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Der 13-jährige Andreas wird in den prüden Mitt-60ern im Schwimmbad von einem erwachsenen Mann angesprochen und folgt ihm in ein verlassenes Haus. Schnell entsteht eine Beziehung zwischen den beiden, die anfangs leichtgewichtig und unbekümmert erscheint. Andreas entwickelt unter Daniels Einfluss eine frühe sexuelle Eigenständigkeit. Seine Eltern sind wenig präsent und schauen über verstörende Anzeichen hinweg. Seine Schulnoten schwanken; Lehrer reagieren irritiert. Daniel seinerseits befürchtet Konsequenzen aus dem, worauf er sich eingelassen hat; diese Angst ist nicht unbegründet. Die beiden werden entdeckt. Daniel verschwindet über Nacht. Andreas ist von der Situation vollkommen überfordert. Er gerät in eine schwere Krise, seine schulischen Leistungen sacken rapide ab, er entwickelt eine Zwangsneurose. Niemand in seinem Umfeld fragt nach, was der Grund für die auffallenden Veränderungen sein könnte. 25 Jahre später sind alle seine Beziehungen gescheitert, die letzte nach einem Suizidversuch. Alle folgten demselben Muster und endeten aus dem gleichen Grund – panische Verlassensängste. Bei einem Klassentreffen wird deutlich, welch fatale, traumatische Folgen die Erlebnisse mit Daniel hatten. Andreas sieht eine Möglichkeit, das Gewesene hinter sich zu lassen.
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Seitenzahl: 415
Veröffentlichungsjahr: 2025
Matthias Schmidt
Das Haus zwischen den Feldern
Roman
© 2025 Matthias Schmidt
Titelbild von Karla Marie Friedel
Umschlag & Satz: sabine abels
Softcover
978-3-384-55503-8
Hardcover
978-3-384-55504-5
E-Book
978-3-384-55505-2
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.
Die Handlung dieses Romans sowie sämtliche Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, lebend oder verstorben, oder mit tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.
Cover
Titelblatt
Urheberrechte
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
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Kapitel 1
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Ich hatte eine glückliche Kindheit in den 50ern, behütet und beschützt; kann man nicht anders sagen. Meine Erinnerungen an Kindertage in einem Dorf im Hintertaunus fühlen sich heimelig und wohlig an. Bauernhöfe mit Pferden, Obstwiesen, Schlittenabfahrten auf verschneiten Hängen. Noch vor meiner Einschulung zogen wir um nach Buchschlag vor den Toren Frankfurts, in ein riesiges, altes Haus inmitten eines ebenso riesigen Gartens, in dem Reineclauden- und Mirabellenbäume standen, Buschbohnenhecken und Rosenbeete. Die Gemeinde nannte sich ’Villenkolonie`; darauf war man stolz.
Mein Vater war Redakteur bei einer Frankfurter Tageszeitung und beim Rundfunk. Gelegentlich wurde ich dazu verdonnert, eine seiner Sendungen zu hören, die er selbst aufnahm und für die mir das Verständnis fehlte. Tiefgründige politische oder kulturelle Analysen waren in jungen Jahren nicht meine Welt. Er arbeitete größtenteils zu Hause, in den beiden zur Straße gelegenen Zimmern im Erdgeschoß. Dessen ungeachtet war mein vorherrschendes Gefühl, dass er nie da war, nie präsent. Er war bemüht um seine Kinder, aber er war kalt und emotional schwer zugänglich; Kriegsgeneration, Notabitur 1941, noch vor Kriegsende zur Armee eingezogen. Aus dem Krieg brachte er eine Kopfverletzung mit.
„Mein Papa hat entweder Kopfweh, oder er hat keine Zeit“, verkündete ich als kleiner Junge häufig. Die Familie fand das drollig.
Meine Mutter mit ihrer brasilianischen Herkunft war das exakte Gegenteil, eine lebenslustige, dunkelhaarige Frau, die in jungen Jahren sehr schön gewesen sein muss. Sie gab ihren Beruf als Apothekerin auf, als mein Bruder Nils sechs Jahre nach mir geboren wurde, und begnügte sich mit ihrem Hausfrauen-Status. Sie ging gerne tanzen und ins Kino und liebte Gesellschaften – alles das, was mein Vater nicht mochte oder gar verachtete. Ich hatte bis an ihr Lebensende eine enge Bindung zu ihr, unterbrochen von Phasen heftiger Aggression und Ablehnung gegen ihr ultra-impulsives, gefühlsgesteuertes Naturell, das zudem bar jeder Logik war. Mein zweiter Bruder Sven kam acht Jahre nach mir zur Welt.
Ich war ein guter Schüler – bis zu den Ereignissen, um die es bald gehen wird. Die ersten vier Klassen der Volksschule, die damals so hieß, habe ich als spielerisch in Erinnerung. Mehr als diese vier Jahre bot die Buchschläger Schule nicht, danach trennten sich die Wege unseres Jahrgangs. Das Gros wechselte aufs Gymnasium nach Langen, der nächsten Bahnstation. Meine Freunde Alfred und Hans-Jürgen kamen aufs Frankfurter Goethegymnasium, im ’Lessing` wurde außer mir nur mein Kumpel Rainer angemeldet. Für alle ’höheren Schulen`, wie sie hießen, war eine Aufnahmeprüfung obligatorisch – die mir wie ein aufregender sportlicher Wettkampf erschien.
Die ersten Jahre dort gestalteten sich ebenso problemlos. Mathe und Physik waren nicht meine Favoriten, aber eine Drei in den Zeugnissen die Ausnahme, ein dunkler Fleck. Wegen der 15 Minuten Zugfahrt galten wir als ’Fahrschüler`, ein Sonderstatus gegenüber den Kameraden, die ihren Schulweg mit der Straßenbahn oder zu Fuß zurücklegten. Ich hatte den gleichen Deutschlehrer wie mein Vater, ein weiser, älterer Herr, der mich nach Kräften förderte.
Frankfurt lag nicht mehr in Trümmern, als ich dort 1960 eingeschult wurde, doch führte mein Schulweg noch an Ruinengrundstücken vorbei. Das Theater spielte im Haus der Börse, im Stadion trainierten Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler, Armin Hary lief seinen 10,0-Weltrekord. Adenauer regierte und die CDU, denen mein Vater eine tiefsitzende Abneigung entgegenbrachte.
Unser Wohnort Buchschlag war eine heile, in Watte gepackte Welt – wenn man zu dem Zirkel der Intellektuellen oder des alten Geldes gehörte. Es gab eine ’Margarinenseite` jenseits der Bahnhofstraße mit den beiden neu errichteten ’Blocks` – mehrstöckige Klötze mit engen Etagenwohnungen, in denen mehrheitlich Kriegsflüchtlinge wohnten und die unterschwellig als anrüchig galten. Aber auch auf der Butterseite herrschte 15 Jahre nach Kriegsende nicht ausschließlich Oberschichten-Wohlstand. Die Damen Martino, zwei unverheiratete Schwestern jenseits der 50, fuhren mit einem kleinen Leiterwagen Drogerieprodukte aus, die sie in ihrer dunklen Wohnung im Souterrain lagerten, Kernseife, 8x4-Puder, Trockenshampoo. Eine kuhgesichtige Frau Wahlert mit krausem, grauschwarzem Haar und diesen billigen kleinen Goldohrringen, die ich nur von Ost-Flüchtlingen kannte, lieferte frühmorgens auf einem alten Fahrrad mit Anhänger Moha-Milch in Flaschen bis vor die Haustüre. Die SPD kam vor Ort nie über 15 Prozent. Der Autoverkehr war minimal, ich lief nachmittags Rollschuhe auf der Hainertrift, in der wir wohnten und wo ich nur gelegentlich einem Fahrzeug ausweichen musste. Als wir herzogen, waren noch etliche der repräsentativen Villen von amerikanischen Armeeangehörigen besetzt. Zwei der Offizierskinder gingen in meine Volksschulklasse statt in die US-Schule auf der nahen Air Base, saßen an den Pulten neben den Flüchtlingskindern aus Schlesien und Ostpreußen, die ebenso wenig Deutsch sprachen, aber anders gekleidet waren und im Unterricht kein Kaugummi kauten.
