Das Haus am Moor - Michael Hatry - E-Book

Das Haus am Moor E-Book

Michael Hatry

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Beschreibung

Lukas findet in einem Buch des Autors Peer Anders, das er aus der Stadtbibliothek geliehen hat, eine handschriftliche Randnotiz: Dieses Haus gibt es wirklich! Und Anders wohnt sogar drin! Zugspitzstraße 7. Neugierig wie er ist fährt er da mal hin. Er kriegt gerne Sachen raus. Die Straße führt am Hang entlang, unter dem sich das Moor ausdehnt; im Hintergrund die Berge. Das ist nicht schwer rauszukriegen. Aber dann trifft er auf Zoé, die Neue in seiner Klasse, nervig dazu. Sie scheint in dem Haus zu wohnen. Der Autor des Buches (Der Tote im Moor), das gerade verfilmt wird, wohnt ganz sicher dort. Zoé weiß überhaupt eine Menge über das Haus. Und die Überraschungen sind noch nicht zu Ende. Es gibt da einen Raum, der in den Hang gebaut ist, aus dem plötzlich eine Strickleiter baumelt ... Lukas klettert also hoch und landet in einem Raum, der sehr merkwürdig eingerichtet ist. Von seiner Tante Friederike erfährt er später, dass das Haus einmal seinem Ururgroßvater gehört hat, und der war Kapitän. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hat er es den jüdischen Vorbesitzern abgekauft ... Das Haus hat so seine Geheimnisse ... und Zoé auch. Sie sind wie Hund und Katze, Lukas und Zoé.

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Seitenzahl: 155

Veröffentlichungsjahr: 2016

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DAS HAUS AM MOOR

Kinderkrimi

von

Michael Hatry

INHALT

1. Das Haus

2. Der Keller

3. Bei Tante Friederike

4. Der Fortsetzungsroman

5. E-Mail für mich

6. Ein Zwischenfall im Moor

7. Die Ausstellung

8. Das Medaillon

9. Im Nebel

10. Die Hütte

11. Der Rückweg

12. Die Tagebücher

13. Zoé

14. Stochern im Nebel

15. Noch mal Tante Friederike

16. Lukas 12,2

17. Schluss

1. Das Haus

Vier Tage sind eine kurze Zeit, aber in vier Tagen kann eine Menge passieren, so viel, dass man danach nicht mehr ganz derselbe ist und die kleine Welt, in der man lebt, auch nicht. Wenn mir das einer im letzten Herbst erzählt hätte, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Aber so war es.

Ich hatte dieses Buch gelesen: Der Tote im Moor. Von Peer Anders. Den alle so cool fanden. Das Buch war schon zwei Jahre alt, aber was soll’s, und in der Stadtbücherei waren alle andern Bücher von ihm ausgeliehen.

Der Schinken handelte von einem dreizehnjährigen Mädchen namens Franziska, die vor Fernweh fast platzt. Ein pensionierter, geheimnisumwitterter Kapitän lädt diese Franziska in sein Haus ein. Er zeigt ihr seine Sammlung Buddelschiffe, eins heißt Bunte Kuh, sie träumt sich hinein in die Flasche, und das Moor, an dem das Haus steht, verwandelt sich ins Meer, was ja auch naheliegend ist, und ab geht die Post, per Zeitreise ins 18. Jahrhundert, in eine kleine französische Hafenstadt.

Ich hatte schon bessere Bücher gelesen.Das Interessanteste an dem ganzen Buch war eine Notiz, die jemand mit Bleistift an den Rand geschrieben hatte. Auf S. 17:Das Haus gibt es wirklich! Und Anders wohnt sogar drin! Zugspitzstraße 7.Eine Kinderschrift.

Mir war sofort klar, dass ich mir das Haus anschauen würde. Ich bin nämlich ziemlich neugierig. Ich meine, ich kriege gern Sachen raus.

Die Zugspitzstraße liegt ganz am Ende unserer kleinen Stadt, da, wo es zum Moor runtergeht. Ich kannte sie nur vom Anfang her, sie zweigt rechts von der Straße ab, die zum Moor hinunter führt, eine Sackgasse.

