Das Herz der Zwerge 2 - Markus Heitz - E-Book
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Das Herz der Zwerge 2 E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Die Zwerge schärfen wieder ihre Äxte: »Das Herz der Zwerge« erscheint in zwei Teilen und ist der 7. Band der Fantasy-Saga »Die Zwerge« von Bestseller-Autor Markus Heitz. Der Zwerg und Gemmarius Goïmron wollte nach den aufregenden Abenteuern in Malleniaswacht Ruhe finden und seiner Liebe Rodana nahe sein. Aber das Auftauchen einer gefährlichen Sumpfhexe, die auf der Suche nach einem Artefakt ist, wirbelt alles durcheinander. Zudem erhebt der mysteriöse Zwerg Vraccimbur wie aus dem Nichts seinen Anspruch auf den Thron des Großkönigs. Seltsamerweise unterstützt ausgerechnet Tungdil Goldhand, der größte Held seines Volkes, als Einziger dessen Anliegen. Irrt sich der Greis? In die Wirren um den höchsten Titel kommt die Kunde von einem grausamen Wesen, das den Fortbestand des Geborgenen Landes bedroht. Orks rotten sich unter ihrem Anführer Borkon kampfbereit zusammen, und auch die Albae sind längst nicht besiegt. Goïmron und seine Gefährten müssen sich neuen, gefährlichen Herausforderungen stellen, denn das Geborgene Land braucht ihre Hilfe dringender denn je zuvor. Selbst 20 Jahre nach dem furiosen Start warten neue Abenteuer: Die Kleinen werden die Größten sein, gerade in der erfolgreichsten deutschen Fantasy-Saga!  Die Fantasy-Saga »Die Zwerge« von Markus Heitz ist in folgender Reihenfolge erschienen: - Die Zwerge - Der Krieg der Zwerge - Die Rache der Zwerge - Das Schicksal der Zwerge - Der Triumph der Zwerge - Die Rückkehr der Zwerge (Band 1 + 2) - Das Herz der Zwerge (Band 1 + 2)

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Seitenzahl: 648

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Markus Heitz

Das Herz der Zwerge 2

Roman

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Dramatis personae

KAPITEL I

KAPITEL II

KAPITEL III

KAPITEL IV

KAPITEL V

KAPITEL VI

KAPITEL VII

KAPITEL VIII

KAPITEL IX

KAPITEL X

KAPITEL XI

KAPITEL XII

KAPITEL XIII

KAPITEL XIV

KAPITEL XV

KAPITEL XVI

KAPITEL XVII

KAPITEL XVIII

KAPITEL XIX

EPILOG

NACHWORT

Dramatis personae

DIE ZWERGENSTÄMME
Die Ersten

Xanomir Wogenherz aus dem Clan der Stahlmacher, Ingenius & Constructor

Hamalys Kettenhart aus dem Clan der Funkenschläger, Ingenia & Constructa

Gandalgir Eisengriff aus dem Clan der Stahldrücker, König der Ersten

Gilondys Stahlkeil aus dem Clan der Wuchtrammer, Gewerkemeisterin in Kronenstahl

Die Zweiten

Baëndala Zweiklingenhand aus dem Clan der Axtschwinger, Gildenmeisterin der Steinmetze & Prophetin

Boïndal »Grimmz« Zweiklingenhand aus dem Clan der Axtschwinger, Krieger

Bondobil Mehlfaust aus dem Clan der Steinspalter, Krieger

Bandalys Mehlfaust aus dem Clan der Steinspalter, Botin

Die Dritten

Regnorgata Sterbenshieb aus dem Clan der Orkschlächter, Königin der Dritten

Hargorina Todbringerin aus dem Clan der Steinmalmer, Kriegerin

Belîngor Klingenfresser aus dem Clan der Stahlfäuste, Krieger

Brûgar Funkenatmer aus dem Clan der Feuerschlinger, Krieger

Die Vierten

Goïmron Schnitzeisen aus dem Clan der Silberbärte, Gemmarius

Bendoïn Feinunz aus dem Clan der Pfeilsucher, König der Vierten

Silbalyn Silberschein aus dem Clan der Kleinkerber, Kriegerin

Die Fünften

Barbandor Stahlgold aus dem Clan der Königswassertrinker, Siedlungsrat von Platinglanze

Tirmelin Kräuselbart aus dem Clan der Blechdrücker, Krieger

Bergandor Wuchtfaust aus dem Clan der Draufhauer, Krieger

Lyndala Augengold aus dem Clan der Scharfseher, Vermesserin

Die Menschen

Doria Rodana von Psalí, Puppenspielerin

Klaey Berengart, Brigantiner & Herrscher von Rhuta

Kiil, Jowna; Brigantiner/-in

Adelia, Famula

Stémna, Doulia

Gubnara, Ausbilderin der Doulia

Agmante, Hohepriesterin von Doul

Zimànja, Roga; Ragana

Yeziba, Mhûomà der Ragana

Baron Lichte, königlicher Gesandter von König Gajek

Graf Acdius, kaiserlicher Gesandter Gautayas

Hattran, Hauptmann

Dhenard, Pienor, Raiscsa; Angehörige der Familie Cofhera in Enaiko

Condo, Bibliothecarius

Pagus, Lehrling in der Eulen-Bibliothek

Morko, Holzfäller

Jepho, Kutscher

Cirbo, Verstorbener

Die Albae

Ascatoîa, Zhussa

Mòndarcai, Krieger

Nacailôr, Mitglied der Geheimen Kammer Dsôn Khamateions

Aïsoroth, Sirûsha; Einwohner/-in Brandenwalls

Caphorias, Spion

Khitâburàs, Ochranor in Enaiko

Die Orks

Borkon Gràc Hâl, Orkfürst

Torsuk, Heilkundiger

Eshkara, Druidin aus Kràg Tahuum

Aktrag, Ork aus Kràg Tahuum

Rhoshkor Gràc Srô, Prashnak; Amekh Modrá

Ehoutá Trai Ûl, Amekh Modrá & Druidin

Die Drachen

Brandsil, ältester Drache des Geborgenen Landes

Tallas, Swausha; Wasserdrachen

Slibina und Szmajro, Flugdrachengeschwister

Graszahn, kleinster Drache des Geborgenen Landes

Weitere

Vraccimbur Schlaufaust aus dem Clan der Immersieger von den Allfünfen, Schaukämpfer

Telìnâs, Elb

Nebtad Sònuk, Srgāláh

Icuriàs, Meldrith & Vorsteher der Siedlung Therlisôn

Todesschwinge, Flugmahr

BEGRIFFE
Orte

Dsôn Khamateion: das Reich der Albae im Braunen Gebirge

Enaiko: die Stadt des Wissens im Süden des Geborgenen Landes

Gautaya: Kaiserreich in Gauragon

Kràg Tahuum: Orkfestung in der Mitte des Geborgenen Landes

Landsriegel: elftausend Schritt hoher Berg

Platinglanze: zwergische Wehrsiedlung am Fuße des Grauen Gebirges

Therlisôn: Wohnsiedlung der Meldrith

Tî Silândur: Elbenreich

Völker & Arten

Amekh Modrá: Eigenbezeichnung der Nachtblauen

Bastardpony: übergroßes, robustes Pony

Blutgrollorks: Bestien im Jenseitigen Land

Cadengis: der gefährlichste Gott der Cadengi, deren Glaube in Brigantia verbreitet war

Cadengis’ Mutter: a. die gefährlichste Göttin der Cadengi, b. beliebter Fluch

Doulia: Menschen aus dem Jenseitigen Land, die sich freiwillig als Sklaven andienen

Feuerfresser: Bezeichnung der Bestien in den Lavafeldern im Norden Gauragons

Flammenflügler: schlangenhafte Flugwesen, drachenverwandt

Garra (Krallenschaufler, Hilflinge): unterirdische Wesen von kleinem Wuchs, mit fahler Haut, Krallen an Händen und Füßen

