Das Haus der verwunschenen Kinder - Christian Gierend - E-Book

Das Haus der verwunschenen Kinder E-Book

Christian Gierend

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Beschreibung

Wie jedes Jahr verbringt die 16-jährige Isabell aus Dortmund ihre Sommerferien bei ihren Großeltern in Kirchenbrunn, einem kleinen Ort in Bayern. Bei einem Ausflug mit ihren Freunden entdeckt sie in einem verborgenen Stollen einen halbverwesten Leichnam. Es ist nicht das einzige Mysterium des Ortes. Vor zehn Jahren verschwanden aus Kirchenbrunn spurlos drei Kinder. Es hält sich der Glaube, der Teufel persönlich habe sie geholt. Isabell scheint mit den alten Geschichten mehr in Verbindung zu stehen, als sie wahrhaben will.

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HYBRID VERLAG

Vollständige elektronische Ausgabe

04/2023

 

Das Haus der verwunschenen Kinder

 

© by Christian Gierend

© by Hybrid Verlag, Westring 1, 66424 Homburg

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magical Cover Design, Giuseppa Lo Coco

Lektorat: Eva Kunadt, Mika Jänisen

Korrektorat: Petra Schütze

Buchsatz: Lena Widmann

Autorenfoto: Barbara Beck

 

Coverbild ›Puppenmoor‹

© 2021 by Creativ Work Design, Homburg; Stock-Fotografie-ID: 869402154, Bildnachweis: PatriciaDz; Stock-Fotografie-ID: 91740398, Bildnachweis: toxawww

Coverbild ›Dämonenritt‹

© 2021 by Creativ Work Design; Stock-Fotografie-ID:509859337 / Bildnachweis: D-Keine; Lizenzfreie Stockfoto Nummer: 2025647777 / Bildnachweis: FOTOKITA; Stock-Fotografie-ID:1181216754 /

Bildnachweis: mputsylo

Coverbild ›Aljizar – Das Folterhaus‹

© 2021 by Creativ Work Design

Coverbild: Datei-Nr. 192894435 Portrait of beautifulgirl,

Bildnachweis: olly

Coverbild ›Mein ist die Strafe‹

© 2020 by Creativ Work Design, Homburg

 

ISBN 978-3-96741-180-4

 

www.hybridverlag.de

www.hybridverlagshop.de

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Printed in Germany

 

 

Christian Gierend

 

Das Haus der verwunschenen Kinder

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Thriller

 

 

 

INHALT

 

 

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

51.

52.

53.

Danksagung

Der Autor

Hybrid Verlag …

 

 

 

 

 

 

 

 

Prolog

 

Es ist nicht nur die Übelkeit, die mich hochschrecken lässt. Etwas hat mich aus dem Schlaf gerissen. Hat nicht eben eine Stimme aus dem Dunkeln meines Zimmers nach mir gerufen? Ist es nicht jene gewesen, vor der ich mich so sehr fürchte?

Diese Luft — diese dicke, stickige Luft.

Ich quäle mich aus meinem Bett, öffne einen der Flügel meines Zimmerfensters und lasse mich zurück in die Kissen fallen. Ein kühler Hauch streift meine Haut, lindert für einen Atemzug meine Qual.

Dabei ist es so ein wunderbarer Sommertag gewesen. Der Himmel fast wolkenlos, die Sonne so heiß.

Großmutter Franziska hat es gut gemeint mit der Brotzeit. Mag sein, dass ich mir zu viel genommen habe, dort draußen, in der Abendsonne, an dem so hübsch gedeckten Holztisch auf der Veranda. Dabei weiß ich, dass es nicht das Abendbrot ist, das mir die Übelkeit in die Magengrube treibt. Mein Bauch fühlt sich so hart an wie ein Stein. Es ist, als ob mein Magen in Ketten liegt.

Ich balle meine Hand zu einer Faust. Der Druck in meinem Bauch treibt mir den Schweiß auf die Stirn. Ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel, ohne ernsthaft zu glauben, dass es hilft.

Mein Atem geht schwer, denn nun kommt die Angst hinzu. Sie kommt immer ein bisschen später, nachdem die Übelkeit mich aus dem Schlaf geweckt hat. Es ist nicht das erste Mal, dass ich solch eine Nacht erlebe. Nein, ich kenne sie vom letzten Jahr. Und aus dem Jahr zuvor. Und aus den vielen weiteren Jahren davor. Ich kenne den Ablauf dieser Nacht nur zu gut. Ich weiß genau, was mich erwartet.

Ich mag mich nicht bewegen. Wenn ich stillliege, ist es so, als setzen Schmerz und Pein für einen Augenblick aus. Und doch ist mir klar, dass mein Gedanke trügt. Natürlich werde ich mich bewegen. Ich werde mich aus meinen Kissen wälzen, mich aus meinem Bett hieven und aufstehen müssen, um die Dinge zu tun, die die Stimme von mir verlangt. Ich habe keine andere Wahl. Wenn die Stimme kommt, werde ich ihr gehorchen. Nur so lässt Gott es zu, dass ich die Nacht heil überstehe.

Mein Atem geht schnell, viel zu schnell. Ich fange an zu hyperventilieren. Sicher bin ich gerade leichenblass. Würde ich jetzt in einen Spiegel schauen, würde mich mein Antlitz garantiert zu Tode erschrecken. Ich möchte nicht wissen, welche Angst in meinen Augen liegt.

Es ist so weit. Ich erhebe mich aus den Kissen und setze mich auf den Rand meines Bettes. Bilder erscheinen in meinem Kopf, zeigen mir jenen Ort, an den ich mich begeben muss. Nur dort kann ich meine Erlösung finden.

Von der Matratze aus lasse ich mich auf die Knie gleiten. Ich drücke meine Faust gegen den Bauch. Als könne ich so einen Gegendruck zu meinen Gedärmen aufbauen, als könne ich so die Angst vertreiben. Immer noch geht mein Atem viel zu schnell. Einen Moment noch verharre ich auf dem kalten Boden. Dann raffe ich mich auf.

Über die knarrenden Treppenstufen suche ich mir den Weg nach unten. Es ist dunkel. Ich knipse das Licht im Flur an und hoffe, dass der helle Schein nicht meine Großeltern weckt. Franziska und Anton sind schon so alt, sie brauchen ihren Schlaf. Sollen sie nur fest schlafen. Sollen sie das makellose Bild, das sie von ihrer Enkelin haben, für alle Zeiten mit sich tragen. Denn die Wahrheit ist so bitter.

In der Küche erlaube ich mir einen Schluck Wasser. Im fahlen Schein des Flurlichts öffne ich die Kühlschranktür und greife nach der halbvollen Wasserflasche. Die Kälte aus dem Inneren des Eisschrankes tut mir gut. Doch die Übelkeit und diese grässliche Angst bleiben. Denn ich weiß, was nun folgt.

Mein Blick gleitet durch den im spärlichen Licht liegenden Raum und bleibt an dem massiven Holzblock mit den Küchenmessern hängen. Ich schleiche hinüber und ziehe das oberste heraus. Großmutter benutzt es, wenn sie ihre berühmten Filetspitzen mit Rahmsoße macht. Sie meint, dieses Messer würde das Fleisch am besten schneiden.

Doch das stimmt nicht.

Ein Gedanke jagt durch meinen Kopf. Ich lasse das Messer zurück in den Block gleiten und öffne die zweite Schublade unterhalb der Anrichte. Das Messer aus Damaszener Stahl, das ich dort hervorhole, ist zweifellos schärfer als alle anderen im Haus. Im Schein der Lampe betrachte ich die zweischneidige Klinge. Sie zeigt feine Riefen und muss schon einmal nachgeschärft worden sein.

