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Mai 1924: Zelda und F. Scott Fitzgerald beschließen, ein Jahr lang der Hektik New Yorks zu entfliehen. Das rebellische Südstaatenmädchen hat sich an Scotts Seite zum glamourösen Star jeder Party entwickelt. Aber während er in Südfrankreich an ›Der große Gatsby‹ schreibt, dem Roman, der Schulden begleichen und ersehnten Weltruhm bescheren soll, fängt der lebenshungrige Flapper an, sich zu langweilen. Und zum ersten Mal seit langem beschäftigen Zelda Gedanken an die eigene künstlerische Selbstverwirklichung. Sie begreift, dass Scott ihr Talent für seine Bücher ausnutzt und ihre Schreibambitionen geschickt verhindert. Als junge Mutter überfordert und als Ehefrau enttäuscht, stürzt sich Zelda in den »Sommer der 1.000 Partys« und beginnt eine Liaison mit dem Piloten Édouard Jozan. Die Ménage-à-trois ist Auftakt einer bühnenreifen Ehekrise, gleichzeitig befeuern Zeldas Kapriolen Scotts Kreativität – ungeniert bedient er sich an ihrer beider Leben, um seinen Jahrhundertroman über verlorene Illusionen und die große Liebe zu schreiben. Wird das schillernde Literatenpaar das Drama überstehen?
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Seitenzahl: 554
Veröffentlichungsjahr: 2021
Mai 1924: Zelda und F. Scott Fitzgerald beschließen, ein Jahr lang der Hektik New Yorks zu entfliehen. Das rebellische Südstaatenmädchen hat sich an Scotts Seite zum glamourösen Star jeder Party entwickelt. Aber während er in Südfrankreich an ›Der große Gatsby‹ schreibt, dem Roman, der Schulden begleichen und ersehnten Weltruhm bescheren soll, fängt der lebenshungrige Flapper an, sich zu langweilen.
Und zum ersten Mal seit Langem beschäftigen Zelda Gedanken an die eigene künstlerische Selbstverwirklichung. Sie begreift, dass Scott ihr Talent für seine Bücher ausnutzt und ihre Schreibambitionen geschickt verhindert. Als junge Mutter überfordert und als Ehefrau enttäuscht, stürzt sich Zelda in den »Sommer der tausend Partys« und beginnt eine Liaison mit dem Piloten Édouard Jozan. Die Ménage-à-trois ist der Auftakt eines bühnenreifen Ehedramas, gleichzeitig befeuern Zeldas Kapriolen Scotts Kreativität – ungeniert bedient er sich an ihrer beider Leben, um seinen Jahrhundertroman über verlorene Illusionen und die große Liebe zu schreiben. Wird das schillernde Literatenpaar die Krise überstehen?
© Annette Riedl
JOSÉPHINE NICOLAS ist das Pseudonym von Christiane Adlung. Sie wurde in Hannover geboren und absolvierte mehrere Studiengänge im Bereich Kunst und Design. Die Autorin hat ein Faible für die Roaring Twenties, ›Der große Gatsby‹ zählt zu ihren Lieblingsromanen. Die Faszination für Zelda Fitzgerald entdeckte sie beim Lesen der Liebesbriefe an Scott, aber auch durch ihre lange unveröffentlicht gebliebenen Kurzgeschichten. ›Tage mit Gatsby‹ ist Christiane Adlungs erster Roman. Sie lebt in Berlin und Nizza.
Joséphine Nicolas
TAGE
MIT
GATSBY
Roman
© Joséphine Nicolas 2021
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Michael Gaeb.
eBook 2021
© 2021 DuMont Buchverlag, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln unter Verwendung einer Illustration von Roger Broders
Satz: Fagott, Ffm
eBook-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck
ISBN eBook 978-3-8321-7096-7
www.dumont-buchverlag.de
Sometimes I don’t know
whether Zelda and I are real
or whether we are characters
in one of my novels.
PROLOG
Irgendwann hatte er einmal behauptet, dass das Verb in einem Satz das Wichtigste sei. Er sollte es wissen, denn Scott brachte wunderbare Geschichten zu Papier. Ich bin trotzdem anderer Meinung. Der ganze Satz ist wichtig. Schließen Sie die Augen und denken Sie an Ihre erste große Liebe. Schon nach wenigen Momenten werden Sie feststellen, dass dieser Mensch, der sehr wahrscheinlich noch einen verborgenen Winkel Ihres Herzens bewohnt, nicht allein mit Verben zu umschreiben ist. Er ist viel mehr als ein zusammengekehrter Haufen romantischen Tuns, er ist ein kaleidoskopisches Gefühl. Und dieses Gefühl schwebt plötzlich im Raum; von der Morgensonne geküsst, wird es leicht und leichter, verwandelt sich in Magie. Ein zartes Herzklopfen schmilzt zu einem Klang von Worten, die in ihrer Komposition an das Flattern irisierender Käferflügel erinnern, vielleicht intensiver werden und in eine melodiöse Satzkaskade, eine Orchestrale gleiten.
Tatsächlich beschreibe ich hier meine eigenen Gefühle, wenn ich an Scott denke. Scott. Dieser Mann war meine erste große Liebe, und noch heute – mehr als zwei Jahrzehnte später – funkelt in meiner Erinnerung jedes einzelne Wort klar und deutlich wie ein geschliffener Diamant. Lange Zeit habe ich gedacht, dass sich das niemals ändern würde. Die Welt drehte sich damals schneller, doch wir waren ihr stets ein unverschämtes Stück voraus. Wir lebten für den Augenblick, für die Leidenschaft. Nichts und niemand konnte uns aufhalten. Wir waren jünger, schöner, erfolgreicher. Wir waren vollkommen.
Ohne uns wären die Roaring Twenties ein staubtrockenes Ereignis geworden, dessen bin ich mir gewiss. Scott und ich sprühten vor Ideen. Wir wirbelten durch Manhattan, badeten nachts in den Springbrunnen der Stadt, tanzten durch die Prohibition und brachten die nicht leicht zu beeindruckende New Yorker High Society zum Staunen. Mit unserer Unbändigkeit streuten wir Glitzer auf die Tristesse der anderen und bestimmten die Schlagzeilen des nächsten Tages. Die amerikanische Presse liebte uns. Die riesigen Lettern schlugen Kapriolen auf den Titelblättern wichtiger Gazetten, sezierten »das Leben des sagenumwobenen Jazz-Age-Chronisten und seiner glamourösen Zelda«. Sie alle suchten nach dem Geheimrezept der Fitzgeralds, diesem atemberaubenden Paar, das klug und kultiviert und doch so impulsiv sei. Die Gerüchte über uns schwirrten wie aufgeregte Mädchen über die Fifth Avenue, sie lärmten und krachten, stoben übermütig in alle Himmelsrichtungen. Dabei waren wir einfach nur der Eintönigkeit davongelaufen, dieser entsetzlichen Langeweile in den Köpfen der Menschen, die nichts als abgenutzte, fade Ansichten produzierte.
Nach dem Großen Krieg änderte sich die Welt gewaltig. Ein neues Zeitalter brach an. Ich hatte nie verstanden, warum sich junge Damen mit einer eigenen Meinung hinter den Widerspenstigkeiten ihres Ehemannes verstecken sollten, da ich schon immer tat, was ich tun wollte. Endlich entledigten sich die braven Debütantinnen ihrer Häubchen, unter denen viel zu lange die sittsamen Attitüden ihrer Großmütter gehockt hatten. Mir war, als kletterten diese Frauen plötzlich aus ihren Poesiealben heraus, schüttelten die Bescheidenheit nostalgischer Glanzbilder von ihrem Selbstbewusstsein und ahmten mich nach: Sie begannen zu leben. Sie schnitten sich die Haare ab, flanierten mit endlos langen Zigarettenspitzen durch die Straßen und küssten, wen sie wollten, wann sie es wollten. Sie variierten ihre Unschuld mit der Länge ihrer Röcke, mit der Zartheit ihrer Strümpfe. Die jazzgetränkten Nächte gehörten ihnen, ihnen allein; und das korallenrote Rouge auf ihren Wangen leuchtete über den kühlen, glatten Asphalt der Metropolen bis weit in den Tag hinein. Sie kokettierten mit Intellekt, mit Mut.
Ungefähr zu jener Zeit, als ich meine ersten Schreibversuche wagte, klagte man Margaret Anderson und Jane Heap wegen der Verbreitung obszöner Schriften an, da sie in ihrer Zeitschrift The Little Review Auszüge aus James Joyces Ulysses abgedruckt hatten.
Mich erfüllten solche Skandale mit einer Vorahnung auf Veränderungen. Die Leute sprachen damals vom Untergang des Abendlandes und rümpften die Nasen, doch es war der Anfang von allem. Die Lethargie an der Seite eines Mannes hatte ein Ende, und ich war der Prototyp dieser modernen Rebellin. Ich gefiel mir in meiner Rolle als Flapper. Beinahe täglich dachte ich mir Verrücktheiten aus, sie zogen eine Menge Aufmerksamkeit auf sich. Die vielen Bewunderer schmeichelten mir, und Scott wiederum liebte es, wenn man mich bewunderte. Es inspirierte ihn. Er schrieb über mich als junges Mädchen, als Frau, als Mutter, Diva, Muse. Unser Dasein wurde zur Blaupause seiner Geschichten, und allmählich begannen die Dinge für mich zu verschmelzen. Ich wusste nicht mehr, ob ich tatsächlich existierte oder eine seiner Romanfiguren war. Die Leute entdeckten in mir Rosalinds Art zu sprechen, Glorias lasziven Augenaufschlag. Anscheinend lachte ich wie Daisy. Wer war ich? Musste ich denn überhaupt wissen, wer ich war?
Wir lebten immer schneller, feierten in jede Morgendämmerung hinein, und die länger werdenden Sonnenstrahlen tasteten unablässig nach den Grashalmen an der Küste Long Islands, wo wir einst wohnten, nach dem salzigen Meer. Sie berührten unsere Jugend, betörten sie mit malvenfarbener Ewigkeit. Sie würde nie enden. Wir taumelten im Glück, im unendlichen amerikanischen Traum.