Meldrith: Personen mit einem albischen und einem elbischen Elternteil

Nachtblaue: Orkvolk, bestehend aus den Amekh Modrá und den Amekh Grár

Parsoi Khi: magiesensitives Volk

Ragana: Moorhexen

Rhamak: Seelenrufer

Salzseeorks: Bezeichnung der Bestien in den Salzwüsten im Kaiserreich Gautaya

Snirbog: orkähnliche Bestie, kleiner und schmaler

Srgāláh: humanoides Wesen mit Hundekopf

Titel & Bezeichnungen

Adlata: Gehilfin

Ambasciar/-a: Botschafter/-in der Elben

Cazcaira: Attentäterinnen und Menschenjägerinnen der Ragana

Famulus/-a: magisch begabter Mensch in Ausbildung

Faneri: Offiziersrang der Zwerge

Fannān: albischer Großmeister der Künste

Fîndaii: Leibwache und Eliteeinheit der Kisâri

Ganyeios: Titel des Herrschers von Dsôn Khamateion

Kisâri: Titel der Kaiserin der Elben

Magus/Maga: Zauberer/Zauberin

Mhûomà: höchste Ragana

Ochranor: albischer Beschützer, Bewahrer

Omuthan: Fürst (von Brigantia)

Phormadur/-a: Vorsteher/-in der Meldrith

Tharka: Sondereinheit der Dritten für die erste Schlachtreihe

Zhussa: albische Zauberkundige

Zolonarius: Zöllner

Sonstiges

Am: ein Zyklus bei den Amekh Modrá

Hausberg: Gemeinschaftswohngebäude der Meldrith

Warwolf: übergroßes Katapult

KAPITEL I

Das Geborgene Land, Blaues Gebirge, Festung Beilstein (Nordeingang ins Zwergenreich), 1024 n.B. (7515. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Spätsommer

Baëndala Zweiklingenhand stand neben Bondobil Mehlfaust auf dem dreißig Schritt hohen Schuttberg aus Säulentrümmern und Mauerresten und traute ihren Augen kaum.

Unter ihnen breitete sich die beschädigte Halle der Könige aus, in ihrem Rücken befanden sich die Halle der Trauer und das Lager ihrer Schar. Die Mauer dazwischen war durch die Beben vor tausend Zyklen eingestürzt und hatte den Schuttberg erschaffen. Die Späher ihrer Truppe verteilten sich weitläufig auf den schmalen Wegen, die unter der Decke in der Halle der Könige entlangliefen.

Die Höhe der Kavernen belief sich auf geschätzte hundert Schritt, und die Ausmaße der Zerstörung ließen sich nicht übersehen. Nur wenige schadhafte Säulen waren übrig geblieben, um die Last des Gewölbes abzufangen. Das machte den Aufenthalt in diesem Teil des Blauen Gebirges zu einer gefährlichen Sache. Jederzeit konnten Stützen brechen und hausschwere Teile der Decke herabstürzen.

Baëndala und Bondobil sahen auf die überwiegend zerschmetterten Sarkophage der Königinnen und Könige der Zweiten, die unter und zwischen geborstenem Gestein ruhten. Hier und dort lagen herrschaftliche Knochensplitter zwischen den Brocken, verbeulte Rüstungselemente und Schmuck aus den Grabbeigaben. Grauweiße Sonnenstrahlen stachen in dicken Bahnen von außen durch Schlitze und Löcher herein.

Die Lanzen aus Helligkeit trafen die Vielzahl riesiger Orks mit nachtblauer Haut und weißen Tätowierungen, die unterhalb des Steinhaufens, neben und zwischen den zerstörten Sarkophagen abwarteten.

Gespenstisch stumm sahen die Bestien zu Zwergin und Zwerg hinauf, bewaffnet und gerüstet wie zum Sturm auf das Reich der Zweiten. Ab und zu klirrte es metallisch, wenn eine Waffe an Panzerung rieb oder eine beschlagene Stiefelsohle über den Steinboden scharrte.

»Ich kenne diesen Orkfürst Borkon zwar nur von Beschreibungen, aber sie sehen alle aus wie er«, sagte Baëndala, nachdem sie die erste Überraschung überwunden hatte. »Nur … viel größer.« Warum greifen sie nicht an?

Derweil riefen die Hörner der zwergischen Späher zu den Waffen und versetzten die kleine Truppe in der Halle der Trauer in Bereitschaft. Allerdings würden die Kriegerinnen und Krieger niemals ausreichen, um die Kolosse jenseits der Halde aufzuhalten.

Nicht einmal mein Bruder könnte sie in seiner Raserei bezwingen. Es sind zu viele. Baëndala überlegte, ob ihr Krähenschnabelende am ausgestreckten Arm überhaupt bis zum Kopf eines der nachtblauen Orks reichte, wenn sie direkt vor ihm stünde.

»Wir sollten so viele wie möglich zusammenschießen, solange sie herumstehen«, empfahl Bondobil, der die dunkelbraunen Haare lang bis zu den Fersen und an den Seiten ausrasiert trug. Er betrachtete die Streitmacht durch sein Fernglas. »Sie rechneten wohl nicht damit, früh entdeckt zu werden, und sind sich nun uneins, wie sie vorgehen sollen.«

»Ich denke, ihre Friedfertigkeit hat einen anderen Grund.« Baëndala verfolgte, wie die eigene Schar am Schuttberg und auf den schmalen Wegen in den Wänden in der Halle der Könige in Stellung ging. Durchschlagskräftige Armbrüste wurden mit Kurbeln gespannt und Kurzbögen bereitgehalten. »Orks haben einen ausgezeichneten Geruchssinn. Sie haben uns gewittert, lange bevor wir in die Hallen kamen.« Sie gab ihren Leuten das Handzeichen, keinesfalls anzugreifen. »Warum haben sie keinen Hinterhalt gelegt, um uns abzuschlachten, statt es auf ein offenes Gefecht ankommen zu lassen?«

»Weil es ihnen mehr Spaß verschafft?« Bondobil kratzte sich an der ausrasierten Kopfseite und rieb über die aufgeklebten Mosaiksteine. »Oder was willst du damit sagen?«

»Dass sie sich absichtlich zeigen.« Baëndala wollte ihre nächsten Worte selbst kaum glauben. »Um mit uns zu reden.«

Bondobil setzte das Fernglas ruckartig ab und starrte sie an. »Reden? Sie tragen Panzerung und Waffen, als wollten sie das Geborgene Land erobern! Die Sprache, die sie sprechen, ist Stahl und Eisen.« Hektisch rieb er die beiden Rundschilde an seinen Unterarmen aneinander.

Baëndala sah das anders. Sie rief sich jenen Moment ins Gedächtnis zurück, als der erste riesige Ork aufreizend langsam aus dem Halbdunkel in einen der hellen Lichtstrahlen getreten war. Danach waren die axtbewehrte Orkin mit den dunkelroten Haaren, die unter dem Helm herausschauten, und weitere Bestien gefolgt, bis sich gut und gerne hundert Scheusale gezeigt hatten. Groß, muskulös und gepanzert waren sie aus den Schatten der Halle der Könige getreten, jeder von ihnen mit blauer Haut und weißen Tätowierungen darauf.

Die riesige Orkin hielt die Axt geschultert und einen Turmschild in der Rechten. Mit der Stielunterseite stieß sie den vordersten Ork auffordernd an.

»Ihr da! Unterirdische!«, rief er mit dunkler, kräftiger Stimme. »Ich bin Rhoshkor Gràc Srô. Dies sind meine besten Schwerter, Speere und Pfeile.« Er deutete mit der gepanzerten Hand hinter sich auf die Scheusale. »Wer führt eure Einheit?«

»Das ist Altzwergisch«, murmelte Bondobil verblüfft. »Wieso spricht eine Schweineschnauze …?«

»Kein Stahl und Eisen, wie du meintest, was? Borkon beherrscht Altzwergisch auch, vergiss das nicht. Sie haben die Sprache des Feindes studiert. Aus welchen Aufzeichnungen auch immer.«

Baëndala nahm ihr Fernglas erneut zur Hand und begutachtete die Züge des nachtblauen Orks. Das Gesicht war kantig, unter der flachen Nase lagen dünne, weiß geschminkte Lippen, hinter denen schwarze Zähne und silberne Fänge saßen. In den langen, dunkelgrauen Haaren schlossen sich goldene Spangen um vereinzelte Strähnen. Sie musste nicht genauer hinschauen, um die Ähnlichkeit zwischen ihrer Vision und der Bestie zu erkennen. Also habe ich mich nicht getäuscht! Vraccas, du sandtest mir die passende Eingebung!

Während ihr Bruder Grimmz bei seinen unkontrollierbaren Wutanfällen in kämpferische Raserei verfiel und alles attackierte, was ihm vor die Klingen oder Fäuste kam, beschwor Baëndalas Furor Visionen herauf. In dieser Manie erschuf sie vollendete Steinmetzkunst, die den Zweiten Leite und Warnung war. Während ihrer letzten Vision hatte sie exakt diese Situation aus dem Stein geschlagen.