Leise schließe ich die Schublade. Meine Finger krallen sich fest um den schwarzen Griff des Messers. Ich gehe über den Flur. Ich kenne meinen Weg. Die Bilder in meinem Kopf führen mich hinab in den Keller. Meine nackten Füße suchen sich ihren Weg über die kalten Steinstufen. Ich weiß, dort, zwischen Moder und Fäulnis, wartet die Stimme auf mich.

Unten im Keller ziehe ich mir Nachthemd und Unterwäsche aus, falte alles sorgfältig zusammen und lege es zur Seite. Nackt lasse ich mich auf den eisigen Boden nieder. Ein Hauch von Licht, von der oberen Etage kommend, streift meinen bebenden Körper. Meine Brust hebt und senkt sich. Mein Atem geht schnell.

»Tue es!«, befiehlt die Stimme. Ich zögere nicht. Je bedingungsloser ich der Stimme gehorche, umso eher ist es vorbei.

Ich führe meine Hand wie die eines Chirurgen. Ein scharfer, kleiner Schnitt, eine Handbreit über meinem Schambein. Mein Körper zittert vor Schmerz, Kälte und Angst. Ich muss nicht hinsehen, um zu wissen, dass Blut aus der Wunde tritt.

»Du bist noch nicht fertig«, sagt die Stimme. »Mache weiter, Isabell!«

Meine Finger fahren über die offene Wunde, kleben vor Blut, doch es kümmert mich nicht. Hastig suche ich die zweite Stelle. Ich finde sie blind, sie ist knapp drei fingerbreit neben dem Bauchnabel. Ich halte die Luft an, denn ich will es rasch hinter mich bringen. Ein zweites Mal schneidet der Schmerz meine Seele in zwei Teile. Schatten tanzen über meinen Körper. Ich spüre, wie warme Tropfen meines Blutes über meine Haut rinnen.

»Hervorragend. Doch nun vollende es!«, gebietet mir die Stimme.

Fiebrig greife ich an meinen Brustkorb. Meine zittrigen Finger fahren über die vernarbte Stelle vom letzten Jahr. Ich schließe die Augen und beiße die Zähne zusammen. Ein drittes Mal durchzuckt mich der Schmerz.

Im selben Moment verklingt die Stimme und ich schleudere augenblicklich das Messer von mir, als trüge es die Schuld an meinem Leid. Ich höre, wie die scharfe Schneide über den harten Kellerboden scherbelt.

In der Finsternis ertaste ich mein Nachthemd und ziehe es mir über. An drei Stellen wird es nun von meinem Blut getränkt sein. Morgen, in aller Frühe, werde ich es waschen. Meine Verletzungen sind nicht tief, es ist nur die Haut. Doch ich schäme mich so. Am liebsten möchte ich mich im hintersten Winkel des Kellers verstecken, mich in die dunkelste Nische verkriechen. Dort, wo es am schmutzigsten ist, neben den Kohlen, dort möchte ich auf den neuen Tag warten.

 

1.

 

Das Schnarren der Schelle unten an der Haustür reißt mich aus einem quälenden Traum. Ich blinzle. Einen Augenblick lang fehlt mir jegliche Orientierung, dann begreife ich, dass ich in meinem Bett liege. Meine Augen fallen mir wieder zu. Ich drehe mich auf die andere Seite. Meine Hand zuckt nervös, ich ziehe sie unter mein Kopfkissen. Eine schreckliche Nacht liegt hinter mir. Erinnerungen zwängen sich in mein Bewusstsein. Hinter geschlossenen Augenlidern sehe ich wieder und wieder, wie die Klinge des Messers im fahlen Kellerlicht aufblitzt, wie ich mich damit schneide, wie ich mich in die Ecke neben dem Berg aus Kohlen ducke. Immer noch habe ich das Gefühl, als kauere ich dort unten im Keller.

Vom Schlaf benommen richte ich mich auf und setze mich auf die Bettkante. Das Morgenlicht fällt durch den Vorhang aus bunter Baumwolle und taucht mein Zimmer in ein gedämpftes Orange. Eine Strähne meines kastanienbraunen Haares fällt mir ins Gesicht und ich reibe mir die Augen. Das harte Holz des Bettes drückt sich gegen meine Schenkel. Ich mache eine falsche Bewegung und ein stechender Schmerz aus meinem Bauchraum reißt mich endgültig aus den Träumen. Mein Blick fällt auf einen weißen Plastikbeutel in der Ecke zum Bad. Sein Anblick erinnert mich an die letzte Nacht. Im Morgengrauen bin ich im Keller aufgewacht, in meinem blutigen und vom Kohlenstaub geschwärzten Nachthemd. Steif vor Schmerz und zugleich zitternd schleppte ich mich die Stufen hinauf. Doch ich zitterte nicht nur vor Kälte, es war auch meine Tat, die mich erschaudern ließ. In meinem Zimmer riss ich mir das Nachthemd vom Leib und stellte mich in dem kleinen Bad neben meinem Zimmer unter die heiße Dusche, um mir den Dreck und das Blut von Händen und Leib zu waschen. Den Schmutz konnte ich durch den Abfluss spülen, meine Scham jedoch blieb. Bevor ich mich in mein Bett verkroch und erschöpft in tiefen Schlaf fiel, steckte ich den von Blut und Ruß befleckten Stofffetzen in den Beutel dort.

Ich werde es in den Müll werfen. Nur weg damit. Ich möchte es nicht mehr sehen. Erst recht will ich es nicht mehr tragen. Die Müdigkeit hängt mir noch in den Gliedern, doch ich kämpfe dagegen an.

An der Tür unten klingelt es ein weiteres Mal. Ich höre die schlurfenden Schritte meiner Großmutter, ihre brüchige, greisenhafte Stimme, die ein »Ich komme ja schon« murmelt. Leise rasselnd dreht sie den Schlüsselbund an der Haustür herum. Gleich darauf hallt eine mir sehr vertraute, helle Mädchenstimme durch den Hausflur. Sie wünscht Franziska einen guten Morgen und gehört Anja Vallinger, meiner langjährigen Freundin.

»Isabell! Für dich«, ruftmeine Oma laut.

Natürlich — jetzt fällt es mir wieder ein. Wie konnte ich das vergessen? Wir beide haben uns für heute Morgen zu unserer ersten Ferien-Radtour verabredet. Nachdem Anja letztes Jahr auf die Idee gekommen ist, mir die Sehenswürdigkeiten des Bayerischen Walds per Rad zu zeigen, hatte ich sofort zugestimmt. Obwohl ich seit meiner Kindheit meine Sommerferien bei meinen Großeltern in Kirchenbrunn verbringe, konnte ich noch so vieles von der herrlichen Landschaft nicht erkunden. Also schnappte ich mir zu Anfang der letzten Sommerferien mein in die Jahre gekommenes Fahrrad, um es in Dortmund per Bahnfracht aufzugeben. Der Preis dafür hielt sich in Grenzen, sodass mein schmaler Schülerinnen-Geldbeutel nicht allzu sehr strapaziert wurde. Großvater Anton nahm das Bike in Kirchenbrunn entgegen, zog ihm eine neue Kette auf, richtete den Rahmen und teilte ihm einen Platz in seiner Garage zu. Anjas Idee erwies sich als Glücksgriff. Während der letzten Ferienzeit kann ich mich nicht an einen einzigen Tag erinnern, an dem wir nicht mit unseren Rädern unterwegs waren.