Damals kannten wir Hemingway noch nicht. Er sollte Scott viele Jahre später schreiben: »Du hast so verdammt viel Wert auf das Jungsein gelegt, mir scheint, du hast Erwachsenwerden mit Altwerden verwechselt.« Ich habe diesen Mann verabscheut, doch wenn ich ehrlich bin, enthielten seine kurzen, rauen Sätze stets etwas Wahres. So bitter diese Erkenntnis auch sein mochte, Scott und ich mussten uns irgendwann eingestehen, dass wir Angst vor dem Verlust des Moments hatten – er sollte nie vergehen. Wie hätte ich ahnen können, dass er längst verloren war? Ein Hauch von Zerfall hat etwas Charmantes, man spürt ihn wie ein leichtes Prickeln auf der Haut, doch Ereignisse schreiten voran, und früher oder später reißen sie jäh alle Illusionen mit sich. Schließlich erkannten wir, dass sich die Zeit nicht anhalten ließ, und wir begannen tatsächlich alt zu werden.
Dies ist eine Liebesgeschichte, ich erzähle von Scott und mir, mir und Scott. Wir hatten unsere Herzen aneinander verloren, und wir waren bereit, sie niemals wiederzufinden. Wir waren bereit, unser Leben für den anderen aufzugeben. Wir glaubten an die Ehe, an das unschätzbar Wertvolle, das wir miteinander teilten. Aber Menschen sind kompliziert; sie geraten in Situationen, die sie nicht erklären können, die sie später aufrichtig bereuen. Sie handeln von Leidenschaften, von Widersprüchen, Schmerz. Wahrheit. Es sind Situationen, die sie ein Leben lang verfolgen. An denen manche gar zerbrechen. Zu lieben ist nicht immer einfach.
So war es auch bei uns.
In jenem Sommer 1924, als Scott Der große Gatsby schrieb, änderte sich alles. Zuerst verließen diese fremdartigen Vögel ihre Schlafplätze in den Kastanienbäumen. Mit empörtem Gekreische stoben sie gen Horizont, und dann verschluckte sie die schwarz glänzende Nacht über dem Meer. Sie kamen nie wieder, hinterließen eine Vergangenheit, die vorüber war und der wir doch nicht entrinnen konnten. Denn alles beginnt und endet mit Aufbrüchen, wie ich inzwischen weiß, und wäre ich damals nicht zu jung gewesen, um es zu verstehen, hätte ich mein Herz vielleicht vor viel Leid schützen können.
ERSTER TEIL
NEW YORK/PARIS, 1924
I don’t want to live –
I want to love first and live incidentally.
Zelda Fitzgerald
KAPITEL 1
»Vielleicht bin ich ein hoffnungslos romantischer Egoist, aber ich finde meine Wehmut gerade ergreifend schön.« Er betrachtete mich mit seinen leuchtenden eisgrünen Augen. In dem beinahe klassisch geschnittenen Gesicht mit der hohen Stirn und dem fein geschwungenen Mund war diese Farbe, die mit seinen vielfältigen Launen changierte, das Bemerkenswerteste. Sie bewahrte seine Geheimnisse.
Die nächtlichen Geräusche der Stadt drangen durch das geöffnete Taxifenster. Ich vernahm das Rauschen der Markisen eines Grand Hôtels im Wind, das zischende Dampfen der Schächte aus der Unterwelt, weit entfernt das Vibrieren der Motoren. Das Lachen einer jungen Frau in einem Eichhörnchenmantel überlagerte den zögernden Rhythmus der Nacht. New York schlief nie, doch im Augenblick schlummerte es ein wenig. Immer wieder warfen die Lichtkegel unseres Automobils tanzende Schatten in die Dunkelheit, verliehen Mauern und Hydranten fremde Konturen. Während dieser Fahrt durch die Avenuen schweiften mir viele Gedanken durch den Kopf und schienen an jeder Kreuzung die Richtung zu ändern. Als in der Ferne die Silhouette des Hafens auftauchte und die ersten zum Aufbruch mahnenden Schiffshörner ertönten, lehnte ich mich an Scotts Schulter und sog seinen vertrauten Geruch ein.
»Alles wird gut.« Er klopfte auf die abgegriffene braune Ledermappe neben sich, in der er die ersten Seiten seines begonnenen Manuskripts verwahrte, dann nahm er meine Hand, verschränkte unsere Finger ineinander und drückte sie fest zusammen.
Wir hatten beschlossen, unserem Leben in Europa eine Wendung zu geben, uns neu zu erfinden, und nun war der Moment gekommen. Mit jeder Meile, die wir uns auf dem Weg zur SS Minnewaska weiter von unserer Villa in Great Neck entfernten, spürte ich den Abstand zwischen mir und einem Amerika, das sich immer tiefer unter einer selbstgefälligen Schicht der Dekadenz verkroch. Ich war bereit für ein neues Abenteuer. Ich war bereit für ein neues Leben. Endlich wollte ich Vertrautes hinter mir lassen und der Mensch werden, der mir in meinen kühnsten Träumen schon ewig erschienen war. Mit Scott an meiner Seite konnte ich mir alles vorstellen. Auch wenn ich noch nicht wusste, was mich dort drüben erwartete, hatte ich bereits das Gefühl, dass mein Herz im Takt der Alten Welt schlug. Es war, als würde dieses französische laisser-faire nur auf uns warten. Ich sah in Paris die unzähligen Cafés vor mir; die quirligen Menschen auf den breiten, mit Platanen gesäumten Boulevards. Dachte an die Seine, die unter den moosbewachsenen Brücken mit den schmiedeeisernen Geländern hindurchfloss. Dieser perlgraue Himmel, von dem alle sprachen. Und dann der Eiffelturm, in den ich mich verlieben wollte. Im Süden schließlich würden wir im Schatten riesiger Pinien sitzen, Orange Blossoms trinken und in der Abenddämmerung den Glühwürmchen beim Flirten zusehen. Ich nahm mir felsenfest vor, diesem Land mein Herz zu schenken.
*
»Ach, Zelda«, hatte Mutter geseufzt, als ich sie vor einigen Tagen anrief und enthusiastisch von unseren Plänen erzählte. »Warum wirst du mit deinen fast vierundzwanzig Jahren nicht langsam erwachsen und beginnst, die richtigen Entscheidungen zu treffen?«
»Europa wird großartig.« Ich spürte meine Freude in sich zusammensinken. »Wir werden völlig neu anfangen.« Ein Knistern war in der Leitung zu hören, und mir kam der Gedanke, Mutters nervöse Anspannung, ihre Vorwürfe, ihre Sorgen, würden sich von Alabama durch das Kabel winden, nur um mir in New York ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Wie erstaunlich schnell doch diese Frau meinen Gefühlen einen Dämpfer versetzen konnte. Dabei war ich ihre liebste Tochter gewesen, ihr spätes Glück. Bis zu jenem Tag, an dem ich Scott kennengelernt hatte.
»Glaubst du wirklich, dass ein anderer Kontinent ein geregeltes Leben bedeutet?« Abermals gab sie einen tiefen Seufzer von sich. »Welche Aussichten könnt ihr dort drüben der kleinen Scottie bieten? Das Kind ist keine drei Jahre alt. In Europa lauern Krankheiten, die wir hier noch nicht einmal aussprechen können.«
»Scottie ist kerngesund«, entgegnete ich trotzig.
»Und was ist mit euren Schulden?«, überging sie meinen Einwand. »Ich kann noch immer nicht fassen, dass du von deinen vielen Verehrern ausgerechnet diesen Schriftsteller heiraten musstest.«
»Er ist der Richtige.«
»Sei nicht naiv, Liebes.«
Tatsächlich waren die Dinge in der letzten Zeit ein wenig aus den Fugen geraten. Dabei mochte ich es, wenn nicht alles nach einem geordneten Rhythmus ablief. Das Durcheinander gehörte zu mir wie die Narbe an meinem linken Knie oder die durchtanzten Ballettschuhe an der Türklinke meines Mädchenzimmers in Montgomery.
Bevor ich etwas hatte erwidern können, hörte ich am anderen Ende der Leitung im Hintergrund das altvertraute Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloss herumdrehte. Im folgenden Augenblick schlug die mächtige Standuhr im Salon sechs Mal. Vater war von der Arbeit heimgekommen. Ich wusste, dass er gleich den Teppich mit den verschlungenen Seerosen in der Halle betreten würde; jener Teppich, der während meiner seltenen Besuche stets andere Erinnerungen in mir hervorrief. Die vielen Purzelbäume, die ich darauf geschlagen hatte, wenn ich mich unbeobachtet fühlte. Das Murmelspiel. Himmel und Hölle. In solchen Momenten fragte ich mich, ob es meinen drei älteren Schwestern, zumindest aber meinem Bruder Anthony, genauso erging, ob sie ähnliche Andenken in ihren Herzen aufbewahrten wie ich, ihre Kindheit fühlen konnten. Oder ob sie alles vergessen hatten. Ich wusste, dass Vater als Nächstes seinen dunkelblauen Mantel auszog, er würde ihn an den hölzernen Haken der Garderobe hängen, den Hut auf die Konsole legen, sein Haar glattstreichen. Er würde die Krawatte zurechtrücken und mit spröden Lippen den Satz formen: »Was gibt es zu essen?« Seine Bewegungen waren stets dieselben, wenn er nach Hause kam, sie waren verlässlich. Beständig. Als junges Mädchen hatte ich angenommen, dass nur ein Mann mit einer solchen Kontrolle über sich und sein Leben das Amt eines Richters ausführen dürfte, und ich war nicht müde geworden, meiner Freundin Tallulah diese Erkenntnis mitzuteilen. Undeutlich hörte ich ihn Mutter durch das Rauschen in der Leitung fragen, wer am Telefon sei, schließlich vernahm ich seine Stimme klar und deutlich.
