Das Haus der tausend Schatten - Tina Lyr - E-Book

Das Haus der tausend Schatten E-Book

Tina Lyr

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Beschreibung

In dieser neuartigen Romanausgabe beweisen die Autoren erfolgreicher Serien ihr großes Talent. Geschichten von wirklicher Buch-Romanlänge lassen die illustren Welten ihrer Serienhelden zum Leben erwachen. Es sind die Stories, die diese erfahrenen Schriftsteller schon immer erzählen wollten, denn in der längeren Form kommen noch mehr Gefühl und Leidenschaft zur Geltung. Spannung garantiert! Auf der Leinwand sah Sharon ihr eigenes Gesicht. Aber was für ein Gesicht! Das Haupt der Medusa, aus deren Kopf helle Flammen schossen, mit schreckgeweiteten Augen, die aus den Höhlen quollen, und einem Mund, der zu einem tonlosen Schrei aufgerissen war. Das Furchtbarste aber war der schwarz angelaufene Hals, den ein dickes Seil zuschnürte. Fassungslos starrte die junge Frau auf das widerwärtige Porträt. In grellen Schockfarben gemalt, leuchtete es ihr förmlich entgegen, brannte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein. Ein Kunstkenner hätte anhand der Pinselführung wohl auf den Maler schließen können. Wichtiger als der Schöpfer des Bildes aber war die Botschaft, die es enthielt. Eine Warnung? Oder eine Todesdrohung? Tod durch Erwürgen hieß Mord. Die schemenhafte Gestalt im Gebüsch neigte den Kopf leicht zur Seite und folgte mit den Augen der chromblitzenden Limousine, die zügig auf der gewundenen Küstenstraße fuhr. In einer scharfen Linkskurve geriet der Wagen außer Kontrolle, prallte schlingernd gegen eine Felswand. Er überschlug sich, überschlug sich abermals. Die Räder setzten auf dem schmalen Randstreifen neben dem Abgrund auf, rutschten ab. Das Fahrzeug verlor den Halt und stürzte senkrecht in die Tiefe. Noch im Fallen kippte es vornüber, wie ein gigantischer silberfarbener Vogel, der im flirrenden Licht der Mittagssonne einen Salto mortale vollführt. Weit unten, auf dem steinigen Strand, endete der Flug. Eine hässliche Explosion erschütterte die Stille, das Wrack ging in Flammen auf. Wer immer darin gesessen haben mochte, war tot.

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Gaslicht – 68 –

Das Haus der tausend Schatten

Tina Lyr

Auf der Leinwand sah Sharon ihr eigenes Gesicht. Aber was für ein Gesicht! Das Haupt der Medusa, aus deren Kopf helle Flammen schossen, mit schreckgeweiteten Augen, die aus den Höhlen quollen, und einem Mund, der zu einem tonlosen Schrei aufgerissen war. Das Furchtbarste aber war der schwarz angelaufene Hals, den ein dickes Seil zuschnürte. Fassungslos starrte die junge Frau auf das widerwärtige Porträt. In grellen Schockfarben gemalt, leuchtete es ihr förmlich entgegen, brannte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis ein. Ein Kunstkenner hätte anhand der Pinselführung wohl auf den Maler schließen können. Wichtiger als der Schöpfer des Bildes aber war die Botschaft, die es enthielt. Eine Warnung? Oder eine Todesdrohung? Tod durch Erwürgen hieß Mord.

Die schemenhafte Gestalt im Gebüsch neigte den Kopf leicht zur Seite und folgte mit den Augen der chromblitzenden Limousine, die zügig auf der gewundenen Küstenstraße fuhr. In einer scharfen Linkskurve geriet der Wagen außer Kontrolle, prallte schlingernd gegen eine Felswand. Er überschlug sich, überschlug sich abermals. Die Räder setzten auf dem schmalen Randstreifen neben dem Abgrund auf, rutschten ab. Das Fahrzeug verlor den Halt und stürzte senkrecht in die Tiefe. Noch im Fallen kippte es vornüber, wie ein gigantischer silberfarbener Vogel, der im flirrenden Licht der Mittagssonne einen Salto mortale vollführt. Weit unten, auf dem steinigen Strand, endete der Flug. Eine hässliche Explosion erschütterte die Stille, das Wrack ging in Flammen auf. Wer immer darin gesessen haben mochte, war tot. Einen solchen Unfall überlebte keiner.