Heile Welt. Keine Drogen, keine Verbrechen, die Nachkriegsarmut für uns privilegierte Akademikerkinder nur sichtbar, wenn beispielsweise der Zug in die Stadt vor der Mainbrücke an einem roten Signal hielt und wir hinunterschauten auf die Notunterkünfte am Mainufer, Nissenhütten und ausrangierte Bahnwaggons, in denen auch 15 Jahre nach Kriegsende noch Menschen wohnten. Ich war sexuell viel früher wach, als es mir bewusst war, hatte Antennen für dunkle Reize. In den Armenwohnungen da unten vermutete ich instinktiv mehr Aufregung und Körperlichkeit als in meinem beschaulichen Buchschlag. Dieses erotische Faible fürs Proletariat war deutlich und stark.
Dass ich schwul werden würde, ließ sich für ein geübtes Auge schon erkennen, als ich sieben oder acht Jahre alt war. Ich war ein wilder Junge, ja; kein Baum, auf den ich nicht kletterte und keine Höhle im Sand der Kiesgrube, in die ich mich nicht hineingewagt hätte. Doch genauso schnitt ich mit meiner Freundin Heidemarie Frauen aus dem `Quelle`-Katalog aus, für die wir Kleider entwarfen. In der vierten Klasse wünschte ich mir eine Modelleisenbahn zu Weihnachten; in der dritten war es eine große Negerpuppe – die damals genau so hieß, und die ich auch bekam. Ich war ein Ass im Sport; man konnte mich ins Tor stellen, ich gewann regelmäßig über 50 Meter Sprint und im Weitsprung. Doch das Ballett der Städtischen Bühnen war eher mein Traum als Eintracht Frankfurt.
Ich habe selbst früh gespürt, wo ’s mit mir hinging. In der sechsten Klasse schwärmte ich heimlich für Dieter Wehnert; stieg seinetwegen zwei Haltestellen früher aus der Straßenbahn aus und lungerte wartend vor seinem Zuhause herum, um dann ein Stück des Schulweges gemeinsam mit ihm zurückzulegen. Mit Peter Vogel hielt ich auf der Nachtwanderung im Schullandheim auch mal Händchen, statt nur Arm um Arm zu marschieren, und er drückte mir einen schüchternen Kuss auf die Wange. Das war das Äußerste der Gefühle.
Mit 13 gab ’s auch die ersten Freundinnen. Musste sein, sonst hätte ich meinen Status in der Klasse riskiert. Als ich die Masturbation entdeckte, war die Richtung festgelegt. Mit zwölf zwang ich mich manchen Monat dazu, beim Masturbieren an Frauen, nicht an Jungen zu denken. Der Erfolg war marginal.
Der Frühling brach an. Im Februar war ich 13 geworden. 1963, als es in den Freibädern noch streng nach Geschlecht getrennte Umkleiden aus Holz gab. Die kleinen Gucklöcher im Nachbarort Sprendlingen hatte ich schon im Jahr davor entdeckt, aber dass sie meine komplette Aufmerksamkeit für ganze Nachmittage erregten, das hatte erst vor zwei Wochen begonnen. Man nutzte die Kabinen noch, zog sich nicht nachlässig auf der Wiese oder am Beckenrand um, wie ’s 20 Jahre später Sitte wurde.
An diesem Nachmittag spät im April sind zu viele meiner Schulkameraden aus der Volksschule vor Ort, als dass ich meinem neuen Hobby ausgiebig frönen könnte. Erst beim allgemeinen Aufbruch in den frühen Abendstunden gelingt es mir, mich in meine Lieblingsumkleide zu verkrümeln – die mit richtig vielen und strategisch günstigen Astlöchern.
Ein bullig heißer Tag, viel Betrieb im Bad. Der erste neben mir, dem ich voll auf den Schwanz schauen kann, ist ein amerikanischer GI mit rasierter Glatze, der jedoch schnell seine Trainingshose überstreift und wieder raus ist. Nicht anders die nächsten, mal ein Blick auf ein entblößtes Glied, einen nackten Hintern, und weg sind sie. Niemand, der länger drinbleibt, gar an sich rummanipuliert.
Bis auf der Seite rechts von mir leise die Tür geht, vorsichtig jemand abschließt. Ich warte kurz, bis ich durch den unauffälligsten Spalt nach drüben schaue. Auf der Bank sitzt ein Junge etwa in meinem Alter, der prüfend die Löcher beobachtet. Er trägt ein buntes Hemd, nicht zugeknöpft; mehr kann ich nicht erkennen. Kurze blonde Haare. Er lehnt sich auf der Bank weiter nach vorne, näher zur Wand. Weiß, dass ich da bin. Und geht dann mit seinem Auge an das gleiche Loch, durch das ich schaue.
Ich weiche erschrocken zurück. Was passiert jetzt? Warte ab, reglos, verstecke mich nicht; er hat mich eh gesehen. Als wir die Plätze an dem gleichen Guckloch wieder wechseln, steht er auf. Zieht sein Hemd aus, wirft ’s auf die Bank. Er trägt eine dunkelrote, ausgeleierte Badehose, vorne gut ausgebuchtet. Schwimmshorts gab ’s noch nicht. Er überzeugt sich, dass ich noch da bin, dann zieht er die Hosen runter. Entblößt einen halb steifen Penis. Er mag kleiner sein als ich, aber er hat schon ein kräftiges Büschel Haare da unten, dichter als meines. Braungebrannt, mit einem hellen weißen Streifen von der Badehose. Er bückt sich, schaut rüber.
Ich bin unsicher. Was soll ich tun? Auf ein aufforderndes Nicken von ihm stelle ich mich auch hin, zeige ihm meinen Steifen. Als ich wieder dran bin, hat er langsam zu onanieren begonnen. Überzeugt sich mit Blicken schräg runter auf das Loch, ob ich ihm zugucke. Es braucht Mut und Überwindung, es ihm nachzumachen, mich genauso zu zeigen. Außer einem schüchternen Schwanzvergleich mit Rainer und Hans-Jürgen hatte ich bisher nicht das kleinste Erlebnis dieser Art. Es war auch noch ein Jahr hin, bis ich ’s mit Rainer über den Aktbänden seines Vaters gemeinsam gemacht habe. Vage Fantasien, und seit Wochen diese Spannereien nach anderen Jungs aus dem Ort, sonst nichts.