»Was hast du nun wieder angestellt?«, fragte er in einem forschen Ton, der vermuten ließ, dass er einen anstrengenden Tag am Supreme Court hinter sich gebracht hatte.
»Anfang Mai haben wir eine Schiffspassage nach Europa gebucht. Nach Cherbourg.«
»Warum?«, kam es knapp zurück.
Diese gepressten Worte fühlten sich nicht gut an. Sie waren durchdringend, demonstrativ, ließen mich an ein Verhör mit einer Tochter denken, die ihn allzu oft enttäuscht hatte und ihn höchstwahrscheinlich immer wieder enttäuschen würde. In Vaters Augen war ich kein mustergültiges Kind gewesen. Meine leichtfertige Sicht auf das Leben, die völlige Unbekümmertheit angesichts der Realitäten des Daseins, hatte er mir einst erzürnt während eines Streits vorgeworfen, stünden im Widerspruch zu seinem Bild einer guten Tochter, einer richtigen Ehefrau und wahren Südstaatenschönheit. Ich bin doch kein Püppchen, das man hübsch gekleidet nach dem Spielen in der Ecke vergisst. Von jenem Augenblick an war mir klar gewesen, dass ich seinen Vorstellungen, so sehr ich mich auch anstrengen mochte, niemals gerecht werden würde.
»Scott arbeitet an einem neuen Manuskript. In Frankreich findet er mehr Ruhe zum Schreiben.« Ich holte Luft und lachte gezwungen auf. »Er hat beschlossen, als einer der größten Schriftsteller in die Literaturgeschichte einzugehen. Vielleicht nicht gerade Shakespeare, aber doch unmittelbar dahinter.«
Ich war mir nicht sicher, ob Vater Scotts Romane oder seine Kurzgeschichten gelesen, ob er zumindest die Rezensionen in der Presse überflogen hatte. Er verlor kein Wort darüber. Doch Amerika sprach über die Erzählungen, über diese ungenierten Zeilen voll schöner Menschen, überbordender Partys, Jazz, Alkohol. Hinter vorgehaltener Hand auch über die angedeutete Sinnlichkeit. Und Sex. Selbst Vater musste davon gehört haben. Irgendetwas musste bis zu seinen Ohren vorgedrungen sein.
»Du weißt, was ich von meinen fünf Kindern erwarte, Zelda«, polterte er, bebende Töne, einem herannahenden Gewittergrollen gleich. »Haltet meinen guten Namen in Ehren. Letztendlich mag es das Einzige sein, was ihr auf der Welt haben werdet.«
Als Nächstes vernahm ich ein metallisches Klicken. Vater hatte den Hörer eingehängt. Damit schien wieder einmal alles gesagt. Seit ich denken konnte, war er mir wie eine lebende Festung vorgekommen, wie eine Mauer aus Unbescholtenheit, Disziplin und Gesetzestreue. Er war der Mann, der mich einst im Schein bunter Lampions auf der Veranda vor meinen Freunden als ›Flittchen‹ zu beschimpfen wusste.
Ein weiteres Mal atmete ich tief durch und ballte eine Hand um das Telefonkabel zur Faust, bis meine Knöchel eine weißliche Farbe annahmen, noch weißer wurden, schmerzten. In Europa würde es mir anders ergehen. Europa gehörte mir.
KAPITEL 2
»Ladys, jetzt ist Schluss mit dem Getöse«, hatte Scott vor mehreren Wochen entschlossen zu der Kleinen und mir im Kaminzimmer gesagt und das akribisch geführte Haushaltsbuch, seinen Ledger, zugeschlagen. Das Frühjahr begann sich gerade aus den letzten Schneewehen zu schälen, vereinzelt blitzten Krokusse im ersten Grün des Jahres auf. »Wir müssen unser Budget kürzen.«
Scottie und ich saßen an jenem Nachmittag in eine Wolldecke gehüllt auf dem ledernen Chesterfield-Sofa und blätterten in meinen Modemagazinen herum. Das Feuer prasselte in einem ruhigen, gleichmäßigen Ton. Manchmal stob ein glimmender Funke durch die Luft und wirbelte die Erinnerung an Maiskolben mit geschmolzener Butter eines spätherbstlichen Barbecues in den Raum.
»Was meinst du?« Gähnend ließ ich die Vogue auf meinen Schoß sinken und schaute Scott fragend an.
»Unsere Angestellten werden zu teuer. Ich habe es soeben errechnet, von ihren Löhnen könnten wir dir einmal monatlich genauso gut einen Diamantring kaufen.«
»De Beers?« Geziert streckte ich meine Hand aus und drehte sie im Lichtschein herum. »Gebündelt? Gereiht? Habe ich dir je gestanden, dass mich die Steine einzeln gefasst schrecklich melancholisch stimmen?«
»Zelda!«, ermahnte er mich. »Die Lage ist ernst. Dieser aufwendige Lebensstil fordert seinen Tribut. Dreihundert Dollar Miete, neunzig Dollar für die Nanny. Wir können uns den Luxus einer Köchin und eines Gärtners nicht mehr leisten.«
»Was willst du damit sagen?«
»Einer von beiden muss gehen.«
»Aber du hast doch bereits die Waschfrau entlassen.« Verdrossen fügte ich hinzu: »Was meiner Meinung nach ein Fehler war.«
»Ein Fehler«, plapperte mir die Kleine fröhlich nach und zog sich die Decke über den Kopf.
»Ein notwendiges Übel.« Scott verzerrte das Gesicht auf schmerzliche Weise, eine Mimik, die er einzusetzen wusste, und nickte nachdrücklich. »Auch wenn ich den Rest meines Lebens kein sauberes Hemd mehr tragen werde.«
»Was ist aus deiner Aktie geworden? Vielleicht solltest du sie irgendeinem neureichen New Yorker verkaufen?«
»Ach, dieses Stückchen Unglück«, winkte er ab. »Das Thema ist abgehakt. Also, was meinst du? Könntest du deine Kochkünste ein wenig aufpolieren?«
»Ich soll mir eine Schürze umbinden?«, rebellierte ich. »Genauso gut könnte ich mich auch ins letzte Jahrhundert fallen lassen.«
»Eine fantastische Gelegenheit, endlich einmal wieder Charles Dickens zu erwähnen. Niemand weiß Armut und Missstände brillanter zu beschreiben als er. Könnte sein«, meinte Scott, »dass ich es demnächst besser kann.«
»Nun übertreibst du.«
»Nein.«
Mit meinen Küchenkenntnissen stand es nicht zum Besten: Ich war in der Lage, ganz passable Sandwiches zu belegen, wenn genügend Zutaten im Haus waren, und ich konnte eine fantastische Pink Lady mixen (das Eiklar einfach weglassen!). Doch auch die Gartenarbeit verursachte mir Unbehagen. Eine Frau wie ich hatte aufregendere Qualitäten zu bieten.
Weit ließ ich die Gedanken zurückschweifen, dachte an Joseph, den gutmütigen schwarzen Gärtner meiner Eltern, der seine Augäpfel schnell wie Roulettekugeln rollte, wenn ich ihn als junges Mädchen darum gebeten hatte. Wann immer ich aus der Schule kam, sah ich ihn mit einem riesigen Schlapphut zwischen den Gemüsebeeten herumlaufen, eine Melodie summend oder ein Lied singend. Sein voluminöser Bass hatte mich fasziniert. In meinen Kinderohren klangen diese Töne ein bisschen verwegen, nach einer anderen, unbekannten Welt, die mir damals viel aufregender erschien als meine eigene. Joseph hatte ich mit meinem Unfug stets zum Schmunzeln gebracht. Sie sind einzigartig, kleine Miss.Haben Sie die Feuerwehr wirklich selbst gerufen, bevor Sie auf den Dachfirst geklettert sind und die Leiter weggestoßen haben?
Scottie krabbelte mit abenteuerlustigem Blick unter der Decke hervor und verdrängte die Bilder längst vergangener Zeiten aus meinem Kopf. Übermütig begann sie auf dem Sofa herumzuhüpfen. Das Einzige, was man mir wirklich anvertrauen konnte, waren meine Auftritte in der New Yorker Szene, die ich kühn zu variieren wusste. Diese Show beherrschte ich perfekt, ich hatte sie besser einstudiert als die Revuegirls der Ziegfeld Follies es je könnten. Doch ich wusste, dass nichts daran Scott momentan zufriedenstellen würde. Welche Alternative blieb mir an der Seite eines Schriftstellers? »Was ist mit einer weiteren Kurzgeschichte? Haben sie uns bisher nicht aus jedem Schlamassel gerettet?«
»Zelda, in den letzten Monaten habe ich zehn Geschichten geschrieben, um uns über Wasser zu halten. Zehn! Ich will mir die Nächte in dem kalten Zimmer über der Remise nicht mehr mit irgendwelchen albernen Storys vermiesen, um schnelles Geld zu verdienen. Das ist demütigend.«
»Vielleicht denkst du dabei auch mal an mich?« Ich war empört. »Es ist weitaus demütigender, zwischen all diesen Fledermäusen über das dunkle Grundstück zu laufen, nur um dir eine Tasse Kaffee nach der nächsten zu bringen.«
»Ich möchte endlich einen guten Roman schreiben, etwas Ernsthaftes. Ein Meisterwerk, verstehst du? Aber dafür brauche ich Zeit und Ruhe.«
»Und Geld«, stichelte ich. »An deiner Stelle würde ich augenblicklich zum Stift greifen und einige Sätze über das Ganze zu Papier bringen.« Grübelnd schaute ich ins Feuer. »Wie man 36000Dollar im Jahr verprassen kann wäre ein Titel, der unsere Situation hervorragend zusammenfasste. Das ist es, was die Leute lesen wollen. Die Saturday Evening Post würde es dir aus den Händen reißen.«
Scott horchte auf, verwarf meine Idee jedoch sogleich. »Ein dummer Gedanke.«
»Wenn du meinst«, gab ich mich gleichgültig.
