Die Feuertore - Martin Schemm - E-Book

Die Feuertore E-Book

Martin Schemm

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Beschreibung

Amt Moisburg im Jahr 1784: Der junge Jakob Frahm wird zur Ausbildung in das Haus des alten, grimmig-kauzigen Ludwig von Lohfeld geschickt. Neben den Dienstaufgaben soll er das rätselhafte Treiben Lohfelds erkunden und nach dessen zurückgezogen lebender Tochter sehen. Jakob erkennt zusehends, dass Lohfeld besessen ist von Meteoriten, antiken Steinkult und den geheimnisvollen Feuertoren - den göttlichen Portalen zwischen Diesseits und Jenseits. Lohfelds Tochter Charlotte erwacht zunehmend aus ihrer tristen Einsamkeit und beginnt Gefühle für Jakob zu entwickeln. Als eines Tages ein Meteorit in den nahen Stuvenwald stürzt, überschlagen sich die Ereignisse: Menschen und Tiere verschwinden, Irrlichter erscheinen und ein schwerverletzter Fremder taucht aus dem Nichts auf ...

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Seitenzahl: 279

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Martin Schemm

Die Feuertore

Historischer Roman

über den Autor

Der Historiker Martin Schemm wurde 1964 geboren, wuchs im Kraichgau südlich von Heidelberg auf, wo er auch studierte. Heute lebt er mit seiner Frau im schönen Hamburg und hat eine erwachsene Tochter. Er arbeitet als Pressereferent beim Hamburgischen Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit. Seit mehr als 20 Jahren widmet er sich in seiner Freizeit dem Schreiben, meist in den Genres Historischer Roman und Phantastik. Im Laufe der Jahre sind acht Romane und zahlreiche Kurzgeschichten entstanden.

Im Jahr 2007 erhielt er den Deutschen Phantastik Preis.

Weitere Infos zum literarischen Schaffen des Autors finden sich auf www.martinschemm.de.

Impressum

© 2023, hansanord Verlag
Alle Rechte für diese Ausgabe vorbehalten
Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen - nur nach Absprache und Freigabe durch den Herausgeber.
Sämtliche Handlungen und Hauptcharaktere sind frei erfunden.
E-Book ISBN: 978-3-947145-67-6
Buch ISBN: 978-3-947145-66-9
Cover: Tobias Priessner
Lektorat: Ines Eifler
Für Fragen und Anregungen: [email protected]

Weitere Infos zum literarischen Schaffen des Autors finden sich auf www.martinschemm.de.

hansanord Verlag
Johann-Biersack-Str. 9
D 82340 Feldafing
Tel.:  +49 (0) 8157 9266 280
FAX: +49 (0) 8157 9266 282
www.hansanord-verlag.de

Inhalt

Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Epilog
Nachwort

Für

Ina und Laura

und in Erinnerung an 

„Wir erhalten durch einen Meteorstein die einzig mögliche Berührung von etwas, das unserem Planeten fremd ist.“

Alexander von Humboldt, Kosmos (1845)

„Nach Isidors Meinung werden die [Meteoriten-] Steine durch einen in ihnen wohnenden Dämon beherrscht, nicht zwar von einem bösen, der Materie anhängenden, noch auch einem ganz reinen, sondern von einem jener Mittelwesen, von denen der ganze Äther erfüllt ist.“

Photius I. von Konstantinopel, Bibliotheca (um 850 n. Chr.)

