Das Heidenloch - Martin Schemm - E-Book

Das Heidenloch E-Book

Martin Schemm

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Beschreibung

Das Heidenloch ist die fiktive Aufdeckung einer Geheimakte aus dem Jahr 1907, die anhand von Einzeldokumenten fantastische Ereignisse auf dem Heiligenberg schildert. Mysteriöse Wesen verbreiten dort im Sommer 1907 Angst und Schrecken. Als es schließlich zu ersten Todesopfern kommt, wird von der Stadt Heidelberg und dem Innenministerium des Großherzogtums Baden eine Untersuchungskommission einberufen, die weiteres Unheil abwenden und das Rätsel lösen soll. Durch historische Forschung und philologische Suche in der antiken Mythologie findet sich schließlich die erschreckende Antwort, in deren Zentrum das mysteriöse Heidenloch steht ...

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Titel

Martin Schemm

Das Heidenloch

Ein fantastisch-mythologischer Roman

Impressum

Impressum

Zum Autor M.A., Jg. 1964, Studium der Geschichte und der Lateinischen Philologie des Mittelalters an der Universität Heidelberg, 1991 Examensarbeit zum Thema „Die Entstehung des Stammesherzogtums Schwaben“, seit 1997 beruflich tätig beim Hamburgischen Datenschutzbeauftragten, in der Freizeit Veröffentlichung von Romanen und Kurzgeschichten im historischen und fantastischen Genre, 2007 Gewinn des Deutschen Phantastik Preises. Weitere Infos zum Autor: www.martinschemm.de

Autor: Martin Schemm Titelbild: Designgruppe Fanz&Neumayer, Schifferstadt: Michael Schug Satz: Designgruppe Fanz& Neumayer, Edingen-Neckarhausen: Michael Schug, Mirjam Bowa E-Book-Erstellung: Henrik Mortensen, vr EPUB: ISBN 978-3-89735-008-3

Schriftenreihe des Stadtarchivs Heidelberg, Sonderveröffentlichung 11 Im Auftrag der Stadt Heidelberg. Hrsg. von Peter Blum. Schemm, Martin: Das Heidenloch: Ein fantastisch-mythologischer Roman/Martin Schemm. – Heidelberg: Verlag Regionalkultur, 2000ff. (Schriftenreihe des Stadtarchivs Heidelberg: Sonderveröffentlichung; 11)

Die Publikation ist auch als gedrucktes Buch sowie in einer zusammen mit dem SWR als „pfälzisches Schauerspiel“ arrangierten Hörspielversion erhältlich. Printausgabe: 160 S., fester Einband. ISBN 978-3-89735-165-3. Hörspiel: ISBN 978-3-89735-599-6.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detailierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die vorliegende Publikation ist urheberrechtlich geschützt. Die Verwendung der Texte und Abbildungen, auch auszugsweise, ist ohne die schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und daher strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen. Autoren noch Verlag können für Schäden haftbar gemacht werden, die in Zusammenhang mit der Verwendung dieses E-Books entstehen.

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verlag regionalkultur Ubstadt-Weiher • Heidelberg • Basel

Korrespondenzadresse:

Widmung

Widmung

Für Ina und Laura, meine beiden Musen, die mit unvorstellbarer Geduld und mit vielen Anregungen zum Werden dieses Werks beigetragen haben, und in Erinnerung an meinen Vater.

Vorwort

Vorwort des Herausgebers

Eher zufällig als planvoll macht ein Archivar einen bestürzenden Fund: Eine Geheimakte aus dem Jahr 1907. Mit dem Studium dieser Akte erschließen sich bedrückende Geschehnisse, die sich zu Anfang dieses Jahrhunderts auf dem Heiligenberg zutrugen, ja deren latente Bedrohung noch für die Gegenwart alsbald zur realen Gewissheit wird ...