Soll ich abfeuern, oder passiert noch etwas? Als ich ihn wieder beobachte, greift er nach Slip und kurzen Hosen. Zieht fragend die Augenbrauen hoch. Was ist? Er will mir durch das Loch etwas sagen, aber ich verstehe nichts, der Lärm des Badetriebs ist zu laut. Ein Kopfnicken Richtung Tür, mehrmals. Er ist fertig angezogen. Jetzt lacht er. „Ja? Komm!“, höre ich ihn raunen, lauter. Dann verlässt er langsam die Kabine.
Ich bleibe ratlos sitzen. Ich will ihm hinterher, klar, aber was soll dann passieren??? Durcheinander; überrumpelt. Ziehe mich langsam an. Als rechts und links wieder die Türen klappern, mag ich nicht länger spannen.
Der Junge steht oben am Ausgang, tut als beobachtet er das Schwimmbecken, fixiert aber die Reihe der Kabinen. Er trägt weiße Shorts, das bunte Hemd, braune Sandalen mit Socken. Hat eine weiß-blaue Reisetasche umhängen mit dem schwungvollen Schriftzug einer Airline. Höchstens 15, mutmaße ich. Habe ihn noch nie hier gesehen. Er mustert mich ernst, kein Lächeln mehr. Dreht sich Richtung Ausgang und Drehkreuz, prüft mehrmals, ob ich ihm folge.
Vermutlich ist er aus dem Ort, Sprendlingen. Arbeiterklasse; anders als im feinen, drei Kilometer entfernten Buchschlag. Meine Eltern hassen es, wenn ich mit Jungs von hier anbandele. Schließlich schicken sie mich auf ein humanistisches Gymnasium! Letztes Jahr zu Pfingsten ließen sie mich als einzigen aus unserer Villenkolonie zu einer christlichen Pfadfinderfreizeit mitfahren, sonst nur Jungen aus Sprendlingen und Dreieichenhain. Rainer Haller durfte nicht mit. Zurück, hatten die Spitzenplätze meiner besten Freunde zwei von ihnen belegt, Herbert und Rolf, die beide nach ihrem Achte Klasse-Volksschulabschluss eine Lehre machen würden, einer als Tankwart, der andere als Verkäufer bei ’Peek & Cloppenburg`. Mir war klar, dass es die Zustimmung zu einem weiteren Ferienlager nicht geben würde. Klingelte einer von den beiden samstagnachmittags, um mich abzuholen, brach die Familie urplötzlich nach Frankfurt auf, in den Zoo oder in den Zirkus – etwas, wozu uns sonst allenfalls die wohlhabenden brasilianischen Patentanten einluden. Damit ich bloß nicht mit den Schmuddelkindern spielen würde – die mir wesentlich besser gefielen als die Arzt- und Bankierssöhne vor Ort.
Mit Herbert gab ’s vorm Schlafengehen im Zelt mal einen kurzen Blick auf seinen nackten Unterkörper im Schlafsack, mit Rolf ein schüchternes Sich-Zeigen beim Umziehen nach einem Tag am Waldsee. Vielleicht lag mehr in der Luft, doch wir waren zu schüchtern. Mit dem älteren ’Rudelführer` einen hingehauchten Kuss vom Feldbett neben meinem, als die Lichter aus waren. Mehr kann ich mir nicht vorstellen, als ich mich jetzt durch das Drehkreuz auf die Straße schiebe.
Der Bub wartet oben an der Ecke bei den letzten Häusern des Ortes. Geht ein paar entschlossene Schritte, als er mich sieht, dreht sich wieder um. Planlos hole ich erst mal unten in die Senke zwischen den Bäumen mein Fahrrad.
Er ist hinter dem ersten Fachwerkhaus verschwunden, taucht wieder auf, als ich eben aufs Rad steige. Verschwindet erneut aus meinem Sichtfeld, als er sich überzeugt hat, dass ich nachkomme.
Wie von einer Zauberformel hypnotisiert folge ich ihm, aufgeregt und verwirrt, vorbei an unbewohnten, verfallenen Häusern, hinter denen Kornfelder sichtbar werden und hier und dort ein einzelner Baum. Das Straßenpflaster geht über in einen steinigen Feldweg. Der Typ ist bereits weit entfernt zwischen hohen Halmen, biegt um eine Kurve. Ich tue, als sei ich absichtslos auf diesen Weg geraten, steige ab und lasse meinen Blick über das Korn schweifen, radele freihändig weiter. Einmal ist er nicht mehr zu sehen, steht aber nach der zweiten Kurve wartend an einem mit Grasbüscheln bewachsenen Pfad, der zu einem Baum führt. Ich zockele an ihm vorbei. Er mustert mich still und ernst. Schön ist er. Wirkt nicht so hart und bäuerisch wie andere Sprendlinger. Ich bin so aufgeregt! Ich drehe um, bremse. Steige ab, die Fahrradstange zwischen meinen Beinen.
Er kommt zu mir geschlendert bis knapp vor mein Vorderrad. Bleibt stehen, betrachtet mich prüfend und ernst. Es gelingt mir nur für einen Moment, den Blick zu heben und ihm in die Augen schauen.
„Bist du ’n Ausländer oder was?“, fragt er rau, ungehobelt – und als sei Alarm ausgelöst worden, setze ich mich auf den Sattel und trete in die Pedale, düse davon. Schaue mich nicht um. Vorbei am Bad, auf die Hauptstraße, bei Rot vorne über die Kreuzung. Fast in Buchschlag, halte ich an einer Bank an. Mein Herz rast. Muss mich erst wieder einkriegen, noch nicht fit für das Geplapper meiner Mutter und den Radau meiner beiden jüngeren Geschwister.
Er sah so toll aus! Ich hätte ihm zwischen seine kräftigen Beine langen mögen, an seinen Hosenlatz. Ihn anfassen. Ihn küssen. Ich weiß nicht, wie das gewesen wäre, aber das hatte ich mir vorgestellt; gewollt. – Warum bin ich abgehauen?? Warum um alles in der Welt bin ich Idiot abgehauen??!!?
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In den frühen 60ern debütierte eine Zeitschrift namens `twen`, ein modern aufgemachtes Magazin mit einem graphisch neuartigen Layout, das mein Vater gelegentlich auf dem Couchtisch herumliegen ließ. Im Monat März zierte das Cover die Fotoserie einer Frau, die sich Bild für Bild langsam auszog – züchtig 60er-Jahre-gerecht – und auf dem letzten, vorgeblich nackt, den Betrachter mit traurigem Gesicht und Schmollmund anschmachtete; darüber groß der Titel ’§175`. Ich hatte eine sehr vage Ahnung, worum es ging. Die Titelgeschichte war merkwürdig theoretisch, befasste sich mit Fallbeispielen aus Großbritannien und zitierte Paragraphen und Urteile vornehmlich in Englisch, was ich nicht verstand. Ich hatte mit der Lektüre gewartet, bis ich todsicher allein zuhause sein würde, war jedoch danach nicht klüger als zuvor; hatte nichts weiter erhalten als die Information, dass Mann mit Mann und anal etwas Verbotenes sei und man dafür bestraft würde, sich aber Politiker dagegen wandten und forderten, den Paragraphen 175 abzuschaffen. Ich hatte mir mehr versprochen, etwas Erhellenderes; mit meiner Welt hatte dieser Artikel nichts zu tun.
