Das Haus im grünen Grund - Leni Behrendt - E-Book

Das Haus im grünen Grund E-Book

Leni Behrendt

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Beschreibung

Leni Behrendt nimmt längst den Rang eines Klassikers der Gegenwart ein. Mit großem Einfühlungsvermögen charakterisiert sie Land und Leute. Über allem steht die Liebe. Leni Behrendt entwickelt Frauenschicksale, wie sie eindrucksvoller nicht gestaltet werden können. Gemächlich tickte die Standuhr in die Stille des Gemachs, in dem das Ehepaar saß, so recht zufrieden mit seinem Geschick. Und dazu hatten sie auch allen Grund. Denn sie hatten alles, was ein Mensch sich wünschen kann. Ein sorgenloses Leben, ein behagliches Heim, zwei wohlgeratene Kinder und einen Schwiegersohn, der ihnen zusagte. Er war Arzt mit einer gutgehenden Praxis und konnte seine junge Frau nach der Hochzeitsreise in ein hübsches Haus führen, das komplett eingerichtet war. Und da der Rechtsanwalt und Notar Doktor Rudolf Danz seiner Tochter noch eine gute Mitgift geben konnte, war es ein festes Fundament, auf dem die Ehe gegründet wurde. Gestern hatte man die Hochzeit groß gefeiert im ersten Hotel der Stadt, und nach dem Festessen hatte das junge Paar sich heimlich entfernt, um sich auf die Hochzeitsreise zu begeben. Nun saßen die Eltern der jungen Frau beisammen und sprachen von dem Fest, auf dem alle so froh und leichtbeschwingt gewesen waren. Ihr Sohn, ein Bursche von sechzehn Jahren, hatte nach der ausgedehnten Feier noch nicht aus dem Bett finden können, und auch seine junge Base schlief noch in seliger Ruh. Danz hatte das Bruderkind vor einer Woche aus dem Töchterheim geholt, wohin der Vater seine Tochter gegeben, nachdem seine Frau durch Leichtsinn ums Leben gekommen war, denn Leichtsinn war es, stark erhitzt vom hohen Sprungbrett kopfüber ins eiskalte Wasser zu springen. Dabei machte das durch Sport überanstrengte Herz nicht mehr mit, es tat seinen letzten Schlag. Gleichgültig war das dem Gatten natürlich nicht, schnitt aber auch nicht ins Lebensmark. Auch die vierzehnjährige Tochter traf der Tod der Mutter nicht sehr, da die fanatische Sportlerin sich wenig um ihr einziges Kind gekümmert hatte. Der Vater befand sich viel auf Forschungsreisen, also blieb die Kleine bezahlten Kräften überlassen, die gewiß nicht liebevoll mit ihr umgingen. Da hatte sie es im Töchterheim schon besser, weil sie mit jungen Mädchen zusammenkam, wäh­rend sie im Elternhaus einsam gewesen war. Vor einem halben Jahr war nun auch der Vater durch ein bösartiges Fieber ums Leben gekommen, das er sich in den Tropen zugezogen hatte. In seinem Testament hatte er zum Vormund der Tochter seinen Bruder, den Notar Doktor Rudolf Danz, bestimmt. Ferner hatte er bestimmt, daß seine Tochter bis nach Absolvierung des Abiturs in dem Heim blieb, das dafür bekannt war, seinen Zöglingen eine tadellose Erziehung und vielseitige Ausbildung zu geben. Danach sollte der Vormund sein Mündel väterlich betreuen. Was er denn auch tat, indem er sein Mündel nach Bestehen des Abiturs in sein Haus holte.

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Leni Behrendt Bestseller – 7 –

Das Haus im grünen Grund

Sie waren auf der Suche nach dem Glück

Leni Behrendt

Gemächlich tickte die Standuhr in die Stille des Gemachs, in dem das Ehepaar saß, so recht zufrieden mit seinem Geschick. Und dazu hatten sie auch allen Grund. Denn sie hatten alles, was ein Mensch sich wünschen kann. Ein sorgenloses Leben, ein behagliches Heim, zwei wohlgeratene Kinder und einen Schwiegersohn, der ihnen zusagte. Er war Arzt mit einer gutgehenden Praxis und konnte seine junge Frau nach der Hochzeitsreise in ein hübsches Haus führen, das komplett eingerichtet war. Und da der Rechtsanwalt und Notar Doktor Rudolf Danz seiner Tochter noch eine gute Mitgift geben konnte, war es ein festes Fundament, auf dem die Ehe gegründet wurde.