Ein hämisches Lächeln umspielte die vollen Lippen des einsamen Zeugen. Seine schmale Nase blähte sich vor Freude.

Die hellen Augen glühten im wilden Triumph.

»Das ist das Ende von Gregory Bryant«, sagte der umheimliche Beobachter fröhlich. »Ich gratuliere dir, alter Knabe. Es war ein brillanter Abgang von dieser schönen Welt.«

Er lachte unbändig. Wie ein Mensch, dem soeben ein köstlicher Scherz gelungen war.

Eine Eidechse, die sich auf dem Stein vor dem Strauchwerk gesonnt hatte, floh eiligst in eine Felsritze.

*

Seit Tagen regnete es ununterbrochen. Die Nässe hatte Schmutz und Abgase in sich aufgesogen. Gleich einem dicken, grauen, triefenden Schwamm saß sie in den hohen Betonschluchten der New Yorker Innenstadt und schuf eine außerordentlich triste Atmosphäre. Mehrreihige Autoschlangen krochen im Schneckentempo vorwärts, während die Fußgänger wie getrieben durch die Straßen hasteten und sich missmutig fragten, wieso, zum Kuckuck, sie nicht im sonnigen Florida lebten.

Sharon Cartsham indessen fühlte sich vollkommen glücklich. Dass ringsum eine deprimierte Stimmung herrschte, nahm sie überhaupt nicht wahr. In bester Laune steuerte sie ihren kleinen Austin durch das dichte Verkehrsgewühl und trällerte dazu wie eine Lerche im Frühling. Sie hatte auch allen Grund, sich zu freuen, war ihr doch unversehens ein Vermögen in den Schoß gefallen. So sang sie noch, als sie am frühen Abend Long Island erreichte und ihren Wagen in der Garage ihres Elternhauses abstellte.

»Das Leben ist wie ein Lotteriespiel; es verteilt mehr Nieten als Gewinne«, pflegte Popsey, Sharons Vater, zu sagen. Seine Tochter aber hatte einen Haupttreffer gezogen.

»Hallo, ihr Knilche. Wie geht es euch?«

Übermütig warf sie der Garten-zwergkolonie auf dem Rasen eine Kusshand zu und eilte die Stufen zu der eleganten weißen Villa im Kolonialstil hoch. Der bunte koreanische Plastikgnom, der neben den schlanken dorischen Säulen vor der Veranda so deplaziert wirkte wie eine Kuckucksuhr in der Schaltzentrale der NASA, bekam ihren tropfnassen Regenschirm über den Arm gehängt.

Sharon tippte dem Zwerg an die Nasenspitze. »He, Dicky, altes Haus, willst du mir nicht zu meiner Erbschaft gratulieren?«, fragte sie.

Dicky blieb stumm. Trotz eifriger Suche hatte Popsey noch keinen sprechenden Gartenzwerg gefunden.

»Dann eben nicht.«

Die junge Frau schlüpfte aus ihren Schuhen und fegte wie ein Wirbelwind durchs Haus.

»Mum. He, Mum, wo bist du?«

Die Antwort kam vom anderen Ende der Halle. »In meinem Kochstudio, Liebling.«

Sharon schnitt eine Grimasse. »Kochstudio« war ein irreführender Name für einen Raum, der bestenfalls Ungenießbares hergab. Harriet, die Köchin, nannte ihn respektlos »das Giftlabor«, und mit Ausnahme von Mrs Cartsham selbst waren alle Hausbewohner geneigt, dieser Bezeichnung beizupflichten. Vivica verfügte über zahlreiche Talente, doch auf die Zubereitung von Delikatessen verstand sie sich nicht. Sie wollte es bloß nicht einsehen.

Sharon begab sich ins »Kochstudio«.