Wir diskutierten eine Weile über unsere Möglichkeiten, beleuchteten die finsteren Löcher auf unseren Kontoauszügen, so zweifelhafte Vergnügen wie Glücksspiele, aber auch die unzähligen Besuche in den Theatern und Lichtspielhäusern. Die Ausflugsfahrten. Die Flüsterkneipen.
»Tja, das Feiern in Great Neck ließe sich ebenfalls mäßigen«, schlug Scott schließlich vor. »Vielleicht sollten wir nur noch am Wochenende Gäste einladen.«
»Du willst sagen, wir sollten uns auch zu Hause weniger amüsieren?« Ungläubig starrte ich ihn an. »Ganz schwierig.«
»Ich denke, dann lautet die Lösung unseres Problems Europa.«
Das Exil in Europa. Aufgrund des Wechselkurses kursierte in der Stadt seit Längerem das Gerücht, dass dort drüben alles wesentlich preiswerter sei. In Europa lebten die Menschen ohne größeres Einkommen angeblich wie Fürsten und Könige. Einige unserer Freunde, vornehmlich Künstler, hatten den Sprung über den Großen Teich bereits gewagt und wussten nur Gutes zu berichten. Immer wieder erreichten uns ihre Briefe, auf denen elegant anmutende französische Marken klebten. Wann kommt ihr endlich? Zeilen wie diese hatten meine Sehnsucht und meine Neugier längst geweckt. Sie klangen in meinen Ohren nach verheißungsvollem savoir-vivre.
»Ich könnte mir in Paris diese schicken Schuhe kaufen, die ich vorhin in der Vogue gesehen habe.« Eifrig blätterte ich durch die Seiten des Magazins, sah fließende Georgettekleider, anmutige Roben, eine Anzeige für eine sensationelle Black Cake Mascara. »Schau mal, diese T-Straps aus hellgrauem Veloursleder wären ein ganz wunderbares Pendant zu meinem Haar. Oder diese Two-Tones?«
Die Kleine kniete sich nun dicht neben mich, sodass ich ihren warmen Atem spürte. Sie schlang die Ärmchen um meinen Hals und sagte: »Ich brauche auch neue Schuhe.«
»In Monte Carlo könnte ich euch beiden ein ganzes Schuhgeschäft kaufen«, entgegnete Scott. Er legte die Beine auf den wuchtigen Eichentisch, zündete sich eine Zigarette an und stieß den Rauch mit hochgerecktem Kinn genüsslich in die Luft. Die Schwaden tanzten auf einem matten Sonnenstrahl, der sich angestrengt durch die Fensterscheiben des Kaminzimmers kämpfte.
»Meinst du wirklich, Goofo?«
»Aber ja, mein Schatz. Europa scheint tatsächlich äußerst preiswert zu sein.« Er nahm einen weiteren Zug, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Du könntest dort drüben angenehmen Beschäftigungen nachgehen, dich in Müßiggang üben; schwimmen, lesen. Und ich würde in aller Ruhe meinen Roman zu Ende schreiben. Nach der Veröffentlichung sind wir sowieso reich und kehren als strahlende Gewinner in die Staaten zurück.«
»Ehrgeizige Pläne.«
»Machen wir es?«
Nach reiflicher Überlegung beschlossen wir, den verlockenden Zeilen unserer Freunde uneingeschränkt zu glauben. Dieser gelobte Kontinent sollte uns von den Folgen unserer Verschwendungssucht befreien und unsere Köpfe aus der Schlinge ziehen.
»Was für eine Entscheidung!« Schlagartig ergriff mich die Aufregung, ich atmete kräftig aus und sagte: »Gerade fühle ich mich wie Anne Boleyn, die dem Henker entkommen ist.«
»Diese Geschichte beruht aber auf mehrfachem Ehebruch; von einer Budgetregelung wüsste ich nichts.«
»Ist doch egal. Kopf ist Kopf.«
»Du hast recht«, meinte Scott lachend. »Gleich morgen fahren wir zum Büro der Dampfschiffgesellschaft und buchen uns eine Passage.«
»Das muss gefeiert werden!«
»Französischer Champagner war nie passender.« Er stand auf und strich mir im Vorbeigehen übers Haar. Mein Seidenband löste sich und glitt zu Boden. Eilig rutschte Scottie vom Sofa hinunter, langte danach und hüpfte durch das Zimmer. »Hoffentlich haben wir noch eine Flasche im Eisschrank.«
»Hinter meinen Cold Creams habe ich eine vor unseren Gästen versteckt«, rief ich ihm hinterher. »Ist sie noch da?«
Entfernt hörte ich das Klicken des metallenen Türgriffs, dann einen überraschten Ausruf. »Warum kühlst du stapelweise die Cinema-Illustrierten?«
»Wegen der Haltbarkeit, mein Schatz.«
»Du bist eine bezaubernde Lügnerin. Warum sagst du nicht einfach, dass du keine Lust zum Aufräumen hattest?«
Weil ich Besseres im Sinn habe. Momente später war der Korken mit einem lauten Knall durch die Luft geflogen.
Scottie, mit dem Geräusch seit ihrer frühen Kindheit vertraut, sagte: »Plopp.« Dann warf sie den Kopf in den Nacken, lachte hell auf, und ihre niedlichen weißen Milchzähnchen blitzten uns im Widerschein des Feuers fröhlich entgegen.
»Heißt das wohl, dass sie einverstanden ist?« Scott reichte mir eine unserer Champagnerschalen, deren Silberrand seit der Hochzeit vor vier Jahren ein wenig an Glanz eingebüßt hatte. Aber was funkelte in einer Ehe nach solch endlos langer Zeit überhaupt noch wie neu?
»Ganz bestimmt. Unsere Tochter wird eine reizende kleine Französin werden«, erwiderte ich. Die prickelnden Bläschen sprühten winzige Tropfen auf meinen Handrücken, hinterließen einen glitzernden Schleier auf der Haut. Wir stießen miteinander an, das Kristall klirrte feierlich, und als wir uns küssten, war ich im Geist schon mit dem Kofferpacken beschäftigt.
»Das Sparen beginnt, Madame de Fitzgerald.«
»Ich muss unbedingt ein Dictionary kaufen. Und ein paar französische Bücher, Proust vielleicht.«
»Dieser Langweiler«, entgegnete Scott trocken und presste kurz, beinahe unmerklich, die Lippen aufeinander.
»Neidisch?«, spielte ich nicht ohne Häme auf den Prix Goncourt Prousts an; doch statt einer Antwort schnaubte er missbilligend, steckte die Hände in die weiten Hosentaschen seines Anzugs und verließ pfeifend das Zimmer.
Im Bemühen, äußerst beiläufig zu klingen, hörte ich ihn kurz darauf zwischen klappernden Schranktüren aus der Küche rufen: »Ich denke, ich werde diese Story über die 36000Dollar schreiben. Sie wird uns ein hübsches Sümmchen einbringen.«
Vielen Dank für deine fantastischen Einfälle, Zelda. Ich trank einen Schluck Champagner. Eiskalt rann das Getränk durch meine Kehle, rauschte schnell ins Blut und lockerte Arme, Beine, den gesamten Körper. Ich liebte es. Entspannt lehnte ich mich in die Tiefen des dick gepolsterten Ledersofas und spürte ein Gefühl von Verbundenheit mit allem. Das letzte Mal hatte ich mich in eine derartig angenehme Behaglichkeit sinken lassen, als ich der Baltimore Sun im vergangenen September auf diesem Sofa mein erstes Interview gegeben hatte. Ob ich ehrgeizig bin? Nein, nicht besonders, aber ich erhoffe mir viel … Alles hatte sich nur um meine Person gedreht. Um meine Wünsche, meine Vorstellungen, meine Pläne. Um mich.
KAPITEL 3
Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch die Vorhänge der hohen französischen Fenster und malten ein hinreißend schönes Muster auf den Teppich. Die Schatten der neoklassizistischen Brüstung erstreckten sich wie Notenlinien weit in den Salon hinein, auf denen die matten Geräusche einer fremden Stadt zu schweben schienen. Das Hôtel des Deux Mondes lag im Herzen der Metropole, und der Name hätte es nicht treffender besagen können: Ich befand mich noch ein wenig zwischen den Welten. Dort die Häuserschluchten New Yorks, Hektik und Unruhe, die in meinen Erinnerungen zusehends verblassten; und hier Paris, das sich seit unserer Ankunft gestern Abend mit seiner romantischen Straßenbeleuchtung und den eng umschlungenen Pärchen entlang der Seine eindrucksvoll zu färben begann.
Wie hatte Scott beim Auslaufen des Dampfers gesagt, als die lichthellen Vierecke Manhattans langsam im Nichts verschwanden? In wenigen Tagen beginnt unser neues Leben. Es begann in diesem Augenblick.
Vorsichtig zog ich die weißen Laken zur Seite, griff nach meinem Tagebuch unter dem Kissen und löste das zerknitterte Satinband, das die Buchdeckel zusammenhielt. Rasch blätterte ich durch die letzten Seiten, überflog meine Gedanken, die mir während der Überfahrt durch den Kopf gegangen waren – das Glitzern der unruhigen Wellen bei Vollmond, die Poesie der Stille oder die Melancholie der Eintänzer, sobald das Orchester verstummte –, sah Sätze, ganze Passagen, die Scott erst letzte Nacht mit Bleistift unterstrichen haben musste. Gut! Perfekt! Ausführlicher?
Schon immer hatte er mein Erlebtes kommentiert, es bis zur letzten Zeile in sich aufgesogen.
»Du schreibst ganz anders als die Mädchen, die ich bisher getroffen habe«, hatte er bereits wenige Tage nach unserem Kennenlernen auf einer Parkbank hinter der Kirche in der Market Street gesagt, einen zerknautschten Brief von mir aus der Brusttasche seiner Uniform hervorgeholt und ihn mit den feingliedrigen Händen glattgestrichen. »Du schreibst glühender, voller Inbrunst. Sag, ist diese bezaubernde Zelda Sayre mit den wunderbaren Worten wirklich wahr?«
Ein süßlicher Magnolienduft lag in der Luft, und die ersten schläfrigen Blütenkelche begannen sich gerade zu schließen. Ob ich wahr bin? Ich hatte in die Abenddämmerung hineingelächelt und gedacht, ich bin das Mädchen, das sich gerade Hals über Kopf in dich verliebt.