So beginnt eine fiktionale Geschichte. Blatt für Blatt, Schriftstück für Schriftstück – wie der Forscher im Rahmen einer üblichen Archivbenutzung – recherchiert bzw. „erliest“ sich der Archivar – und mit ihm die Leserinnen und Leser – die Geschehnisse des Jahres 1907 aus den Akten. Wer schon einmal archivisches Aktenstudium betrieben hat, wird bestätigen können, dass die Zurückverfolgung früherer Vorgänge, Zustände oder Ereignisse bisweilen auch an kriminalistische Spurensuche erinnern und durchaus spannend sein kann. Und das mag bei Leserinnen und Lesern vorhandene Hemmschwellen gegenüber einer Archivbenutzung abbauen helfen. Merke! Denn ein Archiv verwahrt keineswegs ausschließlich Geheimakten, die z.B. aus rechtlichen Gründen erst nach Ablauf längerer Sperrfristen eingesehen werden können. So gilt doch grundsätzlich: Bürgerinnen und Bürger haben eine – zumal gesetzlich- oder satzungsmäßig – verbriefte Nutzungsberechtigung. Schließlich dient das Archiv der Rechtssicherung des Staates, der Stadt bzw. Gemeinde und den Bürgerinnen und Bürgern; und bietet es die Unterlagen für die wissenschaftliche Forschung wie für Arbeiten zur Orts- und Heimatgeschichte an. Dies als Hinweis und Ermunterung in eigener Sache.

In diesem Buch wird auf konkrete Lokalitäten, geschichtliche Fakten sowie auf überlieferte Legenden Bezug genommen. Die in der erdachten Romanhandlung zur Entschlüsselung der rätselhaften Vorgänge auf dem Heiligenberg bemühte historische Forschung und die philologische Suche in der antiken Mythologie lassen die gewählten durchaus realen Örtlichkeiten in einem veränderten Licht erscheinen. Diese Mischung aus bekannten Schauplätzen und Lokalkolorit, aus Realem und Fiktionalem trägt den Keim in sich, Neugierde zu wecken, womöglich gar das eigene Bild und die Erinnerung sowohl an Örtlichkeiten wie auch an die lokale Geschichte aufzufrischen.

Dieser Ansatz, gewissermaßen über eine fiktionale Erzählung auf unerwartete Weise Zugang zu einem Baustein eigener Lokal- und Heimatgeschichte zu finden, ist zugleich ein Anliegen des Buchs. Und in diesem Sinne ist das ‚Heidenloch‘ die konsequente Fortsetzung, der schon 1996 mit der Veröffentlichung eines Kinderbuchs („Spuk in Heidelberg“) in dieser Reihe gezeigten Ambitionen.

Ein Archiv soll „leben“ – und keine verstaubte Altaktenablage sein. Es sollte stets für eine Überraschung gut sein und eben auch mit ungewöhnlichen Beiträgen auf sich und sein im Dienst der Allgemeinheit stehendes Dienstleistungsangebot aufmerksam machen dürfen!

Ist auch das Genre eines „Mystery-Romans“ nicht eben spezifisch für ein Archiv und die Themen seiner Schriftenreihen, so atmet die darin ausgebreitete Atmosphäre dennoch „Archivluft“. Die Bestände eines Archivs dokumentieren zwar keineswegs nur alte Sagen und Legenden und bieten damit brisanten Stoff für Fiktionales, sondern vielmehr sehr reale, gleichwohl vergangene Vorgänge. Aber eben diese zu recherchieren, erweist sich in der Praxis gar nicht selten als packender als die spannend angelegte Fiktion selbst.