»Hallo, Mum.«

Die zierliche Mitvierzigerin, die mit aufgestützten Händen am Küchentisch lümmelte und etwas fassungslos ein unförmiges schwarzes Gebilde begutachtete, hob zerstreut den Kopf. »Hallo, Schatz. Du kommst heute recht spät.«

»Ich habe noch bei Sharpe, Sharpe und Mason vorbeigesehen«, erklärte Sharon wie beiläufig, obwohl sie vor Mitteilungsdrang fast barst.

Ihre Mutter hob fragend die Brauen. »Wer sind diese Leute? Freunde von dir?« Mit konzentrierter Aufmerksamkeit begann sie, ihr jüngstes Erzeugnis mit einem Messer zu beschaben.

»Nein, Anwälte.« Sharon, vorübergehend von ihrer großen Neuigkeit abgelenkt, betrachtete fasziniert das schwarze Objekt. »Hast du wieder zu töpfern angefangen, Mum? Was soll das darstellen?«

Vivica schüttelte heftig den blonden Kopf. Mit ihrem wippenden Pferdeschwanz und ihrer legeren Kleidung sah sie viel jünger aus, als sie war, beinahe wie ein Teenager, der »erwachsen« mimte.

»Napfkuchen«, erwiderte sie im Telegrammstil. »Scheint nicht ganz gelungen zu sein. Lag vermutlich am Rezept.«

»Wirf das Ding in den Müllschlucker«, riet Sharon respektlos.

Mrs Cartsham blickte beleidigt drein. »Der Kuchen ist eine Überraschung für Popsey.«

Mr Cartsham hieß eigentlich »Sophonias«, weil seine Eltern bibelfeste Leute waren. Da er diesen Namen absolut grässlich fand, zog er es vor, auf seinen Spitznamen zu hören.

Sharon grinste schadenfroh. »Da wird Popsey sich aber mächtig freuen. Hoffentlich hast du genügend Magentabletten im Haus.«

Vivica hielt es für unter ihrer Würde, auf diese anzügliche Bemerkung einzugehen. Stattdessen fragte sie neugierig: »Weshalb hast du einen Anwalt aufgesucht, noch dazu einen fremden? Hast du etwas ausgefressen?«

»Mitnichten. Ich habe geerbt.«

»Geerbt? Ist jemand gestorben? Wer denn?«

»Onkel Greg.«

»Onkel Greg? Wer soll das sein? Du sprichst doch nicht etwa von Gregory Bryant?«

»Von wem sonst?«, erwiderte Sharon etwas ungeduldig. »Er ist vor einem Monat gestorben und auf Malta beigesetzt worden.«

Die Nachricht vom tragischen Unfalltod des berühmten Malers und Bildhauers war durch die gesamte westliche Medienlandschaft gegangen. Es hatte unzählige Nachrufe auf Gregory Bryant gegeben. Die Preise für seine Werke waren schlagartig in die Höhe geschnellt. Wer »in« sein wollte, musste einen echten »Bryant« besitzen. Es gehörte zum guten Ton.

»Der alte Geizkragen hat dich in seinem Testament bedacht?«, fragte Vivica ungläubig. »Ich bin sprachlos, ehrlich. Zu seinen Lebzeiten hat er seine Familie zum Teufel gewünscht.«

»Ich bin sogar seine Universalerbin«, verkündete Sharon, sich in die Brust werfend.

Mrs Cartsham blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. Sie schluckte. »Er hat alles dir hinterlassen? Alles?«

»So ist es.«

»Das finde ich super.« Spontan sprang die Frau auf und lief um den Tisch, um ihre Tochter zu umarmen. »Herzlichen Glückwunsch, mein Liebes.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, was für eine Überraschung!«

»Ein Hoch auf den teuren Verblichenen.«

»Ich frage mich, was Greg zu einem solchen Entschluss bewogen haben mag«, gestand Vivica. »Immerhin war er nicht einmal dein richtiger Onkel, sondern ein Vetter deines Großvaters.«