Eine Radtour ist zwar nicht gerade das, wonach mir jetzt der Sinn steht, doch ausgemacht ist ausgemacht. »Reiß dich zusammen!«, sage ich mir, ziehe mir schnell eine Jeans und ein frisches T-Shirt an und gehe die Treppe hinunter. Unten im Türrahmen steht meine gut gelaunte Freundin. Ich bin erstaunt, wie hübsch zurechtgemacht sie schon am frühen Morgen ist. Ihre blonden Haare trägt sie heute offen, was wunderbar zu ihrer hellen Bluse passt. Ich aber muss schrecklich aussehen. Bei meinem Anblick reißt meine Freundin ihre blauen Augen weit auf und mustert mich von Kopf bis Fuß, als ich die Stiegen hinabkomme. Auch Oma schaut mich verwundert an.

»Hi, Anja«, sage ich und versuche, dabei locker zu klingen.

»Was ist denn mit dir passiert?«, erwidert Anja und betrachtet mich weiter eingehend. »Du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgemacht.«

Ihre Worte und ihr durchdringender Blick lassen meinen Bauch kribbeln. Ich fühle mich, als müsse ich ein Geheimnis vor ihr verbergen. Erinnerungsfetzen an das, was gestern im Keller meiner Großeltern geschehen ist, streifen mein Gedächtnis. Wie ich mich schneide, wie ich das mit Blut befleckte Messer von mir werfe. Ich drücke meine Hand gegen den Bauch, spüre, wie mir die Luft wegbleibt. »Ja. Die Nacht über konnte ich kaum ein Auge zumachen — mein Magen, du verstehst?«

Ich hasse es, nicht die Wahrheit zu sagen. Doch im Moment kann ich nicht anders. Was auch immer letzte Nacht geschehen ist, darüber möchte ich jetzt nicht reden.

Anja zieht ein mitleidiges Gesicht. »Ach, du Ärmste. Unseren Ausflug können wir wohl vergessen.« Sie deutet auf meinen Bauch. »Meine Mutter hat von ihrem letzten Urlaub in Schweden einen wirklich unglaublichen Kräutertee mitgebracht. Der hilft gegen alles. Ich habe ihn selbst schon ausprobiert. Den kann ich dir gleich vorbeibringen, wenn du magst.«

»Bitte mach dir bloß keine Umstände«, erwidere ich. »Großmutter hat stapelweise Magentees, auf die sie alle schwört. Ein oder zwei Tassen davon und eine heiße Dusche, das wird helfen. Gib mir nur ein bisschen Zeit und ich komme gleich zu euch herüber.« Wie auf ein Stichwort hin begibt sich meine Großmutter in die Küche, um mir einen Tee aufzugießen.

»Ups, die hast du aber gut im Griff«, tuschelt Anja und zieht den Mundwinkel schief.

Darauf antworte ich nicht, sondern lasse sie besser in ihrem Glauben. Auch wenn Franziska eine fürsorgliche Person ist, so ist es leider eine traurige Eigenart meiner Großeltern, Menschen gegenüber, die nicht zu ihrem engsten Bekanntenkreis zählen, nicht unbedingt aufgeschlossen zu sein. Selbst gegenüber Anja nicht, die ich schon so lange kenne. Dabei ist Anja Vallinger nicht nur nett und zuvorkommend, sondern wohnt kaum fünf Häuser entfernt von hier. Den Grund für Franziskas und Antons Eigenbrötelei verstehe ich bis zum heutigen Tag nicht. Ich selbst weiß gar nicht mehr, wie viele Nachmittage ich schon bei den Vallingers zugebracht habe, wie oft ich während der vergangenen Urlaube mit Anja und ihrer für hiesige Verhältnisse weltoffenen Mutter Beate im Garten geklönt habe. Fast sind die beiden für mich so etwas wie meine zweite Familie geworden.

»Wir sehen uns nachher.« Ich ringe mir ein Lächeln ab und schließe die Tür vor Anjas Nase, bevor sie mir weitere Fragen stellen kann.

Die bevorstehende Radtour ist vielleicht gar keine so schlechte Idee. Die frische Luft und Anjas Gesellschaft werden mir guttun und mich auf andere Gedanken bringen. Das ist auf jeden Fall besser, als hier im Hause meiner Großeltern Trübsal zu blasen und über die letzte Nacht zu grübeln.

 

2.

 

Die wärmenden Strahlen der bayerischen Morgensonne und das laue Lüftchen, das mir durch die Haare weht, rufen die Lebensgeister in mir zurück. Ich atme die reine Luft tief ein und halte sie einen Augenblick lang in meinen Lungen fest. Sofort geht es mir besser. Auch Anja scheint bei guter Laune zu sein. Während ich mein blutiges Nachthemd in der Mülltonne entsorgt und anschließend meine Wunden mit einem Alaunstift behandelt habe, hat Anja die Zeit genutzt, ein Picknick für unseren Ausflug vorzubereiten. Doch ich habe nicht nur mein Nachthemd beseitigt. Auch meine Angst, meine Scham und meine Schmerzen habe ich mit dem Hemd in die Tonne geworfen. Ich will die letzte Nacht aus meinen Gedanken verbannen. Ich will nichts mehr von ihr wissen.

Wir schieben unsere Tourenräder über eine Bergkuppe entlang der wenig befahrenen Dorfstraße nach Kirchdorf, einer Fünfhundert-Seelen-Gemeinde am Hang eines Hügels. Saftiges Gras, gelber Alant und die zarten Blüten des Seifenkrauts wachsen zu unseren Füßen. Beinahe komme ich mir vor wie in einer lebendig gewordenen Kitsch-Postkarte.

»Erika hat geschrieben«, sagt Anja, während sie ihre rechte Hand vom Radlenker nimmt, um das verrutschte Lunchpaket auf ihrem Gepäckträger zu richten. »Sie möchte uns bald besuchen kommen. Ist das nicht schön? Ihr Studium lässt ihr gerade ein wenig Zeit, meint sie.«

»Jaja, die Rechtswissenschaften fordern ihren Preis«, antworte ich und klinge dabei ein wenig schnippisch. »Ich kann mich kaum noch an das Gesicht deiner großen Schwester erinnern, so lange hat sie sich schon nicht mehr bei euch blicken lassen.«

Anjas Stirn zieht eine Falte. »Jetzt übertreibst du aber. Okay, Erika war nie diejenige, die es allzu lange in der Stube ausgehalten hat. Doch wenn es darum ging, die Familie zusammenzuhalten, war sie immer für uns da.«

Ungern möchte ich meiner Freundin wehtun, doch ich komme nicht umhin, dazu meine Meinung zu äußern. »Erika und ihre Extratouren. Ein bisschen ausgenutzt hat sie die Tatsache schon, dass euer Vater früh gestorben und deine Mutter so gutmütig ist. Meinst du nicht auch?«

Damit hängt nun ein Thema zwischen uns in der Luft, auf das Anja für gewöhnlich allergisch reagiert. Sie liebt ihre Schwester über alles, weiß der Himmel, warum. Umgekehrt ist das eher nicht der Fall. Erika liebt nur einen einzigen Menschen: sich selbst. Wenn ich nicht oft genug miterlebt hätte, wie Erika aus reinem Eigennutz Anja um den Finger gewickelt und sie damit in allergrößte Schwierigkeiten gebracht hat, würde ich eventuell anders über sie denken. So aber ist Erika für mich nichts weiter als der Inbegriff purer Selbstsucht. Noch schmerzlicher ist es, zu wissen, dass Anja diese Tatsache bis zum heutigen Tage nicht wahrhaben will. Für Erika würde sie durch die Hölle gehen.

Anja vermeidet es, auf meine Bemerkung einzugehen, und deutet auf den Horizont. »Das Tal da hinten. Siehst du es? Durch das Tal fließt der Wallersbach, der anschließend in den Weißen Regen mündet. Mit seinen wilden Blumen ist es ein wunderhübsches Fleckchen Natur. Warst du schon mal dort?«

Ich schüttle den Kopf.