Scott schlief noch. Einige Augenblicke lang betrachtete ich ihn im aufkommenden Licht des Tages; die sanft flackernden Lider, den leicht geschwungenen Nasenrücken, die Lachfältchen, die jetzt kaum zu sehen waren. Trotz seiner siebenundzwanzig Jahre lag ein letzter Hauch von Jugend auf seinem Gesicht. Zu Beginn unserer Ehe hatten wir einander stets gern beobachtet; oft war es etwas Intimes, ganz und gar Voyeuristisches gewesen, etwas, das nur uns beiden gehörte. Ihm und mir. Wenn ich mir die Lippen im Taxi mithilfe eines Taschenspiegels nachzog, verfolgte Scotts Blick mein Tun. Seine Augen malten dann den herzförmigen Bogen nach, den ich ausführte, diesen rot glühenden Schwung, der einen wahrhaftigen Flapper von den allzu artigen Meinungen der Vergangenheit trennte. Schamlos studierte er die Art, wie ich mein Make-up auftrug, meine Fingernägel lackierte oder in einer duftigen Puderwolke versank. Während ich mich ankleidete, hatte er manchmal einen Stuhl mitten in den Raum gestellt, sich mit übergeschlagenen Beinen eine Zigarette angezündet und mich einer regelrechten Musterung unterworfen. Er wusste, mit welchen Bewegungen ich meine Seidenblusen knöpfte, die Strümpfe von den Schenkeln streifte, mit welchen Handgriffen ich meine Abendtäschchen öffnete und schloss. Ich denke, ich bin lange Zeit sein vollendetes objet d’art gewesen; so wie Pablo Picasso in jenen Jahren seine Olga mit dem Pinsel auf der Leinwand beschrieb, Man Ray seine Kiki mit der Kamera auf Silbergelatine verewigte, so hatte Scott mir mit seinen eleganten Worten nachgespürt und sie Seite für Seite auf Papier festgehalten. Mittlerweile verhielten sich die Dinge zwischen uns ein wenig anders, doch noch immer wusste er vieles über mich, so wie ich vieles über ihn wusste.
Zärtlich strich ich ihm über die Wange und flüsterte: »Heute liebe ich dich.« Dann hielt ich es nicht mehr aus, griff nach den Zigaretten auf dem antiken Nachttisch und sprang aus dem Bett. Nackt, wie ich war, öffnete ich die Flügeltüren und trat auf den schmalen Balkon hinaus. Sogleich strömte mir der Geruch ofenwarmer Baguettes aus der boulangerie unten an der Straßenecke entgegen. Ich hörte Vogelzwitschern, ein rostiger Fensterladen wurde schwungvoll geöffnet. Jemand pfiff in schiefen Tönen La Marseillaise. Weit beugte ich mich über das Geländer, betrachtete das morgendliche Treiben auf der Avenue de l’Opéra, sah einige Männer mit Baskenmützen Holzkisten zu hohen Türmen aufstapeln, einen Zeitungsjungen, der seinen Karren über das holprige Kopfsteinpflaster zog.
Dann lehnte ich mich an die Wand. Rauchte einen ersten Zug und stieß den Qualm in den roséfarbenen Himmel. Sah er nicht ein bisschen aus wie die Zuckerwatte, die ich als Kind so gern gegessen hatte? Plötzlich rauschten mir Mutters Zweifel durch den Kopf. Wie konnte sie nur behaupten, dass Europa für eine junge Frau wie mich nichts wäre? Dass mir an Scotts Seite, wenn er sich seiner Arbeit widmete, langweilig werden würde? Dort draußen warteten unzählige Abenteuer auf mich, und ich wollte jedes einzelne auskosten. Ich schloss die Augen und genoss den Augenblick. Er fühlte sich aufregend an, unglaublich intensiv. Konnte es denn überhaupt etwas Schöneres geben? Bonjour, Paris!
»Die Stadt ist so wunderbar, dass ich nicht weiß, wohin ich zuerst sehen sollte«, bemerkte Scott nach einigen Tagen und schaute die Champs-Élysées entlang. »Einfach prachtvoll.«
»Nein.« Beschwingt drehte ich mich herum und entgegnete: »Es ist himmlisch.«
»Himmlisch, genau.« Er zwinkerte mir zu. »Das Wort ist hier à la mode.«
Mächtig aufragende Rosskastanien in einem maigrünen Blätterkleid reihten sich schnurgerade bis zum Arc de Triomphe, der in der Ferne wie eine winzige Schmuckschatulle wirkte. Links und rechts der herrschaftlichen Fassaden schmiegten sich die unzähligen Cafés dicht an dicht wie Liebende aneinander. Unter den Markisen saß die haute volée an kleinen runden Metalltischen. Kokette Damen, behängt mit Perlen, die in langen Bahnen lasziv an ihnen herabfielen. Galante Dandys, sonnengebräunt und muskulös, mit teuren Uhren am Handgelenk, den weiß gepuderten Spitz auf dem Schoß. Dazwischen die Halbweltdamen in persischer Seide, exotische Showgirls, Glücksjäger. Die Künstler. Die Gaukler und Hasardeure. Als hätte eine große unsichtbare Hand die Vorhänge zur Seite geschoben, blickte man auf eine Kulisse voller Andersartigkeit, auf eine dadaistische Matinee. Die Menschen diskutierten gut gelaunt über die größten Schlagzeilen in Le Monde, über die Pferderennen in Auteuil, das Wetter; tranken fine à l’eau, Pernod, und ihr leichtlebiges Lachen hallte durch die Luft, vermischte sich mit dem betörenden Duft von Chanel N°5, mit den Klängen von Jazz.
In den frühlingshaften Temperaturen präsentierte sich das rechte Seineufer in seinem schönsten Gewand. An jeder Ecke lockte eine weitere reizvolle Verführung. Am Quai du Louvre schnurrte ein nickelblitzendes Automobil mit elegantem Motorengeräusch an uns vorbei. In den ausgestellten Windschutzscheiben spiegelte sich das Sonnenlicht und strahlte majestätisch in alle Richtungen. Unbeeindruckt von dem bunten Treiben ringsherum glitt das mondäne Gefährt über das dunkle Straßenpflaster.
»Na, das ist ja mal ein Anblick.« Fasziniert schaute Scott dem Wagen hinterher, als prägte er sich jedes Detail bis hinunter zur Dreitonhupe genauestens ein. »Wenn du diesen Schlitten fährst, dann hast du es nach ganz oben geschafft, oder?«
»Deinem Klassendenken kann ich nach wie vor nichts abgewinnen.«
»Ach, Zelda! Als ob du nicht auch wie eine russische Prinzessin damit durch Paris gefahren werden wolltest.«
»Ein schwarzes Automobil ist langweilig«, erklärte ich achselzuckend. »Es sollte ein helles Gelb haben. Wie eine Portion Eiscreme. Oder Vanillezucker, den man löffelweise über frische Erdbeeren streut.«
»Gelb!« Scott blieb stehen, breitete die Arme aus und rief: »Die Peitsche knallt, struppige Steppenpferdchen trotten durch die Manege, schon purzeln die Clowns hinterher. Willkommen im Cirque Medrano.« Hingebungsvoll verbeugte er sich.
Die Kleine und ich lachten. »Bravo, Herr Direktor!«
»Gelb sind nur Zirkuswagen, Zelda. Wie kommst du auf diese Farbe?«
»Weil die Welt darüber staunen würde.«
»Interessant.« Im Geist schien er sich eine Notiz zu machen. Mit verklärtem Blick tauchte er in solchen Momenten in sein Dasein als Schriftsteller ein, dieses gänzlich andere Leben, verschwand tief zwischen irgendwelchen Seiten seiner Manuskripte. Eine Situation, die mir in den vergangenen Jahren vertraut geworden war, an die ich mich aber auch niemals gewöhnen würde.
»Hey, du Tagträumer«, unterbrach ich ihn in seinen Abschweifungen. »Lass uns weitergehen.«
»Du hast mich gerade auf eine wunderbare Idee gebracht.«
»Tue ich das nicht ständig?« Leise seufzend hakte ich mich bei ihm unter. Auch wenn dieser Gedanke mittlerweile Unmut in mir hervorrief, musste ich mir doch eingestehen, dass er meinem Selbstbild noch immer das gewisse Etwas verlieh.
Stundenlang flanierten wir über die Boulevards, erkundeten ein Arrondissement nach dem anderen, und in meinem Inneren begann sich eine überaus verzehrende Sehnsucht einzunisten. Diese Tage sollten endlos sein.
Ich schwenkte die Schachtel mit den neuen T-Straps in meiner Hand und summte fortwährend eine Melodie, die ein schnurrbärtiger Alter vorhin an der Place Vendôme inmitten einer Schar gurrender Tauben auf seinem Akkordeon gespielt hatte. »Ich fürchte, ich habe das Herz einer Artischocke.«
»Was?«
»Die Franzosen sagen das, wenn sie sich Hals über Kopf in etwas verlieben. Avoir un coeur d’artichaut – klingt doch wesentlich glanzvoller als bei uns, nicht?«
»Es passt zu dir, du verrücktes Ding.« Wohlgefällig strich er sich über das Revers seines klassisch geschnittenen Nadelstreifenanzugs, fühlte über die Knöpfe der Weste. Noch kurz vor der Abreise hatte er die hellen Sachen bei Brooks Brothers fertigen lassen und ein dazu passendes Paar Sattelschuhe bei Franks erstanden.