»Stimmt«, bestätigte Sharon heiter. »Er hat auch erklärt, weshalb seine Wahl ausgerechnet auf mich fiel. Höre und staune, Mum.« Sie zog eine Kopie des Testaments aus der Tasche und wedelte damit in der Luft. »Er hat mir sein Vermögen hinterlassen, weil ich die Einzige seiner Verwandten bin, deren Anblick ihm zeitlebens erspart blieb.«

»Na, wenn das keine unverschämte Begründung ist!«, rief Vivica empört aus. »Aber es sieht ihm ähnlich.« Dann siegte die Neugier über ihre Entrüstung. »Wie viel ist es denn?«

»Eine Viertelmillion Dollar«, gab Sharon ehrfürchtig zur Auskunft.

Ihre Mutter schnappte hörbar nach Luft. Enttäuschung malte sich auf ihren hübschen koboldhaften Zügen.

»Mehr nicht? Er muss steinreich gewesen sein. Wo ist sein Vermögen geblieben? Hat er es verpraßt?«

Sharon zuckte gleichmütig in die Achsel. »Woher soll ich das wissen? Ich bin vollauf zufrieden mit dem, was ich bekommen habe. Überlege bloß, wie lange ich dafür arbeiten müsste.«

»Trotzdem …«

»Sei nicht unbescheiden, Mum. Das Beste kommt noch. Mir gehört jetzt die ›Löwenhöhle‹. Onkel Gregs berühmte Villa auf Malta. Einfach grandios, oder nicht?«

»Wie man’s nimmt«, lautete die skeptische Antwort. »Jedes Haus trägt den Stempel seiner Bewohner.«

»Woraus ich schließe, dass Onkel Greg nicht gerade deinen Beifall fand. Was für ein Mensch war er?«

Vivicas Gedanken wanderten in die Vergangenheit. »Ich habe ihn nur einmal gesehen, doch diese eine Begegnung genügte mir. Ich mochte ihn nicht. Er war mir – unheimlich.«

»Unheimlich? Ist das nicht zu krass ausgedrückt?«

Mrs Cartsham schüttelte den Kopf. »Nein«, erklärte sie mit Nachdruck. »Er flößte mir Unbehagen ein. Zum Teil lag es wohl an seinen stechenden Augen. Sie waren kalt und gelb wie Bernstein, und seine Aura war ausgesprochen negativ. Würde mich nicht wundern, wenn er im Jenseits keine Ruhe fände.«

Vivicas liebstes Steckenpferd war die Beschäftigung mit dem Übersinnlichen. Dank der medialen Fähigkeiten, die sie angeblich besaß, war sie Vorsitzende eines Spiritistenzirkels und unterhielt einen regen Kontakt zur »Geisterwelt«.

Sharon hüstelte. »Du übertreibst mal wieder, Mum. Was mich betrifft, so ist Onkel Greg geradezu ein Wohltäter gewesen.«

»Das, mein Liebes, war er bestimmt nicht. Er war ein Menschenverächter reinsten Wassers.«

»In diesem Fall hätte er sein Vermögen wohl eher einem Heim für herrenlose Katzen vermacht als mir.«

Mrs Cartsham ignorierte diese Bemerkung. »Wie dem auch sei, es ging etwas Düsteres von ihm aus, und das lag nicht nur an der schwarzen Kleidung, die er immer trug. Alles an ihm war dunkel, morbid; er liebte den Schatten mehr als das Licht. Es wundert mich keineswegs, dass seine Frau ihm damals davonlief. Elaine ist ein süßes, sympathisches Geschöpf. Greg hingegen war, um es milde auszudrücken, ein Sonderling.«

Sharon warf einen vielsagenden Blick auf den missglückten Napfkuchen. »Dann hat er ja blendend in unseren Clan gepasst.«

»Wie meinst du das?«, forschte Vivica pikiert.