Wie auch das Porträt dieses Orks, ohne Frage der Anführer der stahlstarrenden Rotte.

»Du kannst einstweilen mit mir sprechen«, sagte Baëndala laut, und ihre Stimme rollte den Schutthügel hinab. »Was willst du?«

»Ich bin gekommen, um euch zu warnen«, erwiderte Rhoshkor. »Ihr seid im Begriff, einem Übel anheimzufallen, gegen das es kein Mittel gibt.«

Bondobil lachte einmal trocken auf. »Das wird immer unterhaltsamer. Erst sind sie friedlich, und nun warnen sie uns vor Gefahren.«

»Dieses Gespräch verspricht, etwas ausführlicher zu werden«, rief Baëndala über die Distanz hinweg. »Wir treffen uns auf halbem Wege. Nur du und ich, Rhoshkor.«

»Was? Nein«, widersprach Bondobil und wollte ihre Schulter greifen, aber die Finger gingen ins Leere.

Die Zwergin eilte springend und rutschend die Halde hinab. »Du bleibst. Wenn mir etwas zustößt, hast du die Befehlsgewalt«, rief sie über die Schulter und bewegte sich auf den Ork zu, der ihr entgegenstapfte. Es war die größte, beeindruckendste Bestie, die sie jemals gesehen hatte.

Bevor der Durchgang zwischen Geborgenem und Jenseitigem Land durch Tungdil Goldhands Plan geschlossen worden war, hatten sich immer wieder Ungeheuer und Scheusale im Blauen Gebirge gezeigt, darunter nicht wenige Orks aus dem Jenseitigen Land. Die meisten waren von den wehrhaften Zwergensiedlungen rings um das Blaue Gebirge vernichtet oder zurückgeschlagen worden. Nur wenige hatten den Verteidigungsring durchbrochen.

Keiner von denen sah so aus wie Rhoshkor. Baëndala blieb drei Armlängen vor dem Ork stehen, der vor ihr beinahe drei Schritt hoch aufragte, behangen mit Unter- und Hauptrüstung sowie gefüllten Waffengurten. Unter dieser Last würden sogar Packpferde in die Knie gehen. An ihm wirkten die Mengen aus Eisen, Stahl und Leder so leicht wie Spielzeug aus angemaltem Leichtholz. Es ging ein würziger Kräuterduft von ihm aus, als hätte er sich erst kürzlich gewaschen oder mit einem duftenden Öl oder einer parfümierten Salbe eingerieben.

»Sprechen wir, ohne dass wir schreien müssen«, begrüßte sie ihn.

»Das ist ein guter Einfall. Ich zolle deinem Mut großen Respekt, Unterirdische ohne Namen«, erwiderte Rhoshkor mit knarrend-tiefer Stimme. Die silbern bemalten Fangzähne waren mit Gravuren versehen, schwere Bronzeringe zierten Ohrmuscheln und Nasenflügel.

»Mein Name ist Baëndala Zweiklingenhand aus dem Clan der Axtschwinger vom Stamm der Zweiten«, sagte sie. »Du weißt hoffentlich, wo du und deine Leute sich befinden?«

»Im Blauen Gebirge. Bei den Zweiten. Den besten Steinmetzen, wenn die Aufzeichnungen nicht lügen.« Rhoshkor sah sich aus blaugrauen Augen um. »Ich bin kein Fachgeist für derlei Steinarbeiten, doch ich erkenne die Meisterschaft deines Volkes an. Sogar in dieser Zerstörung ist sie offenbar.«

Baëndala wunderte sich im Stillen, dass sie mit der Bestie plauderte, als wäre sie auf ein Bier vorbeigekommen. Leder- und Plattenpanzerung waren von herausragender Machart, und der ansatzweise erkennbare Bronzeschmuck um seinen Hals zeigte eine Feinheit, wie sie sie niemals bei Orks erwartet hätte. Vraccas tat gut daran, uns mit einer Vision auf diesen Besuch vorzubereiten. »Und du weißt, dass Zwerge und dein Volk nicht in Freundschaft verbunden sind?«

»Das Wagnis mussten wir eingehen. Denn wie ich schon sagte: Ihr steuert in ein Elend, gegen das es bald kein Gegenmittel mehr geben wird.« Rhoshkor zeigte beim Lächeln seine silbernen, gravierten Eckzähne. »Sofern du und die Bewohner des Geborgenen Landes nicht eingreifen.«

»Die Durchgänge sind geschlossen. Nichts kann …« Baëndala bemerkte den Fehler in ihren Worten. Ich Närrin! »Einen Augenblick! Wie seid ihr –«

»Wir fanden den Eingang ins Blaue Gebirge, bevor der Durchgang einstürzte. Der Rest unseres Heeres ist entweder erschlagen oder steht jenseits der Berge vor den Toren und überlegt, was zu tun ist.« Rhoshkor sprach ohne Drohung. »Wir brauchten lange, um mit den alten Plänen überhaupt einen Weg zu finden, der uns zum nördlichen Ausgang führte.«

»Ich muss gestehen, dass ich verwundert bin. Und noch schwanke, ob du … mir eine Falle stellen willst«, eröffnete Baëndala. Der leichte Krähenschnabel in ihrer Hand wirkte lächerlich angesichts dieses Orks. Wie ein wandelnder Turm. Ich kann ihn mit dem Eisenhaken höchstens kitzeln.

»Wir haben euch gerochen, als ihr noch Meilen entfernt von diesen Hallen wart. Sie müssen einst wunderschön gewesen sein. Nach zwergischen Maßstäben«, sagte Rhoshkor. »Bevor wir uns jedoch in Plaudereien verlieren, lass mich dir eine Frage stellen. Damit ich erahnen kann, wie weit die Bedrohung fortgeschritten ist. Bitte beantworte sie ehrlich.«

Baëndala nickte vorsichtig. Das Gebaren der Bestien kann nur ein fauler Zauber sein. »Lass sie mich hören.«

»Meine Leute und ich verfolgen einen Ork mit blauer Haut und weißen Tätowierungen, so wie wir sie tragen. Aber er ist von kleinerer Gestalt.«

Borkon! Wie ich es mir dachte. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Warum sucht ihr ihn?«

»Ist er schon bei euch?«

Baëndala schwankte. Aber sie hatte versprochen, aufrichtig zu antworten. Was soll schon geschehen? »Ja, das ist er.«

Rhoshkor stieß einen orkischen Fluch aus, der von den Seinen sogleich brüllend wiederholt wurde, sodass er von den Wänden und der Decke widerhallte wie Donner in einer Höhle.

Die Zwerginnen und Zwerge um sie herum und über ihren Köpfen hoben sogleich Armbrüste und Bögen, legten mit Pfeilen und Bolzen an.

»Runter damit!«, befahl Baëndala energisch und senkte die Hand flach abwärts, damit keine Missverständnisse entstanden. Zögerlich kam die Truppe der Anweisung nach. »Er nennt sich Borkon.«

»Das ist sein richtiger Name.« Rhoshkor hakte die Hände am Brustpanzer ein. »Hat er andere Orkstämme unter seinem Banner versammelt?«

»Ja.«

»Und hat er behauptet, er sei jener Auserwählte aus den Schriften von Nushrok dem Reißer?«, legte Rhoshkor nach. »Mit dem Horn von Corschnok und der Melodie von Heschbaar, um die Prophezeiungen zu erfüllen?«

Erneut konnte sie nicht anders, als zuzustimmen. Hier bahnen sich merkwürdige Dinge an. »Was ist mit Borkon? Ist er die Gefahr, von der du sprachst, oder …?«

»Borkon ist ein Nichts, ein Niemand. Ein schäbiger, anmaßender Blender, der sein Leben damit verbringt, andere zu betrügen«, erklärte Rhoshkor mit gezügelter Wut in der Bassstimme. »Er vermag es, mit Worten zu manipulieren. Als er die Gelegenheit sah, ergriff er sie.«

Noch verstand Baëndala nicht, worauf der Ork hinauswollte. »Ist er die Gefahr oder nicht?«, versuchte sie es erneut.