Gestern hatte man die Hochzeit groß gefeiert im ersten Hotel der Stadt, und nach dem Festessen hatte das junge Paar sich heimlich entfernt, um sich auf die Hochzeitsreise zu begeben.

Nun saßen die Eltern der jungen Frau beisammen und sprachen von dem Fest, auf dem alle so froh und leichtbeschwingt gewesen waren. Ihr Sohn, ein Bursche von sechzehn Jahren, hatte nach der ausgedehnten Feier noch nicht aus dem Bett finden können, und auch seine junge Base schlief noch in seliger Ruh.

Danz hatte das Bruderkind vor einer Woche aus dem Töchterheim geholt, wohin der Vater seine Tochter gegeben, nachdem seine Frau durch Leichtsinn ums Leben gekommen war, denn Leichtsinn war es, stark erhitzt vom hohen Sprungbrett kopfüber ins eiskalte Wasser zu springen. Dabei machte das durch Sport überanstrengte Herz nicht mehr mit, es tat seinen letzten Schlag.

Gleichgültig war das dem Gatten natürlich nicht, schnitt aber auch nicht ins Lebensmark. Auch die vierzehnjährige Tochter traf der Tod der Mutter nicht sehr, da die fanatische Sportlerin sich wenig um ihr einziges Kind gekümmert hatte. Der Vater befand sich viel auf Forschungsreisen, also blieb die Kleine bezahlten Kräften überlassen, die gewiß nicht liebevoll mit ihr umgingen. Da hatte sie es im Töchterheim schon besser, weil sie mit jungen Mädchen zusammenkam, wäh­rend sie im Elternhaus einsam gewesen war.

Vor einem halben Jahr war nun auch der Vater durch ein bösartiges Fieber ums Leben gekommen, das er sich in den Tropen zugezogen hatte. In seinem Testament hatte er zum Vormund der Tochter seinen Bruder, den Notar Doktor Rudolf Danz, bestimmt. Ferner hatte er bestimmt, daß seine Tochter bis nach Absolvierung des Abiturs in dem Heim blieb, das dafür bekannt war, seinen Zöglingen eine tadellose Erziehung und vielseitige Ausbildung zu geben. Danach sollte der Vormund sein Mündel väterlich betreuen.

Was er denn auch tat, indem er sein Mündel nach Bestehen des Abiturs in sein Haus holte. Sie war ein entzückendes Menschenkind, die neunzehnjährige Ortrun Danz, dazu noch eine reiche Erbin. Was Wunder, wenn die Mitgiftjäger mobil wurden.

Der gefährlichste unter ihnen war der Baumeister Zerkel. Ein routinierter Schwerenöter, der sich gestern auffallend um Ortrun bemüht hatte. Darüber sprach soeben Frau Danz, was dem Gatten gewissermaßen die Galle hochgehen ließ.

»Ich wäre diesem aalglatten Laffen am liebsten an den Kragen gegangen«, brummte er verdrossen. »Das könnte ihm so passen, mit dem Geld Ortruns sein Geschäft zu sanieren, das über und über verschuldet ist. Wahrscheinlich nimmt er an, daß Ortrun bei der Heirat für mündig erklärt wird und somit über ihren Reichtum verfügen kann.«

»Und ist dem nicht so?«

»Nein. In dem Testament ist die gesetzliche Volljährigkeit ausdrücklich betont. Erst dann darf Ortrun über das Geld frei verfügen, was immerhin länger als ein Jahr dauert. Und so lange kann der Mann nicht warten, sonst geht er pleite.«

»Nun, dann ist ja keine Gefahr.«

»Meinst du, aber ich sehe da weiter. Nämlich, daß dieses junge, unerfahrene Kind, das so lange wohlbehütet im Töchterheim lebte, sich von dem schmeichlerischen Blender gestern das Köpfchen verdrehen ließ. Und damit Ortrun schleunigst aus der Nähe dieses gefährlichen Mitgiftjägers kommt, wirst du mit ihr auf Reisen gehen.«

»Aber bester Mann, wie denkst du dir das eigentlich. Ich kann doch unmöglich dich und den Jungen, überhaupt die ganze Wirtschaft im Stich lassen und auf unabsehbare Zeit in der Weltgeschichte herumgondeln. Ich habe euch viel zu sehr verwöhnt, als daß ihr ohne mich fertig werden könntet. Vielleicht kann man Ortrun bei Bekannten unterbringen.«