Also radelte ich dahin. Allein. Mario, mein bester Freund, seit ich vor etwas mehr als zwei Jahren ins Städtchen kam, fiel aus. Ich hatte ihm von der Randnotiz in dem Buch erzählt, aber er war am Montag am Blinddarm operiert worden. Vor allem für ihn schreibe ich diese Geschichte auf.

Es war der 5. November, ein Mittwoch, grau und windig, am Nachmittag, und ich hatte keine Ahnung, auf was ich mich einließ.

Kurz vor der Zugspitzstraße kam mir Felix Leitner entgegen. Ein ziemlicher Sprücheklopfer aus meiner Klasse, wenn’s nach mir geht. Sein Großvater ist Vorsitzender des Schützenvereins und sein Vater Stadtrat in unserem Städtchen. Als Leitner mich sah, klingelte er wie verrückt und rief mir zu: „Was machst du denn hier?“

Ich rief zurück: „Ich fahr ins Moor, du Depp!“

Und radelte an ihm vorbei, rechts in die Zugspitzstraße.

Wusste er auch von dem Haus?

Wohl kaum, dachte ich. Ich konnte ihn mir nicht mit einem Buch in der Hand vorstellen (Schulbücher ausgenommen), schon eher mit einer Knarre. Einmal hatte er eine Pistole mit in die Klasse gebracht. Aus der Sammlung seines Großvaters oder Vaters, ich weiß es nicht mehr. Er hatte richtig leuchtende Augen, als er das Teil vorführte. Es sah aber tatsächlich alt und echt aus und natürlich schaute auch ich ihm zu, als er uns zeigte, wie es funktionierte.

Sonst fiel mir zu Felix Leitner nur ein, dass wir entfernt miteinander verwandt waren. Er hatte sich vor mir aufgebaut, damals vor zwei Jahren, als wir in dieselbe Klasse kamen, die 5., und mir das gesagt. Sehr entfernt, hatte mein Großvater geknurrt. Sein Großvater war ein Neffe meiner Ururgroßmutter oder so.

Viel lieber wäre ich mit Mario verwandt gewesen, aber leider konnte ich, was meine so genannten Vorfahren verbockt hatten, nicht rückgängig machen.

Dann war ich da.

Die Nummer 7 war das dritte Haus auf der Hangseite.

Eins von diesen alten Häusern mit Erker. Es hatte zwei Stockwerke und eine Mansarde. Einen großen Vorgarten, nicht übertrieben gepflegt. Es sah aus, wie das Haus aus dem Buch. Jedenfalls von vorn.

Die gusseiserne Gartenpforte war geschlossen. Links und rechts Hecken. Es gab eine Klingel, aber kein Namensschild. Eine glatte Einladung, zur Haustür zu gehen. Sie hatte ein kleines Vordach, drei Stufen führten hinauf.

Ich drückte die Klinke. Aber die Pforte ging nicht auf. Sollte ich klingeln?

Der Wind pfiff ums Haus, die Vorgartentanne bog sich und schnappte zurück. Ein Fensterladen klapperte. Irgendwo schlug eine Tür. Ein paar Mal hintereinander. Sie musste auf der Rückseite des Hauses sein.

Das Haus war an den Hang gebaut, hatte Peer Anders geschrieben, so dass es auf der Rückseite wieder ebenerdig war und ein Stockwerk mehr hatte, wenn es auch ein Souterrain oder Kellergeschoss war. Das war von der Straße aus nicht zu erkennen, aber es sah ganz danach aus. Denn um das Haus herum führte ein Pfad zu beiden Seiten nach hinten, der sachte abfiel.

Ich hatte keinen Bock, zu klingeln. Peer Anders um ein Autogramm zu bitten, falls er tatsächlich hier wohnte und zu Hause sein sollte, kam mir albern vor.

Ich beschloss, mir das Haus von hinten anzuschauen. Der Pfad kam nicht in Frage, ich hätte über die Pforte klettern müssen. Also radelte ich zurück und dann die Straße rechts ins Moor hinunter. Unten bog ich ab, bis ich wieder auf der Höhe des Hauses war. Es war gut zu sehen. Entlang des ganzen ersten Stockes zog sich ein Balkon mit geschnitztem Holzgeländer. Wie im Buch. Darunter die klappernde Tür. Links ein Schuppen.