»Diese Aufzeichnungen und Prophezeiungen von Nushrok kamen vor vielen Am … ihr sagt Zyklen zu uns. Wir, die Gemeinschaft der Amekh Modrá, beschlossen, sie zu unseren Gunsten einzusetzen, um die Orks des Geborgenen Landes damit auf unsere Seite zu ziehen«, erklärte Rhoshkor. »Sobald die Passagen hinaus und hinein sicherer geworden wären.«

»Um uns zu erobern«, vollendete Baëndala die Ausführung. Ein sehr freimütiges Bekenntnis.

Doch Rhoshkor schüttelte den Kopf, die goldenen Tunnelspangen an den grauen Strähnen blitzen auf. »Wir haben keinerlei Bedarf am Geborgenen Land. Aber an Tausenden Kriegerinnen und Kriegern, die wir bei der Klärung einer uralten Fehde zwischen uns und den verfeindeten Blutgrollorks einsetzen werden. Oder besser gesagt: wollten.« Erneut nutzte er einen orkischen Begriff und spuckte angewidert aus. »Borkon ist ein Feigling. Er hält nichts von Traditionen und der Fehde. Daher hat er die Aufzeichnungen gestohlen, sie studiert und sich mit einer Handvoll Verwegener auf den Weg zu euch gemacht.«

Allmählich setzte sich das Bild für Baëndala zusammen. Borkon hat die Orks des Geborgenen Landes mit den Prophezeiungen betrogen und an der Nase herumgeführt. Sogar uns, nimmt man es genau. Noch war sie weit entfernt, Rhoshkors Worten Glauben zu schenken. Es konnte ebenso gut sein, dass er und die Seinen mit noch finstereren Ansinnen gekommen waren als Borkon. Oder sie sind seine Unterstützung.

»Ich verstehe«, sagte sie dennoch.

»Tust du das, Unterirdische?« Rhoshkor bedachte sie mit einem Silbergrinsen. »Tust du das wirklich?«

Ertappt lachte die Zwergin auf. »Weshalb seid ihr hier?«

»Um Borkon aufzuhalten. Ihn und seine Begleiter umzubringen. Bevor er zu der Bedrohung wird, von der ich eingangs sprach.« Rhoshkor wechselte einige rasche Worte mit seiner Truppe, woraufhin sich leises Murren und Grollen erhob, die Mienen wurden noch wütender. Borkon durfte offenbar keinerlei Gnade erwarten. »Hat er mit Unsterblichkeit geprahlt?«

Baëndala nickte. »Es gibt Berichte darüber. Und es betrifft nicht nur ihn«, fügte sie rasch hinzu. »Sondern auch einige seiner Gefolgsleute und einige wenige Auserwählte der heimischen Bes… Orks.«

Erneut fluchte Rhoshkor in seiner Sprache, und die Rotte stimmte ein. »Das ist das Übel, von dem ich sprach und vor dem ich dich warnen wollte. Er hat einen … wie sagt man bei euch … Druiden? Tränkebrauer? Schamanen?«

»Ich weiß, was du meinst. Und wen du meinst.« Baëndala erinnerte sich, in Barbandor Stahlgolds Aufzeichnungen den Namen Torsuk gelesen zu haben. Daher nannte sie ihn. »Er soll mit dem Trank der Unsterblichkeit Versuche angestellt haben.«

Rhoshkors nachtblaue Miene wurde düsterer. »Ein weiterer Verräter. Torsuk gehörte dem Zirkel von Vedeti an, der die Kräuterkräfte erforscht. Als eine Druidin eine vielversprechende Mischung zur raschen Heilung entwickelte, tötete er sie und die gesamte Gruppe von Mitwissern, um sich mit Borkon abzusetzen.«

»Dann ist es keine Magie?«, fragte Baëndala verdutzt.

»Nein. Die reine Wirkung der Kräuter hilft dem Leib beim Heilen. Ihr werdet die herkömmlichen Tinkturen, Aufgüsse und derlei gegen Beschwerden oder zum rascheren Genesen und Stärken kennen. Torsuk ist auf dem besten Wege, die körperliche Heilungskraft mit dem Sud derart zu beschleunigen, dass man ein solches Wesen kaum zu Boden bringen kann.« Rhoshkor sah sie besorgt an. »Oder deren Kinder. Die Heilungskraft durch den Trank wird vererbt.«

Baëndala verstand. Borkon und sämtliche Bestien, die auf das Mittel ansprachen, würden sich fortpflanzen und die Gabe weitergeben. Gegen ein solches Heer gewann man allenfalls mit guter Planung, viel Feuer und alles zermalmenden Geschossen. Wir werden brennende Mühlsteine verschießen.

»Das sind keine guten Nachrichten«, fasste sie zusammen. »Vorausgesetzt, es ist wahr, was du sprichst.«

Rhoshkor zuckte mit den überbreiten Schultern, auf denen das Gewicht von Rüstung samt Wehrgehänge lag. »Welchen Grund hätte ich für eine Lüge?«

»Damit ich dich auf dem kürzesten Weg aus dem Blauen Gebirge führe und du mit deiner unsterblichen Armee über das Geborgene Land herfällst. Weil du Borkons Verbündeter bist, der zu spät kommt«, eröffnete sie mit einem Grinsen. »Das ist eine Variante. Es gäbe zig weitere Lügen, die ich einem Ork zutraue.«

Wieder kamen die gravierten Silbereckzähne zwischen den weiß geschminkten Lippen zum Vorschein. »Unsere Völker stehen sich wahrlich nicht als Freunde und mit Vertrauen gegenüber.« Er zeigte auf seine Schar. »Wir sind gut hundert Kriegerinnen und Krieger. Lass dir gesagt sein: Keiner von uns ist unsterblich. Diese Krautmischung ist Torsuk bekannt, aber nicht vollständig zu Ende gebracht, wie uns der Zirkel von Vedeti versicherte. Sie haben die Überreste des letzten Aufgusses untersucht, den die Druidin vor ihrem Tod angefertigt hat. Torsuk hat sie in seiner Gier zu früh getötet. So kommt es, dass der Trank nicht immer wirkt. Habe ich recht?«

Baëndala erinnerte sich an Barbandors Bericht von seiner Gefangenschaft. »Es schlug mindestens einmal fehl.«

»Das wird es noch öfter. Die bisherigen Erfolge waren reine Glücksfälle.« Rhoshkor atmete mit einem Grollen aus. »Es ist ein gewagtes Spiel, das Borkon mit seinen Verbündeten treibt.«

»Sie folgen ihm dennoch. Sämtliche Orks des Geborgenen Landes folgen ihm. Es sind Tausende, wenn er sie zu den Waffen ruft.« Sie berichtete Rhoshkor, wie sich Borkon bislang verhielt und welche Abmachungen es mit ihm gab. Dabei achtete sie sehr genau auf seinen Gesichtsausdruck. Er scheint es ehrlich zu meinen. »Zur Absicherung übergab er Geiseln.«

»Tausende Klingen! Das sind jene, die wir gegen die Blutgrollorks gut hätten gebrauchen können. Und jetzt stell dir vor, was passiert, wenn dieses Heer so gut wie kaum umzubringen ist.« Rhoshkor spuckte erneut voller Verachtung aus, die Bronzeringe in Nase und an den Ohrmuscheln klirrten leise. »Die Geiseln sind nichts wert, weil Borkons Wort nichts wert ist. Er wird sie opfern, wenn er muss. Ein neuer Sohn ist schnell gezeugt. Für ihn spielt es keine Rolle, ob er einen ersten oder einen fünften oder zwanzigsten hat.«

Baëndala war sich inzwischen sehr sicher, dass Rhoshkor sie nicht anlog. Die Mimik, der Tonfall, die Körperhaltung unterstrichen jedes Wort des Hasses und der Wut auf Borkon. Doch wer traut schon einem Ork?