Und siehe da, schon trat diese Bekannte ein. Fräulein Frauke Gortz, dreiundzwanzigjährig, sehr hübsch und als guter, anständiger Mensch bekannt. Sie war nach dem Tode ihres Vaters, eines höheren Beamten, zu dessen Schwester gezogen, wo sie als besseres Dienstmädchen schuften mußte, zwei Jahre lang. Dann jedoch hatte das Schicksal mit der geplagten Frauke ein Einsehen und bescherte dieser eine Erbschaft, mit der sie nie gerechnet hatte. Zuerst hielt sie es für einen Witz, was ihr der seriöse Anwalt Danz da vorlas. Nämlich, daß ein Vetter ihres Vaters ihr nicht nur sein Haus nebst acht Morgen Land und zehntausend Mark, sondern auch noch eine monatliche Rente von vierhundert Mark vermacht hatte. Kein Wunder, daß die von den Verwandten geduckte Frauke soviel Glück zuerst nicht fassen konnte. Doch als sie endlich begriffen hatte, brach eine rührende Freude durch. Lachend und weinend zugleich fiel sie dem Notar um den Hals und dankte ihm, als wäre er der Geber all der Herrlichkeit.

Und nun trat sie ein, lachend über das ganze Gesicht.

»Hallo, Fräulein Frauke, Sie strahlen ja wie ein ganzer Weihnachtsbaum«, empfing der Hausherr sie schmunzelnd. »Und dabei müßten Sie doch ganz klein und häßlich sein.«

»Nanu, was hab ich denn verbrochen?«

»Sie sind nicht zur Hochzeitsfeier erschienen.«

»Um mich deshalb zu entschuldigen bin ich hier«, nahm sie dankend den ihr gebotenen Platz ein. »Ich mochte mit den Verwandten nicht mehr zusammentreffen, mit denen ich vorgestern eine ekelhafte Auseinandersetzung hatte.«

»Und wann soll die Reise losgehen?«

»Morgen, Herr Doktor.«

»Gleich mit Sack und Pack?«

»Ja.«

»Wäre es nicht ratsam, sich zuerst einmal den ererbten Besitz anzusehen?«

»Nein«, kam es mit Entschiedenheit zurück. »In welch einem Zustand sich auch das Anwesen befinden mag, ich werde auf jeden Fall meinen Wohnsitz dort nehmen.«

»Haben Sie denn nie daran gedacht, sich in fremdem Hause einen Posten zu verschaffen?« fragte Frau Danz. »Da hätten Sie bestimmt bei viel weniger Arbeit noch ein gutes Gehalt bezogen.«

»Und wie ich daran dachte. Habe mich immer wieder um Posten beworben, die meinen Kenntnissen entsprachen. Aber nirgends wollte man Hulda mit übernehmen, was für mich ausschlaggebend war. Denn das hat die treue Seele wahrlich nicht verdient, von einem Menschen im Stich gelassen zu werden, dem und dessen Familie sie zwei Jahrzehnte aufopfernd diente. Also blieb ich ihretwegen immer weiter bei den Verwandten.«

»So was nennt man Treue«, betrachtete Danz wohlgefällig das junge Mädchen, das da so hübsch und adrett vor ihm saß. Mittelgroß und schlank mit rundlichem Gesicht, in dessen Wangen beim Lachen zwei allerliebste Grübchen spielten. Die graugrün schil­lernden Augen waren von dichten dunklen Wimpern umsäumt. Das kastanienbraune Haar war gepflegt, wie überhaupt das ganze Mädchen, das etwas ungemein Klares, Sauberes ausstrahlte.

»Wissen Sie übrigens, Herr Doktor, daß der junge Zerkel scharf hinter Ihrer Nichte her ist?«

»Und wie ich das weiß«, nickte er grimmig. »Er benahm sich ja auffällig genug bei der Umgarnung des Goldfischchens. Ich machte schon meiner Frau den Vorschlag, mit der Kleinen so lange auf Reisen zu gehen, bis im Netz des üblen Fischers ein anderes Goldfischchen zappelt. Aber unser liebes Muttchen will ihren Pflichtenkreis nicht verlassen, was ja zu verstehen ist. Wohl könnte ich ohne weiteres für mein Mündel eine Reisedame verpflichten, aber weiß man, in wessen Hände es da käme? Und Verwandte oder gute Bekannte haben wir nicht, wo man die Kleine unterbringen könnte. Ich muß schon sagen, daß ich da ziemlich ratlos bin.«