Es gilt, allen am Buch Beteiligten Dank zu sagen für deren Mut und Engagement, allen voran dem Autor Martin Schemm und der nicht minder kreativen Designgruppe Fanz&Neumayer, die sich angesichts des nicht leichten Sujets um die Gestaltung des Buchs wiederholt verdient gemacht hat. Dankbar erinnere ich mich an unseren früheren wie langjährigen Verleger Eberhard Guderjahn insbesondere für seinen vor gut 17 Jahren bewiesenen Mut. Mittlerweile ist der einstige Verlag Brigitte Guderjahn im Verlag Regionalkultur aufgegangen. Mehr noch hat er in dessen Geschäftsführer Reiner Schmidt seine zeitgemäße Fortführung gefunden. Auch dank ihm erlebte der „Bestseller“ in unseren Schriftenreihen des Archivs die in Zusammenarbeit mit dem (Kurpfalz-)Journalisten Eberhard Reuß und dem SWR als „pfälzisches Schauerspiel“ arrangierte fulminante Hörspielversion ...

Die nunmehrige Realisierung „unseres Heidenlochs“ als E-Book erfolgt erneut zusammen mit dem bewährten Team aus Verlag Regionalkultur (hier mit seinem Mitarbeiter Henrik Mortensen), Designgruppe Fanz&Neumayer (ja, die ausdrucksstarken fantastischen Bildarrangements wurden mit ins E-Book übernommen!) und unserem längst in der „Fantasy-Szene“ ausgewiesenen Autor Martin Schemm.

Noch im Jahr der Ersterscheinung wurde „Das Heidenloch“ mit dem „Alien-Award 2000“ ausgezeichnet. Nach einer erfolgreichen klassischen Print- und einer temperamentvollen CD-Hörspielversion sind die Zeit gut 17 Jahre später reif und die Story es wert, mit einer zeitgemäßen E-Book-Version neue Leserinnen und Leser zu begeistern …

Dr. Peter Blum

Stadtarchivdirektor

Lageplan

Prolog

Prolog

Der Fund

Die Entdeckung war – das liegt wohl in der Natur der Sache – ein reiner Zufall. Gerade hatte ich ein dickes, verschnürtes Aktenbündel aus dem staubüberzogenen Eisenregal genommen, als mir in der entstandenen Lücke ganz hinten, schräg an die Regalrückwand gepresst, jene Mappe ins Auge fiel. Ich setzte das Bündel auf dem Boden ab und ergriff die unscheinbare, graue Akte. Im Glauben, es handele sich um ein versehentlich nach hinten geschobenes oder aus einem höheren Regalboden herabgerutschtes Archivstück, suchte ich nach einer Signatur, um es gegebenenfalls an seinen ursprünglichen Platz zurückzustellen. Doch es war keinerlei Signatur oder archivarisches Zeichen auf dem Aktendeckel zu finden. Kurz­entschlossen legte ich den Fund auf das dicke Bündel und machte mich mitsamt meiner schweren Last auf den Weg zu meinem Büro.

Vorbei an den hohen, bis zur Decke gefüllten Regalen ging ich durch das riesige Archivmagazin, das sich auf insgesamt fünf Stockwerke verteilt. Das dämmerige Halbdunkel in den langen Gängen und die über allem liegende Stille wirkten auf mich – wie meistens, wenn ich hierher komme – beruhigend. Jedes Mal fühle ich mich aus der realen Welt „draußen“ entrückt in ein zeitloses Vakuum – selbst das Gefühl für die Tageszeit geht verloren. Wenn man Archivaren oder Hi­storikern oft ein weltfremdes Dasein im „Elfenbeinturm“ nachsagt, dann kann ich solche Charakterisierung an diesem Ort voll und ganz nachvollziehen. Ein Gang durch die Re­galreihen ist wie eine Zeitreise – links und rechts vom Betrachter stehen in handlicher Form Episoden aus der Ge­schich­te. Dicht gedrängt und in die Höhe gestapelt, gibt es hier auf den fünf Stockwerken des Generallandesarchivs in Karls­ruhe Dokumente von der Merowingerzeit bis heute, wobei die Zeitachse vertikal nach oben gerichtet ist. Das Älteste im Erdgeschoss, das Jüngste in luftiger Höhe – ein aufwärtsstrebender Gang der Geschichte.