»Du überlegst, wie weit du meinen Erzählungen vertrauen kannst«, erriet er ihre Gedanken. »Das verstehe ich. Die Aufzeichnungen über das Verhältnis zwischen Unterirdischen und meinem Volk sind eindeutig.«

»Selbst wenn ich dir glaube, wird es Hunderte andere Zwerginnen und Zwerge geben, die deine Ehrlichkeit anzweifeln«, gestand Baëndala. »Du bist eine Bes… ein Ork. Wie Borkon und seine grauhäutigen Begleiter.«

»Die Amekh Grár werden sich bald wandeln.« Rhoshkor strich sich mit den gepanzerten Fingern über seine nachtblaue Gesichtshaut. »Wir durchlaufen verschiedene Entwicklungen im Laufe unseres Lebens. Das, was du vor dir siehst, sind Amekh Modrá. Wir stehen über allen anderen. Doch dazu berichte ich dir mehr, wenn wir gegenseitiges Vertrauen fanden. Übrigens, in den Reihen meiner Truppe gibt es nicht wenige, die an der Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit eines Kurzbei… Zwergs zweifeln.« Er zwinkerte der Zwergin zu. »Denke nicht, dass wir nicht Namen für euch hätten, die den Begriffen Bestie, Ungeheuer oder Scheusal in irgendeiner Form nachstünden. Wir sind grandiose Beleidiger.«

Baëndala musste lachen und sich sogleich mahnen, was und wem sie gegenüberstand. »Der Feind meines Feindes –«

»Ist ein Verbündeter. Vielleicht werden wir sogar Freunde, wer weiß?«, sagte Rhoshkor. »Sobald Borkon gefallen ist, werden eure Orks uns folgen, wie es ihnen die Schriften von Nushrok dem Reißer befehlen. Wir führen sie ins Jenseitige Land, um die Fehde mit ihrer Hilfe zu beenden. Ihr seid sie damit für alle Zeiten los. Das ist mein Angebot an dich und an das gesamte Geborgene Land.«

»Ein Pakt. Gut. Was erwartet ihr im Gegenzug von uns?« Baëndala vergewisserte sich mit einem schnellen Blick, dass niemand aus ihrer Truppe auf den Gedanken kam, aus Übermut einen Schuss abzugeben. Die Unterredung dauerte bereits recht lange.

»Nichts. Außer dass ihr uns nicht angreift und im Kampf gegen Borkon an unserer Seite steht. Es ist in eurem Interesse, dass er stirbt. Bedenkt dies.« Rhoshkor langte langsam in seine große Gürteltasche und nahm ein Säckchen hervor, das einen würzig-kräuterigen Duft verströmte. »Das lege ich als Gabe obendrauf, sobald wir eine feste Abmachung haben.«

»Was ist das?«

»Die belebende Heilkräutermischung, nachvollzogen aus dem letzten Aufguss der ermordeten Druidin.« Er warf das Beutelchen einmal hoch und fing es, der Inhalt raschelte leise. »Es ist für mein Volk gemacht. Doch eure Alchemisten und Heilkundigen können die Zusammensetzung bestimmt erforschen und sie für eure Körper anpassen.« Rhoshkor steckte das Behältnis zurück in seine Tasche. »Gerade ihr Zwerge als Wächter des Geborgenen Landes werdet viele Schlachten an den Toren schlagen müssen. Habe ich recht?«

Wohl wahr. Und wir sind nicht besonders viele Kinder des Schmieds. Baëndala zog in Betracht, dass es sich bei den getrockneten Kräutern um ein langsam wirkendes Gift handelte. Um uns zu töten.

Oder aber Rhoshkor sagte die Wahrheit. Von Anfang an.

Es mussten Entscheidungen von immenser Tragweite gefällt werden. Ich kenne jemanden, der das tun sollte. Baëndala sah Rhoshkor an. »Ich bringe dich zu meiner Königin. Ihr musst du alles genau so berichten wie mir. Danach entscheidet sie, wie es weitergehen wird.«

Rhoshkor deutete eine Verbeugung an. Selbst diese wirkte ehrlich.

***
Das Geborgene Land, Vereintes Großkönigreich Gauragon, Provinz Feyrnland, nahe den Ruinen von Kràg Tahuum, 1024 n.B. (7515. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Spätsommer

Silbalyn taumelte voran, während die letzte Brücke nach Kràg Tahuum unter ihren Füßen Stück für Stück zerbrach. Die Beben entstanden unmittelbar unter ihr in der Erde. Das Wesen, von dem Hantu gesprochen hatte, unternahm einen weiteren Versuch, sich aus der Tiefe zu graben.

Ein riesiges Steinelement löste sich vor der Zwergin mit den butterblumengelben Haaren aus dem Verbund und rauschte in die Tiefe. Gerade noch gelang ihr ein rascher Sprung über die Lücke, beim Aufkommen hörte Silbalyn das Knistern der Platten und sah die entstehenden Risse unter ihren Sohlen. Keuchend hüpfte sie auf das brusthohe Seitengeländer, balancierte auf dem bebenden Untergrund und rettete sich mit einem riesigen Satz auf den festen Boden jenseits der Brücke.

Krachend zerfiel der Überweg hinter ihr, während die Zwergin sich nach vorne warf, weg von der Kante. Mit dem Langstielbeil hakte sie sich im Boden fest.

Schwer atmend wandte sie sich noch im Liegen um und spähte hustend durch die Wolken aus Staub zu den Ruinen. Wo sind Vraccimbur und Psalí?

Der einsetzende Nieselregen klärte die Luft vom wabernden Steinmehl und gab den Blick auf die Überreste der zerstörten Orkfeste frei.

Davor standen der Schaukämpfer und die Puppenspielerin. Sie hielten die Blicke auf die Zwergin gerichtet, der breite Graben hinderte sie an einer Verfolgung.

Silbalyn stemmte sich ächzend auf die Beine und zog das Beil aus der Erde. Sie gelangen nicht hinüber! Dies verschaffte ihr einen Vorsprung, um das Geborgene Land von Hantus Geständnis und Goldhands Tat zu unterrichten. Noch stand nicht fest, dass der greise Zwerg mit Hantu beim Sturz in den Schacht gestorben war. Die junge Zwergin klammerte sich an das Fünkchen Hoffnung, den legendären Helden lebend wiederzusehen. Aber dazu bedarf es Hilfe. So schnell es ging.

Im besten Fall waren die beiden Besessenen in den Trümmern von Kràg Tahuum gestrandet wie Schiffbrüchige auf einer Insel. Sämtliche Zugänge waren abgebrochen. Sie können allenfalls an der Wand hinabklettern und auf der anderen Seite des Grabens hinauf. Silbalyn gab sich nicht der Illusion hin, dass die Sphärenwesen untätig blieben. Müssen sie jetzt in den Körpern von Vraccimbur und Psalí bleiben, oder können sie jederzeit ausfahren und in ihre Welt verschwinden?

Silbalyn vermochte kaum, ihre Gedanken zu ordnen und zu entscheiden, was genau zu tun war. Weg von hier! Das ist das Wichtigste! Sie wandte sich um und rannte durch den kühlenden Nieselregen zur Kutsche, deren Umriss sie etliche Schritte entfernt sah; die Lichter der Lampen am Bock lockten und versprachen Sicherheit.

Während sie auf das Gefährt zueilte, traf sie unvermittelt ein heller Schein in den Rücken.

Bei einem Blick nach hinten sah sie Vraccimbur, der eine leuchtende Blendlaterne hielt und den gebündelten Strahl auf sie richtete. Psalí wiederum nutzte ihre Hände, um vor dem Licht eine Gestalt zu Formen.

Nein! Nein, bei Vraccas! Silbalyn ahnte, was geschehen würde.

Der Schatten einer geradewegs ersonnenen Bestie, halb Echse, halb Troll, erwachte neben ihr zum Leben und wuchs in die Höhe.

Mit schauerlichem Gebrüll schnappte das Umrisswesen nach der Zwergin, die sich durch ein reflexartiges Wegducken vor den zusammenschlagenden Kiefern rettete. Es klackte laut und feucht, obwohl das Biest nichts weiter als zum Leben erweckte Dunkelheit war.

Ich muss raus aus dem Licht, begriff Silbalyn. Solange sie sich im Kegel aufhielt, blieb sie in Reichweite von Psalís gefährlicher Macht, die ihr das Sphärenwesen verlieh.

Dummerweise gab es keinen anderen Weg zum wartenden Gefährt.

Die beiden Kutscher hatten das wie aus dem Nichts entstandene Wesen bemerkt und machten die Armbrüste schussbereit. Sie feuerten die Zwergin an, sich zu beeilen. Laut wiehernd stiegen die Pferde im Geschirr auf die Hinterbeine. Sie hörten das Grollen und Fauchen des Ungetüms und wollten weg.

Nicht anders erging es Silbalyn.

Vraccas, ich muss entkommen! Wie ein Hase auf der Flucht vor einem wütenden Bären sprang und rollte sie sich über die Schulter ab. Pranken, Zähne und Stampfer verfehlten sie um Haaresbreite, schrammten über die Rüstung, hinterließen ratschend Schlitze in der Kleidung. Niemand außer mir kann berichten, was sich zugetragen hat.