»Geben Sie mir das Mädchen mit«, entschied Frauke spontan. »Bei mir wäre es bestimmt in guter Hut.«

»Ist das Ihr Ernst, Fräulein Frauke?«

»Na was denn sonst?« fragte sie erstaunt zurück. »Ihre Nichte tut mir leid, deshalb möchte ich sie schützen, gemeinsam mit Hulda, die ein guter Zerberus ist. Laß die Mitgiftjäger nur kommen. Ein Eimer kaltes Wasser übern Kopf gestülpt ist ihnen sicher«, schloß sie lachend, und amüsiert fiel das Ehepaar ein.

»Das traue ich Ihrer Hulda ohne weiteres zu«, sagte der Anwalt. »Also es gilt, Fräulein Frauke?«

»Es gilt, Herr Doktor. Fragt sich nur, ob Ihre Nichte damit einverstanden ist, was über ihren Kopf hinweg bestimmt wird.«

»Daran ist sie vom Töchterheim her gewöhnt. Da hatte sie nichts zu wollen, sondern widerspruchslos zu gehorchen. Also wird sie’s auch jetzt tun.«

Womit er recht hatte. Denn als die Nichte gleich darauf erschien und der Onkel ihr den Vorschlag unterbreitete, sah sie mit ihren leuchtendblauen Augen Frauke eingehend an, die lächelnd dem inquisitorischen Blick standhielt. Dann sagte das Mädchen mit einer Ernsthaftigkeit, die zu einer Neunzehnjährigen gar nicht passen wollte:

»Wenn du es für richtig hältst, Onkel Rudolf, dann gehe ich selbstverständlich mit Fräulein Gortz.«

»Auch gern, Ortrun?«

»Sehr gern. Schon deshalb, weil ich auf dem Lande leben möchte. In dieser großen Stadt ist es mir zu unruhig, zu laut, zu turbulent. Ich glaube kaum, daß ich mich hier wohl fühlen könnte«, bekannte sie freimütig, setzte dann jedoch verlegen werdend hinzu: »Das betrifft natürlich nur die Stadt, Onkel Rudolf, nicht dein Haus. Ich habe mich nur ungeschickt ausgedrückt, nicht wahr?«

»Nein, mein Kind«, beruhigte er sie, die ihn ängstlich ansah. »Ich weiß schon, wie du es meinst und kann es gut verstehen. Der Kontrast zwischen dem abgelegenen Töchterheim und der lärmenden Stadt ist eben zu groß. Daher ist es gut für dich, wenn du als Zwischenstation in ein Dorf kommst. Vorläufig jedenfalls, später sehen wir dann weiter.«

»Und jetzt laß das Kind erst einmal frühstücken«, schaltete sich die resolute Gattin ein. »Komm, mein Herzchen, lassen wir uns etwas servieren!«

Als sie gegangen waren, lachte Frauke kurz auf.

»Das könnte dem Zerkel so passen, sich dieses bezaubernde Menschenkind einzufangen samt seinem Geld.«

»Hm. Wir müssen noch die finanzielle Seite erörtern. Ich zahle Ihnen monatlich die gleiche Summe wie dem Internat.«

»Herr Doktor, Sie sind wohl nicht recht gescheit! So ein Institut – welches ist es überhaupt?«

»Das Elitetöchterheim. Ist Ihnen das ein Begriff?«

»Nein. Aber es hört sich schon so exquisit an.«

»Es ist das vornehmste in seiner Art.«

»Aha! Dementsprechend wird wohl auch die Bezahlung sein. Im übrigen sollten Sie nicht so vertrauensselig sein, als Jurist schon gar nicht. Wenn ich nun das viele Geld annehme und den größten Teil davon für mich verwende?«

»Dann hänge ich meinen Beruf an den Nagel«, bemerkte er trocken. »Denn ein Jurist mit einer so miserablen Menschenkenntnis soll lieber Filzschuhe wischen.«

»Dazu will ich Sie denn doch nicht degradieren«, lachte sie hell auf. »Da will ich lieber großmütig sein und ehrlich bleiben.«

»Na also«, schmunzelte er. »Dann sind wir uns ja einig. Hier haben Sie meine Hand, schlagen Sie ein. Schließen wir ein Schutz- und Trutzbündnis zu Heil und Frommen des Waisenkindes Ortrun Danz.«

*

Am nächsten Tag ging dann die Reise los. Der Rechtsanwalt, der die »Auswanderer« gern zur Bahn gebracht hätte, mußte davon absehen, da ein Prozeß ihn in Anspruch nahm. So mußte er denn zu Hause von der Nichte Abschied nehmen.