Nach wenigen Minuten erreichte ich die dunkelgraue, feuersichere Metalltür, die das Archivmagazin vom angrenzenden Verwaltungsgebäude trennt. Mit einigem Kraftaufwand zog ich die schwere Tür auf und trat über die Schwelle. Der muf­fig-staubige Geruch blieb zurück, als die Tür hinter mir ins Schloss fiel. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es bereits kurz vor sechs war und damit Zeit, den Arbeitstag zu beenden. Ich ging den langen Hauptgang des Verwaltungsgebäudes entlang, an dem auch mein Büro liegt. Dort angekommen, legte ich den voluminösen Aktenstoß auf meinen Schreibtisch. Das große verschnürte Bündel, das ich zur Bearbeitung mitgebracht hatte, schob ich beiseite, und nahm stattdessen die graue Faltmappe in die Hände. Dies geschah zum einen aus reiner Neugier, zum anderen in der unbewussten Hoffnung auf eine willkommene Abwechslung vom üblichen Arbeitsalltag.

Nachdem ich noch einmal auf Vorder- und Rückseite vergeblich nach einer Signatur gesucht hatte, beschloss ich, mir die Akte vor dem Nachhausegehen noch kurz anzusehen. Sie war grau und bestand aus verstärktem Karton, wobei der obere und der untere Aktendeckel durch ein schwarzes Leinenband zusammengehalten wurden, das mit einer Schleife verknotet war. Insgesamt waren kaum Spuren der Benutzung erkennbar. Ich öffnete die Schleife des Bandes, klappte den oberen Aktendeckel seitwärts auf und warf einen flüchtigen Blick auf das Schriftstück, das obenauf lag; darunter war ein umfangreicher Stapel an Dokumenten zu erkennen. Sofort fiel mir ein roter Stempelaufdruck in der rechten, oberen Ecke des amtlich wirkenden Schreibens auf: „Streng vertraulich“. Des Weiteren erkannte ich das Löwenwappen der Stadt Heidelberg im Kopfteil des Dokuments. Meine Neugier war nun zwar geweckt, wenngleich solche VS-Vermerke für einen Archivar generell keine Seltenheit darstellen. Ich beschloss, die Lektüre auf den nächsten Tag zu verschieben, da ich sonst wieder einmal viel zu spät nach Hause kommen würde. Mit einer gewissen Vorfreude verließ ich schließlich das Archiv.

Voller Enthusiasmus betrat ich früh am nächsten Morgen mein Büro, setzte mich an den Schreibtisch und zog die verstaubte Mappe erneut zu mir heran. Mit dem Lesen der ersten Zeilen tauchte ich ein in das ungeahnte Geheimnis meines Fundes. Die Sichtung des gesamten Materials nahm den ganzen Tag in Anspruch; erst am frühen Abend legte ich das letzte Schriftstück aus der Hand. Die Stunden waren verflogen in atemloser Spannung und stetig wachsendem Entsetzen. Mit beendeter Lektüre fiel zugleich die feste Entscheidung, dieses ungeheuerliche Material an die Öffentlichkeit zu bringen.

Was in dieser Akte niedergelegt ist, übersteigt jegliche Vorstellungskraft und ist dazu angetan, jedes noch so fundierte Weltbild grundlegend in Frage zu stellen. Die hier zu Tage tretende fantastisch-mythische Ungeheuerlichkeit lässt keinen Zweifel daran, dass selbst unser modernes Verständnis nicht in der Lage ist, eine solche Dimension der Wirklichkeit zu begreifen. Die geschilderten Ereignisse passen auf Grund ihres surreal wirkenden Charakters nicht in unsere Vorstellungswelt. Vielmehr erschüttern sie die Grundpfeiler menschlicher Er­kenntnis und erwecken verloren geglaubte Urängste zu neuem Leben. Ich kann sehr gut verstehen, dass diese Akte damals unter Verschluss blieb; sie hätte Angst und Chaos heraufbeschworen. Heute, über neunzig Jahre nach den geschilderten Ereignissen, aber ist es für mich ganz im Gegenteil eine Pflicht, die Öffentlichkeit aufzuklären, damit man die unglaublichen Geschehnisse genauer wird erforschen und – so ist zu hoffen – verstehen können. Nur so ist eine zufrieden stellende Inter­pretation zu finden, die in der Lage sein wird, adäquat mit der schrecklichen Wahrheit umzugehen und diese – was ich mir aber nur schwerlich vorstellen kann – in unsere Welt­an­schauung zu integrieren. Doch auch entschlossenes, rasches Handeln wird gefordert sein, denn durch eigene Nach­for­schungen und Beobachtungen im Anschluss an das Akten­studium hat sich der beängstigende Verdacht ergeben, dass eine schreckliche Bedrohung jederzeit konkrete Wirklichkeit werden kann.