»Rasch, zum hinteren Tritt«, rief ihr ein Kutscher zu und schoss auf die heranjagende Schattenkreatur, die höher als das Gefährt aufragte. »Auf die Gepäcksteige. Wo ist Goldhand?«

Silbalyn konnte nichts erwidern, die Anstrengung ließ sie schnaufen. Mühsam sog sie die Luft ein, der Schweiß rann ihr über die Stirn und durchweichte ihre Kleidung. Jeder Muskel im Körper revoltierte gegen die Anstrengung.

»Vorwärts«, keuchte sie und warf das Langstielbeil, das mit der Klinge in die hintere Wand der Kabine einschlug und stecken blieb. Dann sprang sie halb am hinteren Aufbau hinauf und hielt sich an der Gepäckreling fest, um sich an einem Lederriemen in die Höhe zu ziehen.

Gleichzeitig löste der zweite Kutscher die Bremsen, und die Pferde zogen kraftvoll an. Die Männer begriffen, dass Goldhand verloren war.

Der spürbare Ruck ließ Silbalyns zweite Hand ins Leere greifen. Nur mit fünf Fingern und einem Fuß fand sie Halt, durch Schaukeln und Wippen der Kutsche vom Sturz bedroht. Ich schaffe es nicht. »Hilf mir hoch«, bat sie den Mann über sich. »Und raus aus dem Licht! Nur dann sind wir vor der Bestie sicher!«

Stattdessen hob er die Armbrust und schoss ein weiteres Mal auf das Ungeheuer.

Der Bolzen surrte in die fleischgewordene Dunkelheit, was das Schattenscheusal zum Aufgrollen brachte. Das Geschoss steckte in der Kreatur, ohne sie aufzuhalten.

»Das bringt nichts«, kommentierte der Kutscher den Treffer und beugte sich vom Dach hinab, um der Zwergin die Hand zu reichen. »Die Bolzen stecken wie ein Löffel in Pudding.«

»Ich sagte doch, wir müssen raus aus –«

Eine Schattenpranke fegte knapp über ihren Kopf hinweg. Die langen Krallen schlugen einen Teil des Dachs und Gepäcks ebenso davon wie den Mann, trennten ihm dabei den Arm und den halben Kopf ab. Warmes Blut sprühte auf Silbalyn nieder, bevor der Leichnam seitlich von der Kutsche fiel und auf der Straße aufschlug.

Das Gefährt hopste und sprang wild durch den Einschlag. Es begann zu schlingern und musste vom laut fluchenden Kutscher durch hastige Manöver vorm Umfallen bewahrt werden.

Das wiederum brachte Silbalyn in arge Bedrängnis.

Wie ein Windspiel in einer Böe flog sie am beschädigten Heck der Kutsche auf und nieder, hielt sich gerade noch mit der zweiten Hand am Stiel ihres Beiles fest. »Raus aus dem Laternenstrahl!«, schrie sie aus voller Lunge und zog sich endlich durch das Loch in die Kabine. Der einströmende Fahrtwind zerrte und riss an den Vorhängen, alles Lose wurde durch die zerstörten Scheiben und die klaffende Öffnung hinausgeblasen. »Die Bestie ist nur durch das Licht möglich!«

Der nächste Prankenhieb erfolgte von oben nach unten und riss weitere Teile des Dachaufbaus samt Koffer sowie die hintere Sitzbank heraus. Nur eine Handbreit gingen die stahlharten Krallen an der Hinterachse vorbei. Sonst wäre die Fahrt zu Ende gewesen.

Wie unsere Leben. Silbalyn sprang vom Loch weg und starrte zu dem Angreifer hinaus.

Das Geschöpf aus Schatten, erschaffen von den fliegenden Händen der Puppenspielerin, brüllte erneut. Es machte lange Ausfallschritte, nahm Schwung auf, um sich von der Erde abzudrücken und in einem hohen Bogen raubvogelgleich auf die Kutsche niederzufahren. Dabei reckte es Krallen und Klauen nach vorne.

Wenn es uns trifft, vergehen wir in einem Splitterhagel. »Nach rechts! Sofort!«, brüllte sie und klammerte sich an der leeren Fensteröffnung der Seitentür fest. »Nach rechts!«

Der Fahrer riss die Pferde herum und betätigte dabei die Bremse für einen engeren Wendekreis. Fast im rechten Winkel rutschten die Räder in die Kurve, die Speichen knackten, und die Federung brach mit einem lauten Knall.

Dicht hinter dem Heck ging das Wesen nieder und riss mit seinen Krallen und Klauen die Erde tiefer auf als ein Schwerpflug. Es brüllte seine Wut und Enttäuschung heraus – und musste doch im Lichtstrahl bleiben.

Das Gefährt war in die Dunkelheit eines kleinen Weges abgebogen, die Laternen warfen hektisches Licht in die Nacht vor ihnen.

»Haben wir es abgeschüttelt?«, rief der Kutscher nach hinten.

Silbalyn saß halb auf der Lederbank und halb auf dem Fußboden, ihr Körper wurde durch die Schläge des Gefährts durchgeschüttelt. Ihre Blicke blieben auf das Ungeheuer gerichtet, das ihnen nachschrie, bis das Licht erlosch und das Gebrüll abrupt endete.

»Ja«, gab sie erleichtert zurück. »Es ist weg.«

»Wo ist Jepho?«

»Er hat es nicht geschafft. Das Schattenungeheuer hat ihn erwischt.« Silbalyn richtete sich auf und tastete sich nach Wunden ab. Bis auf einige oberflächliche Schrammen und Kratzer war sie heil davongekommen. Die Schlitze im Kettenhemd verdeutlichten ihr großes Glück.

»Was bei den Göttern war das?« Der Kutscher sah erst durch das gerissene Loch zu ihr und danach auf den Weg hinter ihnen. »Haben wir es wirklich abgeschüttelt?«

»Ja.« Silbalyn haspelte etwas von Geistern in den Ruinen und dass Goldhand ihnen zum Opfer gefallen sei. Sie konnte dem Mann nicht von Hantu, Psalí und Vraccimbur berichten. Erst müssen andere die Wahrheit erfahren, bevor es der Rest des Geborgenen Landes tut.

»Was tun wir jetzt?«, stellte der Kutscher die Frage, auf welche die Zwergin selbst keine Antwort gefunden hatte. »Beim nächsten Schlagloch wird das Gefährt auseinanderbrechen. Ein Wunder, dass es überhaupt noch hält.«

»Wohin führt der Weg?«, erkundigte sie sich, um Zeit zu gewinnen.

»Keine Ahnung. Er ist schmal, wir passen gerade so drauf. Es kann nur eine kleine Siedlung sein, in der wir landen«, antwortete er. »Oder es ist eine Abkürzung zwischen zwei größeren Straßen.«

Silbalyns Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Erst der Tod einer Legende, danach war sie knapp ihrem eigenen Ende entgangen, und jetzt sollte sie entscheiden, wohin sie den Sack voller schlechter Nachrichten brachte. Wir bräuchten wahrlich einen Großkönig. Dann wüsste ich, wohin ich reise.

Laut knackte es, als ein Stück der rechten Seitenwand aus den Zargen riss. Wie angekündigt zerfiel die Kabine beim nächsten Schlagloch, durch das die Räder rollten. Somit blieb nichts weiter als die Vorderseite mit dem Bock, der Boden und die letzte Lederbank, auf der die Zwergin saß.

»Weit kommen wir nicht mehr«, rief der Kutscher. »Wir sollten anhalten und auf den Pferden reiten.«

Silbalyn nickte ihre Zustimmung, und das Gefährt kam langsam zum Stehen.

Der düstere Tann um sie rauschte im Wind, Äste und Zweige rieben quietschend aneinander. Mal knackte es hier, dann raschelte es dort.

Sie stiegen ab und machten sich daran, die Pferde im Licht der verbliebenen zwei Laternen aus den Geschirren zu befreien. Die Handgriffe geschahen schnell und routiniert, und doch bebten die Hände des Mannes; die Pferde schnaubten furchtsam.

Silbalyn mochte Reiten nicht besonders, schon gar nicht ohne Sattel. Doch sie war froh, als sie schließlich auf dem Rücken des Hengstes saß und ihren Weg fortsetzte. Die abmontierten Laternen leuchteten Zwergin und Kutscher den Weg.