Kapitel 1

Unter einem wolkenlosen blauen Spätsommerhimmel erreichte unsere Kutsche den südlichen Ortsrand von Moisburg. Nach Überquerung eines Bächleins passierten wir erste Häuser sowie Gemüsefelder, Beete und Wiesen. Ein Stück voraus kam der Hexenberg in Sicht, auf dessen Kuppe ich den alten Galgen zu erkennen glaubte. Unten am Fuß des Berges strömte die Este dahin, dort lag malerisch der Ortskern. In diesem Moment riss mich der Ruf des Kutschers aus meinen landschaftlichen Betrachtungen. 
„Amtshaus Moisburg“, dröhnte seine Stimme, während die Kutsche zum Stehen kam. Durchs Fenster erblickte ich rechterhand das Gebäudeensemble, das die hiesige hoheitliche Verwaltung des Kurfürstentums Braunschweig-Lüneburg beherbergte. Zwischen zwei niedrigen Häusern direkt an der Straße öffnete sich ein Durchgang zu einem Innenhof. Das feudal wirkende Amtshaus stand mittig zurückgesetzt und wurde von zwei Flügelbauten flankiert. Es war beeindruckend: Hier also schlug das Verwaltungsherz des kurfürstlichen Amtes Moisburg und eben hier würde ich im nächsten halben Jahr meine anstehende Ausbildungsstation als Amtsauditor absolvieren.
Rasch sprang ich aus der Kutsche, entrichtete das Fahrgeld und ergriff meine Reisetasche. Vom Straßenrand aus sah ich dem Gefährt noch eine Weile nach, das in Richtung Este davonrollte und eine Staubwolke hinterließ. Es war früher Nachmittag und die Sonne an diesem letzten Tag im August des Jahres 1784 brannte aufs Land hernieder. Ohne den Fahrtwind der Kutsche und wohl auch ein wenig vor Aufregung trat mir der Schweiß auf die Stirn. Ich atmete tief durch, wischte ihn fort und betrat entschlossen den Durchgang zum Innenhof. Neben einer wuchtigen Tür zum rechten Flügelbau war ein Schild angebracht: Amtsstube der Vogtei Moisburg. Schnell hob ich meinen Hut an, richtete mit den Fingern, so gut es ging, mein Haar und klopfte an.
„Gott zum Gruße“, sagte ich beim Eintreten und musste mich räuspern, da meine Kehle ganz trocken war. Ich verneigte mich vor einem grauhaarigen Herrn mit schiefem Gesicht, der missmutig von seinem Schreibtisch aufsah. „Mein Name ist Jakob Eduard Frahm. Ich soll morgen hier meine halbjährige Ausbildungszeit als Auditor antreten.“
„Ah, der junge Herr Auditor. Ja, Sie waren angekündigt.“ Der Beamte, wahrscheinlich ein Amtsschreiber, erhob sich und kam um den Tisch herum. Er trat hinaus in den Innenhof und deutete zum Hauptgebäude in der Mitte. „Dort drüben ist das Wohnhaus unseres gnädigen Herrn, des Amtmanns Johann Ludwig Wolff. Gehen Sie nur hinüber, Sie werden erwartet.“
Als ich auf das eindrucksvolle Gebäude zuging, rief er mir nach: „Ach ja, heute ist übrigens der ehrwürdige Landdrost Herr von dem Bussche zu Besuch. Nicht dass Sie sich wundern …“
Ich hob die Hand zum Dank und setzte meinen Weg fort. Das Haus des Amtmanns war ein zweistöckiges Gebäude mit einem hohen Steildach, für die Gegend typischem Holzfachwerk im Außengemäuer und zahlreichen Sprossenfenstern. Eine würdige Wirkungsstätte für den Vertreter des Kurfürstentums am Ort. Das Amt Moisburg maß in der Fläche zwei auf zweieinhalb Meilen und umfasste 43 Dörfer sowie Höfe. Es war in die drei Vogteien Moisburg, Hollenstedt und Elstorf aufgegliedert. Derlei Details hatte ich mir in Vorbereitung auf meine Station selbstverständlich angeeignet.
Ich zog an der metallenen Klingelschnur, die neben der Eingangstür des Hauses hing. Ein Bediensteter in Livree öffnete und musterte mich und mein modisch eher schlichtes Äußeres mit starrer, leicht abschätziger Miene. Nachdem ich ihm meinen Namen genannt hatte, führte er mich in einen großen Salon, der mit feinstem Mobiliar und kostbarem Zierrat ausgestattet war. Die Familie des Amtmanns und der Landdrost hatten es sich in einem Ensemble aus Chaiselongues und mehreren Fauteuils bequem gemacht und genossen Tee und feines Gebäck. Der Diener räusperte sich und stellte mich den Herrschaften vor, wobei ich mich tief verbeugte. 
Sogleich erhob sich ein großgewachsener, hagerer Mann und kam mit ausgestreckter Hand auf mich zu. Er hatte eine feudale, würdevolle Ausstrahlung, trug eine gepuderte Perücke sowie einen samtenen Frack mit Seidenweste und Spitzenjabot. Zugleich wirkte er auf überraschende Weise offenen Sinnes und gutgelaunt. „Ah, unser Auditor Frahm“, sagte er freundlich und reichte mir die Hand. „Herzlich willkommen, junger Mann! Ich bin Johann Wolff, meines Zeichens Amtmann hier im wunderbaren Moisburg.“ 
Sofort spürte ich das einnehmende Wesen des Amtmannes, sodass ich trotz seines hohen Rangs umgehend Sympathie für ihn empfand. „Haben Sie vielen Dank für den freundlichen Empfang, gnädiger Herr“, sagte ich mit einer weiteren Verbeugung. „Ich fühle mich zutiefst geehrt.“