In diesem Sinne lege ich die geheimnisvolle Akte nun ungekürzt der Öffentlichkeit vor. Natürlich bin ich mir hierbei der Gefahr bewusst, dass mir keiner Glauben schenken könnte – eine schreckliche Vorstellung, die mich mit großer Angst erfüllt. In unserer entmythologisierten Gesellschaft mit ihrem materialistischen Zeitgeist könnte ich als einsamer Rufer in der Wüste dastehen, von allen belächelt, wenn nicht gar ignoriert. Doch die Bedeutungsschwere meiner Entdeckung lässt mir keine Wahl: Ich muss mich an die Öffentlichkeit wenden und auf Verständnis und Handlungsbereitschaft hoffen.

Zunächst möchte ich noch einige formale und editorische Anmerkungen vorausschicken. Das Erste, was dem Betrachter nach dem Öffnen der Mappe ins Auge fällt, ist das rote „Streng vertraulich“ auf dem obersten Blatt, das ich bei meinem ersten flüchtigen Blick bereits gesehen hatte. Auf der Innenseite des Aktendeckels findet sich in Großbuchstaben der Aufdruck „Innenministerium Des Grossherzogtums Baden“ und darunter, handschriftlich: „Der Fall Heidenloch; Handakte Vogler“. Die Akte enthält in loser Form über einhundert Seiten Text, wobei die einzelnen Schrift­­stücke – Schreiben, Berichte und Protokolle – ohne Heftung aufeinander liegen und teils mit Schreibmaschine, teils per Hand geschrieben sind.

Ich habe den Inhalt der Akte in der Reihenfolge wiedergegeben, wie er sich mir beim Lesen präsentierte. Dadurch ist auch die Chronologie der Ereignisse gewahrt. Die Entwicklung des Geschehens erklärt sich aus den Schriftstücken selbst, sodass ich auf eigene Kommentare verzichten konnte. Ursprünglicher Besitzer und Benutzer dieser Mappe war der an der Un­tersuchung der Vorkommnisse beteiligte hohe Beamte des Ba­dischen Innenministeriums, Ministerialrat Gustav Vogler. Er hat die Akte durch Sammlung der relevanten Schreiben in der vorliegenden Form zusammengestellt. Aus Gründen des dokumentarischen Umgangs mit dem zum Teil in Schreibenform vorliegenden Material sind den einzelnen Schriftstücken formale Beschreibungen und Datierungen vorangestellt; in einzelnen Fällen wurden verzichtbare Schreibenfloskeln gekürzt oder ganz ausgelassen. Weitere Streichungen oder Kürzungen, vor allem am Text selbst, wurden nicht vorgenommen. Die Ein­teilung des Materials in fünf Kapitel dient, so hoffe ich, der Übersichtlichkeit. In einem abschließenden Epilog sind die beunruhigenden Ergebnisse meiner eigenen Nachforschungen ausgeführt. Um ortsunkundigen Lesern eine Hilfe an die Hand zu geben, habe ich eine kleine Kartenskizze der Schauplätze beigefügt und einige Literaturhinweise ans Ende des Textes gestellt.