Eine gute Woche nach dem fehlgeschlagenen Erlebnis in Sprendlingen muss ich im Garten helfen und komme erst am Spätnachmittag an meinen neuen Lieblingsort. Wolken sind aufgezogen. Keine Schulkameraden in Sicht, ich kann mich unkompliziert in meine Lieblingskabine verziehen. Zunächst wenig zu sehen, nur selten voller Aufregung ein Blick auf einen schlafenden Schwanz, der schnell wieder weggepackt wird. Dann wird links die Tür geöffnet. Ein erwachsener Mann, weit weit weg von meinem Alter. Er legt seine Klamotten umständlich auf die Ablage, kramt in einer blauen Sporttasche. Dreht den Kopf in Richtung meiner Kabine. Schaut er nach den Astlöchern?? Er lehnt sich mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand, spielt mit seinen Händen; lässt die Finger knacken. Bückt sich langsam, und schaut durch ein Loch. Ich war nicht schnell genug; er muss mich bemerkt haben. Ich sitze splitternackt auf meiner Bank. Schaue nach ein paar Augenblicken zögernd wieder nach drüben. Er hat sich aufgerichtet, aber er fixiert die Löcher. Er trägt eine knappe blaue Badehose. Seine Beine sind stark und sehnig, braungebrannt, sein Bauch flach und fest. Definierte Brustmuskeln, aber nicht diese Bodybuilder-Ausstellungsstücke von heute. Eine große spitze Nase, ein hartes Kinn; eckige Gesichtszüge. Sein straff nach hinten gekämmtes, dichtes schwarzes Haar ist durchzogen von grauen Strähnen. Er hat nichts mit der Sorte Jungs zu tun, über die ich zwischen den Kabinen fantasiere; trotzdem macht mir diese fremde Spannung Herzklopfen.
Er geht wieder in die Hocke, schaut rüber. Ich bleibe still sitzen, verstecke mich nicht; lasse die Hände an der Seite hängen. Wenn er das größte Loch schräg vor der Bank erwischt, blickt er voll auf meine pochende Erektion, auf die ich ziemlich stolz bin.
Ich lehne mich so zur Seite, dass ich die ganze Wand im Blick habe. Lunse rüber. Der Mann pellt sich langsam aus seiner Badehose, schaut schräg nach unten dabei mit der Gewissheit, dass ich ihn beobachte. Und als er die Hosen an den Knien vorbei auf den Boden fallen lässt, gibt er den Blick auf einen großen, harten Penis frei und einen dichten Busch schwarzer, lockiger Haare.
Biegt sein Teil etwas nach unten, lässt es gegen den Bauchnabel schnellen. Komisch sieht das aus. Hat er keine Vorhaut? Man sieht die Eichel, prall und nackt, und darunter kein bisschen Haut. Seltsam. Er sieht, woher ich ihn beobachte. Ich schaue ihm direkt in die Augen.
Er guckt wieder rüber. Mein Herz klopft heftig.
Als wir uns ein weiteres Mal abwechseln, fordert er mich von drüben auf, auch mal aufzustehen.
Ich tue ’s. Stelle mich hin und schaue, wie er reagiert. Er grinst. Leckt sich lächelnd über die Lippen. Kommt ganz nah an den winzigen Spalt zwischen zwei Bohlen.
„Wie alt bist du?“, raunt er leise.
Ich bin zu ängstlich, um laut zu antworten. 13, signalisiere ich mit den Fingern.
Ich höre ihn mit der Zunge schnalzen. „Dreh dich mal um“, raunt er.
Was soll das? Ich drehe mich um.
„Nein, geh näher an die Wand drüben. Zeig mir deinen Hintern.“
Okay, mache ich. Wozu das?
„Stell dich ein bisschen breitbeiniger hin.“
Er ist so laut! Ich hab Angst, dass ihn jemand hören kann. Was wird das hier eben?
Ich schaue rüber, und wie der Junge letzte Woche gibt er mir ein angedeutetes Zeichen mit dem Kopf, ein Nicken: Gehen wir raus? Er lächelt. Fährt sich wieder mit der Zunge über die Oberlippe. Zieht fragend die Augenbrauen hoch. Ich nicke Zustimmung, Ja, und beobachte noch, wie er in eine zerschlissene kurze Hose steigt, sich ein dunkelrotes, kurzärmeliges Hemd überstreift und lässig zwei Knöpfe schließt. Ein erneutes Nicken nach draußen, und weg ist er.
Ich zögere. Mir ist mulmig; bin trotzdem irrsinnig aufgeregt, was folgen wird. Denke an die verpatzte Chance letzte Woche. Diesmal muss ich mutiger sein. Langsam ziehe ich mich an, verlasse die Kabine.
Der Mann sitzt gegenüber dem Ausgang auf der weißen Bank und beobachtet mich. Sein Lächeln ist verschwunden. Er trägt weiße Turnschuhe ohne Socken. Die blaue Sporttasche steht neben ihm.
Ich stelle mich vor den Spiegel am Kassenhäuschen, kämme mir die Haare mit einer runden weißen Bürste aus Gummi, wie man sie damals hatte.
Er steht plötzlich hinter mir.
„Leihst du mir mal deine Bürste?“, fragt er.
Ich halte sie ihm hin, und er kämmt sich ebenfalls, fixiert mich dabei im Spiegel.
„Wollen wir ein Stück rausfahren?“, presst er leise zwischen den Zähnen hervor.
Ich nicke zögernd. Wir verlassen das Bad durch das Drehkreuz, und halb neben, halb hinter ihm folge ich ihm zu einem weißgrauen Wagen am Ende des Parkplatzes, einem Ford Taunus. Dass die Eltern meines besten Kumpels Rainer Haller das gleiche Auto fahren, gibt mir Vertrauen. Er schließt die Tür der Beifahrerseite auf.
„Bringen Sie mich später zurück?“, bitte ich. „Mein Fahrrad steht da drüben.“
„Natürlich. – Wie heißt du denn?“, fragt er, als wir auf die Landstraße Richtung Dreieichenhain einbiegen.
Ich nenne ihm meinen Namen, Andreas. Hoffentlich hat uns keiner von meinen Mitschülern gesehen!!! „Und Sie?“
„Ich bin der Daniel. Du musst nicht Sie zu mir sagen.“
Ich habe einen Steifen, seit ich die Kabine verlassen habe. Ich schiele nach seinen kräftigen Beinen, und auf seinen Hosenlatz. Ich kann mir schwer ausmalen, was geschehen wird. Auf jeden Fall möchte ich seinen großen Penis anfassen. Und ich wünsche mir, dass er mich küsst. Dass er mich fest in die Arme nimmt und mich küsst.
Meine beiden Hände liegen brav auf meinen Oberschenkeln, wie im Schulunterricht. Er legt seine rechte Hand auf meine linke, drückt sie fest. Hebt sie an seinen Mund; küsst meine Fingerspitzen. Fährt langsam mit der Zunge über meine Handfläche. Schade, dann muss er schalten und lässt mich los.
Wir zuckeln durch die engen Gassen der Dreieichenhainer Altstadt, lassen den Ort hinter uns.
Wo fährt er eigentlich mit mir hin? Ich wage nicht zu fragen.