»Dann wäre das genau das richtige Ziel für unsere erste Etappe. Außerdem kann man entlang des Bachs prima mit dem Rad fahren«, sagt Anja weiter. »Bei so einem schönen Wetter ist das geradezu ein Muss. Dort können wir auch unser Picknick machen. Schließlich fahre ich den Früchtetee und die leckeren Tomate-Mozzarella-Brötchen nicht umsonst spazieren.«

Bis zu diesem Zeitpunkt bestand unser Ausflug einfach darin, aufs Geratewohl loszufahren und einfach zu schauen, wo es uns hintreibt. Doch Anjas Vorschlag hört sich gut an. Ich stimme ihr zu und schon radeln wir los.

 

Meine Freundin hat mir nicht zu viel versprochen. Der Wallersbach läuft mäanderförmig durch ein unter Naturschutz stehendes Tal mit grünen und saftigen Wiesen. Ich höre das sanfte Plätschern des Wassers, während wir mit unseren Rädern dem Bachverlauf folgen. Nach einer geschätzten Viertelstunde Fahrt lädt uns eine Bank aus grob behauenen Holzstämmen unter einer Gruppe aus knorrigen Kiefern zum Verweilen ein. Wir lehnen unsere Räder gegen die Bäume, setzen uns unter den nach Harz duftenden Zweigen auf die Bank und platzieren den Beutel mit den mitgebrachten Snacks genau zwischen uns.

Ich werfe einen kurzen Blick auf mein Handy. Ich habe eine Gute-Morgen-SMS von Sveta bekommen. »Schöne Grüße an das Bayern-Girl. Genieße deine Ferien«, schreibt sie. Wie lieb von ihr. Ich freue mich, dass meine beste Freundin in Dortmund schon am frühen Morgen an mich denkt. Sveta heißt eigentlich Svetlana, doch dieser Name stünde nur in ihrem Personalausweis, meinte sie einmal. Alle ihre Freunde und ihre ganze Familie würden nur Sveta zu ihr sagen. Sie, ihr Bruder und ihre Eltern sind vor drei Jahren in die Wohnung schräg gegenüber der Wohnung von Mama und mir eingezogen. Ursprünglich kommt ihre Familie aus Polen. Doch Sveta sagte, dass ihre Eltern schon so lange in Deutschland leben und arbeiten, dass sie Polen nur vom Urlaub her kenne.

Ich komme nicht umhin, Sveta eine kurze Antwort zu schicken. Dann stecke ich mein Telefon wieder in die Hosentasche zurück.

Neben mir beißt Anja genüsslich in eines der mitgebrachten Brote.

»Wie sieht es aus? Magst du ein wenig Käse und ein paar leckere Tomaten aus dem eigenen Garten? Aus Rücksicht auf deinen Magen habe ich extra nichts schwer Verdauliches eingepackt«, sagt sie augenzwinkernd.

Ach ja, mein Magen. Ich winke ab und lächle. »Alles halb so wild. Omas Tee wirkt wunderbar.«

Mit lachenden Augen stupst sie mich an. »Prima. Meinst du, du hättest noch ausreichend Puste, heute Abend mit auf ein Wässerchen ins Stübchen zu kommen?«

Ich schaue sie verwundert an, während ich mir eines der belegten Brote aus dem Beutel nehme.

»Du meinst das Stübchen in der Altstadt, nicht wahr?« Ich erinnere mich noch gut daran, wie wir im letzten Sommer, kurz nach meinem sechzehnten Geburtstag, beinahe jeden Samstagabend dort verbracht haben.

»Oh ja, der letzte Sommer war eine coole Zeit. Zumindest bis zu dem Tag, an dem mir dieser Jens aus meiner Clique zu nahe auf den Pelz gerückt ist.« Anja verzieht das Gesicht.

»Und? Willst du heute Abend mit mir einfach so dahin? Oder gibt es dafür einen bestimmten Grund?«

Einen Moment lang zögert Anja und stiert verlegen auf ihre Stulle, dann formen sich ihre Lippen zu einem Lächeln. »Einen Grund dafür gibt es schon. Ich möchte dir gerne Derek vorstellen.« Sie gluckst und lacht. Ihre blauen Augen strahlen. Wie auf Kommando fährt eine Windbö durch ihr offenes Haar. Es ist kein Wunder, dass sich alle Jungs in sie vergucken, so hübsch, wie sie ist.

»Nein, das gibt es doch nicht! Das mit Tim ist doch kaum zwei Monate her!« Ich stupse sie gegen die Schulter. »Und? Wie bist du an den gekommen?«

»Das war in der Freinacht in Furth im Wald. Mit der ganzen Clique sind wir durch den Ort gezogen. Derek habe ich dann im Festzelt kennengelernt. Der kannte einen der Jungs aus der Clique wohl vom Volleyball her und kam gleich auf uns zu. Jedenfalls wich mir Derek den Abend lang nicht mehr von der Seite.« Sie gluckst erneut.

»Hey, warte mal! Die Freinacht ist doch hier die Nacht zum ersten Mai. Dann kennst du den Typ also schon ein paar Monate!«, bemerke ich.

Verschämt blickt sie auf den Boden. »Zugegeben, das mit ihm und Tim hat sich ein bisschen überschnitten. Aber was solls. Timmy hatte mich da schon länger allein ziehen lassen. Dieser Idiot ist also selbst an allem schuld. Eigentlich bin ich mit Derek auch erst seit dem Gerlacher Feuerwehrfest zusammen.« Sie legt den Kopf schief und fährt sich durch ihr blondes Haar.

Wie zufällig fällt mein Blick auf ein Wegekreuz, das oberhalb des Bachlaufs einsam auf einer Anhöhe steht. Etwas in der Mitte dieses Kreuzes spiegelt das Sonnenlicht genau in meine Richtung. Das Licht bricht sich darin in allen Regenbogenfarben. Bestimmt ist es nur ein Stück Glas. Ich erinnere mich daran, dass sich nicht weit von hier die berühmte ostbayerische Glasstraße durch die Täler zieht, die ihren Namen den vielen Glashütten verdankt, die es einstmals in diesem Landkreis gegeben hat. Bei den heimischen Kunsthandwerkern hat Glas nach wie vor einen hohen Stellenwert, was unzählige gläserne Skulpturen bezeugen, die es überall entlang der Route zu bewundern gibt.

Spontan lege ich meine Stulle beiseite, hopse von der Bank und schlendere über die Wiese hinauf zur Anhöhe. Hinter mir höre ich, wie Anja mir folgt.

Oben auf der Anhöhe angekommen, erkenne ich, dass das Marterl, wie diese Art Denkmäler in Bayern genannt werden, nicht mitten auf einer einsamen Wiese steht, wie ich es von der Bank aus gesehen hatte. Ein hübsch angelegter Weg, gesäumt von bunten Hortensien, führt um das hölzerne Kreuz herum und von dort aus weiter zu einem nahegelegenen Bauernhof. Ich schaue mir das Marterl aus der Nähe an und vermisse dabei die übliche Heiligenfigur, die normalerweise im Zentrum der Bretter prangen sollte. Stattdessen ist dort ein ovales Glas eingearbeitet, das in einen goldenen Rahmen eingefasst ist. Das also ließ die Sonnenstrahlen so schillernd in meine Richtung blitzen.