Unterhalb des Haus zog sich Rasen über den Hang hin, vom Moor durch eine ziemlich hohe Hecke getrennt. Rechterhand war etwas wie eine Garagenklappe, in den Hang eingelassen, ohne Zufahrt. Geschlossen. Das musste ich mir genauer ansehen.

Ich legte das Rad hin und sperrte es ab. Ging den Hang hinauf und kam zu einer kleinen mit Kies bedeckten Plattform. Ab hier gab es auf der rechten Seite einen Pfad zum Haus hinauf, wohl den, den ich oben schon gesehen hatte. Er bestand aus Holzbohlenstufen, die in die Erde verlegt waren. Büsche zu beiden Seiten. Links daneben, ungefähr zwei Meter über der Plattform diese Klappe. Eisen offenbar. Sehr seltsam. Autos, die da herausfuhren, würden ohne Weiteres ins Moor segeln.

Ich kümmerte mich nicht weiter darum. Ich hatte gesehen, was ich sehen wollte, und drehte mich um und schaute hinunter ins Moor mit seinen Feuchtwiesen und Bauminseln und auf die hohen Berge mit den Schneekuppen dahinter.

Nicht weit von einem mit Schilf umstandenen Tümpel warenLeute. Ein wahres Ameisengewusel. Und jede Menge Autos. Auch große Lastwagen mit Beschriftungen.Genaueres konnte ich nicht erkennen.

Aber das Moor schaute toll aus, gerade jetzt, wo ein paar Schatten drüber wegjagten, weil wild dahinjagende Wolken die tief stehende Sonne mal da mal dort verdeckten und die Sonne in den Wasserläufen und Tümpeln rotgolden aufblitzte.

Ich war natürlich schon ein paar Mal da unten gewesen. Unser Moor ist ein Naturschutzgebiet mit vielen seltenen Pflanzen und Blumen und allen möglichen seltenen Tieren, vor allem Vögeln, zum Beispiel Braunkehlchen, Klappergrasmücke, Feldschwirl, Neuntöter, Flussregenpfeifer und Schilfrohrsänger, die alle möglichen Vogelforscher und Vogelfreaks in Horden anziehen, weshalb sich die Vögel noch seltener machen.

„Hi, Lukas!“, sagte plötzlich jemand hinter mir. Eine Mädchenstimme.

Ich drehte mich um.

Und sah Zoé, seit September neu in meiner Klasse. Superklug und neunmalschlau. Bernsteinfarbene Knopfaugen und Borstenhaare. Zoé Hilfiger. Ihr Vater war Schweizer, das wusste ich.

Und außerdem wusste ich, dass sie mich nicht leiden konnte.

Sie trug Jeans und einen schwarzen, wattierten Mantel und war ziemlich außer Atem.

„So heiße ich“, sagte ich etwas widerwillig. „Lukas Lorenzen.“

War sie zufällig hier? Wie Felix Leitner? Vielleicht machten wir ja einen Klassenausflug und ich wusste nichts davon. Oder hatte sie die Notiz in dem Buch auch gelesen? Nur musste sie das Buch vor mir ausgeliehen haben, und wieso kam sie dann jetzt erst hierher? Und zufällig zur selben Zeit wie ich?

„Was machst du hier?“, erkundigte sie sich.

Mir ging im Bruchteil einer Sekunde alles Mögliche durch den Kopf. Von der reinen Wahrheit bis zu ungefähr einem Dutzend mehr oder weniger schmutziger Lügen. Sollte ich Zoé die Wahrheit sagen oder auch nur die halbe? Sie würde sich garantiert über mich lustig machen und es außerdem noch weiter erzählen. Lukas wollte sich ein Autogramm von Peer Anders holen! Von Peer Anders! Diesem ...

„Was machst du denn hier?“, fragte ich also schnell, um von mir abzulenken.

„Sie drehen einen Film da unten“, sagte sie unschuldig. „Der Tote im Moor. Ich hab bei den Dreharbeiten zugeschaut.“

„Ach so“, sagte ich. „Der Film.“

Ich hatte keine Ahnung, ich war sogar ziemlich überrascht, dass sie das Buch jetzt auch noch verfilmten, aber ich dachte nicht daran, mir eine Blöße zu geben.