„Schön, schön. Kommen Sie bitte einfach mit.“ Er deutete hinüber zur Sitzgruppe. „Ich stelle Ihnen die Anwesenden vor. Sie werden sie wohl im nächsten halben Jahr hin und wieder zu Gesicht bekommen.“ Er begann selbstverständlich mit dem ranghöheren Landdrosten, einem – um es frei heraus zu sagen – sehr korpulenten Herrn, der zweifellos ein Genießer von Speis und Trank war. Elegant in Samt gekleidet, stützte er sich auch im Sitzen auf einen Gehstock aus exotischem Holz. „Der ehrwürdige Herr Friedrich von dem Bussche, Lüneburger Landdrost der Ämter Harburg und Moisburg.“ 
Als dieser mir nach meiner tiefen Verbeugung die Hand reichte, spürte ich Schweiß an seinen klobigen Fingern. Auch am Rand seiner Perücke waren feine Tröpfchen auf seiner fleischigen, geröteten Stirn zu erkennen. Von dem Bussche lächelte mir gönnerhaft zu und schob sich ein Praliné in den Mund. „Soso, Auditor sind Sie also, Frahm?“, murmelte er kauend und nickte mir zu. „Na, dann alles Gute für Ihre Zeit hier in Moisburg. Zeigen Sie, was Sie können! Der Kurfürst braucht stets neue fleißige Beamte.“
„Untertänigsten Dank, ehrwürdiger Herr“, erwiderte ich und fühlte mich wahrlich hofiert.
„Als nächstes kommen wir zu meiner holden Gemahlin, der wunderbaren Louise Marie“, sagte der Amtmann und trat neben eine attraktive Dame, die um einiges jünger zu sein schien als er. Sanft berührte er ihre Schulter, während ich den Kopf ihrem huldvoll ausgestreckten Arm entgegenneigte. In dem glänzenden kupferroten Anglaise-Kleid mit feinen Volants bot sie – das sage ich mit aller gebotenen Demut – einen sehr schönen und anmutigen Anblick. Die Seide raschelte leise bei jeder ihrer Bewegungen und der Duft eines kostbaren Parfums umwehte sie.
„Zu guter Letzt haben wir hier noch meine bezaubernden Töchter Sophie und Leonore. Letztere ist die Ältere und – ich muss Sie warnen – sie ist sehr neugierig und plappert viel.“ Der Amtmann trat zu der Chaiselongue, auf der die beiden Fräulein nebeneinandersaßen. Lachend strich er Leonore über das mit einer zarten Spitzenborte hochgesteckte rotblonde Haar. 
Die nach meiner Einschätzung etwa Siebzehnjährige setzte gespielt ein beleidigtes Gesicht auf, während ihre höchstens zwölf Jahre alte Schwester belustigt kicherte. „Das ist gar nicht nett, böser Herr Papa“, sagte Leonore beleidigt, doch ihr Schmollen währte nicht lange. Mit einem charmanten Lächeln sah sie mich an. „Herr Frahm, glauben Sie ihm kein Wort.“ Sie wies auf einen unbesetzten Fauteuil direkt neben ihr. „Setzen Sie sich bitte und trinken Sie Tee mit uns. Es ist schön, jemand Neuen kennenzulernen – Moisburg ist so langweilig und trist, müssen Sie wissen.“ Einladend klopfte sie auf das Sitzpolster. „Bitte, lieber Herr Frahm. Wir müssen uns unbedingt anfreunden, jetzt, da Sie für längere Zeit hier bei uns sein werden.“
„Mein liebes Kind, das wird wohl leider nicht gehen. Der Herr Auditor hat heute noch ein gutes Stück Weges zurückzulegen.“ Amtmann Wolff zog seine Taschenuhr hervor, warf einen Blick darauf und nickte mir zu. „Sie wissen es noch gar nicht, Herr Frahm, aber ich habe mir erlaubt, Sie an anderem Ort zu platzieren. Ihre Ausbildungsstation absolvieren Sie in der Vogtei Elstorf.“ Er kratzte sich nachdenklich am Kinn. „Dort können wir tatkräftige Unterstützung gebrauchen, denn die Dinge laufen in Elstorf nicht ganz rund letzthin.“
„Mir soll es recht sein, gnädiger Herr“, erwiderte ich und überspielte meine Überraschung. „Umso mehr, wenn ich dem Amt helfen kann.“
„Elstorf?!“, rief Leonore entrüstet. „Zu dem grässlichen Lohfeld? Ist das dein Ernst, Papa? Das ist wirklich grausam!“
„Leonore!“, mahnte die Gemahlin Wolff in schneidendem Tonfall. „Wo ist dein Benehmen! Ich verbiete dir, über einen Mann zu lästern, der mit meiner Großcousine – Gott hab sie selig – verheiratet war und so zu meiner Verwandtschaft gehört. Anstand und Contenance, mein Kind!“ Der Landdrost schmunzelte leise und wischte sich rasch Schweißtropfen von der Stirn.
„Ich habe Ihre Reisetruhe schon nach Elstorf bringen lassen und Sie im Hause Ludwigs von Lohfeld angekündigt. Man erwartet Sie.“ Der Amtmann überging das kurze Gefecht zwischen Mutter und Tochter. „Ich erzähle Ihnen nachher noch das eine oder andere unter vier Augen, Herr Frahm. Doch nun setzen Sie sich in der Tat erst einmal und trinken Sie Tee mit uns.“ Dankend folgte ich der Einladung und nahm auf dem Stuhl neben Leonore Platz.
„Nun, auch wenn Sie heute also nur kurz bei uns sind, müssen Sie mir von sich erzählen“, begann die junge Frau, während Sie mir Tee einschenkte. Ihre flinken grünen Augen musterten mich. „Woher stammen Sie? Wie alt sind Sie? Was mögen Sie? Gibt es bereits eine Frau Frahm an Ihrer Seite?“