»Was soll denn das sein?«, höre ich Anja hinter mir fragen. »Ein normales Wegekreuz ist das aber nicht.«

»Für mich sieht es eher aus wie eine Gedenkstätte«, antworte ich und betrachte das Glas genauer. Ich muss mich dabei so stellen, dass mich die Sonne nicht blendet. Hinter dem Glas erkenne ich das Bildnis eines Mädchens. Nett zurechtgemacht, mit blonden Zöpfen und einem schüchternen Lächeln auf den Lippen. Ich schätze das Alter des Mädchens auf etwa sechs Jahre. Der ovale Bilderrahmen sowie das Foto dahinter scheinen Wind und Wetter zu trotzen. Beides macht einen unversehrten Eindruck. Weder ist das Glas trübe, noch ist das Foto verblasst. Auch das Holzkreuz an sich scheint frisch gestrichen worden zu sein. Am Fuße des Kreuzes steht ein kleines Bastkörbchen mit einem Strauß roter Nelken.

»Glaubst du, dass es eine Gedenkstätte für dieses Mädchen ist? Dass ihr etwas zugestoßen ist?«, fragt Anja neben mir.

Ich nicke. Mich fröstelt es.

Ja, das scheint die einzige logische Erklärung zu sein.

Ich schiebe meinen Kopf nach vorne, denn unterhalb des Bildes habe ich ein schmales Messingschildchen entdeckt. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Anja plötzlich hochschreckt.

»Was habt ihr hier zu suchen?«, höre ich eine gereizte Frauenstimme hinter mir rufen.

Eine rundliche Frau in grünen Gummistiefeln und blauer Schürze eilt vom angrenzenden Hof zu uns hinauf, den Blick fest auf Anja und mich gerichtet. Ihre Stiefelsohle zertritt eine über dem Weg hängende Hortensienblüte, ohne dass sie das weiter interessiert. Ihre Gesichtszüge verraten Zorn. Bisher habe ich die hiesige Landbevölkerung als freundlich und zuvorkommend erfahren, doch diese Frau scheint die goldene Ausnahme zu sein. Ich gehe auf sie zu und hebe dabei beschwichtigend die Hände. »Entschuldigung«, beginne ich in versöhnlichem Ton, »wir wollten lediglich einen Blick …«

Die Frau fletscht ihre Zähne und macht eine harsche Handbewegung. »Ihr sollt euch wegscheren von hier!«

Ich schweige und bleibe stehen.

Die Wangen der Frau zeigen rote Flecken. Sie droht uns mit blanker Faust, ihre aschblonden Haare fegen ihr durch das Gesicht. »Habt ihr mich nicht verstanden oder muss ich euch erst Beine machen? Sofort!«

Es ist, als fahre mir jedes einzelne Wort von ihr direkt in die Magengrube. Dieser Drachen führt sich auf, als seien wir irgendwelche dahergelaufenen Strolche. Als wäre es ein Verbrechen, sich das Bild anzusehen. Schlimmer noch, mir kommt es so vor, als gebe sie uns die Schuld für jenes Unglück, welches dem Mädchen auf dem Bild einst widerfahren ist. Vor Schreck kann ich mich kaum rühren. Auch Anja schaut sie mit angstgeweiteten Augen an, dennoch ist sie die Erste von uns, die sich aus ihrer Starre löst und einen Schritt nach hinten ausweicht.

Das hätte ich besser auch getan. Denn ehe ich mich versehe, steht die Frau mir gegenüber. Ihr fauliger Atem schlägt mir ins Gesicht. Ich spüre ihre Wut, die in ihr kocht, sehe den unbändigen Hass, der in ihren dunklen Augen lodert.

Sie blickt mich an, taxiert mich. Dann herrscht sie mich an. »Los, Mädchen, sag mir: Wie alt bist du?«

Ich starre sie an und bin nicht in der Lage, auf ihre Frage zu antworten.

»Du bist doch kaum älter als sechzehn«, beantwortet sie ihre Frage selbst und deutet auf das ovale Bildnis. »So alt wäre Gudrun jetzt auch, wenn der Teufel sie nicht vorher geholt hätte«, zischt sie und verzieht ihr Gesicht zu einer Fratze.

Was für ein Unsinn! Mein Schrecken geht in pure Angst über, denn ich bin mir sicher, dass diese Frau nicht zurechnungsfähig ist.

Mit einem Mal, schneller als ich reagieren kann, packen ihre Hände meinen Kragen. Sie schüttelt mich und kreischt los, als wäre sie soeben dem Wahnsinn verfallen. »Der Teufel hat meine kleine Gudrun geholt und lässt sie weder leben noch sterben! Jetzt schert euch weg von hier! Alle beide!« Sie stößt mich von sich weg, ihr Körper bebt vor Anspannung. Ich habe die Befürchtung, dass sie sich im nächsten Moment auf mich stürzt und ihre massigen, aufgequollenen Hände um meinen Hals drückt.

Es muss an meinem puren Überlebenswillen liegen. Einem inneren Impuls folgend drehe ich mich um und laufe den Hügel hinab. Anja tut es mir gleich. Erst nachdem wir unten sicher den Weg erreicht haben, wage ich es, mich noch einmal umzudrehen. Die Frau steht neben dem Kreuz und schaut mit zornigem Blick auf uns herab, beobachtet, wie wir unsere Räder schnappen und uns auf den Rückweg machen.

 

Anja und ich radeln stumm nebeneinander her. Meine Knie schlottern so heftig, dass ich Mühe habe, das Rad in der Spur zu halten. Habe ich das eben wirklich erlebt? Ich muss erst zu meiner Freundin blicken, um mich zu vergewissern, dass dies kein Albtraum ist. Anja scheint es nicht viel besser zu gehen. Steif und mit blassem Gesicht sitzt sie auf ihrem Rad und folgt mechanisch dem Feldweg. Erst nachdem wir den geschlängelten Pfad des Wallersbachs verlassen haben und auf die Landstraße abbiegen, die uns sicher nach Hause bringt, fühle ich mich einigermaßen besser.

»Was war das denn für eine Hexe? Die muss doch vollkommen übergeschnappt sein!«, mache ich mir Luft und fahre mir mit einer Hand an jener Stelle über den Hals, an der mich die Alte gepackt hat.

»So etwas habe ich noch nie erlebt. Ob die uns mit jemandem verwechselt hat? Das kann doch nicht sein, dass jemand so durchdreht, nur, weil man sich mal ein Bild anschauen möchte!«, sagt Anja mit zitternder Stimme.

Mich schaudert es. Erneut taucht das Wegekreuz vor meinem geistigen Auge auf. Doch in meiner Vorstellung ist es nicht mehr gepflegt und frisch gestrichen. Da ist es alt und schwarz wie der Tod. Das verrottete, schwere Holz wirft einen langen Schatten auf den Boden. Gudruns Bildnis in der Mitte des Kreuzes verschwimmt in meinem Kopf und wird zunehmend unschärfer. Plötzlich wird mir übel. Die Tomate-Mozzarella-Brötchen liegen mir schwerer im Magen, als ich gedacht habe.

Ein schrilles Geräusch hinter mir, wie das von einer Kreissäge, reißt mich aus meinen unschönen Gedanken und lässt mich hochschrecken. Ein kobaltblaues Leichtkraftrad braust so haarscharf an uns vorbei, dass wir fast von unseren Rädern geworfen werden. Anja kann eben noch abbremsen. Ich hätte beinahe den Lenker verrissen und wäre den steilen Abhang hinunter gerauscht. Todsicher hätte ich mir dabei alle Knochen im Leib gebrochen. Der Fahrer muss entweder betrunken oder ein kompletter Idiot sein.

»Hey, du Wahnsinniger!«, schreit ihm Anja hinterher, obwohl der längst außer Hörweite ist. Ich schüttle nur den Kopf und trete weiter in die Pedale. Was ist das hier nur für eine merkwürdige Gegend? Was wohnen hier nur für seltsame Leute?

 

3.