Auf der Landstraße Richtung Urberach blinkt er plötzlich und schert nach links in einen Feldweg ein. Ich sehe nur ein einzelnes Haus in der Ferne zwischen den Feldern; schaue ihn fragend an. Er nickt stumm und biegt nach zwei Minuten in die Einfahrt des ruhig und einsam daliegenden Grundstücks ein. Öffnet eine rostige Garagentür, fährt den Wagen rein.
„Steig aus“, sagt er. „Wir sind da.“
„Wohnen Sie hier?“
Er zieht das Rolltor nach unten. Im Halbdunkeln packt er mit Daumen und Zeigefinger mein Kinn. „Du sollst nicht Sie zu mir sagen!“ Er lacht locker und gibt mir einen Klaps auf den Po. „Da lang“, und er schiebt mich in Richtung einer Tür an der Rückseite der Garage.
Das Innere des Hauses wirkt staubig und verlassen, gespenstisch still und leer. Alle Türen stehen zu einem Flur hin offen, die Rollläden sind zur Hälfte heruntergelassen, die verblichenen Gardinen vorgezogen. In der Küche befinden sich ein Spültisch und leere Einbauschränke, ein Esstisch. In einem kleinen Schlafzimmer erblicke ich zwei einzelne Betten mit bezogenen Matratzen darin, zusammengeschoben zu einem Doppelbett, neben jedem steht ein einfacher Stuhl.
Er streichelt mir den Hintern in meinen Shorts, knetet meine Pobacken.
„Zieh dich aus!“, sagt er leise; küsst mich sanft auf den Hals und wirft dabei sein Hemd achtlos auf einen Stuhl.
Ich ziehe mir mein T-Shirt über den Kopf. Unter meinen Achseln wachsen seit ein paar Monaten blonde Haare. Er hält meine Arme fest und berührt mit seinen Lippen ganz leicht die meinen.
Ich habe noch nie jemanden richtig geküsst, noch nie. Dieser hingehauchte, Sekunden dauernde Lippenkontakt mit Dagmar im Kino bei einem ’James Bond`, das zählt nicht. Ich habe darüber fantasiert; mit Peter Vogel aus meiner Klasse, zum Beispiel. Aber wie ’s wirklich geht, davon hab ich keine Ahnung. Und bin überrumpelt, als er einen Arm um mich legt und seine Lippen fester drücken, sich öffnen, und meine mit. Seine Zungenspitze zwischen meinen Lippen, und in meinem Mund. Mein Herz pocht wild. Mit seiner freien Hand öffnet er den Bund meiner kurzen Hosen, schiebt sie ein Stück runter, fährt mit der Hand in meine Unterhose. Klar, ich habe gehört davon, was Männer angeblich miteinander machen. Stand ja auch in ’twen`. Vorstellen kann ich es mir nicht.
Als er mich loslässt, kickt er sich die Turnschuhe von den Füßen und zieht die Hose aus, steht nackt vor mir. Zieht mir auch langsam die Hose runter, lässt aber meine Unterhose oben.
Er schiebt mich zum Bett, legt mich drauf, meine Beine baumeln über den Rand der Matratze. Er kniet sich vor mich, schiebt meine Oberschenkel auseinander. Fährt mit einer Hand über mein pochendes Glied. Drückt seinen Kopf auf meine Unterhosen. Leckt meine Oberschenkel entlang, langsam, schaut mich dabei von unten an, wie um sicherzugehen, dass ich ihm zuschaue.
Ich setze mich auf und er stellt sich vor mich hin, sein Penis frontal vor meinem Gesicht. „Darf ich ihn mal anfassen?“, frage ich unsicher. Er nickt verhalten. Ich lange vorsichtig danach. Er drückt meinen Kopf sachte dagegen.
Er zieht mich aufrecht, streift meine Unterhosen runter. Langt wie in Zeitlupe nach meinem Glied, gleitet mit der Hand daran entlang, so behutsam, dass ich ihn gerade eben spüre. Streichelt mich. Fasst mir mit zwei Fingern zwischen die Beine. Und küsst mich wieder. „Gib mir deine Zunge“, flüstert er. „Ich will dich spüren. Richtig.“
Wir stehen einander gegenüber, seine Hände überall auf mir. Vielleicht habe ich mir das unbewusst so gewünscht. Konkret war es außerhalb meines Vorstellungsvermögens. Ich schaue ihn mit weit offenem Mund entgeistert an.
Wir lassen uns auf ’s Bett fallen, sein linker Arm um meine Schultern. Er spielt mit mir. Ich folge ihm zögernd. Lege meinen Kopf sanft auf seine Brust; höre sein Herz pochen. Lasse mein Gesicht über die Härchen auf seiner Brust gleiten, die ein bisschen feucht sind. Ich möchte ihn … entdecken, … aber ich wage es mir nicht.
Er umarmt mich fester. Wir küssen uns lange, und vorsichtig gleite ich jetzt auch mit meiner Zunge in seinen Mund. Dann spuckt er sich in die Hand und langt so runter an mein Glied. Bombig; aber ich halte seine Hand fest.
„Kommt ’s dir schon?“
Ich nicke schnell. „Mmh …“
„Noch nicht.“ Er lässt los; stützt sich auf einen Ellenbogen. „Das erste Mal?“
„Ja.“
Er lächelt. „Dann muss ich besonders lieb zu dir sein.“ Er dreht mich vollends auf den Rücken, schiebt sich über mich, stützt sich mit den Händen rechts und links von meinen Schultern ab. Er fährt mit der Zungenspitze meinen Hals entlang und über meine Brust. Reibt unsere Unterkörper gegeneinander. Als er das verstärkt, bäume ich mich mit einem heiseren Schrei auf, und … … Was macht er mit mir? Was macht sein Mund da unten???
Ich schließe die Augen. Ich …
Was war das gerade??! Er streckt sich neben mir aus. Ich lasse die Augen geschlossen, will ihn nicht ansehen. Geschockt. Hat er tatsächlich … ?
Seine Hand auf meinem Bauch. Ich atme heftig. Als ich die Augen aufschlage, fragt er sanft: „Too much?“
Ich habe Französisch und Latein in der Schule; kein Englisch.
Ich drehe ihm den Kopf zu. Er schaut mich an, prüfend und ernst. Im Zeitlupentempo nähert er sein Gesicht dem meinem, bis sich unsere Münder vorsichtig berühren. Verwirrt presse ich meine Lippen fest zusammen. Mehr will ich nicht.
„Du bist lieb“, murmelt er mit tiefer Stimme an meinem Ohr. „Sehr lieb.“
Der Windhauch durch das offene Fenster streicht über mein Gesicht und meinen Hals und kühlt mich ein wenig ab. So ist das, wenn man es mit einem Mann macht? Ich bin völlig verwirrt, überrumpelt, auch geschockt. Hatte keinerlei Vorstellung, was mich erwarten würde.
„Im Keller sind drei Kästen Bier“, sagt er. „Willst du ’n Bier?“
Ich habe noch nie Bier getrunken. Ich zucke unbestimmt mit den Schultern, was ein Ja oder ein Nein bedeuten könnte.
„Ja?“
„Okay“, sage ich unentschlossen.
Er erhebt sich vom Bett. Im Türrahmen bleibt er stehen, grinst mich an. Wir sind in den 60ern: da war nichts mit FKK an jedem Badesee, mit Filmschnipseln, die jedes Grundschulkind aufs Smartphone laden kann. Es ist das erste Mal, dass ich einen erwachsenen Mann frontal nackt vor mir stehen sehe, groß und muskulös und behaart. Es regt mich ungeheuer auf; mein Pullermann wird schon wieder hart.