„Ich hab das Buch gelesen“, sagte ich. „Es ist nicht besonders.“

Sie grinste unverschämt.

„Ach ja?“, fragte sie.

Und dann konnte ich doch nicht mehr an mich halten und lieferte mich Zoé aus.

„Hast du die Bemerkung in das Buch geschrieben, auf Seite 17?“, fragte ich. „Ich hab’s aus der Stadtbücherei.“

Sie grinste wieder unverschämt.

„Auf Seite 17“, sagte sie. „Wie interessant!“

Sie hatte ein ziemlich hübsches Gesicht, mit einer hübschen Nase mitten drin und dazu diese bernsteinfarbenen Knopfaugen, und wenn sie lächelte, war sie sogar noch hübscher, aber ich hatte nicht vor, auf sie reinzufallen.

„Dass das Haus im Buch das Haus da oben ist“, sagte sie. „Und dass Peer Anders drin wohnt.“

„Ich schreib keine Bemerkungen in Bücher“, sagte sie.

Ich schwieg. Manchmal muss man die Leute schmoren lassen.

Und ich sah, dass Zoé dieses Schweigen nicht mochte.

„Und deswegen bist du hier?“, fragte sie ungläubig. „Wegen dieser Bemerkung?“

„Das war Zufall“, log ich. „Ich wusste schon lange von dem Film. Meine Großmutter leitet unser Heimatmuseum und sie haben sich dort nach allem Möglichen erkundigt!“

Aus irgendeinem Grund sah Zoé plötzlich nachdenklich aus.

„Du hast nicht zufällig ...“, fragte sie zögernd.

„Was?“, fragte ich.

„Hast du vielleicht Lust, dir das Haus anzugucken?“

Ich schüttelte den Kopf.

„Von innen, mein ich? Die Hintertür ist offen.“

Ich sah sie an. Wohnt sie auch hier?, dachte ich. Falls Anders hier überhaupt wohnt. Aber wieso ist es dann wichtig, dass die Hintertür offen ist?

„Sie klappert im Wind“, sagte ich. „Das kann jeder sagen.“

„Mein Vater wohnt manchmal hier“, ergänzte sie. „Ich kenn mich hier aus.“

„Ist dein Vater ein Freund von Peer Anders?“

Sie sah mich an, als gehöre ich in eine andere Galaxie.

„Du wohnst bei deinen Großeltern?“, fragte sie zurück.

„Ja“, sagte ich automatisch. „Meine Eltern sind bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen, als ich drei war. Und meine richtige Großmutter auch.“

Ich habe manchmal diese unerklärlichen Anfälle von Ehrlichkeit.

„Oh“, sagte sie leise. „Entschuldige.“

Ich zuckte die Achseln und sah zu Boden und beobachtete meine Füße. Einer kickte grade ein paar kleine Kiesel weg. Fast hätte ich gefragt, wo ihre Mutter wohnte oder sie selber, manchmal oder überhaupt. Aber so viel Interesse wollte ich nicht heucheln. Oder: soviel Neugier nicht zeigen.

Der Wind pfiff und heulte und schob die Wolken zu einer Wand zusammen, die immer schwärzer wurde. Irgendwo schrie eine Möwe gegen das Getöse an. Die gibt es jetzt auch bei uns.

„Also?“, fragte Zoé.

„Was also?“

„Kommst du mit?“

„Vielen Dank“, sagte ich standhaft. „Ich gehe nicht in fremde Häuser.“

„Ich schon“, sagte sie und rannte die Stufen zum Haus hinauf.

„Schönen Abend noch!“, rief ich ihr hinterher.

Es war dunkler, als es hätte sein sollen, und es hatte zu regnen begonnen, einzelne schwere Tropfen, und ich zog mir die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und schaute wieder hinunter ins Moor.

Dreharbeiten also.

Wahrscheinlich, dachte ich, hatte Peer Anders auch eines Tages ins Moor gestarrt und dabei die Idee zu seinem Buch gehabt. Er hatte die Augen geschlossen, der Wind hatte geheult wie heute, als käme er von See, und hatte ihm das Mädchen Franziska zugeweht und zwei Seeleute, einen Steuermann und einen Maat, die er Lumberjack und MacNugget genannt und auf Schatzsuche geschickt hatte.

