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Viele Jahre nachdem Konrad das Haus seiner Kindheit verlassen musste, zieht es ihn erneut dorthin. Inmitten des Verfalls und der düsteren Erinnerungen muss er sich seinen inneren Dämonen stellen und die Grenze zwischen Realität und Illusion überwinden. Er hofft, mit den Geschehnissen aus jener Zeit endlich abschließen zu können. Doch schon bald muss der inzwischen alte Mann feststellen, dass man vor den Geistern der Vergangenheit nicht davonlaufen kann.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Das Herrenhaus
Echos der Vergangenheit
Für René, der mich immerwieder an verwunschene Orte entführt.
Dies ist auch deine Geschichte.
Jessica Weiß
Die Wiederkehr
Durch alte Räume
Stell keine Fragen
Die Flucht
Konsequenzen
Verluste
Unterm Dach
Flüstern
Schatten
Illusion und Wahnsinn
Zuhause
Trugbilder
Erwachen
Erscheinungen
Entscheidungen
Weg von hier (alternatives Ende)
Er hatte nie wieder zurückkehren wollen. Seit sechzig Jahren hatte er keinen Fuß mehr auf dieses Grundstück gesetzt. Nun stand er davor, hinter sich den Lärm der Stadt, vor sich die Stille der Natur, die sich das einst herrschaftliche Anwesen längst zurückerobert hatte. Das verrostete Eisentor war komplett mit Dornenranken überwuchert. Hier gab es keinen Einlass für ihn. Vorsichtig umrundete er das Grundstück, immer darauf achtend, nicht zu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Auch wenn er nichts Böses im Sinn hatte, ganz legal war sein Vorhaben nicht. Nach kurzer Suche fand er eine Stelle im Zaun, die so stark beschädigt war, dass er sich problemlos hindurchzwängen könnte. Jenseits davon schien die Zeit stehen geblieben zu sein. Die hektische und schnelllebige Welt hatte dieses Gebäude vergessen.
Es war das Haus, in dem er geboren und aufgewachsen war, und das er vor so vielen Jahren verlassen hatte. Jahre, in denen er sich immer wieder gefragt hatte, was wohl daraus geworden sein mochte.
Sein Ziel immer vor Augen schlug er sich Stück für Stück durch das verwilderte Dickicht, das einst ein wunderschöner Park gewesen war, mit englischem Rasen und sorgfältig geharkten Wegen. Er kam nur langsam voran, denn immer wieder blieb er mit den Hosenbeinen an Dornen hängen. Konrad erinnerte sich, wie er damals mit einem Nachbarsjungen hier gespielt hatte. Er erinnerte sich noch genau an die gute alte Zeit. Jetzt war kaum noch etwas übrig vom einstigen Glanz des Anwesens. Hinter einem der Büsche kam ein schmaler Trampelpfad zum Vorschein. Er war also nicht der Erste, der sich Zutritt zum Grundstück verschaffte. Natürlich nicht. Jugendliche jeder Generation liebten es, sich an verbotenen Orten herumzutreiben. Und leerstehende Häuser strahlten einen besonderen Reiz aus.
Wenige Schritte weiter konnte Konrad es klar und deutlich zwischen den Bäumen ausmachen. Sein Elternhaus. Die Fassade bröckelte vor sich hin, die Fenster waren eingeschlagen und im Erdgeschoss mit Brettern vernagelt. Das Gleiche galt für die Eingangstür. Von hier aus würde er unmöglich ins Innere gelangen können. Man hatte scheinbar alle Vorkehrungen getroffen, um Unbefugte draußen zu halten. Ein Schauer fuhr durch seine Glieder, als er daran dachte, wie er vor so vielen Jahren zum letzten Mal diese Pforte passiert hatte. Er folgte dem provisorischen Weg bis zu einem der Kellerfenster an der Rückseite des Gebäudes. Irgendjemand war von dort aus in den Keller geklettert und hatte Konrad somit den Weg bereitet. Hätte jemand Konrad in diesem Moment beobachtet, so hätte sich ihm der Anblick eines siebzigjährigen Mannes geboten, der seine müden Knochen zwang, ihr Alter für kurze Zeit zu vergessen. Während er noch überlegte, wie tief es auf der anderen Seite wohl nach unten ging, traf sein Fuß auf etwas Weiches. Ein Blick nach unten verriet ihm, worauf er da getreten war: Ein alter Stuhl, dessen Sitzpolster aufgeweicht und mit Moos überwachsen war und den jemand als Ein- und Ausstiegshilfe direkt unter dem Kellerfenster platziert hatte. Im Stillen dankte Konrad demjenigen für seine Umsichtigkeit. Konrad hatte sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie er das Haus möglichst unbeschadet wieder verlassen konnte. Bis eben war er sich nicht einmal sicher gewesen, ob es ihm überhaupt gelingen würde, es zu betreten.