»Du kehrst nach Malleniaswacht zurück. Und redest mit niemandem darüber, was geschehen ist«, bat Silbalyn unterwegs. »Ich schreibe dir in der nächsten Unterkunft einen Brief wegen des Verlusts der Kutsche und deines Freundes. Gibt ihn deinem Dienstherrn. Alles andere kläre ich, wenn ich in der Stadt eintreffe.«

»Aber –«, setzte der Kutscher an.

»Kein Wort zu niemandem. Verweise auf mich und sag etwas von einer geheimen Mission, auf der ich und Goldhand wären«, sagte Silbalyn. »Geh mit meinem Brief zu Meister Tugendstein. Er wird alles Weitere unternehmen.«

Der Kutscher versprach es.

Wohin Silbalyn reisen wollte, verschwieg sie. Gänzlich gelogen war die Ausrede mit der geheimen Mission nicht. Auch wenn es um das Schicksal des Geborgenen Landes ging, waren die Geschehnisse vornehmlich eine zwergische Angelegenheit. Also sollte zuerst ihr Volk davon erfahren. Danach entscheiden andere über das weitere Vorgehen.

***
Das Geborgene Land, Schwarzes Gebirge, Westseite des Reichs der Dritten, 1024 n.B. (7515. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Frühherbst

Goïmron näherte sich geschwächt und ausgehungert auf einem braun-weißen Scheckenpony dem großen westlichen Doppeltor, das in das Reich der Dritten führte. Abweisend und aus dunklem Granit erschaffen, stemmte sich der erste Wall mit dreißig Schritt Höhe und vielen Türmen jedem Reisenden entgegen, der ohne triftigen Grund oder eine Einladung in das Schwarze Gebirge wollte. Keine halbe Meile mehr.

Die Zwerge vom Stamm der Dritten hatten die Verteidigungsanlagen in einer Form errichtet, die unmissverständlich deutlich machte, dass sie auf Angriffe aus dem Geborgenen Land ebenso vorbereitet waren wie auf Attacken von außerhalb. Hinter den Zinnen und auf den Wehrgängen wartete zu jeder Zeit ein todbringendes Arsenal an Schleudern und Katapulten. Über den Türmen wehten die Banner von Lorimburs Erben und auch das königliche Wappen.

Gata ist anwesend! Sehr gut. Das Pony, das Goïmron unterwegs erstanden hatte, schnaubte glücklich, als es den Eingang sah, der Wasser, Hafer und einen warmen Stall versprach. Ich verstehe dich zu gut. »Gleich geschafft«, sagte er und streichelte den struppigen Kopf.

Schon vor Umläufen hatte Goïmron eine Botentaube mit einer Nachricht ins Schwarze Gebirge geschickt, damit Gata Bescheid wusste und ihn am Tor empfing. Er wollte keine Zeit verlieren, indem er nach seiner Ankunft erst durch die endlosen Gänge, Tunnel und Stollen bis an den Hof in der Mitte des Schwarzen Gebirges reisen musste. Jeder Umlauf war wichtig, um Rodana zu retten. So hoffte er, dass etwas zu essen, frische Kleidung und Ausrüstung bereitstanden, damit sie alsbald aufbrechen konnten. Am besten morgen schon.

Kaum erreichte Goïmron das geschlossene Doppelportal, wurde von einer der Wachen in den schwarzen Vollrüstungen im Torhaus ein Hornsignal gegeben. Man hatte ihn trotz seines abgekämpften Zustandes erkannt.

Fast geräuschlos öffneten sich die zehn Schritt hohen Torflügel aus massivem Stahl. Die Vorderseiten zeigten jeweils einen Zwergenkrieger und eine -kriegerin, die ihre Waffen drohend reckten, umgeben von erschlagenen Feinden. Albae, Menschen, Orks, Zwerge lagen zerschmettert zu ihren Füßen. Die Runen am Rand warnten vor bösen Absichten, die man mit dem Tode bezahlen müsse.

Noch ehe das Scheckenpony einen Huf in den Vorhof gesetzt hatte, eilten Gata, Brûgar und Belîngor heran, gekleidet in die übliche Rüstung der Dritten aus Harnisch und rockähnlichem Untergewand. Ihre Gesichter waren sorgenverhangen und wurden noch düsterer, als sie den geschwächten Zustand des Gastes erkannten.

»Steig sofort ab!«, rief Gata im Näherkommen und zog den Kronenreif von ihren schwarz gefärbten Haaren. »Du brauchst etwas zur Stärkung, sonst fällst du mir vor Schwäche auseinander.« Sie reichte die Insignie an eine verdutzte Wache. »Nimm das. Es ist mir im Weg.«

»Bei Vraccas! Noch nie sah ich so einen schwächlichen Vierten«, stieß der glatzköpfige Brûgar aus und bekam einen Rempler von Belîngor. »Was denn? Wenn es doch stimmt? Ich stopfe ihm gleich ein Aufbaupfeifchen mit Buttertabak!«

Goïmron glitt aus dem Sattel und hielt sich mit Mühe auf den Beinen. Er hatte unterwegs das Essen vernachlässigt, jeder Muskel war überbeansprucht. Es war bei seiner Reise um Geschwindigkeit gegangen, nicht um sein Wohlergehen. »Habt ihr meine Nachricht bekommen?«, fragte er und fiel Gata regelrecht in die Arme. »Es tut so gut, euch alle zu sehen!«

»Haben wir.« Sie drückte ihn behutsam zur Begrüßung. »Die Taube traf bereits vor sieben Umläufen ein.«

»Das lief ja trollbeschissen für dich und die Puppenspielerin«, befand Brûgar und klopfte Goïmron sachte auf die Schulter, der dunkelhaarige Belîngor nahm die andere. »Wir stehen dir natürlich gegen Darislaff … Hantu … wie auch immer er sich nennt, bei!«

Goïmron rang mit den Tränen. Erleichterung, Erschöpfung, Sorge und Freude mischten sich zu einem wüsten Durcheinander. »Dann muss ich nicht mehr erklären, was geschehen ist«, sagte er mit einem dicken Kloß im Hals. »Gönnt mir einen Umlauf Rast, und dann –«

»Doch. Musst du. Jede Einzelheit. Damit wir wissen, woran wir bei Hantu sind.« Gata hakte sich bei ihm ein und stützte ihn, während sie in das Wachgebäude zu ihrer Rechten gingen. »Außerdem benötigst du mehr als einen Umlauf Erholung. Regelrecht abgemagert bist du.« Im Inneren erwartete sie ein großzügiges Mahl mit Suppe, Brot, verschiedenen Gemüsen und Fleisch, manches davon überbacken mit würzigem Käse. Auch Süßigkeiten fehlten nicht. »Stärke dich. Sobald dir danach ist, erzählst du uns vom Zusammentreffen mit dem Rhamak.«

»Jede kleine Kleinigkeit. Damit wir seine Schwächen kennen, wenn wir ihm den Kopf einschlagen«, sagte Brûgar, der seinen Spitzbart erkennbar frisch blau gefärbt hatte, und nahm eine Pfeife aus seiner Tasche heraus, um sie zu stopfen.

Belîngor füllte Goïmron mit einem freundlichen Lächeln den Teller und reichte ihm einen belebenden heißen Kräutertrank, der die Lebensgeister weckte und die Konzentration ankurbelte.

Es war Goïmron einerlei, dass Schmutz und Staub der Straße an ihm hafteten, dass er nach Pony und Schweiß roch. Essen, Trinken und Pläne zur Rettung von Rodana schmieden hatten Vorrang. »Danke«, brachte er heraus und nahm einige Bissen, die er mit Tee hinabspülte. »Ich weiß gar nicht, wie ich das Ganze jemals wiedergutmachen kann.«

»Gutmachen?« Gata hob empört die hellen Augenbrauen. »Ich bitte dich! Wir alle wollen die Puppenspielerin aus den Klauen des Seelenrufers befreien.«

»Und Hantu den Kopf abschneiden. Erwähnte ich das schon?« Brûgar hatte die Pfeife fertig gestopft und schob sie Goïmron hin. »Buttertabak. Der stärkt von innen.« Danach wählte er eine zweite Pfeife mit größerem Kopf aus und schnupperte an einem hellen Kraut, das er aus seiner immensen Auswahl in der Gürteltasche zog. »Das wird ein Nachdenkpfeifchen. Gleich bin ich mit schnellstem Verstand dabei.«

Der dunkelbärtige Belîngor achtete mütterlich darauf, dass der Vierte genug aß und trank, bevor das Erzählen begann.