Die Ermahnungen, die er ihr mit auf den Weg gab, nahm sie schweigend hin. Sie war ja vom Töchterheim an derartige Sermone gewöhnt, sie machten ihr gar nichts mehr aus.

Ruhig sah sie den Mann an, der ihr so fremd war, wie jeder andere Mensch auch. Zwar hatte er sie jedes Jahr einmal im Internat besucht. Doch die wenigen Stunden, die er bei ihr verweilte, hatten nicht genügt, um ihn ihr vertraut zu machen. Daher fiel ihr auch jetzt der Abschied von ihm nicht schwer.

Und von der Tante schon gar nicht, die ihr das Geleit zum Bahnhof gab, wo man mit Frauke Gortz zusammentraf.

»Da bist du ja«, empfing Frauke sie freudig erregt. »Wir sagen gleich du zueinander, lassen ein Fremdsein erst gar nicht zwischen uns aufkommen. Das da ist unsere liebe Hulda, die dich bestimmt verwöhnen wird. Je mehr sie nämlich zum Verwöhnen hat, um so wohler fühlt sie sich.«

Schüchtern reichte Ortrun der ihr Vorgestellten die feine Hand, die in der verarbeiteten Rechten der großen, grobknochigen Person beinahe verschwand. Alles wirkte derb an ihr. Auch das Gesicht mit dem glatten, dunklen Scheitel.

Und doch fühlte Ortrun sich zu dem alten Mädchen sofort hingezogen.

Dann kam der Augenblick, den jeder nervöse Reisende kaum erwarten kann. Die Wagentüren knallten zu, der Mann mit der roten Mütze gab das Abfahrtszeichen, und langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Taschentücher flatterten, wurden ferner und ferner, kamen schließlich ganz außer Sicht. Die Reisenden verließen den Gang und suchten die Abteile auf, wo sie vorsorglich einen Platz belegt hatten. Was nicht schwierig ist, wenn der Zug auf der Station eingesetzt wird, was hier ja der Fall war.

So hatten denn die drei »Auswanderer« fürs erste sogar ein Abteil für sich, was sie natürlich begrüßten. Den einen Fensterplatz nahm Frauke ein, auf den zweiten wurde Ortrun von Hulda geschoben, obwohl sie dagegen protestierte:

»Aber der kommt mir als Jüngsten gar nicht zu.«

»Was heißt hier zukommen?« schnitt Hulda ihr das Wort ab. »Ich mach sowieso ein Nickerchen. Da ist es mir egal, wo ich sitze. Hauptsache, daß der Stuhl bequem ist.«

Sprachs, kuschelte sich in die Tür­ecke und war vorläufig nicht mehr zu sprechen.

»Tja, das ist unsere Hulda«, lachte Frauke. »An ihre kurzangebundene Art wirst du dich schon gewöhnen müssen. Größtenteils brummt sie, weniger schmunzelt sie, und manchmal lacht sie sogar. Aber gut meint sie es immer, hat ein treues, warmes Herz. Mach es dir nur recht bequem, wir fahren mit diesem Zug drei Stunden.«

Ortrun fragte verlegen: »Wollen Sie mich, bitte, nicht duzen? Dann fühle ich mich nicht so fremd.«

»Na schön«, brummte Hulda. »Dann aber nur auf Gegenseitigkeit. Und nun wollen wir essen, solange wir noch allein sind. Kommen erst andere hinzu, sind wir nicht mehr so ungeniert.«

Womit sie rechtbehalten sollte. Denn kaum hatte sie den Koffer ins Netz zurückgelegt, als der Zug auf einer größeren Station hielt und eine Menge Reisende hinzustiegen. Die bisher nur mäßig besetzten Abteile füllten sich.

Neben Ortrun setzte sich ein älterer Herr mit strengem Gesicht, der so den Eindruck machte, als wäre nicht gut mit ihm Kirschen essen. Neben ihm nahm eine junge Frau Platz, zu der zwei Knaben gehörten, deren Erziehung alles zu wünschen übrig ließ. Hulda, die auf der andern Seite neben Frauke saß, bekam eine Nachbarin, die wie eine vom Tod vergessene Gouvernante anmutete in ihrem vorsintflutlichen Habit.