„Leonore, also wirklich!“ Die gnädige Frau Wolff warf ihrer Tochter einen vorwurfsvollen Blick zu, während der Amtmann laut lachte.
„Ich hatte Sie gewarnt …“
„Ach, das ist schon in Ordnung“, erwiderte ich lächelnd. Ich trank einen Schluck Tee und drehte mich zu Leonore, deren rundes, mädchenhaftes Gesicht sich mir gespannt zuwandte. „Nun, also, ich stamme aus Jesteburg, bin vierundzwanzig Jahre alt und habe in Göttingen Kameralwissenschaft studiert. Ich möchte eines Tages Amtsschreiber werden.“
„Aha, und weiter?“ Leonore sah mich in einer Mischung aus Neugier und mädchenhafter Schwärmerei an. „Neigungen, Interessen? Das zarte Geschlecht?“
„Im vierten Semester habe ich mal eine Lesung über die Inquisition besucht – aus irgendeinem Grund kommt mir das gerade in den Sinn.“ Ich lächelte sie an, und auch die anderen in der Runde lachten. Doch die junge Frau verzog nur den Mund und starrte mich weiter erwartungsvoll an. „Also gut, ich mag die Musik von Bach und Händel sowie die Bücher der Herren Goethe und Herder. Und … was die holde Damenwelt angeht, so haben sich ihre und meine Wege bisher nicht gekreuzt. Ist das hinreichend?“ Ich sah Leonore fragend an und trank von meinem Tee. Sie nickte verschämt, lächelte dabei und schien das Gehörte im Geiste zu notieren.
„Gut. Nach diesem strengen Verhör sollten wir beide uns noch kurz unterhalten, Herr Frahm.“ Der Amtmann erhob sich von seinem Stuhl und kam auf mich zu. „Sie müssten dann auch in Bälde aufbrechen, denn nach Elstorf ist es gut eine Meile, also eine bis anderthalb Stunden Wanderung. Begleiten Sie mich, wir gehen in den Garten.“ Ich stellte meine Tasse ab, verneigte mich vor den Herrschaften und folgte dem gnädigen Herrn. 
Wir traten durch eine Außentür in den Garten hinter dem Amtshaus, der an die Este grenzte. Zwischen Obstbäumen und dem ruhig dahinströmenden Fluss schlenderten wir über schmale Pfade durch grüne Wiesen. Der Ort war eine wahre Idylle. Jenseits der Este ragten die Dächer und der Kirchturm von Moisburg in den blauen Himmel.
„Nun, wie ich schon sagte, lieber Herr Frahm, werden Sie in der Vogtei zu Elstorf als Auditor tätig werden. Was ich jedoch verschwiegen habe, da ich es in der fröhlichen Runde eben nicht aussprechen wollte, ist eine große Bitte an Sie.“ Ein verschwörerischer Ausdruck trat in sein hageres Gesicht. „Ludwig von Lohfeld, der die Vogtei innehat, ist zwar nicht ‚grässlich‘, wie Leonore ihn nannte, aber doch seltsam und schwierig. Ich würde ihn als kauzig, eigenbrötlerisch und etwas rätselhaft bezeichnen. Da er jedoch indirekt zur Verwandtschaft gehört, kann ich ihn nicht einfach ignorieren.“ Er sah mich eindringlich an und senkte die Stimme. „Meine Bitte ist, dass Sie ihn ins Auge fassen und beobachten, was der alte Kauz eigentlich so alles treibt.“
Überrascht sah ich Herrn Wolff an, der seine Schritte verlangsamt hatte. „Ich bin Ihnen in allem zu Diensten, gnädiger Herr“, sagte ich und verdrängte ein vages Gefühl der Verunsicherung. „Wenn ich also behilflich sein kann …“
„In der Tat, Herr Frahm, das können Sie wirklich. Seit langer Zeit vernachlässigt Ludwig von Lohfeld die Amtsgeschäfte. Stattdessen widmet er sich, wie man munkelt, einer merkwürdigen Leidenschaft für astronomische Dinge und auch für alte Schriften und Legenden – ich weiß nichts Genaueres. Dabei macht er zudem leider größere Schulden, für die ich am Ende des Öfteren geradezustehen habe; mehrere Wechsel musste ich bereits begleichen.“ Er schüttelte den Kopf und legte mir vertraulich eine Hand auf die Schulter. „Im Lohfeld-Haus erwarten Sie also zwei Aufgaben: zum einen, die brachliegende Vogtei wieder ins Lot zu bringen, zum anderen, hinter Lohfelds seltsames Treiben zu kommen. Außerdem ist da noch seine Tochter Charlotte, um die wir uns Sorgen machen. Da er all unsere Besuchsanfragen stets ignoriert, wissen wir nicht, wie es der jungen Frau in dem merkwürdigen Haus ergeht. Meine Gattin befürchtet, dass sie sehr unglücklich und einsam ist. Auch ihr müsste daher Ihre Aufmerksamkeit gelten, Herr Frahm.“
„Sehr wohl, Herr Amtmann“, antwortete ich mit einer Verbeugung. „Ich werde mich nach besten Kräften bemühen.“ Tief im Innern war mir allerdings etwas unwohl beim Gedanken daran, was mich im Haus des Herrn von Lohfeld erwarten würde und wie ich die unerwartete neue Aufgabe bewältigen sollte. „Darf ich mir die Frage erlauben, wie und wann Herr von Lohfeld sein Amt in der Vogtei Elstorf erhielt? Hat er sich dort von Anfang an so wenig um die Dienstgeschäfte gekümmert?“