Schmerzlich wurde ihm bewusst, was ihn erwartete. Das Loch im Zaun, der Trampelpfad, der Stuhl unter dem Fenster – alles waren Symptome dessen, was er unterbewusst schon befürchtet hatte. Sein ehemaliges Elternhaus war mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur von abenteuerlustigen Jugendlichen besucht worden, sondern auch von Vandalen. Unberührt würde er hier also nichts mehr vorfinden. Entsprechend fand er hier unten nichts als kalte, nackte Wände. Von dem Haus war nicht viel mehr übrig als ein Skelett, ein Schatten seines früheren Selbst. Als Kind hatte er sich hier oft gegruselt. Heute kam ihm das albern vor. Wenn er sich hatte vor etwas fürchten müssen, dann war es nicht im Keller gewesen.
Langsam, beinahe ehrfürchtig erklomm er die Treppe ins Erdgeschoss. Was er dort erblickte, versetzte ihm einen Stich. Von den Wänden schälte sich die Tapete wie die alte Haut von einer Schlange, überall waren Schmierereien zu sehen und was mit dem Kamin in der Eingangshalle geschehen war, mochte er sich gar nicht ausmalen. Es sah fast so aus, als hätte man mit einem Vorschlaghammer darauf eingeschlagen. Er hatte Wärme und Behaglichkeit ausstrahlen sollen, stattdessen wurde man von Schutt und Zerstörung begrüßt. Nichts war mehr zu sehen von der Anmut, die diese Halle einmal ausgestrahlt hatte. Konrad stand jetzt auf der anderen Seite der vernagelten Eingangstür. Jemand hatte die Worte „Es gibt kein Entkommen“ mit Farbe darauf gesprüht. Natürlich, dachte Konrad. Die Tür war ja auch verschlossen. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und setzte seinen Weg durch die Villa fort.
Als Nächstes zog es den alten Mann in den Wintergarten. Beziehungsweise dorthin, wo vor langer Zeit einmal der Wintergarten gewesen war. Hier hatte er bei schlechtem Wetter am liebsten Zeit verbracht. Zusammen mit seiner Mutter hier zu sitzen und Tee zu trinken, während der Regen gegen die Scheiben trommelte, gehörte zu seinen liebsten Kindheitserinnerungen. Oft hatte ihm die Mutter dabei vorgelesen, bevor sie ihm selbst das Lesen beibrachte. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus, als er an all die Nachmittage dachte, an denen die beiden es sich im Wintergarten gemütlich gemacht hatten, weil das Wetter nicht zum Verweilen im Garten einlud.
Das alles hatte ein Ende gefunden, als Konrads Vater andere Pläne mit dem Raum hatte und ihn umbauen ließ. Sein Vater war Chirurg gewesen und aus für Konrad damals nicht nachvollziehbaren Gründen hatte er beschlossen, Operationen auch zuhause durchzuführen. Bald war es für ihn üblich, seiner Arbeit nur noch im Haus nachzugehen. Einige der unteren Räumlichkeiten wurden zur Praxis umfunktioniert und der Lieblingsplatz von Konrad und seiner Mutter wurde zum Operationssaal. Statt großen Fenstern, die einen uneingeschränkten Blick auf das Gelände ermöglichten und einladenden Sitzgelegenheiten, hatte es dort blau geflieste Wände und grelles Licht aus riesigen Deckenlampen gegeben. Inzwischen wusste Konrad, was es damit auf sich gehabt hatte. Es war ihm zwar früher bereits aufgefallen, dass sein Vater kein gewöhnlicher Arzt war, doch konnte er die Zusammenhänge nicht erkennen. Seine Mutter war stets bemüht gewesen, so wenig Berührungspunkte wie möglich mit der Arbeit ihres Mannes zu bekommen. Sie schwieg eisern zu jeder Frage, die Konrad ihr diesbezüglich stellte.