»Du erinnerst mich heute an Prince Edward von Britannien«, meinte ich, als sich schon wieder eine dieser zierlichen Pariserinnen mit lackschwarzem geometrisch geschnittenem Bubikopf nach ihm umdrehte. Die Frauen wirkten todschick mit ihrer glühenden Selbstachtung, geradewegs einem Modemagazin entstiegen und irgendwie auch ein bisschen gefährlich. »Ist dir eigentlich klar, was für ein anziehendes Wesen du hast?«
»Weil du an meiner Seite bist«, gab er mit dandyhafter Eitelkeit zurück, dann drückte er der Kleinen einen Kuss auf die Wange. »Und du natürlich, meine Süße.«
»Eigentlich gilt der Mann als Accessoire einer Frau.«
»Habe ich dich eigentlich wegen deines beißenden Spotts geheiratet oder wegen der wenigen Pausen dazwischen?« Mit gespielter Empörung stemmte er die Hände in die Hüften.
Scott schien seit Tagen wie ausgewechselt, gab sich voller Tatendrang, voller Motivation. Der Kummer, der sich in den vergangenen Monaten immer häufiger über seine Gesichtszüge gelegt hatte, war einem neu erwachten Selbstbewusstsein gewichen. Möglicherweise hatte er endlich den Misserfolg seines Theaterstücks, von dem er sich finanzielle Unabhängigkeit erhofft hatte, überwunden; vielleicht waren unsere Geldnöte hier in Europa aber auch insgesamt in weite Ferne gerückt.
»Sind diese weiten Alleen nicht das diametrale Gegenteil zu den tristen Straßenzügen in New York?« Beeindruckt zeigte er auf die stuckbesetzten Häuser mit den bodentiefen Fenstern, über denen sich Cherubinen, Faune und spitzbärtige Satyrn ihre jahrhundertealten Erlebnisse zuzuraunen schienen, deutete auf elliptisch geformte Erker und üppig verzierte Balkone. »Ich muss gestehen, dass ich alles mit völlig anderen Augen sehe als bei unserem ersten Besuch. Diese Fassaden, dieses Alter, das diese Stadt atmet, Zelda! Amerika ist im Vergleich dazu ein Ort ohne Vergangenheit.«
»Kein Wunder«, stimmte ich ein, »dass sich die Bohème hier so inspiriert fühlt und die Rive gauche im Pulk bevölkert.«
»Vielleicht ist der Kubismus nur eine Antwort auf die ständige Verfügbarkeit von Geschichte.«
»Du Theoretiker!«, zog ich ihn auf, während meine Hand im Vorübergehen einen geschwungenen Türknauf aus Messing streifte, der einem Schwanenhals ähnelte. Scottie hängte sich an die filigranen Streben und schaukelte daran. »Das sagt nun ausgerechnet ein Mann, der sich kein Stück für moderne Kunst interessiert.«
»Untersteh dich, meine Geheimnisse auszuplaudern.« Er schenkte mir ein verlegenes Lächeln. »Die Kunst lässt sich so gut in meinen Werken an.«
»Du willst diesen Roman unbedingt schreiben, richtig?«
Nachdenklich rieb er sich die Stirn, als beschäftigte ihn eine passende Antwort auf diese Frage schon länger. Zögernd sagte er schließlich: »Ich muss ihn schreiben, Zelda.«
»Warum?«, hakte ich nach, um ihn aus der Reserve zu locken.
»Es geht nicht um irgendeinen weiteren Roman. Es geht um die große Literatur, die geschrieben werden muss. Ich will sie formen und verändern, verstehst du?«
Manchmal wusste ich nicht, ob ich ihn wirklich in all seinen Facetten verstehen wollte. Sobald Scott über das Thema sprach, fielen seine Schultern fast unmerklich in sich zusammen. Seine sonst so aufrechte Körperhaltung ließ mich den enormen Druck erahnen, der auf ihm lastete. Aber warum tat er sich das an?
Im Gegensatz zu mir nahm er sich das Leben weitaus mehr zu Herzen. »Wieso machst du es nicht wie ich und lässt die Dinge einfach auf dich zukommen? Mir erscheinen sie dann weniger trügerisch. Schon bei Alice hinter den Spiegeln heißt es ›Gestern Marmelade, morgen Marmelade …‹«
»… ›nur heute gibt es keine‹«, ergänzte Scott einen meiner Lieblingssätze. »Dann würden diese Dinge nie eintreffen, oder? Aber die Zeit ist reif. Wir leben in einer Welt voller Veränderungen. Technik, Film, Mode, all das unterliegt einem unglaublichen Wandel. Aber die Literatur kommt einfach nicht voran. Wenn nicht bald etwas geschieht, müssen Männer wie Dos Passos und ich losziehen und H. G. Wells, James Joyce und noch ein paar andere Autoren in die dunkle Ecke locken und ihnen eins überziehen.«
»Dass du Joyce derartig verabscheust«, sagte ich verwundert. »Ich finde ihn gar nicht schlecht.«
»Gerade der. Aber du bist ja auch eine glühende Verehrerin von Henry James«, neckte er mich, dann jedoch wurde er wieder ernst. »Ich habe eine Menge Ideen für das nächste Manuskript.«
»Und jetzt läufst du Gefahr, dass dir jemand zuvorkommt?«
»Das nicht. Aber ich darf nicht noch einmal hinter den Erwartungen meiner Leser und Kritiker zurückbleiben.«
»Es war kein Misserfolg, Scott. Die Verkaufszahlen stehen für sich.«
»Zahlen sind nicht alles.«
Bedächtig wog ich den Kopf, ließ seine Worte auf mich wirken. Die Leute hatten sich nach seinem Debüt eine Fortführung erhofft, ein romantisches Buch, keine Gesellschaftskomödie, die in die harte, ja, zynische Realität des Alltags schwenkt und verstiegene Illusionen thematisiert. Ich hatte seine Gloria gemocht, sie war mir in ihrer temperamentvollen Art sehr ähnlich. Doch die Enttäuschung stand ihm noch immer ins Gesicht geschrieben, wenn er auf diesen Roman zu sprechen kam, rührte weiterhin am Schmerz.
Hand in Hand, wie eines dieser frisch verliebten Pärchen, die überall in Paris umherliefen, schlenderten wir gemächlich die Rue de Rivoli entlang. Passanten strömten an uns vorbei, wirbelten mit ihren Schuhen winzige weiße Blütenblätter der die Straße säumenden Schneeballbüsche auf, redeten, lachten. Ein kleiner Mischling mit struppigem Fell und großen dunklen Augen schnoberte zwischen unseren Beinen umher.
Unverzagt lief ihm die Kleine hinterher, streckte die Arme nach ihm aus. »Bleib stehen, Hund! Bleib stehen!«
»… und ich muss jetzt mit dem Schreiben beginnen«, fuhr Scott nachdenklich fort. »Ich habe Sorge, dass sich das gute Material tief in mir auflöst. Es ist ein bisschen wie damals, als ich ins Ausbildungslager der Armee in Kansas aufgenommen wurde. Ich dachte, dass ich nur noch drei Monate zu leben hätte, alle Infanterieoffiziere dachten das. Und plötzlich gab es diesen unbedingten Drang, noch etwas zu bewegen, irgendein Zeichen zu setzen, bevor wir sterben.«
»Das hast du mir noch nie so erzählt …«
»Ist eben alles nicht so rühmlich gewesen.«
»Und dieses Gefühl hast du nun wieder?«, fragte ich mit leichtem Schaudern und stellte mir die Szene vor, all diese jungen Männer vor den Toren des Krieges, dem Tod. Diese fatale Spielart von Enthusiasmus. Sie war mir entgangen, musste ich mir eingestehen. Vielleicht hatte ich mich wieder einmal zu sehr mit mir beschäftigt, nur den Glanz des Ganzen gesehen. Als die Truppen damals in unser verschlafenes Nest kamen, Montgomery zu Hunderten fluteten, waren sie eine willkommene Abwechslung im Country Club gewesen. In den Sälen schwebte auf einmal der Lagerfriseurduft von Fitchs Haartonikum, von Russisch Leder. Die Soldaten bereicherten mit ihren schicken Uniformen und den blank gewienerten schweren Stiefeln jeden Ball. Sie waren adrett anzusehen, waren höflich, tanzten wie verrückt. Sie tanzten um ihr Leben.
»Diese Aufbruchstimmung ist wieder da, ja, und jetzt muss etwas geschehen. Irgendwann werde ich mein Material vergessen und in die Köpfe der Menschen als ein Autor eingehen, der nur für die Zeitung arbeitet. Oder die Filmindustrie bedient. Ich will einfach nicht als zweitklassiger Schriftsteller enden.«
»Du schreibst mit einem unwiderstehlichen Sog, Darling. Du bist ein hervorragender Beobachter, der Chronist einer völlig neuen Ära!«
Wir blieben stehen. Ein seichter Windstoß raschelte durch das Laub. In der Ferne läutete eine Kirchturmglocke, ein tiefer Schlag, der lange nachhallte, dann noch einer. Es hatte etwas Ermahnendes und Beruhigendes zugleich.
Kurz schaute ich mich in der Menschenmenge nach der Kleinen um, die dem Mischling weiterhin nacheilte, dann sah ich Scott fest in die Augen. »Für mich hast du bereits mit deinem ersten Roman alles erreicht.«
»Zumindest habe ich das Herz eines ganz besonderen Mädchens erobert.«
»Vergiss das nie.« In solchen Momenten spürte ich diese Woge der Verbundenheit, die unsere Liebe anfangs so fest umschlungen hatte. Wir sind noch immer eins. »Ich unterstütze dich, wo ich kann.«
»Das weiß ich. Und ich weiß es sehr zu schätzen.« Er hielt kurz inne. »Ohne dich würde ich wahrscheinlich gar nichts schaffen.«
»Wir beide gehören zusammen, Goofo. Du und ich können die Welt aus den Angeln heben.« Sanft legte ich eine Hand auf seinen Arm, spürte durch meinen Handschuh den Stoff seines Jacketts, die Muskeln, die sich darunter bewegten. »Mir ist völlig klar, dass es sich hier um ein Kräftemessen mit deiner eigenen Persönlichkeit handelt …« Ich biss mir auf die Unterlippe, stockte.