„Nun, wie Sie bereits gehört haben, war seine Frau eine Verwandte meiner Gattin. Vor vielen Jahren bat sie mich, etwas für sein berufliches Fortkommen zu tun, weshalb ich ihm die Vogtei verschaffte. Lohfeld zog also mit seiner Gemahlin und der kleinen Tochter Charlotte nach Elstorf. Anfangs lief alles gut, doch vor sieben oder acht Jahren veränderte er sich aus mir unbekannten Gründen und wurde zu dem Eigenbrötler, der er heute noch ist.“ Amtmann Wolff kratzte sich nachdenklich an der Stirn. „Er vernachlässigte die Familie, nahm seinen Dienst immer seltener wahr und begann, größere Ausgaben zu tätigen. Anfangs für Unmengen von Büchern zu Astronomie und Theologie, dann für verschiedene Gerätschaften und auch für Umbauten im Haus. Viele seiner unerledigten Amtsgeschäfte haben seither meine Beamten hier in Moisburg übernommen. Als dann vor vier Jahren seine Gattin auf traurige Weise aus dem Leben schied, riss unsere Verbindung zu ihm leider zusehends ab. Seitdem wissen wir kaum mehr, wie er und Charlotte in dem Haus leben und was er da im Stillen treibt. Es ist uns ein Rätsel.“
„Ich verstehe, Herr Amtmann.“
„Ich weiß, meine Bitte kommt einer Zumutung gleich, doch ich sehe leider keinen anderen Weg …“ Amtmann Wolff ließ den Satz unbeendet und sah mich an. Dann klopfte er mir erneut auf die Schulter. „Sie sind meine einzige Hoffnung, Herr Frahm. Immerhin konnte Lohfeld Ihre Einquartierung nicht ablehnen, da ich diese als Amtsanweisung vom Landdrost persönlich an ihn sandte. Dem wagte er nicht zu widersprechen.“ Er blieb stehen und sah mich mit schräg gehaltenem Kopf an. „Es wird kein Spaziergang für Sie, aber ich vertraue auf Ihren Mut und Ihre Geschicklichkeit. Sie scheinen mir ein aufgeweckter junger Mann zu sein, Herr Frahm. Berichten Sie mir hin und wieder in Briefen, wenn Sie etwas herausfinden.“ Dann nickte er und sah mich lächelnd an. „Seien Sie versichert, dass Ihre Hilfe vergolten wird. Ich werde Ihren Weg zum Amtsschreiber an höchster Stelle befördern.“
Nach dieser überraschenden Offenbarung, die meine Station als Auditor kurzerhand auf den Kopf stellte, begaben der gnädige Herr und ich uns zurück in den Salon. Es folgte noch ein kurzer Austausch artiger Nettigkeiten, ehe ich mich schließlich von der Runde verabschiedete. Amtmann Wolff brachte mich noch zur Tür, reichte mir freundlich die Hand und wünschte mir viel Glück. Mit meiner Reisetasche in der Hand machte ich mich auf den Weg nach Elstorf.
Ich überquerte die Brücke über die Este und ging durch das Örtchen Moisburg. Bei der alten Feldsteinkirche fragte ich einen Bauern nach dem Weg, der mich in nordöstliche Richtung wies: Ich solle der Landstraße immer geradeaus folgen, dann käme ich direkt nach Elstorf.
Es war Nachmittag und die Sonne stand bereits etwas tiefer, als ich den Ort hinter mir ließ und einen völlig ebenen Landstrich durchwanderte. Die staubige Straße zog sich wie eine Schnur durch Felder, Brachflächen und kleinere Waldungen. Hin und wieder lagen vereinzelt Gehöfte am Wegesrand, doch ich begegnete auf meinem Fußmarsch nicht einer Menschenseele. Mit großen Schritten ging ich munter meines Weges und ließ den Blick durch die weite Landschaft schweifen. 
Schon bald jedoch begannen mir Gedanken durch den Kopf zu schwirren, die schließlich die Natur, das schöne Wetter und alles andere in den Hintergrund drängten. Es ging um meine bevorstehende Zeit in Elstorf. Worauf hatte ich mich nur eingelassen? Womöglich wartete eine höchst unangenehme Erfahrung auf mich. Andererseits, wie hätte ich dem Amtmann, der sich mir gegenüber ungeachtet seines hohen Ranges so herzlich gezeigt hatte, die Bitte abschlagen können? Es wäre einem Affront gleichgekommen und hätte mich gewiss jede Möglichkeit gekostet, meine Station als Auditor irgendwo im Amt Moisburg absolvieren zu können. Ich musste das Beste daraus machen. Vor den dienstlichen Aufgaben in der vernachlässigten Vogtei war mir nicht bange, das konnte ich mit meinem Fachwissen sicherlich bewältigen. Aber mir graute vor dem Hausherrn Ludwig von Lohfeld; laut Amtmann Wolff musste er ein rechter Unmensch sein. Ausgerechnet diesen Mann sollte ich heimlich auskundschaften? Das drückte mir schwer auf den Magen – wenn dabei etwas schief ginge oder ich ertappt würde … Zu guter Letzt war da noch die Tochter des Hauses, nach deren Wohlergehen ich schauen sollte – auch hier konnte ich nicht wissen, was mich erwartete.
Mit einem Mal wurde mir sehr warm, was weniger am Wandern oder der Nachmittagssonne lag, als vielmehr an dem mulmigen Gefühl, das sich stetig in mir ausbreitete. Bei allem Selbstbewusstsein, das ich in mir trug, spürte ich eine gewisse Verunsicherung angesichts der Zukunft. Vielleicht war es eine zu große Verantwortung, die mir der Amtmann auferlegt hatte. Tief in mir empfand ich jedoch zugleich den Reiz der Herausforderung, die Chance für einen jungen Mann, sich in schwieriger Mission zu bewähren.