Ich höre Daniel zwei Türen schlagen und weit weg mit Flaschen klappern. Das muss im Keller sein. Er steigt die Treppen rauf und sucht nach etwas nebenan in der Küche. „Scheiße“, schreit er, „kein Flaschenöffner da!“ Er benutzt das Fensterbrett im Schlafzimmer, wobei ein Stück abbricht. „Da kommt ’s nicht mehr drauf an“, lacht er. Reicht mir eine Flasche und zeigt feixend auf mein wieder aufgerichtetes Glied. Nimmt meinen rechten Fuß in die Hand, küsst die Fußsohle, nuckelt an meinem großen Zeh. Dann prosten wir uns zu, lassen die Flaschen aneinanderschlagen.
„Bist du aus Sprendlingen?“
Ich schüttele den Kopf; „Buchschlag.“
Er runzelt die Stirn, sagt aber nichts.
„Ist das Ihr Haus?“
Er zwickt mich in den Unterschenkel. „Wie heißt das??!!“
„Was … Ah … Ist das … Dein Haus?“ Fällt mir schwer.
„Zu verkaufen. Suchen deine Eltern vielleicht eine Geldanlage?“ Er korrigiert sich schnell: „Deine Eltern lassen wir aus dem Spiel.“ Das ist sicher besser so.
Es ist seltsam und fremd, wie er mich nicht nur überall anfasst, sondern auch überall ableckt. Meine Oberschenkel rauf, und meine Hoden; das Stück links und rechts vom Sack. Ich find ’s bombig, irre; in meinem Inneren toben eng nebeneinander ein Fortissimo aus Alarm und Euphorie, aus Höllenangst und körperlicher Ekstase. Ich lasse mich auf die Matratze fallen, schließe die Augen. Lege meine Hände auf seinen Kopf und fahre durch seine Haare.
Er schlingt seine Beine um meine. Unser beider Schweiß glitschig auf unseren Körpern, unser Atem geht im gleichen Rhythmus. Sein einer Arm fest um meinen Rücken, die andere Hand knetet meine Pobacken. „Andreas“, murmelt er. „Andreas.“
Was erzähle ich nachher zu Hause, wo ich war, lange nachdem das Schwimmbad zugemacht hat??? Wir schreiben morgen Mathe, ich müsste diesen Kram mit dem Wurzelziehen noch mal durchgehen. Die Sonne draußen über den Feldern ist untergegangen.
Er steht vom Bett auf. „Noch ’n Bier?“
Ich nicke. Mir fällt eine Ausrede ein, für zu Hause: mit Rainer und Hans-Jürgen Bier getrunken, das erste Mal. Das wird bei den Alten durchgehen.
Ich höre ihn nebenan pinkeln. Er hat den Rollladen im Zimmer hochgezogen und die Fenster weit geöffnet. Ich beobachte mein Spiegelbild in den Fensterscheiben. Ich find mich selber scharf. Meine kurzen blonden Haare. Den dunklen Bart auf der Oberlippe, neu seit ein paar Monaten. Werde ich nicht abrasieren, wie ’s der blöde Zahnarzt mir nahegelegt hat; „Halbstarkenbart“, hat er das genannt. Und ich habe trainierte Arme und eine kräftige Brust, nicht so männlich wie Daniel, aber ich bin zufrieden. Man sieht, dass ich gut in Turnen bin. Auf die blonden Härchen auf meinen Beinen bin ich auch stolz.
Daniel kommt zurück mit zwei vollen Flaschen. Ich trinke meine in einem Zug halb leer. Wirkt schnell. So will ich ’s, will mir Mut antrinken. Unsicher, mit welchen Überraschungen er mich noch überrumpeln wird.
Wir stehen am Fenster und schauen hinaus in die Dämmerung. Er legt einen Arm um meine Schultern. „Wird das spät für dich? Musst du nach Hause?“
„Irgendwann muss ich heim, ja.“
„Fragt jemand?“
„So streng sind sie nicht. Nö. Das geht schon.“
„Wir sehen uns oft, ja? Ja, Andreas?“
Ich nicke.
„Und das ist echt das erste Mal?“
Ich nicke ganz entschieden.
„Keine Erfahrung?“ Er lacht unsicher. „Ich glaube, du schwindelst mich an.“
Was soll das denn. „Tue ich nicht.“
„Das bleibt unter uns, hier“ – und er deutet mit dem Daumen auf das Bett im Hintergrund-, „ist das klar? Unser Geheimnis. Versprochen?“
„Versprochen.“
Mein erster Freund! Und kein Bub aus meiner Klasse, sondern ein richtiger, erwachsener Kerl. Und ’Wir sehen uns oft`, hat er gesagt …
Ich lange nach der Flasche, die er zwischen Bettgestell und Matratze geklemmt hat, trinke noch ein paar Schluck. Das Bier steigt mir zu Kopf. So will ich ’s.
Er stellt sich hinter mich, eng. Knetet meine Pobacken; das scheint er zu mögen. Ein Schauern durchfährt mich, und es dauert nicht lange, bis ich laut aufstöhne. Er dreht mich schnell um, kniet sich hin. Ich schließe die Augen, und ich lasse ihn mit mir machen, was er will.
Dann fallen wir ausgepowert nebeneinander aufs Bett. Er greift nach meiner Hand, hält sie, drückt sie fest. Schweigen. Das Zirpen der Grillen von draußen; ein Traktor, in der Ferne.
„Geht ’s dir gut?“, fragt er leise, ohne sich zu mir zu drehen.
„Gut.“
„Alles okay?“
„Ja“, flüstere ich.
Wie vor Stunden im Auto führt er meine Hand an seinen Mund, küsst sie. „Andreas …“, murmelt er, und summt „13 Jahr … Blondes Haar …“
„Können Sie mich dann zurückfahren, nach Sprendlingen?“
„Nee, du musst laufen. Oder noch besser, ich schließ dich hier ein. Dann bleibst du bei mir.“
Machen Sie ’s doch, möchte ich sagen. Tue ich natürlich nicht.
Mein Vater ist 41. Könnte glatt sein, dass Daniel älter ist. Er hat schon graue Haare. Scheißegal; dann ist er halt älter.
Wir sind schweigsam auf der Fahrt zurück. Als er hinter einem LKW warten muss, dreht er sich zu mir und schiebt den Ärmel meines T-Shirts hoch und fährt mit der Zungenspitze über meine Schulter.
Mein Fahrrad ist das einzig übriggebliebene im Radständer am Bad.
„Wo kann ich dich finden?“, fragt er, als ich aussteige.
„Hier.“ Ich nicke in Richtung der Umkleidekabinen, der hölzernen Wände. „Im Schwimmbad. Ich bin fast immer hier. Außer, wir haben zu viel auf in der Schule.“
„Wo wohnst du, in Buchschlag?“
Ich zögere. „Hainertrift.“ Er wird nicht einfach dort auftauchen! Oder?
„Tschüss, Kleiner. Schön war ’s. Danke.“
„Tschüss.“ Hab ’nen Kloß im Hals, als er die Auffahrt zur Hauptstraße rauffährt. Diesmal biegt er nach rechts ab, nicht wie am frühen Abend mit mir zusammen nach links. Es gefällt mir nicht, wieder allein zu sein.