I Mosaiksteine

I

Mosaiksteine

Eilbrief des Oberbürgermeisters der Stadt Heidelberg, Dr. Carl Wilckens, an das Innenministerium des Großherzog­tums Baden in Karlsruhe vom 26. Juni 1907: Verteiler: 1. Innenministerium Karlsruhe; 2. Polizeidirektion Heidelberg Anlage: Polizeiliche Berichte und Zeugenaussagen Stempelvermerk: Streng vertraulich

„Betr.: Bildung einer Untersuchungskommission bezüglich vermeintlich krimineller Umtriebe auf dem Heiligenberg bei Heidelberg.

Sehr geehrte Damen und Herren,

auf Grund bislang noch ungeklärter, möglicherweise verbrecherischer Vorkommnisse in ungewöhnlich hoher Zahl, die sich seit Mitte Juni diesen Jahres sämtlich auf das Umfeld des nördlich der Stadt Heidelberg gelegenen Heiligenbergs konzentrieren (siehe Anlage), möchte ich in meiner Funktion als Oberbürgermeister der Stadt Heidelberg in Ihrem Ministerium um Mithilfe bei der Aufklärung bitten. In Rücksprache mit dem Polizeidirektor der Stadt Heidelberg, Kurt Lamers, schlage ich angesichts der Fülle und Schwere der Vorfälle die Bildung einer Untersuchungskommission vor, die unter Mitwirkung Ihres Ministeriums geeignete Schritte zur Aufklärung ausarbeiten soll. Neben den im Verteiler genannten Stellen könnten herangezogene Gutachter die Arbeit der Kommission unterstützen. Unseres Erachtens sollte auf Grund der Brisanz und der Rätselhaftigkeit der Ereignisse in jedem Fall zunächst Geheimhaltung gewahrt werden, da eine Beunruhigung der Bevölkerung vermieden werden sollte.

Beiliegend übersende ich Ihnen zur Vorabinformation und Meinungsbildung die polizeilichen Berichte und Zeugen­aus­sagen über die oben genannten Vorkommnisse.

Für eine möglichst rasche Stellungnahme Ihres Ministe­riums bezüglich einer Beteiligung an der Kommission wäre ich sehr verbunden.

Hochachtungsvoll

Dr. Carl Wilckens

Oberbürgermeister“

*

Polizeilicher Bericht mit Sammlung bezeugter Beobachtun­gen und Schreibendokumente bezüglich des Heiligenbergs. Berichtszeitraum: 22.-26. Juni 1907. Erstellt von Inspektor Wilhelm Schanz, Leiter des Sonderdezernats:

„Seit dem 22. Juni 1907 häuften sich in den verschiedenen Polizeidienststellen der Stadt Heidelberg Meldungen, die von Seiten der Bevölkerung, einiger Institutionen und von Seiten ermittelnder Beamter gemacht wurden und sich alle auf den Heiligenberg bezogen. Handelte es sich anfänglich noch um Hinweise, die man als vereinzeltes Randalierertum hätte interpretieren können, so zeigte sich bald eine solche Rohheit und Brutalität in den Geschehnissen, dass eher an einen geisteskranken Täter zu denken war.

Die Polizeidirektion bildete daraufhin am 25. Juni unser Sonderdezernat, das die Meldungen zentral koordinieren und untersuchen soll. Als Leiter dieser Gruppe habe ich nach eingehender Sichtung des gesamten Materials im Folgenden die signifikantesten Vorfälle aufgelistet.

Zum besseren Verständnis der Örtlichkeiten hier kurz zur Topographie des Heiligenberges. Dieser südliche Ausläufer des Odenwalds hat die Form eines länglichen, vollkommen bewaldeten Bergrückens, der sich in einen niedrigeren Vorberg und einen 443 Meter hohen Hauptberg abstuft. Er liegt Heidelbergs Altstadt genau gegenüber, wobei zwischen beiden der Neckar sein breites Flussbett hat. Der Fahrweg, der von der Teil­ge­meinde Handschuhsheim über den Westhang hinaufführt, erreicht zunächst den Vorberg, auf dem die Ruinen des Ste­phansklosters, ein Aussichtsturm und eine alte Zisterne – das so genannte Heidenloch – liegen. Von dort aus schlängelt sich der Weg hoch auf den Hauptberg, der von den Ruinen des Michaelsklosters gekrönt ist.