Mit derlei unruhigen Gedanken verging die Zeit wie im Flug. Und ehe ich mich’s versah, tauchten vor mir erste Häuser auf. Linkerhand passierte ich noch das sogenannte Elstorfer Holz, ein kleines Wäldchen, dann folgte ich schon der Dorfstraße in den Ortskern. Zu meinem Erstaunen zogen mit einem Mal dunkle Wolken über den Himmel und verbargen die Sonne. Es erschien mir fast wie ein Vorzeichen, so als beträte ich nun eine andere, unwägbare Welt.
Zielstrebig umrundete ich den Dorfplatz und ging auf den hölzernen Glockenturm der Steinkirche Sankt Nicolai zu, der die niedrigen Dächer des Dorfes überragte. Als ich beim Gotteshaus ankam, schlug es gerade halb sechs. Da trat der Küster, ein buckliges altes Männlein, aus dem Turm. Rasch fragte ich ihn nach dem Weg zur Vogtei.
„Tatsächlich, zum alten Lohfeld?“ Er legte den runzligen Kopf schief und sah mich ungläubig an. „Ein unheimlicher Mann in einem unheimlichen Haus ist das, wenn Sie mich fragen. Was in Gottes Namen führt Sie dahin?“
„Ein unheimliches Haus?“
„Aber sicher! Der Alte lässt keinen aus Elstorf rein, nicht mal den Herrn Hochwürden. Niemand weiß, was da drin vor sich geht. Seine Tochter kommt auch nur selten heraus, angeblich hält er sie eingesperrt, das arme Ding.“ Der Küster sprach undeutlich, sein Mund enthielt nur noch zwei Zähne. „Junger Herr, was wollen Sie da bloß?“ Er runzelte die Stirn und sah mich neugierig an.
„Ich werde in der Vogtei als Auditor Dienst tun“, erklärte ich ruhig.
„Ach je!“ Der Alte schüttelte den Kopf und lachte meckernd. Dann hob er den Arm und wies in nördliche Richtung. „Die Straße entlang, dann das vorletzte Haus links.“ Er nickte mir zu. „Viel Glück, junger Herr!“
Ich bedankte mich bei ihm und setzte meinen Weg durch das Dorf mit gemischten Gefühlen fort. Nach kurzer Zeit sah ich die Häuser am Ortsrand vor mir. Linkerhand, wo die Landstraße nach Ardestorf führte, stand inmitten eines verwilderten Gartens mit Kiefern und Birken ein zweistöckiges Gebäude mit hohem Dach. Zwischen den sonst eher einfachen Häusern des Dorfes stach es deutlich hervor. Auch wenn es seine besten Tage wohl hinter sich hatte, war es doch ein ansehnliches kleines Herrenhaus mit Friesdekor im Mauerwerk und eleganten Fenstergiebeln. Was mir zudem auffiel, war eine seltsame Konstruktion auf der rechten Dachseite. Es hatte den Anschein, als ließe sich dort ein Dachelement aufklappen – vielleicht eine größere Luke, durch die etwas herein- oder herausgehoben werden konnte.
Über einen grün bemoosten Weg ging ich durch den Garten langsam auf das Gebäude zu. Der Rasen ringsherum war ungepflegt und lange nicht mehr gemäht worden; überall wucherten Unkraut und Gesträuch. Über ein paar Steinstufen gelangte ich hinauf zum Eingang, einer alten, mit Eisenbeschlägen versehenen massiven Eichentür. Mit einem schweren Messingring, der durch einen Löwenkopf führte, klopfte ich mehrmals an die Tür. Ein dunkles Dröhnen erklang und ich trat einen Schritt zurück.
Nach einigen Minuten hörte ich endlich, wie innen ein Riegel bewegt wurde. Knarrend öffnete sich die Tür und ein alter, weißhaariger Mann trat in gebeugter Haltung auf die Schwelle. Seine schwarze Dienstkleidung aus Frack und Hose war fleckig und zerschlissen, das helle Hemd zerknittert. Mit grauen Augen sah er mich gleichgültig, fast teilnahmslos an. „Der gnädige Herr wünschen?“, murmelte er träge, kühl und abweisend. Gastfreundschaft war in diesem Haus offenbar nicht sonderlich en vogue.
„Einen guten Tag wünsche ich“, erwiderte ich freundlich. „Mein Name ist Jakob Frahm. Ich soll morgen in der Vogtei meinen Dienst als Auditor antreten. Man hat mich wohl avisiert.“ Ich lächelte den Alten an, doch seine Miene zeigte keinerlei Veränderung.
Er brummte leise, nickte und ging einen Schritt zurück ins Innere. „Treten Sie ein, junger Herr.“
Ich ging an ihm vorüber und betrat die Flurhalle des Hauses, während er hinter mir die Tür schloss. Das hohe Treppenhaus wurde durch Fenster oberhalb der Eingangstür schwach erhellt. In weitem Bogen führten die Treppen aus Eichenholz hinauf bis zum zweiten Stockwerk. Die Zimmer waren dort jeweils über umlaufende Galerien zu erreichen.
„Setzen Sie sich“, murmelte der Diener und deutete auf ein verstaubtes Sofa neben dem Treppenaufgang. „Ich sage dem gnädigen Herrn, dass Sie hier sind.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er die Stufen empor. Sein Gang war schwerfällig und vornübergebeugt; der Mann musste die sechzig weit überschritten haben. Ich stellte meine Reisetasche ab und nahm auf dem alten Sofa Platz. Nach einiger Zeit verstummten die Schritte des Dieners im Stockwerk über mir und ich vernahm ein Klopfen. Eine Tür öffnete sich und es kam zu einem Wortwechsel, von dem ich nichts verstehen konnte. Allerdings waren einige ungeduldige und gereizte Unmutslaute klar zu vernehmen. 