Denn sie trug tatsächlich noch eine Hemdbluse mit steifgestärktem Kragen nebst Krawatte, einen langen Rock und ein Pincenez, wie man es vor einem halben Jahrhundert von wegen der vornehmen Note trug. Selbst von solchen, die eine Brille nicht benötigten und Fensterglas in die bügellose, oft sogar goldene Fassung setzen ließen. Und da der Volksmund ja zu allen Zeiten solche Schwächen zu glossieren pflegte, so prägte er den Ausspruch: Ohne Brill’ ist nichts zu machen, ohne Pincenez kein Sonntag.

Der Zug hielt, ein Herr betrat das Abteil, der höflich grüßte, die Mitreisenden flüchtig musterte, dann Platz nahm und sich gleich hinter einer großen Zeitung verschanzte. Somit sah man nur seine langen Beine, die in einer tadellosen Hose steckten.

Die altmodische Dame machte ein Nickerchen, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn immer wieder nickte sie im Schlaf, wobei der Kneifer lustig mitwippte. Es war ein so drolliges Bild, daß Frauke ihre beiden Begleiterinnen darauf aufmerksam machte.

Sie hatten keine Ahnung, daß sie von dem andern Herrn über die Zeitung weg beobachtet wurden, da sie keine Notiz von ihm nahmen. Daher entging ihnen das stillvergnügte Schmunzeln, mit dem er alles ringsum in sich aufnahm.

Als der Zug wieder einmal seine Fahrt verlangsamte, warf Frauke einen Blick auf ihre Armbanduhr.«

»Ich glaube, wir sind am Ziel«, sagte sie hastig. »Halten wir uns bereit.«

Und damit taten sie recht. Denn kaum, daß sie in ihre Mäntel geschlüpft waren und nach dem Gepäck gegriffen hatten, hielt der Zug auf der Station, wo sie ihn verlassen mußten. Der erste Teil ihrer bestimmt nicht langweiligen Reise war geschafft.

*

Auf dem Bahnsteig bat Frauke einen Beamten, ihr den Weg zur Kleinbahn zu beschreiben. Dann schlossen sie sich dem Menschenstrom an, der zur Sperre strebte, dann durch die Bahnhofshalle dem Ausgang zu. Dort blieben sie zuerst einmal stehen und sahen sich das muntere Treiben an, das allen drei neu war, weil sie noch fast gar nicht gereist waren.

Auf dem weiten Platz standen Privatautos, Taxis und Omnibusse, zu denen die Menschen eilten. Alle hurtig, alle voll Hast. Ein Gefährt nach dem andern fuhr ab, bis der Platz leer war.

»So, denn wollen wir mal«, sagte Frauke vergnügt. »Wie hat der Beamte gesagt: durch das Bahnhofsportal auf die Straße, dort rechtsum und fünf Minuten lang der Nase nach. Tun wir also.«

So zogen sie denn los, frohgemut und mit leichtem Gepäck; denn das große hatten sie aufgegeben. Führten nur im Köfferchen das mit, was unbedingt notwendig war. Schon von weitem sahen sie den Zug, der bereits unter Dampf stand. Sie waren noch nie in so einem Bähnlein gefahren und freuten sich nun darauf, wie sie sich über alles und jedes freuten, in ihrer Unverwöhntheit. Wie war doch das alles so reizvoll und interessant.

Nachdem Frauke die Fahrkarten gelöst hatte, suchte man nach einem Abteil zweiter Klasse, welches man als einziges an diesem Züglein fand und das jetzt noch unbesetzt war. Frauke und Ortrun nahmen die Fensterplätze ein, Hulda placierte sich neben erstere, also saß man genauso wie vorher im D-Zug. Später bekam Ortrun eine Nachbarin, die für ihre Behäbigkeit soviel Platz brauchte, daß sie das grazielle Persönchen in die Ecke drückte. Ihr frisches Vollmondgesicht drückte dabei so viel Wohlwollen und Güte aus, daß man ihr nicht böse sein konnte.

Die noch Zusteigenden waren alle miteinander bekannt und unterhielten sich zwanglos. Immer wieder gingen ihre Blicke verstohlen zu den drei Fremdlingen hin, in denen sie Feriengäste vermuteten, obwohl Mitte März noch keiner das idyllische Dorf aufzusuchen pflegte. Warum diese es taten, hätten sie zwar brennend gern gewußt, aber man fragte natürlich nicht. Man hatte ja schließlich Erziehung – o bitte sehr!