»Nun, sind wir nicht alle ziemlich verschroben?«

»Wir sind Individualisten, Kind.«

»Das klingt natürlich viel feiner.«

Sharon hatte nicht unrecht, wenn sie auf die Marotten ihrer Familie hinwies. Die Cartshams – die angeheirateten nicht ausgenommen – hatten an Exzentrizität einiges zu bieten. Großmama Maud, zum Beispiel, raste auf ihrem Motorrad durch die Gegend und hielt sich – statt einer Katze oder einem Hund – einen Löwen als Haustier. Ihr Mann wiederum, Großpapa Kit, verabscheute jede Art von Symmetrie und bewohnte daher eine Villa, an der alles dreieckig war. Popsey, der Sohn der beiden, geriet in Ekstase, sobald er einen bunten Gartenzwerg erblickte, während seine Frau Vivica »Geister aus dem Jenseits« beschwor. Auch Sharon selbst passte gut in diese Szene, hatte sie doch die zermürbende Angewohnheit, ihr Herz an die falschen Männer zu verlieren. Tim Callagham war der Letzte gewesen. Schön wie Adonis und charakterlich eine Null. Wie seine Vorgänger auch.

»Was hat Elaine bekommen?«, erkundigte sich Vivica.

»Keinen müden Cent.«

»Wie rachsüchtig von Greg.«

»Und wie günstig für mich«, trumpfte Sharon auf. »Nur der Umstand, dass Elaine Bryant vor zwei Jahren mit ihrem Verehrer durchgebrannt ist, hat mir diesen Goldregen beschert. Wie hieß er noch? Elaines Liebhaber, meine ich.«

Auf Vivicas Gedächtnis war Verlass, wenn es um pikante Affären ging. »Roger Delauny.«

»Er und Elaine sind spurlos verschwunden, nicht wahr?«

»Ja. Roger ist Archäologe; vermutlich hat er Elaine zu einer Ausgrabung in den mexikanischen Dschungel mitgenommen. Wenn du mich fragst, die beiden taten gut daran, unterzutauchen. Greg hatte ein sehr hitziges Temperament.« Vivicas Aufmerksamkeit konzentrierte sich wieder auf die unmittelbaren Interessen ihrer Tochter. »Was wirst du jetzt unternehmen, Liebling?«

Sharon brauchte nicht lange zu überlegen. »Ich werde nach Malta fliegen und in der ›Löwenhöhle‹ meine Wunden lecken«, sagte sie spontan.

»Wegen Tim?«, forschte Vivica behutsam.

»Ja.«

»Du solltest nicht allein in einem Haus wohnen, das von Gregs unseliger Gegenwart geprägt wurde. Es wäre besser, du würdest es veräußern.«

»Das ginge nicht, selbst wenn ich es wollte, Mum. Onkel Greg hat verfügt, dass seine Villa weder verkauft, vermietet noch in ein Museum umgewandelt werden darf. Ich habe lediglich das Recht, darin zu wohnen.«

»Eine unsinnige Klausel«, meinte Mrs Cartsham. »Ebenso verrückt wie Greg selbst. Nun ja, Abdullah hat mich stets vor ihm gewarnt.«

»Ah, wirklich?«, spöttelte Sharon.

Abdullah war Vivicas persönlicher Geist, auf den sie sich immer berief, wenn sie ihren eigenen Aussagen Gewicht verleihen wollte. Als »höhere Instanz«, war er unanfechtbar, ganz einfach deshalb, weil niemand ihn je zu Gesicht bekam.

Selbst Popsey hatte nie herausfinden können, ob seine Frau nun tatsächlich an die Existenz ihres privaten Gespenstes glaubte, oder ob sie es lediglich erfunden hatte, weil es vorteilhaft war, eines zu haben. Abdullah hob ihren Ruf als Sensitive, zumindest in ihrem spiritistischen Zirkel.

»Ich wünschte, ich könnte dich begleiten«, sagte Mrs Cartsham sehnsüchtig. »Aber du weißt ja, wie ungern Popsey allein bleibt. Er ist eben ein häuslicher Mensch.«

Das stimmte aufs Wort. Zwar war Mr Cartsham Chef eines großen Mischkonzerns, in der Geschäftswelt für riskante Einzelmanöver bekannt, doch im Privatleben ließ er sich gern von seiner Frau und seiner Tochter leiten. »Er liebt seine Ketten«, pflegten seine Freunde zu spötteln, doch das berührte ihn nicht.