Die im Folgenden aufgeführten Berichte und Meldungen bilden nur eine stellvertretende Auswahl; die Texte sind entsprechend ihrer inhaltlichen Bedeutung gekürzt. Von einer kriminalistischen Bewertung des Materials habe ich an dieser Stelle bewusst abgesehen, denn es sollte hier zunächst einmal nur eine Zusammenschau der beobachteten Ereignisse erfolgen.“

*

Protokollierte Aussage der Studenten Wilhelm Neuber, Heinrich Roth und Otto Mannstein auf der Polizeiwache Altstadt vom 22. Juni 1907:

„... Den Abend hatten wir gemeinsam mit einigen anderen Mitgliedern der Verbindung ,Rupertia’ in unserem Stamm­lokal, dem Cafè Knösel, verbracht. Da die Nacht sommerlich warm und angenehm war, beschlossen wir drei, noch eine späte Runde über den Philosophenweg zu machen, um das nächtliche Panorama Heidelbergs über den Neckar hinweg zu bewundern. Wir brachen etwa gegen halb elf Uhr auf und hatten, nachdem wir über die Alte Brücke und den Schlangenweg den unteren Hang des Heiligenbergs hinaufgestiegen waren, unser Ziel nach einer guten halben Stunde erreicht.

Nachdem wir bereits einige Minuten über den Philo­sophenweg in Richtung Neuenheim gegangen waren und einmal mehr für einen Rundblick über die schwach erleuchtete Stadt angehalten hatten, begann ein lauter werdendes Gemenge an Geräuschen unsere Aufmerksamkeit zu erregen. Klang es anfänglich noch wie das Rauschen von Ästen und Blättern in einer heftigen Windböe, so veränderte es sich bald zu einem Lärm, der mehr an die krachenden und knirschenden Ge­räusche des Holzfällens erinnerte.

Dieser Vorgang dauerte einige Minuten an, und wir versuchten währenddessen, den Herd der immer lauter werdenden Geräusche zu lokalisieren. Sie kamen eindeutig von einem Ort weit oberhalb unserer eigenen Position, also vom oberen Hang des Heiligenbergs. So sehr wir uns auch mühten, wir konnten in der Dunkelheit natürlich nichts erkennen, zumal der Berghang über uns vollständig bewaldet war.

Wir rätselten irritiert über die Ursache dieses Spektakels und diskutierten gerade die Möglichkeit eines nächtlichen, forstamtlichen Holzeinschlags, als sich die Situation plötzlich veränderte und vollends dramatisch wurde. Denn inmitten des Krachens von berstendem Holz ertönten nun schrille, panische Schreie und heulende Rufe, die uns unfreiwilligen Zuhörern Schauder über den Rücken jagten. Es waren schreckliche, wilde Zeugnisse von Angst und Todesqual, und sie stammten unverkennbar von Tieren. Wer je ein Tier in den letzten Momenten vor seinem Tod gehört hat ­– wie zum Beispiel Schweine vor der Schlachtung –, wird sich vielleicht ein annäherndes Bild von diesem grausigen Klangschauspiel machen können.

Nach nur ein oder zwei Minuten endeten diese animalischen Schreie relativ abrupt, und kurz darauf verklangen auch die Geräusche krachenden Holzes. Sprachlos und erschrocken hatten wir den grässlichen Schreien gelauscht, und wir verharrten noch immer regungslos, als bereits wieder die gewohnte nächtliche Stille über dem Südhang des Heiligenbergs lag. Erst nach einigen Augenblicken hatten wir unsere Fassung wiedererlangt.