 

Wieder in Kirchenbrunn angekommen, schieben wir unsere Räder auf die Einfahrt der Vallingers. Meine Knie zittern immer noch. Eben möchte ich mich von Anja verabschieden und mit meinem Rad wieder vom Hof fahren, da kommt uns Beate entgegen. In ihren Händen hält sie einen kleinen Stapel Briefe, Werbungen und den Kirchenbrunner Anzeiger. Ihr Gesicht strahlt eine Ausgeglichenheit aus, nach der ich mich jetzt sehne.

»Hallo! Ist euer Ausflug schon zu Ende? So früh habe ich mit euch noch gar nicht gerechnet.«

Anja und ich werfen uns gegenseitig Blicke zu, meine Freundin schaut betreten zu Boden.

»Aber das trifft sich prima«, sagt Beate, ohne eine Antwort abzuwarten. »Heute Morgen gab es so leckere Äpfel auf dem Markt. Da kam ich nicht umhin, welche zu kaufen und einen Kuchen davon zu backen. Der ist vorhin fertig geworden.« Sie hebt die Augenbrauen. »Wie wäre es? Lust auf ein Stück?«

Ich nicke. Auch Anja ist es recht, dass ich nicht gleich gehe. Bestimmt fühlt sie sich genauso hundeelend wie ich. Wir beide brauchen jetzt einander. Beide haben wir heute etwas erlebt, das so absurd ist, dass man es kaum in Worte fassen kann. Beates Einladung zum Kuchenessen ist für mich vertraute Normalität. Schon als kleines Mädchen ging ich bei den Vallingers ein und aus.

Auf der Terrasse versuche ich mich zu entspannen, atme kräftig durch und strecke meine Beine unter dem Gartentisch aus. Durch die hohen Stauden und Sträucher, die den Garten der Vallingers zum Nachbargarten abgrenzen, schillert die Nachmittagssonne und verwöhnt mich mit ihren wärmenden Strahlen. Meine Nerven haben sich wieder einigermaßen beruhigt. Anja scheint sich ebenso vom Schrecken erholt zu haben, auch wenn sie sehr schweigsam ist. So kenne ich sie gar nicht. Sie sitzt mir schräg gegenüber, hat ihr Smartphone aus der Tasche geholt und checkt ihre Nachrichten. Ich bin ihr nicht böse, dass sie sich momentan lieber mit ihrem Handy beschäftigt und gönne ihr die Ablenkung. Ich nutze die Gelegenheit und lehne mich in meinem Stuhl zurück und strecke mein Gesicht in die Sonne. In meinem Geist stehe ich erneut vor dem Kreuz auf dem Hügel und schaue auf das ovale Bild des Mädchens mit den blonden Zöpfen.

Die Terrassentür quietscht. Beate bugsiert ein silbernes Tablett vor sich her und stellt es auf dem Tisch ab. Neben einer Glaskaraffe mit eisgekühltem Fruchtsaft, Gläsern, Teller und Besteck ist darauf eine Kuchenplatte mit Apfelkuchen, wie immer gebacken nach dem alten Familienrezept ihrer Oma. Beate verteilt das Geschirr, schenkt jedem sorgsam ein Glas mit Fruchtsaft ein und legt anschließend jeweils ein Stück Kuchen auf die Teller. Dann setzt sie sich zu uns.

»Hat dir Anja schon von ihrem neuen Freund erzählt?« Beate lächelt, hebt dabei die Augenbrauen und sieht in die Runde, als habe sie eben ein Geheimnis verraten.

»Aber Mama, muss das denn jetzt sein?«, seufzt Anja, legt das Smartphone beiseite und verdreht die Augen.

»Das war das Erste, was ich heute Morgen von ihr erfahren habe«, erwidere ich und lächle verkrampft zurück. Ich brauche gar nicht erst zu Anja zu schauen, um zu wissen, dass meine Freundin ihrer Mutter bei Weitem nicht so viel erzählt hat, wie sie mir am heutigen Morgen von Mädchen zu Mädchen anvertraut hat.

»Er heißt Derek. Sie haben sich vor zwei Wochen auf dem Tanzabend des Gerlacher Feuerwehrfests kennengelernt«, fügt Beate hinzu.

Ich greife nach meinem Teller und stopfe mir ein Stück von Beates Apfelkuchen in den Mund, um jetzt nichts mehr sagen zu müssen. Ihr Kuchen kommt frisch aus dem Ofen und schmeckt wie immer köstlich.

Ich spüre, dass Anja jetzt nicht über Derek sprechen möchte. Auch Beate scheint dies zu merken und wechselt das Thema. »Wie war euer Ausflug? Bei so schönem Wetter muss eine Radtour durch den Frühsommer die wahre Wonne gewesen sein.«

Wie auf ein Stichwort heben Anja und ich den Kopf und schauen uns an. »Na ja, er fing zumindest gut an«, antworte ich und stochere in meinem Kuchen herum, »jedenfalls, bis wir in dieses Tal kamen. Es ist immer wieder unglaublich, was für furchteinflößende Menschen diesen Planeten bevölkern.«

Anja ergreift das Wort. »Ich wollte Isabell die Idylle des Wallersbachs zeigen. Hätten wir allerdings geahnt, auf welche Horrorgestalten wir dort stoßen, hätten wir ganz bestimmt einen großen Bogen um das Tal geschlagen.«

Anjas Mutter stellt das Glas zurück auf den Tisch und blickt zuerst mich und dann ihre Tochter fragend an.

»Wir hatten gerade ein hübsches Plätzchen für unser Picknick gefunden …«, beginnt Anja. Dann berichtet sie ihrer Mutter von unserem Vormittag. Beate hört ihrer Tochter aufmerksam zu und wirft mir hin und wieder einen Seitenblick zu, als wolle sie an meinem Gesicht ablesen, ob das wirklich wahr sein kann. Als Anja ihr erzählt, wie die Frau mich am Kragen gepackt hat, schaut Beate zu mir und hält sich die Hand vor den Mund. »Mein Gott Süße, hat sie dich gewürgt? Bist du in Ordnung? Sollen wir zum Arzt?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, es ist schon okay. Mir fehlt nichts. Es war nur der Schreck.«

Beate atmet tief durch. »Eure Horrorgestalt hat einen Namen«, sagt sie. »Die Frau heißt Maria Witterer. Das Mädchen, dessen Bild ihr am Kreuz gesehen habt, ist ihre Tochter Gudrun. Oder war ihre Tochter Gudrun, je nachdem, wie man es nimmt.«

Ich bemerke, dass Anja ihre Mutter genauso verdutzt anschaut, wie ich es wohl gerade tun muss.

»Willst du damit sagen … der Hof, auf dem wir waren, war der Hof der Witterers? Mein Gott!« Anja stöhnt und wird kreidebleich.

Auch ich spüre ein ungutes Gefühl in mir aufsteigen. Der Name Gudrun Witterer ist in dieser Gegend wie ein Fluch, der nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen werden darf. Gudrun war eines von drei Kindern. Beate spricht gerade ein Thema an, das im Dorf so gut wie totgeschwiegen wird. Seit über zehn Jahren verbringe ich meine Ferien bei meinen Großeltern in Kirchenbrunn. Seit der Zeit, als Ricarda, meine Mutter, es vorgezogen hat, mit mir nach Dortmund zu ziehen. Doch nie in meinem Leben habe ich mehr über diese Geschichte erfahren, als dass vor etlichen Jahren drei kleine Kinder innerhalb kürzester Zeit nacheinander spurlos verschwunden sind. Selbst Mama und meine Großeltern ziehen es bisher vor, beharrlich darüber zu schweigen, selbst wenn ich sie danach frage. Es scheint ein ungeschriebenes Gesetz zu sein, dass jeder von außerhalb bei den Einheimischen nur Schweigen erntet, sobald er das Gespräch auf dieses Thema lenkt. Es wundert mich daher umso mehr, dass Beate gerade so offen darüber redet.