»Komm doch nach, sobald du es einrichten kannst«, schlug Sharon vor.

Vivicas veilchenblaue Augen leuchteten auf. »Das werde ich bestimmt tun«, versprach sie. »Schließlich brauchst du jemand, der auf dich aufpasst.«

»Hört! Hört!«

»Außerdem halte ich es für meine Pflicht, das Fluidum der ›Löwenhöhle‹ zu ergründen, wenn du schon unbedingt darin leben willst. Da Greg das Haus mit seinem Wesen geprägt hat, dürften die Schwingungen beklemmend sein. Er war ein Teufel.«

»Hat Abdullah dir das eingeflüstert?«, spottete Sharon. »In der Presse liest es sich anders.«

Ihre Mutter machte eine abfällige Handbewegung. »Pah! Was wissen diese Journalisten über den wahren Gregory Bryant? Nichts. Absolut nichts. Wenn du erst in der ›Löwenhöhle‹ wohnst, wirst du die Wahrheit über ihn entdecken.«

Vivica legte den Kopf in den Nacken. Ihr Gesicht verklärte sich; es schien, als lausche sie einer inneren Stimme. »Steine sind nicht tot, sie schweigen nicht. Sie werden sich erheben und die Wahrheit offenbaren.«

»Jetzt wirst du dramatisch, Mum«, kommentierte Sharon trocken. Innerlich fühlte sie sich allerdings ziemlich unbehaglich. Für einen flüchtigen Augenblick hatte ihre Mutter wie eine Sibylle des Alten Testaments ausgesehen.

Gab es die Gabe der Prophezeiung wirklich? Oder war sie nur eine theatralische Pose?

Gab es einen Brückenschlag zwischen den Zeiten und Sphären?

Nein, nein und abermals nein. Falls solche Fähigkeiten tatsächlich existierten, dann waren sie den Göttern vorbehalten. Den Menschen indessen blieb ein Blick in die Zukunft verwehrt!

Während die junge Frau zu dieser beruhigenden Gewissheit gelangte, tat sich auf der anderen Seite des Globus etwas, das ihre Überzeugung gehörig ins Wanken gebracht hätte. Es geschah auf einer Insel im fernen Mittelmeer.

Durch die abgedunkelten Zimmer der »Löwenhöhle« streifte eine geisterhaft bleiche Gestalt. In der Halle blieb sie stehen, legte den Kopf in den Nacken und begann zu lachen. Es war ein böses, höhnisches Lachen, das hohl durch den einsamen Raum tönte und von den Wänden ringsum verschluckt wurde.

Niemand hörte dieses Lachen. Und doch gellte es noch in den Ohren derer, die es einst vernommen hatten.

*

An einem sonnigen Junimorgen traf Sharon in Valletta, der alten maltesischen Hauptstadt, ein. Tausend Segenswünsche, Ermahnungen und gute Ratschläge begleiteten sie.

Nachdem sie einen Jungen mit dem Transport ihres Gepäcks beauftragt hatte, erfragte sie sich den Weg zur Kanzlei von Mr Alberto Pace, dem Rechtsberater und Testamentsvollstrecker ihres verstorbenen Verwandten. Mit der Verständigung gab es zum Glück keine Schwierigkeiten. Da Malta ein Mitglied des Britischen Commonwealth war, sprachen die Einheimischen recht geläufig Englisch.

Sharon hatte Mr Pace telefonisch von ihrem Kommen unterrichtet und ihn beauftragt, alles Notwendige für ihren Einzug in die »Löwenhöhle« zu veranlassen. Zu ihrer Bestürzung musste sie nun erfahren, dass der Anwalt keinen Finger gerührt hatte, um ihren Anweisungen nachzukommen. Seit Gregory Bryants Tod war niemand mehr in der Villa gewesen.

»Haben Sie wenigstens dafür gesorgt, dass der Telefonanschluss funktioniert?«, fragte die junge Frau.