Mit einem grellen Pfiff setzte sich das Bähnlein prustend und schnaubend in Bewegung.

Nachdem man eine knappe Stunde gefahren war, hielt der Zug nicht vor der üblichen Wellblechbude, wie kleine Stationen sie aufwiesen, sondern vor einem roten Backsteinhäuschen, und schon hörte man von draußen die Stimme des Schaffners:

»Grünergrund – Endstation!«

Es waren nicht mehr viele Passagiere, die ausstiegen, die meisten hatten den gutbesetzten Zug schon unterwegs verlassen. Zu Fuß verließ man den kleinen Bahnhof, nur die gewichtige Dame ging auf ein Gefährt zu, in dessen Deichsel ein wohlgenährter Brauner steckte. Doch unterwegs verhielt sie den Schritt und sah zu den drei Fremdlingen hin, die unschlüssig dastanden.

»Nanu, meine Damen, werden Sie nicht abgeholt?« fragte sie verwundert. »Der Friedrich von der ›Grünen Gans‹ pflegt doch sonst pünktlich zu sein.«

»Grüne Gans?« fragte Frauke lachend. »Die muß aber noch sehr jung sein.«

»O nein«, schmunzelte die Dicke. »Sie ist im Gegenteil schon recht betagt, aber ganz nett auf komfortabel zurechtgestutzt. Die ›Grüne Gans‹ ist nämlich das hübscheste Hotel in unserm grünen Dorf. Ja, ja, meine Damen, bei uns ist alles grün. Da kann es einem niemals schwarz vor den Augen werden.«

Jetzt lachte man ein fröhliches Quartett, und dann fragte Frauke nach dem Weg zum Gemeindeamt.

»Das ist hier ganz in der Nähe«, gab die stattliche Dame Auskunft, ihre Neugierde dabei heroisch unterdrückend. »Gehen Sie die Straße rechts hinunter bis zum Marktplatz, überqueren Sie ihn und marschieren Sie direkt in das große Haus, das zur Abwechslung weiß ist. Dann sind Sie am Ziel. Kapiert?«

»Auf Anhieb. Besser hätten Sie es gar nicht erklären können, gnädige Frau.«

»Das freut mich. Also dann alles Gute, meine Damen.«

Ihnen freundlich zunickend kugelte sie ab und stieg mit einer Behendigkeit in den Wagen, die für ihre Körperfülle erstaunlich war. Der Kutscher ließ die Peitschenschnur sacht über den blanken, breiten Rücken des Braunen spielen, der sich darob ge­mächlich in Bewegung setzte.

»Das nennt man Gemütlichkeit«, lachte Frauke. »Ich glaube, in diesem idyllischen grünen Dorf reißt sich keiner ein Beinchen aus. Und nun auf zum Herrn Gemeindevorsteher. Wollen wir uns von ihm überraschen lassen.«

So zog man denn vergnügt von dannen und nahm entzückt das schmucke Bild in sich auf. Das ganze Dorf war blitzsauber. Zusammengebaute Häuser gab es in dieser mit Bäumen umsäumten Straße nicht, die sehr lang zu sein schien, die rechts einen Bürgersteig, links einen Fahrradweg aufwies. Zwischendurch erstreckte sich eine glatte Asphaltstraße.

Jedes Haus war von einem Garten umschlossen, den ein grüner Staketenzaun von dem Nachbargrundstück trennte. Ein schmuckes Dorf, ein gepflegtes Dorf.

Der Marktplatz war im Viereck von Gebäuden abgeschlossen. In der Mitte plätscherte ein Springbrunnen, umrandet von Blumenbeeten. Die Bürgersteige säumten alte, prächtige Lindenbäume. Zwei davon standen vor dem Gemeindeamt wie stumme Wächter.

Die Gans war tatsächlich grün, die auf ein Schild gemalt war, das über dem Eingang des schmucken Hotels lustig baumelte. Geschäft reihte sich an Geschäft; denn der große Marktplatz war Zentrum.

Der Gemeindevorsteher, ein jovialer Herr mit kräftiger Gestalt, frischem Gesicht und angegrautem Borstenkopf ging den Eintretenden zögernd entgegen.