Da ein Nachforschen angesichts der Dunkelheit und der nur vagen Lokalisierung der Lärmquelle aussichtslos erschien, setzten wir schließlich unseren Gang über den Philosophenweg fort, wobei wir nun das Panorama Heidelbergs nicht mehr beachteten, sondern völlig vertieft waren in Überlegungen und Vermutungen über jene seltsamen Geschehnisse. Wir beschlossen, den Vorfall am folgenden Morgen, also heute, der Polizei mitzuteilen ...“

*

Schreiben des Forstamtes Handschuhsheim an die örtliche Polizeidienststelle vom 23. Juni 1907:

„... Als zuständiges Amt für den Forstbezirk Heiligenberg möchten wir Ihnen hiermit Beobachtungen zur Kenntnis bringen, die wir auf dem Vorberg des Heiligenbergs gemacht haben. Sie betreffen dortige Verwüstungen und Tiertötungen, die unserer Meinung nach als ein Akt von Vandalismus beziehungsweise als Landfriedensbruch anzusehen sind.

Bei einer Routineinspektion am gestrigen Tag fielen dem Forstmeister Kreiss im näheren Umfeld der verfallenen Ruinen des Stephansklosters eine ungewöhnliche Menge an Tier­ka­davern auf, die merkwürdigerweise alle keinen Kopf mehr hatten. Es handelte sich um einen Fuchs, zwei Kaninchen und zwei Rehe, die offenbar erst vor kürzester Zeit getötet worden waren. Sie lagen verstreut im Wald um die Klosterruinen, als wären sie dorthin geworfen worden. Wenngleich von den Köpfen keine Spur zu finden war, konnte man die Blutspuren in weitem Umkreis finden: nicht nur an den Ruinenmauern, sondern auch am und auf dem Aussichtsturm und in der Nähe des alten Brunnenschachts.

Bei Betrachtung der Kadaver stellte Forstmeister Kreiss fest, dass die Köpfe keineswegs durch einen Schnitt abgetrennt, sondern vielmehr mit brutalster Gewalt abgerissen worden sein mussten. Die Knochen waren abgesplittert, und die Haut, Muskeln und Sehnen hingen lose aus dem Halsstumpf heraus. Dieses bestialische Wüten konnte nur mit unvorstellbarer Kraft ausgeführt worden sein und könnte daher auf ein großes Raubtier hinweisen – wie einen Bären, den es in unserer Region allerdings schon lange nicht mehr gibt – oder auf einen äußerst sadistischen Tierquäler, der mit großer Brutalität vorgegangen sein musste.

Eine Begehung des Aussichtsturmes brachte keine weiteren Hinweise, genauso wenig wie die Durchsuchung der inneren Anlage der Klosterruine. Im Umfeld um die alte, eingemauerte Zisterne war lediglich festzustellen, dass das Gras zertreten war; weiterführende Spuren waren nicht zu entdecken. Ge­nerell war allerdings noch festzustellen, dass fast auf dem gesamten Vorberg das Unterholz stark verwüstet war und häufig die unteren Äste und Zweige der Bäume abgebrochen oder heruntergerissen waren. Der ganze Wald machte einen desolaten Eindruck, so als habe dort eine mächtige Naturgewalt gewütet. Nach Beendigung seiner Untersuchung schließlich hat Forst­meister Kreiss noch die verstümmelten Tierkörper vergraben.

Soweit zu unseren Beobachtungen; wir bitten um Kennt­nisnahme und werden Sie informieren, wenn wir weitere Anhaltspunkte finden sollten. Eine gesonderte Untersuchung von polizeilicher Seite dürfte kaum mehr zu Tage fördern können und sich von daher erübrigen ...“

*

Protokollierte mündliche Aussage des Karl Zehr auf der Polizeiwache Bismarckplatz vom 23. Juni 1907:

„... Ja, ich mache fast jeden Tag einen Spaziergang in Hei­del­bergs Umgebung ­– inzwischen kenne ich die Gegend hier sehr gut.