Kurz darauf kam der Diener zurück. „Der gnädige Herr sagt, er kann Sie heute leider nicht mehr empfangen. Sehr wichtige Geschäfte erlauben es ihm nicht. Er wird Sie morgen früh in der Amtsstube der Vogtei begrüßen und Sie in die Arbeit einweisen.“ Der Diener blickte mich teilnahmslos an und deutete auf die Treppe. „Ich soll Ihnen schon einmal Ihr Zimmer zeigen. Ihre Reisetruhe befindet sich bereits dort.“
„Vielen Dank, mir ist’s recht“, erwiderte ich ruhig und überspielte mein Erstaunen über die unhöfliche Art des Herrn von Lohfeld. War dies schon ein erster Beleg für sein kauziges Desinteresse an allem, wie es Amtmann Wolff geschildert hatte? Ich beschloss, mich damit fürs Erste abzufinden und eher praktische Fragen zu klären. „Wie heißt du, guter Mann? Künftig werden wir gewiss des Öfteren miteinander zu tun haben.“
„Mein Name ist Karl, junger Herr.“
„Bist du schon lange in Diensten des Herrn von Lohfeld, Karl?“
„Nun, es sind gewiss fünfzehn Jahre“, antwortete der Diener, ohne seine ausdruckslose Miene zu verändern. Er ergriff meine Tasche und sah mich an, als ob unser Gespräch für ihn damit beendet sei. Zweifellos waren Diener und Herr in ähnlicher Weise verschlossen. Mit einem Seufzer erhob ich mich vom Sofa und folgte Karl, der sich schon in Bewegung gesetzt hatte. 
Während wir schweigend in den ersten Stock hinaufgingen, schaute ich mich neugierig um. Was ich vom Innern des Hauses sehen konnte, war ohne jegliche Spur von Behaglichkeit oder Schönheit. Alles war rein zweckmäßig, schmucklos und nüchtern. Das sprach nicht für den Willen der Bewohner, sich ein nettes, gemütliches Heim zu schaffen.
„Hier drüben sind die Gemächer des gnädigen Herrn“, sagte Karl, als wir die Galerie des ersten Obergeschosses erreichten. Er wies vage zur rechten Stockwerkhälfte. „Und hier sind die Räume des gnädigen Fräuleins.“ Er nickte in Richtung einer Tür, die wir passierten, während wir der Galerie nach links folgten. Es war bedauerlich, dass sich nach der Zurückweisung, die ich durch den Hausherrn erfahren hatte, auch Charlotte von Lohfeld nicht zeigte.
„Der obere Salon“, murmelte Karl, als wir an einer offenen Tür vorüberkamen. Ich sah flüchtig auf eine Sitzgruppe und Gemälde an den Wänden – der Raum erschien immerhin etwas einladender als das, was ich bislang vom Haus gesehen hatte. „Und hier ist Ihr Zimmer, junger Herr.“ Karl öffnete die letzte Tür der umlaufenden Galerie. Der Raum befand sich in der linken vorderen Ecke des Hauses; die beiden Fenster blickten nach Süden und Westen. Die Einrichtung war die eines Gästezimmers: schlicht, aber durchaus bequem. Zwischen Tisch und Schrank stand meine große Reisetruhe, die ich ein paar Tage zuvor abgeschickt hatte.
„Sehr schön“, nickte ich und stellte meine Tasche auf das schmale Bett. Ich trat an eines der Fenster und öffnete es, um frische Luft hereinzulassen. Von hier aus blickte man auf den vorderen Garten und den moosigen Weg von der Straße zum Haus.
„Vielleicht möchten Sie sich von der Reise ausruhen, junger Herr“, sagte Karl. Er stand auf der Türschwelle und war im Begriff zu gehen. „Wenn Sie sonst nichts weiter benötigen?“
„Ach, eine Sache noch, Karl. Habe ich das Abendessen bereits versäumt?“, beeilte ich mich zu fragen. „Es ist sieben Uhr – haben die Herrschaften schon gespeist? Der lange Tag hat mich hungrig gemacht.“
„Ja, das Diner findet üblicherweise um sechs Uhr statt.“ Der Diener kratzte sich am Kopf. „Aber das ist kein Problem, junger Herr. Anna wird Ihnen ein Abendbrot zubereiten und ich bringe es mit etwas Wein gleich zu Ihnen herauf.“
„Anna?“
„Ja, sie ist das Hausmädchen und die Köchin hier.“ Damit verneigte er sich und schloss die Tür. Ich hörte, wie sich seine Schritte entfernten.
Ich atmete tief durch und ließ mich aufs Bett sinken. Das hier war also mein Zuhause fürs nächste halbe Jahr. Ich war sehr gespannt, was mich erwartete. Morgen galt es vor allem, den Hausherrn Ludwig von Lohfeld sowie seine Tochter kennenzulernen. Dann würde sich womöglich schon zeigen, wie schwer die Aufgaben sein würden, die mir Amtmann Wolff neben meinem eigentlichen Dienst als Auditor aufgetragen hatte.
Als draußen die blaue Stunde anbrach, brachte Karl mir ein Tablett mit Brot, kaltem Braten und Käse sowie ein Glas Rotwein aufs Zimmer. Hungrig machte ich mich über das einfache Mahl her, während ich zugleich den Inhalt meiner Truhe in Schrank und Kommode einräumte. Als ich spät am Abend zu Bett ging, forderten die tiefe Müdigkeit und Erschöpfung von der Reise ihren Tribut. Binnen weniger Augenblicke war ich eingeschlafen.