Besonders geheimnisvoll ist unser Moor ja eigentlich nicht. Peer Anders hatte es umgedichtet, bei ihm war es ein echt schauriger Ort. Irrlichter lockten die Schatzsucher in Sümpfe, über denen Nebelschwaden dampften, die bestialisch rochen und auf nichts anderes warteten, als alles zu verschlingen, was sich zu ihnen verirrte.

Wenn Anders tatsächlich in dem Haus wohnte, war dies das Moor, in dem sich die Schatzsuche abspielte, und es hatte wahrscheinlich nahe gelegen, dass sie den Film gerade hier drehten.Das Ameisengewusel da unten war stärker geworden, alle schienen durcheinander zu laufen und ihre Geräte und sich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen.

Wahrscheinlich war es inzwischen auch zu dunkel zum Drehen.

Das war’s dann, dachte ich.

Aber gerade, als ich gehen wollte, gab es über mir ein lautes, quietschendes Geräusch. Ich fuhr herum und sah, wie die Klappe hoch schwang. Eine Strickleiter fiel herunter und baumelte mir verlockend vor der Nase.

Eine Strickleiter! Das war das Letzte, was ich erwartet hatte.

Zu Strickleitern hatte ich ein ganz besonderes Verhältnis. Wie zu allem, das mit Seefahrt zu tun hatte. Mein Ururgroßvater war Kapitän gewesen, zwei Gemälde von ihm, ein größeres und ein kleineres, mit Segelschiffen darauf, einem Schoner mit dem Namen Alexander von Humboldt und einer Dreimastbark mit Namen Lucas Cranach, hingen bei mir im Zimmer. Mehrere Jahre schon war ich mit ihnen auf große Fahrt gegangen. Oder mit der stolzen Fregatte im Buddelschiff, der Hispaniolahieß, wie das Schiff in derSchatzinsel von Robert Louis Stevenson.

Es konnte also keiner von mir verlangen, dass ich jetzt einfach abhaute. Stattdessen kletterte ich die Strickleiter hoch und dachte an meinen Ururgroßvater, den Kapitän.

2. Der Keller

Die Strickleiter war über ein niedriges Mäuerchen geworfen und befestigt, auf dem die Klappe auflag, wenn sie zu war, und dahinter war so was wie ein Vorraum und hinter dem Vorraum ein kurzer Gang und dahinter eine Art Keller, in den Hang hinein gebaut wie eine Höhle. Eine Deckenleuchte gab ein etwas graues Licht.Gekalkte Wände.Moorleichenlicht.

Dieser Keller kam allerdings im Buch nicht vor.

Zoé saß an einem kleinen, runden Tisch und las in einem Buch. Sie rührte sich nicht und sah auch nicht auf, als ich kam. Fast wie eine Puppe in einem Bühnenbild.

Ihr Mantel hing an einem Haken, der an einem zweistöckigen, dunkelorange gebeizten Bett mit Leiter angebracht war. Die Betten waren gemacht wie zum sofortigen Gebrauch. Am Fußende ordentlich gefaltete schwere braune Wolldecken. Ein Schrank stand ganz hinten, der Tisch mit drei Stühlen ungefähr in der Mitte. Dann war da noch ein Spülbecken. Daneben ein Hängeregal mit Küchenzubehör und ein Schränkchen mit einem roten Kreuz drauf. Dann eine Kommode, auf dem irgendein Kasten und ein seltsam altmodisches Radio standen.  Auf dem Tisch ein altmodisches Telefon. Im Moorleichenlicht die reine Filmkulisse.

Ich hatte keine Idee, was das sein sollte. Vielleicht eine Jugendherberge. Vielleicht ein Gästezimmer. Vielleicht vermietete Peer Anders es teuer. Oder aber er schrieb hier. Vielleicht brauchte er diese besondere Atmosphäre – so wie Friedrich Schiller vor sich hin faulende Äpfel zum Schreiben gebraucht hatte.

Das Seltsamste war, dass eine Wand völlig verspiegelt war. Und dass eine Holzstange wie ein Geländer in etwa ein Meter Höhe am Spiegel entlang lief. Dazu fiel mir gar nichts ein. Außer, dass Peer Anders immer mal beim Schreiben hoch schaute, um im Spiegel seinen Charakterkopf mit der Denkerstirn zu bewundern.