»Die Familie Witterer hat es zuerst getroffen. Da ahnte noch niemand, welche weiteren Schrecken die Gemeinde bald heimsuchen würden.« Beates Blick wandert zu ihrem Fruchtsaftglas auf dem Tisch. »Gudrun und Andrea, so heißen die beiden Töchter der Witterers. Gudrun ist die jüngere der beiden. Damals dürfte sie höchstens fünf gewesen sein. Ihre Schwester Andrea ist ein ganzes Stück älter als sie. Jedenfalls ging Andrea schon auf eine weiterführende Schule, als es passierte. Die Witterers sind eine alteingesessene Bauersfamilie. Seit etlichen Generationen leben sie am Wallersbach. In der Stadtbücherei findet man sogar historische Aufzeichnungen über ihre Vorfahren. Anjas Urgroßvater, er hieß Hermann Vallinger, holte schon um die Jahrhundertwende mit seinem Pferdefuhrwerk die Milchkannen der Witterers von ihrem Hof ab. Ich will damit sagen, dass diese Leute den Wallersbach schon immer als ihre Heimat angesehen haben. Dass sie sich in dieser Gegend gut aufgehoben gefühlt haben.«

»Und dann verschwanden diese Kinder. Du hast mir nie erzählt, was wirklich passiert ist. Alles, was ich darüber weiß, sind Gerüchte«, sagt Anja.

Beate verschränkt die Arme. Vielleicht fühlt sie jetzt das gleiche Unbehagen, das ich heute Mittag bei den Witterers gespürt habe.

»Das alles mag zehn Jahre her sein, doch ich habe von dem damaligen Drama nichts vergessen. Zu der Zeit ist es das beherrschende Thema in der Dorfgemeinde gewesen. Jeder hatte seine eigene Version der Geschichte. Ich erinnere mich noch sehr genau an einen Zeitungsbericht von damals: An dem Tag, als es geschah, spielte Gudrun hinter dem Haus des elterlichen Bauernhofs. Auf dem Land der Witterers befand sich offenbar ein kleiner Spielplatz. Mit einer Schaukel, einer Rutsche und einem Baumhaus auf Stelzen. Der Spielplatz war nicht weit vom Haus entfernt. Maria Witterer war an jenem Morgen mit ihrem Haushalt beschäftigt, stand in dem Bericht geschrieben. Sie habe von Zeit zu Zeit durch das Küchenfenster hinüber zu ihrer jüngsten Tochter auf der Schaukel geschaut und sie sogar noch winken gesehen. Wahrscheinlich hat sie nur eben das Mittagessen in den Ofen geschoben und einen winzigen Augenblick nicht aufgepasst, aber als sie das nächste Mal wieder aus dem Fenster sah, da sei Gudrun schon nicht mehr auf der Schaukel gesessen. Wie in dem Artikel weiter stand, hatte Frau Witterer sich zuerst nichts dabei gedacht. Erst, als weitere fünfzehn Minuten verstrichen waren, ohne dass sie Gudrun sah, wurde sie nervös.«

Ich stelle mir die Panik vor, der Frau Witterer ausgesetzt war. »An dem Hof grenzt doch der Wald, nicht? Bestimmt hatte sie zuerst befürchtet, ihre Tochter habe sich im Wald verlaufen.«

»Wie weiter berichtet wurde, hat Maria Witterer sofort nach ihrer Tochter gesucht. Doch Gudrun blieb verschollen. Die Angst, die die arme Frau in jenem Moment ertragen musste, war noch nichts gegen die Angst, die noch auf sie wartete«, antwortet Beate. »Welchen Qualen sie und der Rest ihrer Familie in den darauffolgenden Tagen und Wochen ausgesetzt waren, und bis zum heutigen Tage wohl noch sind, will ich mir nicht vorstellen. Selbst in meinen schlimmsten Albträumen nicht.« Beate blickt zu ihrer Tochter herüber und fährt fort: »Die Polizei stellte bald schon mehrere Hundertschaften bereit. Tag und Nacht hat man nach dem Mädchen gesucht. In der Nacht wurde die Gegend von mobilen Suchscheinwerfern erleuchtet, deren greller Schein bis weit ins Dorf drang. Von Gudrun jedoch fand man nicht die geringste Spur. Es muss für alle Beteiligten die reinste Tortur gewesen sein.«

»Mensch, Mama!« Anja zieht die Beine an ihren Körper heran. »So viel hast du uns früher darüber nicht erzählt. Und wie oft haben Erika und ich dich darum gebeten? Immer hast du behauptet, du wüsstest nicht viel darüber. Das war ja glatt gelogen!«

An ihrem Gesicht erkenne ich, dass Beate sich ertappt fühlt.

»Du willst wissen, warum ich euch vorher nichts gesagt habe? Was glaubst du wohl?«, blafft Beate ihre Tochter an. Ich spüre, wie der spontane Wutausbruch ihr im nächsten Augenblick peinlich ist. Sie ändert ihren Tonfall, versucht, versöhnlich zu klingen.

»Vor über zwanzig Jahren bin ich aus München in diesen Ort gezogen, um deinen Vater zu heiraten. Das scheint eine lange Zeit zu sein. Doch sie ist nicht lange genug. Auch nach zwanzig Jahren bin ich für die Einheimischen noch wie eine Fremde. Für sie bin und bleibe ich die Eingeheiratete. Wir haben es ohnehin nicht leicht. Deine Schwester und du, ihr seid doch selbst noch Kinder gewesen. Diese gruselige Geschichte von damals ist kein Thema für Kinderohren. Wer weiß, wie ihr das aufgefasst hättet. Du weißt, wie hier im Dorf geredet wird. Glaubst du, ich wollte mir den letzten Funken Respekt verspielen, nur, weil meine Töchter im Dorf dumme Dinge herumposaunen?«

»War zu jenem Zeitpunkt schon klar, dass es sich um ein Verbrechen gehandelt haben musste?«, fahre ich dazwischen und versuche, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.

Beate hebt sich aus ihrem Sitz und wendet sich mir zu. »Meine liebe Isabell, das ist bis zum heutigen Tage nicht einmal klar. Gudruns pinkfarbenes Rad hat man am Waldrand hinter dem Spielplatz gefunden. Wahrscheinlich ist sie die letzten Minuten vor ihrem Verschwinden damit noch gefahren. Aber das allein war noch kein Hinweis auf ein mögliches Verbrechen. Das Rad war unversehrt, Spuren fand man daran keine. Somit hatte die Polizei nicht den kleinsten Anhaltspunkt, was überhaupt vorgefallen war. Auch sonst spürte man nichts auf, was für ein Verbrechen hätte sprechen können. Weder fand man Gudruns Kleider noch eine Spur eines möglichen Täterfahrzeugs. Das Kind war wie vom Erdboden verschluckt! Als hätten sich mit einem Mal die Tore der Hölle aufgetan und das Mädchen zu sich geholt.«

»Jetzt werdet ihr aber ein bisschen theatralisch«, werfe ich in die Runde und presse mich in meinen Stuhl. »Vom Teufel geholt. Wer glaubt denn so etwas?«