Ich schließe fahrig das runde Schloss aus Gummi auf, schiebe meinen Rucksack auf den Rücken. Mache mich langsam auf Richtung Heimat; will gar nicht nach Hause. Fahre Schlangenlinien auf der Straße. An einer Trauerweide halte ich an, setze mich auf die Bank darunter. Neun Uhr ist durch, es ist dunkel. Falls ich stark nach Bier rieche, kommt mir das entgegen. Das ist die Story, die ich den Alten auftischen werde. Doch ich befürchte eher, dass ich ganz stark nach Daniel rieche. Ich spüre seinen Geruch auf meiner Haut. Und ich will, dass der an mir bleibt, die ganze Nacht und länger.
Mühsam schwinge ich mich wieder auf den Sattel. Diese komplizierten Aufgaben in Mathe, das wird heute nichts mehr. Dafür hatte ich mein erstes Erlebnis mit einem Mann. Es hat mich überrumpelt. Ich kann gar nicht glauben, was in den letzten Stunden passiert ist.
Allerdings wachsen meine Zweifel, ob das in Ordnung war, als es mir gekommen ist und er das in seinem Mund hatte. Dr. Fischbach hat uns in Biologie erzählt, was für eklige Krankheiten man kriegen kann, wenn man zu früh Unzucht treibt und Geschlechtsverkehr hat. Ich wollte nicht zuhören, es war zum Fürchten, und seine Horrorgeschichten nahmen kein Ende. Zwei komplette Schulstunden lang. Jetzt macht es mir Angst. Wenn wir das auch kriegen, Geschwüre, Geisteskrankheiten? Mama hat ein Buch unten im Regal stehen, ’Die Frau als Hausärztin`. Vielleicht hilft mir das weiter.
3
Eine Woche lang regnet es; nix mit Freibad. Die Woche drauf schreiben wir zwei Klassenarbeiten, und am Sonntag werde ich konfirmiert. Die Zeit reicht gerade aus, um einmal mit Hans-Jürgen trainingsmäßig unsere 30 Bahnen zu kraulen, hin zum Bad und gleich danach zurück. Es ist kühl, Bad und Becken sind menschenleer. Schaue mich um nach Daniel, erwarte nicht, ihn zu entdecken und bin trotzdem enttäuscht, dass er nicht da ist.
Habe Sehnsucht nach ihm. Es war toll, von einem Mann in den Arm genommen und geküsst zu werden, mich an ihn zu drücken. Hole mir jeden Tag einen runter mit dem Gedanken an sein dickes Glied. In Mamas Buch habe ich nicht nachgeschaut. Wenn wir uns wiedersehen, wird Daniel mir alles erklären,
Am Konfirmationssonntag kommen die Großeltern von Papas Seite angereist und die beiden Patenonkel, außerdem Avo, die brasilianische Oma, und Tante Zaire mit ihrem komischen Akzent. Mit meiner Mutter war ich aus diesem Anlass in Frankfurt bei ’Ott & Heinemann’, und sie hat mir einen dunkelblauen Anzug gekauft; meinen ersten.
In feierlicher, frommer Stimmung versammelt sich die Verwandtschaft auf dem Platz vor der Kirche und drängelt sich inmitten der anderen Familien zum Portal. Als sich meine Gruppe bis zum Eingang vorgekämpft hat, erspähe ich einen elegant gekleideten Mann, der in einem hellblauen Sommermantel wartend an der Tür steht, die Hände auf den Rücken gelegt.
Daniel.
Unsere Blicke treffen sich. Wir zeigen beide keinerlei Reaktion des Erkennens, nichts, aber mir wird heiß und schummerig vor Augen, als würde der Boden unter meinen Füßen weggezogen.
Der Familienclan schiebt mich dicht an ihm vorbei; ich könnte ihn berühren. Was macht er hier? Ich bekomme Angst, dass mir etwas Grauenhaftes passieren könnte, jetzt gleich während des Gottesdienstes; fürchterliche Angst. Des Pfarrers Predigten über Unkeuschheit und Gottes Wille sind ein Jahr lang an mir vorübergezogen, ohne dass sie eine Bedeutung bekommen hätten. Meine Eltern nehmen das selbst nicht ernst, nur die brasilianischen Tanten. Wir beten nicht zu Hause oder lesen die Bibel. Gibt es diesen Gott am Ende doch? Ist er hinter mir her, war der Abend mit Daniel eine Prüfung und folgt jetzt seine wütende Strafe, weil ich auf ganzer Linie versagt habe? War das Erlebnis in dem fremden Haus etwas streng Verbotenes, das grauenvolle Konsequenzen nach sich zieht? Ich bin 13! Ich habe keine Ahnung, wie ich das einordnen soll. Warum steht der erste Mann, den ich angefasst habe, bei meiner Konfirmation am Eingang zur Kirche!? Warum!?
Wie abgemacht versammeln sich die 14 Konfirmanden mit dem Pfarrer vor der Sakristei.
„Ist dir nicht gut?“ Heike Reisinger dreht sich zu mir. „Du bist käsig weiß. Du siehst aus, als ob …“
„Nee, nicht gut“, stammele ich.
„Herr Pfarrer?“ Heike ruft nach dem Pastor. „Der Andreas sieht aus, als ob er gleich umkippt.“
Pfarrer Jahnke eilt zu mir, legt mir eine Hand auf die Schulter. „Große Güte, wie du schwitzt. Bist du krank? Setz dich mal hin.“ Er dirigiert mich zu einem Stuhl. „Der fällt uns noch um! Ich hol dir ein Glas Wasser.“ Er verschwindet in seinem Büro im hinteren Teil der Eingangshalle.
Alles dreht sich; mir ist schwindlig und übel. So kann ich nicht durch das Kirchenschiff marschieren. Ein paar Meter entfernt verschwindet Daniel mit einer aufgedonnerten blonden Frau am Arm im Inneren des Kirchenraumes. Wenn dieser Gott nicht schnell Erbarmen hat, werde ich Daniel in den nächsten Minuten nicht dort hinein folgen.
Aber Gott hat Erbarmen. Herr Pfarrer bringt mir ein Fläschchen mit Tropfen, ein Glas. „Arnika“, erklärt er, „das hilft dir schnell auf die Beine. Trink vorher ein Glas Wasser.“ Er wartet. „Geht’s wieder?“
Ich nicke tapfer.
„Du musst dich nicht aufregen. Du wirst konfirmiert, du wirst in die Gemeinschaft des Herrn aufgenommen. Das ist etwas Wunderschönes! Habe ich euch doch erklärt.“
Ich stehe langsam auf, wobei ich mich an der Rückenlehne des Stuhles festhalte. Meine Beine sind weich wie Wachs; wenigstens hat sich der Brechreiz gelegt.
Wir sind spät dran, die Gemeinde wartet. Der Küster hat schon die Kirchentüre geschlossen.