Zoé klappte das Buch zu, legte es auf den Tisch, warf mir einen Blick zu, der mit einem Lächeln garniert war, und stand auf. Dann ging sie zum Küchenregal neben dem Spülbecken und beäugte die Küchensachen. Und ich ging zum Tisch und sah mir das Buch an. Es war ein dickes schwarzes kleinformatiges: Die Heilige Schrift stand in Goldbuchstaben auf dem Einband. Eine Bibel also. Mit Leseband.

„Krass“, sagte ich.

Es rutschte mir so raus. Und ich fragte mich, ob sie wirklich in der Bibel gelesen oder nur so getan hatte und wenn ja, warum.

Zoé schwieg.

Ich ging zum Tisch und hob den Hörer vom Telefon. Nichts. Dafür Knistern und Rauschen aus Zoés Richtung. Im Spiegel sah ich, dass Zoé sich am Radio versuchte.

„Krass!“, sagte sie.

Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass sie eine Show abzog, und das ärgerte mich.

„Was ist das eigentlich hier?“, fragte ich.

„Was meinst du?“

„Das alles.“

„Ein Luftschutzkeller.“

„Ein was?“

Sie zog die Augenbrauen hoch und seufzte. Setzen, sechs!, sollte das bedeuten. Blöde Kuh. Luftschutzkeller! War man hier vor frischer Luft geschützt? Und wenn ja, warum? Und was war mit der Sauerstoffzufuhr? Oder sollte er einen bei einem Supergau schützen, einem Atomunfall? Aber warum war dann alles so altmodisch hier?

Ich verschluckte weitere Fragen nach dem Luftschutzkeller, obwohl oder weil Zoé mich erwartungsvoll ansah.

Stattdessen fragte ich: „Dein Vater wohnt manchmal hier?“

„Nicht im Luftschutzkeller! Oben! Er ist Professor in Basel.“

Ich ließ nicht locker: „Und mit Peer Anders befreundet?“

„So kann man das nicht sagen.“

„Wie denn?“

„Anders.“

Sie grinste. Bingo!

Sie nahm eine Schallplatte aus einer Stellage und studierte das Etikett. Sie schien schwerer und dicker als alle alten Schallplatten, die ich je gesehen hatte. Und sie hatte eine andere Größe. Es musste sich um einen vorsintflutlichen Plattenspieler handeln, mechanisch, nicht elektrisch, mit einem Tonarm mit einer weit herausragenden dicken Nadel.

Ich ging demonstrativ zurück zu der Klappe.

Jetzt goss es in Strömen. Und richtig dunkel war es inzwischen. Das Moor wie hinter einem Vorhang.

Was bildete sich Zoé eigentlich ein? Zog ihre Show ab, kein Mensch wusste warum, aber ich würde sie bestimmt nicht danach fragen!

Sie stand plötzlich dicht hinter mir und ich drehte mich um. Wir funkelten uns an. Irgendetwas war ganz verkehrt.

Zoé schniefte und sagte: „Es regnet rein.“

„Na und?“, schnappte ich. „Ich hab das Ding nicht aufgemacht.“

Ich ließ sie stehen, hörte, wie sie die Klappe schloss, ging zur Tür ganz hinten, links an der Seite und bewegte sie hin und her.

„Eisen“, sagte ich. „Interessant.“

„Was Männer so interessant finden.“

Ich warf ihr einen Blick zu, der sie in Asche verwandeln sollte. Aber sie war anscheinend immun.

Hinter der Eisentür ging eine Holztreppe bis zu einer Luke, die offen stand.

Ich hatte genug von Zoé und stieg die Treppe hinauf und durch die Luke in einen Raum, der Fenster zum Garten hin hatte. Die Klappertür war jetzt geschlossen.

Der Raum war voller Gartengeräte und –möbel. Ein Schrank, eine Truhe, Kisten. Die Tür zu einem Gang stand offen.

Zoé kam mir nach, ging an mir vorbei in den Gang und schaltete das Licht an.

„Kommst du?“, fragte sie. „Ich will dir was zeigen.“

Sie war wie eine Klette. Und ich wusste nicht, was sie von mir wollte. Außer, sie benutzte mich als Versuchskaninchen.