»Guten Tag. Wenn ich nicht irre, sind Sie die von dem Notar Doktor Danz avisierten Damen?«

»Stimmt«, entgegnete Frauke liebenswürdig. »Ich bin Frauke Gortz, das ist Fräulein Hulda Selk und das Fräulein Ortrun Danz.«

Nachdem die Begrüßung erfolgt war, nahm man an einem runden Tisch Platz, und ohne Aufforderung legten die Mädchen ihre Ausweise nebst einer polizeilichen Bestätigung vor. Der Gemeindevorsteher prüfte die Papiere sorgfältig und reichte sie dann mit verbindlichem Lächeln zurück.

»Danke, meine Damen, alles in Ordnung. Hm – ja, wollen Sie denn das ererbte Haus beziehen?«

»Warum denn nicht?« gegenfragte Frauke erstaunt. »Gibt es da etwa Schwierigkeiten?«

»Nicht was die Erbschaft selbst betrifft, da geht alles klar. Nur ist das Anwesen – nun, um es beim richtigen Namen zu nennen – verwahrlost. Um es in Ordnung zu bringen, werden Sie eine Menge Geld hineinstecken müssen, mein gnädiges Fräulein.«

»Das ist vorhanden«, erklärte Frauke kurz. »Jedenfalls soviel, um die größten Schäden zu beheben. Alles andere wird nach und nach erfolgen.«

»Das freut mich«, atmete der Mann sichtlich auf. »Denn das Anwesen war immer ein Schandfleck unseres schmuc­ken Dorfes, das jährlich immer mehr Sommergäste anzieht. Ein Glück, daß dieses – na ja – nicht im Mittelpunkt, sondern an der Grenze liegt.«

»So daß die Dörfler es verleugnen können«, warf Frauke trocken ein, was den Mann verlegen machte. »Hat mein Onkel wenigstens ein anständiges Begräbnis gehabt?«

»Aber gewiß, gnädiges Fräulein«, beeilte er sich zu versichern. »Der Herr Professor hatte ja eigens dafür eine Summe bestimmt, die wir in einem versiegelten Umschlag auf dem Schreibtisch fanden. Ich habe alle Ausgaben gewissenhaft vermerkt und die Rechnungen beigefügt.«

Er stand auf und trat an den Geldschrank, dem er einen versiegelten Umschlag nebst einigen Schlüsseln entnahm. Mit einer Verbeugung überreichte er es Frauke, die es in die Handtasche gleiten ließ.

»Ich danke Ihnen, Herr Gemeindevorsteher, für die Mühe, die Sie mit meinem Onkel gehabt haben.«

»Aber bitte, gnädiges Fräulein, ich tat nur meine Pflicht. Wenn Sie meine Hilfe benötigen sollten, ich stehe Ihnen gern zu Diensten.«

»Danke. Welchen Weg müssen wir einschlagen, um zu dem Anwesen zu gelangen?«

»Über den Marktplatz, dann rechts ab und immer die Straße entlang bis zum letzten Haus linker Hand. Nun möchte ich die Damen in unserm grünen Dorf willkommen heißen und Ihnen alles Gute wünschen.«

»Phrasen«, sagte Frauke verächtlich, nachdem sie mit ihren Begleiterinnen das Amtszimmer verlassen hatte. »Der Mann machte so den Eindruck, als hätte er uns gern abgeschoben. Nichts da, mein Lieber, wir bleiben. Doch zuerst gehen wir in die ›Grüne Gans‹, um unseren Hunger zu stillen.«

*

Der Raum, den sie gleich darauf betraten, war niedrig und langgestreckt. Alles darin blitzte vor Sauberkeit. Sie nahmen an einem der breiten Fenster Platz, von dem aus sie den Marktplatz übersehen konnten. Und schon watschelte ein Dicker auf seine einzigen Gäste zu.

»Guten Tag, die Damen. Was ist gefällig?«

»Ein gutes und reichliches Mahl, Herr Wirt.«

»Die Damen werden zufrieden sein«, reichte er ihnen dienernd die Speisekarte hin. »Bitte zu wählen.«

Sie wählten alle drei dasselbe, das sich als reichlich und schmackhaft erwies. Kalbsschnitzel mit gemischtem Salat und als Dessert eingeweckte Kirschen. So richtig gesättigt legten sie sich in die bequemen Polsterstühle zurück, und Frauke griff zur Zigarette. Ein Laster, dem sie allerdings nur als sogenannte Sonntagsraucherin frönte. Hulda rauchte natürlich nicht und Ortrun als bisheriger Internatszögling schon gar nicht.«