„Hör mal“, fordert Pfarrer Jahnke Karin Poth auf, neben der ich einmarschieren soll, „du passt bitte auf ihn auf. Hak ihn unter, falls er schwächelt. Verstanden?“
Karin mustert mich von der Seite, von oben bis unten. „Der schwitzt wie ein Tier! Der ist ganz nass. Das kriegt mein neues Kleid ab. Nee, das mache ich nicht.“
Barbara Walch, die ich sowieso lieber mag, schiebt sie beiseite. „Ich übernehme das, Herr Pfarrer“, und sie greift nach meinem Arm. „Keine Sorge. Ich habe zwei jüngere Brüder, die hatten bei der Einschulung auch furchtbares Lampenfieber.“
Donnerndes Orgelspiel erfüllt die Kirche. Wir setzen uns in Gang, Barbara eng neben mir, hinter uns Michael Boin und die ausgewechselte Karin Poth. Blöde Kuh. Selbst ihr eigener Bruder erzählt im ganzen Ort herum, wie bescheuert die ist. Wenn ich daran denke, geht ’s mir glatt etwas besser.
Die Konfirmanden sitzen in der ersten Reihe, an der Seite der Pfarrer. Daniel habe ich entdeckt vier Reihen hinter uns, ganz außen. Er hat mich nicht angeschaut.
Die Predigt, die Lieder und Gebete ziehen an mir vorbei, ohne dass ich etwas davon mitbekäme. Mein Unterhemd klebt kalt und feucht an meinem Rücken, selbst meine Strümpfe sind nassgeschwitzt. Unter den Achseln meines neuen Anzugs haben sich hässliche dunkle Flecken gebildet.
Barbara schubst mich von der Seite an. „Geht ’s wieder? Musst das nicht so ernst nehmen, die Konfirmation, und den ganzen Käse mit Gott.“
Weiß nicht. Mir scheint eher, Gott will mir heute eine Lektion erteilen, dass ich ihn sehr wohl erst nehmen soll. Ich schwöre mir, dass ich mit keinem Mann jemals wieder etwas machen werde. Mit keinem. Auch nicht mehr stundenlang durch die Löcher in den Kabinen schauen. Damit wird Schluss sein.
Als die ellenlange Predigt sich dem Ende nähert, fällt mir allerdings ein, dass der Pfarrer uns vor solchen Schwüren ausdrücklich gewarnt hat. Mit der Geschichte von einem jungen Soldaten, der im Krieg während eines Angriffs im Schützengraben lag und um sein Leben bangte und Gott schwor, dass er Priester wird, wenn er überlebt. Und der überlebte und Priester wurde, und außerdem ganz schwerer Alkoholiker. Weil der Schwur zu schwer für ihn war und ihn erdrückte.
Barbara knufft mich wieder in die Seite. „Oder?“, lächelt sie verschmitzt. „Was der Pfaffe erzählt, sind doch Märchen für Kindergartenkinder. Bei uns zu Hause lachen sie da alle drüber. Die Orgie hinterher ist das Wichtige. Sagt mein Papa auch.“
Orgie würde ich unsere Familienzusammenkunft nicht nennen. Mama hat beim Metzger Wagner Rollbraten bestellt. Zum Kaffee gibt ’s Buttercremetorte und Streuselkuchen.
Barbara feixt immer noch, altklug und aufgeklärt. „Hast du schon Geschenke geöffnet?“, fragt sie flüsternd. „Ich habe von meiner Patentante 100 Mark gekriegt. 100 Mark!“
Tut gut, sie neben mir zu wissen. Meine Furcht nimmt sie mir indes nicht. Was will Daniel hier?! Wenn er den Pfarrer warnen wollte, dass er so einen wie mich nicht konfirmieren darf, hätte er das nicht vorher getan? Will er mir nur einen Schrecken einjagen? Wieso weiß er, dass ich heute konfirmiert werde? Er war doch ein total Netter.
Kann mir absolut keinen Reim drauf machen.
Für den Gang zum Altar und den Konfirmationssegen sollte jeder zwei Begleiter auswählen. Ich habe meinen Vater und Tante Zaire gefragt. Wir warten an der Seite, während Volker Specht an der Reihe ist.
„Madre Deus!“, ruft Tante Zaire leise aus, „was seien los mit dich!? So viele Fieberlampen, oder wie heißen? Nix die Gemeinde frisst sie dich. Bist du in Theater-Gruppe in Schule, kennst du schon stehen vor ganze Leute viele!!“
Mein Konfirmationsspruch heißt ’Seid Täter des Wortes und nicht Hörer allein`, und der Herr Pfarrer lächelt mir lieb zu und drückt mir fest die Hand. Das tut gut.
Nach mir ist die blöde Karin dran mit ihrem neuen Kleid, und als nächster Michael Boin. Ich habe mich gerade ein wenig beruhigt, als ich beobachte, wer mit Michael die Stufen zum Altar hinaufsteigt: diese blonde Frau – und Daniel.
Ich glaub ’s nicht! Michaels Vater? Habe ich den Vater von Michael Boin geküsst?
Mit Michael hatte ich wenig zu tun während des Konfi. Er geht aufs Gymnasium nach Langen. Ich kenne ihn nicht von der Volksschule, sie sind erst vor zwei Jahren nach Buchschlag gezogen. Ein dunkelhaariger, stiller Typ, der immer von Autos redet und Testpilot werden will. Er saß meistens auf der anderen Seite der zwei Tischreihen, und wenn er mit kurzen Hosen zum Konfi kam, lenkten mich seine dunkelbehaarten Beine ganz schön ab. Enger Kontakt mit ihm hatte ich nicht, aber ich habe mitgekriegt, dass auch er seinen Vater ausgewählt hatte.
Daniel schaut während der kurzen Ansprache zu Boden, hat die Hände vor seinem Becken zusammengelegt. Ihm scheint ’s auch nicht optimal zu gehen; er ist bleich und wirkt ängstlich. Vermutlich war ’s auch für ihn nicht erlaubt, was wir in dem Haus zwischen den Feldern gemacht haben; nur ist er immerhin erwachsen. Am liebsten möchte ich aufspringen und zu ihm gehen, oder Barbara Walch anschubsen und ihr von ihm erzählen.
Er sieht mich nicht an. Nicht, als die drei den Altar verlassen, als wir vor der Gemeinde ausziehen, nicht draußen auf dem Platz. Die Frau kommt alleine zu Michael, umarmt ihn. „Deine Mutter?“, frage ich. Er nickt.
Ich weiß, wo Michael wohnt. Hinten im Karl-Duchmann-Weg, ganz am Ende der Straße.
4
Wie sehr wünschte ich mir, mit jemandem über die Ereignisse sprechen zu können. Über den Abend in dem fremden Haus, meine vom Biologielehrer erzeugten Ängste, über die Konfirmation. Das Erlebte war aufregend und neu, ich hatte mich gegen nichts gewehrt, alles selbst gewollt, aber es war keine Begebenheit, die ich unbekümmert abhakte wie einen Kinobesuch oder ein gewonnenes Fußballspiel. Es brachte mich mächtig durcheinander.
Meine religiösen Versprechen verblassten schnell, aber ich war verunsichert, wie es mit Daniel weitergehen würde. Ob er mich nach diesem Sonntag wiedersehen wolle. Die Vorstellung, er werde mich meiden, sich nicht mehr blicken lassen, machte mich traurig und verzweifelt. Im großen Ganzen ein passabler Schüler, schrieb ich in den beiden Wochen nach der Konfirmation zwei Fünfer, in Mathe und Französisch.
Erstaunen bei den Lehrern.