Kapitel 2

Vogelgesang weckte mich am nächsten Morgen aus einem erholsamen Schlaf. Voller Tatendrang und gespannter Erwartung sprang ich aus dem Bett, wusch mein Gesicht und kleidete mich an. Es war kurz vor acht Uhr, als ich mein Zimmer verließ und auf die Galerie trat. Eine Weile lang blieb ich dort stehen und horchte, ob – im Unterschied zum Vortag – Leben im Haus zu vernehmen war. Und tatsächlich, aus dem Erdgeschoss drangen Klirren und Klappern von Geschirr und Besteck herauf. Offenbar war das Frühstück der Herrschaften von Lohfeld im Gange.
Als ich am Fuß der Treppe anlangte, kam mir ein blondes Mädchen mit weißer Schürze und Haube entgegen. Sie trug ein Silbertablett, lächelte mich im Vorübergehen unsicher an und neigte flüchtig den Kopf zum Gruß. Sie war zweifellos das Hausmädchen Anna, das Karl erwähnt hatte. Ich folgte ihr und betrat einen großen Raum auf der rechten Hausseite, genau unterhalb der Gemächer des Herrn von Lohfeld gelegen. Es war das Speisezimmer, das von einer langen Tafel beherrscht wurde. An den Wänden standen Anrichten und Kommoden, in einer Ecke befand sich ein verrußter Kamin. Durch die Fenster war zwischen den Bäumen des Gartens hindurch der triste Morgenhimmel zu erkennen.
„Guten Morgen“, grüßte ich, als ich zögerlich ins Zimmer trat. Am hinteren Ende des Tisches saß eine junge Dame, der das Hausmädchen gerade Tee einschenkte. Das gnädige Fräulein, in ein Buch vertieft, blickte erschrocken auf. Mit großen Augen sah sie mich an, als stünde ein Gespenst vor ihr. Im selben Moment hörte ich ein Scharren auf den Dielen, und neben ihr tauchte knapp über dem Tisch der Kopf eines großen alten Hundes mit rötlich-braunem Fell auf, der mich argwöhnisch beäugte. Er begann leise zu knurren, war aber wohl so gut erzogen, dass er auf der Stelle verharrte und auf ein Zeichen seiner Herrin wartete.
„Alles ist gut, lieber Apoll“, sagte die junge Dame leise und kraulte den Hund zwischen den Ohren. Sie legte das Buch zur Seite und sah mich in einer Mischung aus Neugier und Verlegenheit an, wobei sie den Blick immer wieder rasch abwandte. „Herr Frahm, nehme ich an?“, fragte sie und bemühte sich zu lächeln, was ihr nicht gut gelang; es schien ihr schwerzufallen. Die tiefe Melancholie in ihren braunen Augen und um ihren schön geschwungenen Mund ließ sich nicht überspielen. Es hatte den Anschein, als wären Frohmut und Glück ihr schon vor langer Zeit abhandengekommen; mir kamen die sorgenvollen Worte des Amtmanns Wolff wieder in den Sinn.
„Ja, gnädiges Fräulein, mein Name ist Jakob Frahm.“ Ich verbeugte mich tief vor ihr. „Es ist mir eine Ehre.“
„Nun, willkommen in unserem Haus! Ich bin Charlotte von Lohfeld. Sie werden meinen Herrn Vater als Auditor in der Vogtei unterstützen, wie Karl mir berichtet hat?“ 
Ich nickte und trat langsam näher. 
„Anna, bring bitte noch ein Gedeck für Herrn Frahm. Ich gehe davon aus, dass Sie noch nicht gefrühstückt haben?“
„Nein, in der Tat, das ist sehr großzügig von Ihnen.“ Ich nahm auf dem ihr am nächsten stehenden Stuhl Platz, sodass wir über die Ecke des Tisches nebeneinandersaßen. Als das Hausmädchen den Raum verließ, kam der Hund mit tapsenden Schritten heran und schnupperte neugierig an meiner Hose. Ich hielt ihm die flache Hand hin. Nach einem ausgiebigen Beschnüffeln schlich er wieder von dannen und rollte sich neben dem Stuhl der jungen Dame zusammen.
Es folgte ein Schweigen zwischen der Hausherrin und mir. Ich hatte den Eindruck, dass sie nicht darin geübt war, Konversation zu betreiben. Vielleicht hatte sie schlicht zu wenig Gelegenheit zum Austausch oder Besuch. Heimlich betrachtete ich die junge Dame, die unruhig – fast als ob sie irgendwo Hilfe suchte – durchs Zimmer blickte. Das hellblaue Anglaise-Kleid mit Rüschen an Ausschnitt und Ärmeln ließ Charlotte von Lohfeld jung und hübsch aussehen, ebenso ihre zum Zopf geflochtenen und unter einem Zierkranz hochgesteckten braunen Haare. Doch das stand umso mehr im Widerspruch zu ihrer Unsicherheit und zu der Schwermut in ihrem Antlitz. Sie mochte um die neunzehn oder zwanzig Jahre alt sein, doch ihre ernste, bekümmerte Aura ließ sie zehn Jahre älter wirken.
„‚Apoll‘ ist ein schöner Name für einen Hund“, sagte ich, um die peinliche Stille zu durchbrechen. „Wie sind Sie darauf gekommen?“
„Das war nicht meine Idee, sondern die meines Vaters“, antwortete sie sichtlich erleichtert über die Gesprächsfortsetzung. „Er hat – das müssen Sie wissen – ein Faible für Götter, Feuer und Himmelsphänomene. Nun, es ist wohl eher eine Besessenheit.“ Ihr Gesicht verdüsterte sich und sie zögerte einen Moment. „Jedenfalls, als er den Hund erwarb, erinnerte ihn sein rötliches Fell an den alten griechischen Gott, der in einem Feuerwagen übers Firmament zieht.“ Sie blickte auf Apoll herab und zum ersten Mal ließ sich in ihrer Miene die Spur eines Lächelns erahnen. „Ein merkwürdiger Name, ich weiß. Aber das gute Tier hat sich längst an ihn gewöhnt und hört auf ihn.“
„Wahrhaftig, sehr originell!“ Ich nickte lachend. „Apropos, Ihr gnädiger Herr Vater … Hat er bereits gefrühstückt? Es scheint mir fast, als würde ich ihn immer wieder verpassen.“