»Die Dorfbevölkerung ist dieser Vorstellung gar nicht so abgeneigt«, entgegnet Beate. »Bei den anderen beiden Kindern, die einige Tage nach Gudrun verschwanden, war es nicht viel anders. Ich erinnere mich: Das zweite Kind hieß Max. Max Waldbauer. Wie Gudrun hatte man ihn zuletzt auf einem Spielplatz gesehen. Seine Mutter saß, wie erzählt wird, auf einer Parkbank ganz in Nähe und schmökerte in einer Zeitung. Nach einer Weile schaute sie nach ihrem Kind, doch ihr kleiner Sohn war plötzlich weg. Danach hat es ein Mädchen namens Nicole Töninger erwischt. Die Kleine war mit ihrem Kindergarten zum Waldtag in einem Forststück unterwegs. Die Kinder sollten Äste und Stöcke sammeln, vermutlich, um damit etwas zu bauen. Obwohl drei Erzieherinnen die Aufsicht über die Kinder hatten, war auch die kleine Nicole auf einmal spurlos verschwunden. Gudrun, Max und Nicole, alle drei, von jetzt auf gleich fort — poff, als hätten Aliens aus dem Weltall sie entführt. Du kannst dir den Tumult ausmalen, den ihr Verschwinden ausgelöst hat. Der komplette Landkreis stand Kopf. Überall nur Straßensperren und Polizeikontrollen. Von dem Medienrummel ganz zu schweigen. Reporter aller Zeitungen drückten sich durch die Dorfstraßen. Ständig wurden die Einheimischen mit immer den gleichen unnötigen Fragen belästigt. Furchtbar war das! Doch die Ungewissheit, was mit den drei Kindern geschehen war und ob sie überhaupt noch lebten, war am allerschlimmsten. Alle warteten auf neue Nachrichten, auf neue Erkenntnisse der Polizei. Doch vergebens. Erst nach Monaten ebbte der Rummel ab, da verloren die Medien das Interesse an den außergewöhnlichen Fällen. Nur langsam kehrte die Normalität zurück. Einige aus der hiesigen Dorfbevölkerung glaubten irgendwann tatsächlich, der Teufel habe die Kinder geholt, um ihre Familien zu bestrafen.«

Obwohl ich über die Begebenheiten vage etwas wusste, hat mich Beates Schilderung doch einiges verstehen lassen. Ihre Worte über das, was in dieser Gemeinde damals geschehen ist, sind in meinem Kopf lebendig geworden. Aus irgendeinem Grund nimmt mich dies alles mehr mit, als mir lieb ist. Trotz der lauen Sommerluft fröstele ich am ganzen Leib. Ich mache es Anja gleich und ziehe meine Beine an den Körper. Was hat Maria Witterer doch noch gleich gesagt? Der Teufel hat meine Gudrun geholt und lässt sie weder leben noch sterben? Ich habe diesen Satz für blanken Unsinn gehalten. Eine konfuse Äußerung einer verwirrten Frau. Doch nun, nachdem ich ihre Geschichte kenne, lassen mich diese Worte erschaudern. Jetzt habe ich Mitleid mit dieser Frau. Bis zum heutigen Tag kann sie mit dem Geschehenen nicht abschließen. Bis zum heutigen Tag verweilt sie in einem trostlosen Zustand, der sie gefangen hält zwischen der vagen Hoffnung, eines Tages ihr Kind wiedersehen zu können oder der Gewissheit dessen Todes.

Ein Sirren von der Straße, wie das von einer Kreissäge, reißt mich jäh aus meinen Gedanken. Instinktiv drehe ich den Kopf, blicke über den hölzernen Gartenzaun auf die angrenzende Straße und nehme gerade noch wahr, wie ein offensichtlich irregewordener Halbstarker mit seinem Gefährt über die Fahrbahn donnert und in die Ferne davonjagt.

Es ist, als hätte ich ein Déjà-vu. Das ist doch das gleiche kobaltblaue Leichtkraftrad von heute Vormittag! Ich blicke zu Anja. Sie und Beate haben offenbar nichts bemerkt und unterhalten sich weiterhin angeregt.

Ob der Fahrer uns gefolgt ist? Da, wieder die Motorengeräusche! Dieses Mal knattert es aus der entgegengesetzten Richtung. Dieser Verrückte kommt zurück! Woraufhin ich mich wieder frage, ob dies Zufall sein kann. Tatsächlich taucht ein paar Sekunden später am Straßenende das kobaltblaue Kraftrad auf. Doch diesmal jagt der Fahrer nicht mit einem Affenzahn an uns vorbei, sondern drosselt den Motor.

Mir wird heiß und kalt, denn das Motorrad steuert auf den Gartenzaun der Vallingers zu und stoppt kurz davor, keine fünf Meter von dem Gartentisch entfernt. Erst jetzt verstummt das Gespräch meiner Ersatzfamilie. Gebannt schauen wir auf den in einen engen orangefarbenen Overall gekleideten Biker, der lässig seine Maschine auf dem angrenzenden Rasen aufbockt, nachdem er zuvor den Motor abgestellt hat.

Ich schaue in das verspiegelte Visier dieses der Statur nach zu urteilen offenbar männlichen Fahrers und warte ab, was nun folgen mag. Anstatt nur sein Visier zu öffnen, nimmt der Fahrer gleich seinen Integralhelm vom Kopf und schüttelt seine blonden Locken auf. Ein blonder Jüngling mit lockigem Haar! Aha, nun wissen wir endlich, mit wem wir es zu tun haben. In aller Seelenruhe legt der Kerl seine Hände auf den Zaun und grinst uns frech an. Ich frage mich, was dieses Theater soll.

»Darf ich vorstellen«, höre ich Anja im galanten Tonfall hinter mir sagen. »Dies ist mein überaus liebenswerter Cousin Moritz. Er ist erst vor Kurzem in unser schönes Dorf gezogen.«

 

4.

 

Moritz heißt also der rabiate Biker, der mich und Anja beinahe von der Straße gefegt hat. Ihr Cousin also. Das hätte sie mir auch gleich sagen können. Anja beteuert jedoch, sie habe ihn wegen seines neuen Motorrads und Overalls nicht erkannt.

Moritz jedenfalls musste sie sofort erkannt haben. Da bin ich mir sicher. Wie kann man nur Gefallen daran finden, radelnde Mädchen zu erschrecken? Was für ein Kindskopf! Während er über den Zaun hinweg mit Anja und Beate einige belanglose Sätze wechselt, wandert sein Blick mehrmals zu mir herüber. Schließlich setzt er sich zurück auf sein Motorrad und braust davon.

Kurz darauf hat Beate die Kaffeetafel abgeräumt. Anja und ich haben uns für später im Stübchen verabredet. Über das, was uns Beate am Kaffeetisch erzählt hat und über unser morgendliches Erlebnis verliert an diesem Tag keiner von uns mehr ein Wort.

 

Es ist kurz nach sechs, als ich die schwere Eingangstür aus naturbelassener Eiche zum Haus meiner Großeltern öffne. Bestimmt sorgen sie sich wieder. Ich bin längst kein Kind mehr, doch das scheint bei Franziska und Anton noch nicht angekommen zu sein. Ich betrete den Flur und lausche in die Stille. Die beiden scheinen nicht, wie sonst um diese Zeit, im Wohnzimmer vor dem Fernseher zu sitzen. Eben will ich nach ihnen schauen, da klingelt das Telefon auf dem Dielenschränkchen. Es ist ein Nostalgietelefon im Stil der 80er Jahre in einem satten Laubfroschgrün, mit Wählscheibe und geringelter Schnur, dessen penetranter metallischer Klingelton jedes Mal durch das ganze Haus schrillt. Seit ich denken kann, besitzen meine Großeltern diesen Kasten und wollen sich partout nicht mehr auf ein modernes Funktelefon umgewöhnen.

Ich hebe den Hörer ab. Am anderen Ende ist Anja und teilt mir mit verstimmtem Unterton mit, dass es mit dem Stübchen heute Abend wohl nichts werden wird.

---ENDE DER LESEPROBE---