»… die mir schon allzu oft in die Quere gekommen ist? Wolltest du das sagen?« Schlagartig nahm sein Gesicht etwas Undurchdringliches an, und ich sah, wie er mehrmals schluckte. Nach einigen Augenblicken des Schweigens hob er die Kleine auf den Arm und richtete die aufgenähte Samtschleife am Kragen ihres Ausgehkleidchens. »Lass uns das Thema ein anderes Mal besprechen, ja?«
Ich kannte diese Miene, die ihm immer auch etwas Verletzliches verlieh. Sie verbarg seine wahren Gedanken, und vorerst würde ich ihm keine weiteren entlocken können. »Wirst du es wirklich tun?«
»Was meinst du?«
»Reden.«
»Natürlich«, gab er unwirsch zurück. »Natürlich werde ich das tun. Aber nicht jetzt, bitte.«
Vielleicht fehlten uns manchmal die Worte für tiefsinnige Gespräche, vielleicht drangen wir nicht weit genug unter unsere Oberflächen vor. Jedes Paar hat irgendwo eine Grenze, schwimmt auf einer Gischt von Gesagtem und Ungesagtem. Scott und ich waren da keine Ausnahme, suchten wohl wie alle einen Weg, möglichst wenig Schmerz durch unsere Ansichten aufkommen zu lassen.
Plötzlich entdeckte ich zwischen den Passanten auf der anderen Straßenseite ein bekanntes Gesicht. »Lawton!«, rief ich überrascht und winkte hinüber. »Hier sind wir.«
»Die Fitzgeralds! Das gibt es doch nicht.«
Lawton Campbell, den ich mit längst vergangenen Zeiten in Alabama verband und mit dem Scott gemeinsam in Princeton gewesen war, lüpfte seinen Strohhut und steuerte mit weit ausholenden Schritten auf uns zu. Bereits ganz nach französischer Lebensart hauchten wir uns alle mehrere bisous auf die Wangen. Unsere Nasenspitzen berührten einander, und wir lachten über die Unbeholfenheit.
»Die Begrüßung scheint hier eine Wissenschaft für sich«, sagte ich. »Wahrscheinlich muss ich noch eine ganze Menge schöner Männer in diesem Land küssen, um souverän zu wirken.«
»Das könnte dir so passen, mein Schatz.«
»Es ist in der Tat komplizierter als in den Staaten.« Lawton blinzelte mir zu. Die Ahnung eines Bartschattens umspielte seine markanten Grübchen. Er rückte seinen grauen Seidenschal zurecht. »Als ich euch das letzte Mal gesehen habe, seid ihr in rasantem Tempo auf der Motorhaube eines Taxis am Biltmore vorbeigefahren. Junge, was für ein Unterfangen!«
»Stimmt«, bemerkte Scott mit einem knappen Nicken. »Ich entsinne mich. Ein netter Ausflug.«
»Eine unserer New Yorker Lieblingsbeschäftigungen.« Erheitert wandte ich mich ihm zu und sah gerade noch den Schatten über sein Gesicht gleiten. Ich wusste, welche Bilder ihm durch den Kopf gingen.
Im September 1920 – Scotts erster Erzählband war gerade bei Scribner’s erschienen und verkaufte sich außerordentlich gut – hatten wir uns ziemlich betrunken nach einer Party an der Upper East Side kreuz und quer durch die Stadt chauffieren lassen. Mein weißes Chiffonkleid flatterte im Fahrtwind, flirtete mit der nächtlichen Kühle. Scott schwenkte mit der einen Hand triumphierend eine halbleere Champagnerflasche und warf mit der anderen Fünf-Dollar-Noten wie Papierschnipsel in die Luft.
»Hey, ihr Flappers und Philosophen da draußen in der Nacht!«, hatte ich unermüdlich gerufen. »Was kostet die Welt?«
Dutzende Passanten an den Straßenrändern klatschten und johlten. Die Reporter, die uns damals in Scharen rund um die Uhr nachstellten, zückten ihre Fotoapparate, immer wieder schossen gleißend helle Magnesiumblitze durch die Dunkelheit. Es war ein herrliches Spektakel. Ich erinnere mich, dass ich mich wie eine Schauspielerin fühlte, so glamourös, so schön. Doch irgendwo im Geflecht der dunklen Ost-West-Schneisen war die Stimmung zwischen uns umgeschlagen; wir begannen lautstark zu streiten. Wie kann er es wagen, mich mit dieser Ginevra zu vergleichen? Der Taxifahrer scheuchte uns schließlich mitten im Tumult am Times Square von seinem Automobil. Das Licht der Leuchtreklamen flackerte, strömte im hektischen Takt auf uns herab. Neugierige kamen näher, die Gesichter in grelle Farben, in Rot und Gelb und Blau getaucht, riefen unsere Namen, feuerten uns regelrecht an. Es dröhnte in meinen Ohren, wurde laut, lauter, machte mich von Minute zu Minute aggressiver.
»Ginevra! Ginevra! Warum redest du ständig von diesem liederlichen Frauenzimmer?«, schrie ich Scott an, prügelte mit meinem silbernen Lamétäschchen auf ihn ein, sodass die aufgesetzten Tahitiperlen über den Asphalt stoben und die Leute sich gierig nach den Kostbarkeiten zu bücken begannen. »Ich hasse dich! Niemals hätte ich dich heiraten dürfen!«
»Es ist mein Recht, von meiner ersten Liebe zu reden. So oft ich will!« Schützend hatte er die Arme vor sein Gesicht gehoben und drehte sich zur Seite, wenn ich erneut auf ihn losging.
»Sie hat dich versetzt, weil du ein armer Schlucker gewesen bist!« Meine Stimme war fortwährend schriller geraten, überschlug sich. »Ich bin deine große Liebe. Hörst du? Ich!«
Die Pressemeute benötigte am nächsten Morgen nur ein einziges Wort, um unsere Ehe wie einen toten Schmetterling auf ihren Titelblättern aufzuspießen: SCHEIDUNG!
Die Eifersucht, auch wenn wir es nicht zugeben mochten, hatte uns in der Vergangenheit beständig eingeholt. Mal ging es um Ginevra, mal um die vielen namenlosen Männer, die ich in meinen wildesten Zeiten geküsst hatte. Denen ich die Ehe versprochen hatte. Wie viele von ihnen wohl mit einem gebrochenen Herzen darniederlagen? Wahrscheinlich hatte ich ein ganzes Meer an Tränen hinterlassen. Aber wen interessierte das schon? Meine Liebe galt Scott, wenngleich uns beiden immer häufiger Dinge widerfuhren, die wir nicht erwarteten. Blind vor Wut beschimpften wir einander in solchen Momenten mit hässlichen, respektlosen Worten, für die ich mich später schämte. Im Nachhinein konnte ich mir diese Situationen nur schwerlich erklären; vielleicht war es so, dass die Liebe zwischen Scott und mir an manchen Tagen tatsächlich enorm groß war. Zu groß für zwei Menschen wie uns.
Verstohlen suchte ich jetzt auf diesem Pariser Boulevard, so weit entfernt vom Times Square und den Erinnerungen an den Streit, seine Hand und drückte sie ganz fest. Unumwunden erwiderte er meine Geste. Als könnten wir auf diese Weise wenigstens eines unserer weniger guten Erlebnisse vergessen machen.
Lawton trat einen Schritt zurück und begutachtete uns mit wohlwollender Miene. »Ich muss sagen, ihr drei seht aus wie eine Familie aus dem Bilderbuch. Très chic!«
»Findest du tatsächlich, Lawton?« Ich drehte mich einmal um die eigene Achse, damit er mein pfauenblaues Kleid und die farblich passenden Handschuhe aus butterweichem Leder von allen Seiten betrachten konnte. »Es ist mein Jeanne-d’Arc-Kleid. Ich habe es extra für diesen Aufenthalt anfertigen lassen.«
»Frankreich wird dich lieben«, bemerkte er und fügte in seiner schelmischen Art hinzu: »Wenngleich ich mir dich auch nicht als Heilige Johanna vorstellen kann.«
»Das kann wohl niemand.« Mit unverhohlenem Stolz ruhte der Blick meines Mannes auf mir. »Kein Teufel dieser Welt kann das.«
»Was führt euch nach Europa? Treibt ihr deine Karriere voran, Fitz?«, fragte Lawton.
»Genau«, gab Scott rasch zurück. »Ich schreibe an einer großen Sache, während meine hübsche Muse sich in Kürze dem laisser-faire Südfrankreichs widmen darf.«
»Das süße Nichtstun. Was könnte dir an der Seite eines hochrangigen Schriftstellers besser gelingen, Zelda?«
»Darum mach dir mal keine Sorgen, es ist gewissermaßen eine ihrer besten Fähigkeiten«, sagte Scott. Wenn sie mich zudem nur ab und an küsst, will ich dankbar sein.«
»Die alten Griechen hatten also recht mit ihrer These, dass sich Ideen nicht von allein entwickeln.«
Die Männer lachten.
Ein wahrer Satz. Mir zog sich die Brust zusammen. Ich drückte Scottie dicht an meinen Körper und zwang mich zu einem Lächeln.
Scott tippte mit seinem Spazierstock mehrmals energisch auf das Straßenpflaster. »Unsere Zeit tickt, was, alter Knabe?«
»Ich wünschte, ich würde niemals vierzig. Schon Bernard Shaw hat behauptet, jeder Mann darüber hinaus sei ein Schuft.«
»Ich wünschte, ich würde niemals dreißig«, entgegnete mein Mann trocken. »Und nun sieh uns an, Lawton. Was haben wir seit unseren Studientagen erreicht? Ich meine, wirklich erreicht?«
Ich mochte es nicht, wenn Scott diesen Ton anschlug. So arrogant und kalt, voller Kalkül. Mit wichtigen Mienen begannen die beiden ein Resümee der vergangenen Jahre zu ziehen, redeten über ihre Karrieren, ihre Erfolge, die Zukunft. Redeten über das Leben, das uns Frauen ausschloss. Ich sagte nichts. Dachte an den Satz. Ideen entwickeln sich nicht von allein. Schon bald sollte er zu einer dramatischen Verkettung von Geschehnissen führen, von denen wir momentan nichts ahnten. Noch nicht. Vorerst waren es einfach nur Wörter, die sich beliebig aneinanderreihen ließen.
