamen. Hinter einem rostigen Gatter, vor Blicken verborgen, lag der wild wuchernde Garten, darin die Nachbildung eines dorischen Tempels. Der Salon war talk of the town, ein ständiger Skandal. Die Amazone empfing Menschen jeglicher Couleur. Alte Opulenz traf auf vergnügungssüchtiges neues Geld, auf Künstler. Ansichten kühner Literaten mengten sich unter die Stimmen gewogener Philosophen. Dadaisten und Surrealisten diskutierten mit den Anhängern Prousts; Natalie verzehrte sich nach den Schriften des Autors, gedachte noch immer seinem Prix Goncourt. Andere machten weiterhin L’écriture automatique, das automatische Schreiben Bretons und Soupaults zum Thema. Man geriet in Kontroversen, als zöge es einen zwischen magnetischen Feldern umher, ein Wollen, ein Nichtwollen, dazwischen Spannung. Würden diese ungefilterten Denkströme die Literatur verändern?

Bouquets langstieliger Callas. Unter freiem Himmel drängte alles an Tabletts auf Eis getürmter Seeigel und Sorbets vorüber. Blondinen zupften in fließenden Togen an den Saiten ihrer Harfen, harrten zuweilen in traumversunkener Pose. Klänge der Sirenen, sapphische Idylle.

Einige Räume des Appartements wurden von einem Schimmer des Gartens durchflutet, als wohnte das Außen im Innen. Ich schritt allein durch die abgestandene Luft des Erdgeschosses. Sah die beiden geometrisch gewebten Wollteppiche an der Wand hängen, die Natalie vor Jahren bei mir gekauft hatte; erste abstrakte Versuche, Anklänge des Kubismus in einem subtilen Spiel von Linien und Flächen wiederzugeben. Fremdlinge zwischen Dutzenden blinden Spiegeln, orientalisch gemusterten Samtkissen wie auch einem Piano, das sich entlang der Schrägkante warf und von Vergangenem kündete, der verlorenen Zeit. Im Esszimmer ließ ich mir von einem livrierten Butler ein Glas Chablis einschenken, trank einen großen Schluck, ihn kühl die Kehle hinunterrinnen zu spüren tat gut. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes fraß eine mit Strass besetzte Schildkröte inmitten von Bergen glasierten Schokoladenkuchens an einem Gurkensandwich. Gedankenverloren beobachtete ich den ledrigen Kiefer, das stete Auf und Ab vor dreieckig Geschnittenem. Hörte Dolly Wilde, die Nichte Oscars, mit gerümpfter Nase monologisieren: »Dieses Haus ist so muffig und feucht, man könnte Austern unter den Stühlen züchten.« Hörte flüchtige Bekannte aus dem Umfeld der Rue de l’Odéon im Gespräch: »Proust und Joyce an einer Tafel? Welch gewagte Hypothese.«