KAPITEL 4
Es schien mir damals nicht bewusst zu sein, doch wenn ich heute darüber nachdenke, gehörte Nachgiebigkeit wohl zu den besonderen Eigenschaften unserer Ehe. Nie waren wir einander lange böse. Und so flanierten wir auch am darauffolgenden Tag durch die vornehmen Straßen, als wären Musen einfach nur Musen und Ideen nur Ideen. Streiften in der Avenue Montaigne durch einen faszinierenden Farbrausch: Schwanenweiß, Perlweiß, ein dezentes Biscuitbeige; bewunderten die aufwendigen Dekorationen in den Schaufenstern. Wir ließen uns dahintreiben. Ein sanfter Sommerwind zog durch das labyrinthische Straßengewirr, umspielte Rocksäume, Chiffonschals, und zwischen den matt glänzenden Blechdächern blitzte der Eiffelturm immer wieder mal hervor. Die französische Mittagsstunde, le midi, wehte uns schließlich den betörenden Duft gegrillter Langusten, zartester Roastbeefs und knuspriger Baguettes um die Nasen; an jeder Kreuzung eine andere Versuchung.
»Manchmal denke ich, das Land besteht aus gutem Essen und Liebemachen.« Scott bestaunte die Auslagen eines Feinkostgeschäfts, in dem sich winzige hors d’oeuvres,mit Shrimps und Lachsröllchen garniert, in Schälchen dicht an dicht auf gesplittertem Eis aneinanderreihten.
»Vergiss die Mode nicht«, protestierte ich und fügte mit verführerischem Augenaufschlag hinzu: »Sie ist der Apéritif eines jeden Liebesspiels.«
Er schaute langsam an mir hinunter, betrachtete meine neuen Schuhe mit den hohen Absätzen, auf denen ich mich sehr pariserisch fühlte, und sagte: »Jetzt wird mir einiges klar.«
Weitab des Trubels entdeckten wir an einer Straßenecke ein kleines Café. Die vorgelagerte Terrasse schmiegte sich im Schatten von Lindenbäumen an die Häuserwand. Auf den zierlichen Metalltischen schimmerte der Wein in gläsernen carafons.
»Les Mannequins«, las ich den geschwungenen Schriftzug auf der Markise laut vor. »Trinken wir dort ein Glas auf das ›ehrenhafte Experiment‹in den Staaten?«
»Nichts lieber als das«, frohlockte Scott. »Die Prohibition wäre mir beinahe entfallen, dabei hat sie die Trinkerei erst mit dem richtigen Schick versehen.«
»Ist es nicht seltsam, dass man hier überall in der Öffentlichkeit Alkohol genießen kann? Sieh dich um, in diesem Land ist der Hedonismus von einer politischen Botschaft weit entfernt.«
»Die Franzosen wissen eben zu leben«, erklärte er. »Ich muss Ring unbedingt schreiben, wie gut wir es hier haben. Das bin ich meinem besten Freund schuldig.«
»Die berühmt-berüchtigten Briefe aus Europa«, gab ich süffisant zurück und stellte mir Ring beim Lesen der Zeilen vor. »Der Abschied von den Lardners war herzzerreißend, fandst du nicht auch? Irgendwie vermisse ich die beiden.«
»Mach dir keine Sorgen, mein Herz. Nach einigen Abenteuern in Europa wirst du all unsere Freunde drüben wiedersehen.«
»Du hast recht. Aber dann werde ich die Freunde vermissen, die ich hier kennenlerne.«
»Die süße Last einer Globetrotterin.«
Ich nahm Scottie an die Hand und stieg mit ihr die Stufen zur Terrasse des Cafés hinauf. An einem Tisch saßen drei aparte garçonnes mit langen anmutigen Beinen; sie hielten mit ihren Seidenhandschuhen, über denen sie Unmengen an Strassringen trugen, glänzende Zigarettenspitzen in die Höhe und beschrieben unermüdlich weißes Papier. Die Stifte tanzten auf den Seiten, und ich konnte ihre Fantasien förmlich umherschweben sehen. Für mich waren es Redakteurinnen der Vogue oder Harper’s Bazaar, die ihren Artikeln den letzten Schliff verliehen, bevor sie in die heiligen Hallen der Zeitungsgebäude zurückflatterten und ihre Ideen in die Welt versprühten. Die weiß gekachelten Röhren der Métro als Farbe der Demi-saison, superb! Das verruchte Plein air einer Mondscheinnacht für das kommende Augen-Make-up, oui! Die geheimnisvolle Androgynität als Accessoire der Nachtclubgängerin, exactement! Ich spürte einen Stich des Bedauerns. Nur zu gern hätte ich mich zu diesen geschäftigen und aufstrebenden Frauen gesetzt, hätte mich mit ihnen über all diese Geistesblüten unterhalten, die sie beschäftigen mochten. Scott rückte mir mit galanter Geste einen Korbstuhl zurecht.
Ich hob die Kleine auf meinen Schoß und reichte ihr ein Märchenbuch aus der Tasche. Begeistert schlug sie es auf und versank in der Welt bunter Fabelwesen, während ich die Menschen ringsherum betrachtete. »In dieser Stadt sind alle so unfassbar jung, findest du nicht, Goofo?«
Unvermittelt lächelte er mich mit diesem verträumten Ausdruck an, den ich lange nicht an ihm gesehen hatte: »Weißt du noch, wie ich damals als Offizier heimlich auf eurer Veranda saß? Wir beide haben bis weit ins Morgengrauen diskutiert, und dann kam deine Mutter mit ihrer unsäglichen Fransenstola heraus und sagte: ›Ich bin übrigens die Mom dieses begehrten Geschöpfs‹.«
»Natürlich erinnere ich mich.«
»Oder wie wir unter den neiderfüllten Blicken der anderen über das Parkett geflogen sind? Abend für Abend?«
»Es erscheint mir endlos lange her.«
»Diese Modetänze waren herrlich.«
Ich sah in die Baumwipfel hinauf, als hätte jemand dort oben all unsere Schrittfolgen wie Weihnachtskugeln in die Zweige gehängt. Turkey Trot, Shimmy, Maxie.
»Du bist mit deinen Gedanken gerade ganz woanders. Möchtest du mir sagen, worum es geht, Darling?«
Ein Ober mit pechschwarzem Menjou-Bärtchen und einer riesigen Leinenschürze, die er mithilfe einer Kordel gekonnt um seine Taille gewickelt hatte, sodass gerade noch die Schuhspitzen darunter hervorlugten, trat an unseren Tisch heran. Mit einer flinken Bewegung holte er einen kleinen Block hervor und griff nach dem Stift hinter dem Ohr. »Avez-vous déjà fait votre choix, Monsieur?«
Während Scott eine Auswahl verschiedener Käsesorten, Baguette, einen halben Liter Chablis für uns und eine Limonade für die Kleine orderte, dachte ich über meine aufsteigende Melancholie nach. Sie durchzog mein Leben in Wellen, kam und ging, hatte jedoch keine klar umrissene Form, und diese Verschwommenheit machte es mir unmöglich, mich mit dem Gefühl ernsthaft auseinanderzusetzen.
»An manchen Tagen spüre ich keine Jugendlichkeit mehr in mir«, sagte ich schließlich, als der Ober uns die Teller mit den hübsch arrangierten Köstlichkeiten und die Getränke gebracht hatte. »Dann fühle ich mich alt und hässlich. Ich möchte nicht, dass du mich so siehst, lieber sterbe ich früh.«
»Zelda, du bist eine wundervolle Frau.«
»Wirklich?«
»Selbst dieser Satz erscheint mir wie eine Untertreibung.« Scott schaute mich liebenswürdig an, nahm meine Hände. »Du kannst gar nicht hässlich werden.«
Nachdenklich betrachtete ich seine gepflegten, schmalen Finger, die nie in ihrem Leben harte Arbeit verrichtet hatten. »Die Zeit spielt eine große Rolle im Leben. Die verlorene, nicht wiederholbare Zeit. Manchmal erscheint sie mir wie ein Abgrund.«
Für eine attraktive Frau war es schlimm, ihren Körper altern zu sehen, das vergehen zu sehen, was ihren Wert in den Augen der anderen ausmachte. War die Weiblichkeit nicht mein Kapital? War sie nicht alles, was ich zu bieten hatte? Tief in meinem Inneren fürchtete ich seit Monaten, dass alles irgendwann vorbei sein würde, meine Schönheit, meine Anmut, mein Ebenmaß. Diese Angst war ein Teil von mir geworden. Wann war man alt? Mit dreißig, so wie Scott es Lawton gegenüber erwähnt hatte? Die Zahl rückte näher, streckte sich beharrlich nach mir wie ein immer länger werdender Schatten in der Abenddämmerung. Sehnte sich nach mir. Und was kam dann?
Das Geschirrklappern aus der Küche holte mich in die Gegenwart zurück, vermischte sich mit den Klängen eines Soprans, die aus einem weit geöffneten Fenster eines nahe gelegenen Hauses sachte auf uns herabsanken. »Heute Abend haben sich wieder einige Leute in unserer Suite angekündigt.«
»Wir wollten hier in Europa einen Gang zurückschalten, Darling«, erwiderte Scott. »Ich möchte mich langsam auf meinen Text konzentrieren, ein wenig zur Ruhe kommen.«
»Nur ein paar Drinks, Scott.«
»Die Rechnung geht bei uns nicht auf, das weißt du. Müssen die denn ständig bei uns herumlungern?«
»Paris ist Paris.« Schwungvoll entfaltete ich eine der gestärkten Stoffservietten und wischte Scottie über den Mund.
Nörgelnd wand sie sich auf meinem Schoß herum. »Nein!«
»Schluss damit, mein Fräulein!«
»Aber ich will das nicht.« Mit beiden Händen stemmte sie mich von sich. Augenblicklich verlor ich die Geduld und wies sie zurecht. Dicke Tränen kullerten über ihre Wangen.