Zwischendurch brachte die Wache Gata den Kronenreif zurück; sie legte ihn achtlos zur Seite. Ihre Sorge galt in diesem Augenblick nicht den Dritten.

Erst als der Tee in Goïmron wirkte und er sich aufgeweckter fühlte, begann er mit der Schilderung, wie er und Rodana auf Hantu in Gestalt von Darislaff und dem besessenen Vraccimbur getroffen waren. Und wie dramatisch die Begegnung geendet hatte.

Gata, Brûgar und Belîngor hörten aufmerksam zu, Letzterer fertigte einige Notizen an. Der dünne, eiserne Federkiel kratzte über das Papier und hielt das Geschehen in Stichpunkten fest.

»Bei Lorimbur und Vraccas! Das war mal ein Abenteuer«, fasste Gata nach dem letzten Wort des Berichts zusammen. »Damit hat Mostro einen überstarken Krieger und eine Schattenspielerin mit tödlicher Kunst an seiner Seite.«

»Die seine Befehle dank Hantus Macht ohne eine Nachfrage ausführen werden«, fügte Brûgar hinzu und schmauchte an seinem Nachdenkpfeifchen. Die blaugrauen Wolken waberten aus Mund und Nase, wie um seinem Spitznamen kleiner Kamin alle Ehre zu machen. »Was hat der Stabfuchtler mit den beiden vor? Eine Rückabsicherung, weil ihm das Gebiet der Wunder zusammengebrochen ist und er ohne ein eigenes Reich dasteht? Oder will er einen neuerlichen Angriff gegen Rhuta führen?«

»Das wird uns Mostro selbst erklären. Wir bringen ihn zum Reden.« Gata sah in die Runde und rieb nebenbei über die Brosche am Kragen ihres Untergewands. »Sobald uns ein Weg eingefallen ist, mit einem zaubernden Famulus und seinen tödlichen Handlangern fertigzuwerden.«

»Ohne Rodana umzubringen«, merkte Goïmron sogleich an. »Und Vraccimbur natürlich auch nicht«, schob er mit Verzögerung nach.

Brûgar musste leise lachen, und kleine Rauchkringel hopsten über seine Lippen.

Belîngor hob die Hand, um auf sich aufmerksam zu machen. »Ist es gewiss, dass Hantu in Mostros Auftrag handelte?«, fragte er in Zeichensprache. »Das ist entscheidend für unser Vorgehen. Am Ende hat er Mostro verraten. Das würde den Magus zu einem Verbündeten machen, auch wenn ihn niemand leiden kann.«

»Ich weiß nicht«, grummelte Brûgar und rieb sich über die tätowierte Glatze. »Er trägt sein Haar in Wellen. Dem Bürschchen kann man nicht trauen.«

»Wir müssen nehmen, was wir kriegen können.« Gata sah Goïmron an. »Entsinne dich: Was genau sagte Hantu, als er euch überfiel und Rodana mithilfe des Sphärenwesens unter seinen Bann zwang?«

Langsam nippte der Vierte am Kräutertee. Weder war ihm nach Bier noch nach etwas anderem, das Alkohol enthielt. Sein Magen schmerzte leicht von der ungewohnten Menge Essen, die er in sich geschaufelt hatte. Nachdenklich rieb er über den schlichten Ring an seinem linken Finger, in dessen Fassung ein prächtiger Rubin mit violetter Färbung saß. Er hatte es nicht gewagt, dessen Energie abzurufen und einen Angriff zu initiieren. Um Rodana nicht aus Versehen zu verletzen. Die Vorstellung, mit Offensivmagie zu agieren, widerstrebte ihm zutiefst, auch wenn der Edelstein gegen dämonische Kräfte und böse Geister wirkte, die sich vor den Strahlen fürchteten. Der Einsatz konnte tödlich für die besessene Puppenspielerin enden. Nicht umsonst hatte er der Zauberei abgeschworen.

Goïmron seufzte und rief sich den schrecklichen Umlauf in Erinnerung. »Hantu sagte, er habe andere Pläne. Er meinte, Rodana käme ihm bei seinen Vorhaben sehr gelegen«, sprach er schleppend. »Jetzt habe er einen künftigen Großkönig im Gefolge und eine Geschichtenweberin.«

»Was will er mit ihr?«, setzte Gata nach.

»Sie soll zu seinen Gunsten Geschichten erfinden und unters Volk bringen. Um seine …« Goïmron überlegte. »Um seine Großmut und Weisheit zu verbreiten. Und er sprach von einer Sammlung. Er wird sich noch mehr Mitstreiter suchen.«

»Also doch! Es ist allein Hantus Werk. Er ging dem Stabfuchtler von der Leine!«, rief Brûgar aufgeregt. »Damit können wir den Famulus auf unsere Seite ziehen.«

»Das ist nicht gewiss. Außerdem ist Mostro seit dem Angriff auf Rhuta bei vielen Leuten im Geborgenen Land verhasst. Es ist kein Geheimnis, dass er sich an der Kunst der Seelenruferei versuchte«, gab Belîngor zu bedenken. »Mit fatalen Auswirkungen.«

»Umso wichtiger wird er!«, bekräftigte Brûgar. »Er kann uns helfen, die Sphärenwesen aus Rodana und Vraccimbur zu treiben, falls wir Hantu vorher töten müssen.«

Goïmron sah den Blick der Besessenen vor sich. Gefühllos und kalt, mit dem opalisierenden Farbenspiel um die Pupille. Schaudernd nahm er die Pfeife mit dem Buttertabak, Brûgar hielt einen brennenden Span daran und entzündete sie. Beim ersten Paffen entwickelte sich das satte Aroma. Nachtisch in Rauchform. »Wir dürfen uns keine Zeit lassen. Diese Geisterwesen zerstören die Leiber der beiden durch ihre Anwesenheit. Sie verschleißen und verbrauchen die Körper.«

Gata goss sich Tee ein. »Uns stellen sich viele Fragen. Was hat Hantu vor? Das Geborgene Land beherrschen? Ist er bei den Berengarts auf den Geschmack der Macht gekommen?«

»Wieso hat er diese Gelegenheit dann nicht früher ergriffen?«, hielt Brûgar dagegen und stopfte seine Pfeife nach.

»Ich weiß! Er hat auf den Zusammenbruch des Gebiets der Wunder gewartet«, sagte Belîngor. »Damit wurde Mostro geschwächt und bekam nach seiner Niederlage in Rhuta zu viele Probleme, als dass er sich um Hantu kümmern könnte.«

»Also lauerte er auf diesen Alleingang seit dem Umlauf, an dem Brigantia unterging. Er täuschte Mostro und spielte ihm den willigen Diener und Lehrer vor. Demnach sind Rodana und Vraccimbur Opfer einer günstigen Gelegenheit geworden«, fasste Gata ihre Überlegungen zusammen. »Ein unglücklicher Zufall. Mehr nicht.«

»Wisst ihr, wo wir Mostro finden?« Goïmron streckte seinen schmerzenden Rücken. Er spürte die Müdigkeit in seinen Verstand heraufziehen. Das gute Essen, der warme Tee, der Buttertabak legten eine behagliche Decke um ihn. »Wir müssen uns sogleich mit ihm treffen.«

Die Zwergin und die Zwerge schüttelten den Kopf.

»Man hat ihn auf der Straße nach Süden gesehen. Gerüchteweise schlich er sich unter einem falschen Namen nach Enaiko. Aber Genaues weiß man nicht«, antwortete Brûgar und paffte rasch, damit die Glut nicht erlosch.

Enaiko. Das ergibt Sinn. In der Stadt des Wissens waren viele Aufzeichnungen, magische Schriften und Abhandlungen rund um die Erforschung von Zauberei versammelt. »Er ist verzweifelt und sucht nach neuen Ansätzen, um die Zeit bis zur Entstehung des neuen Gebiets der Wunder zu überbrücken«, sinnierte Goïmron vor sich hin. Mostro kannte sich in den Bibliotheken aus, weil ihn Vanéra dort hatte studieren lassen. »Dann sollten wir nach Enaiko und ihn suchen. Wir lassen sein Konterfei überall anschlagen und die Stadttore sperren«, sagte er nuschelnd. Die Müdigkeit machte nicht nur seine Lider schwer und schwerer. »Lasst uns gleich –«

»Nein, mein lieber Freund.« Gata legte eine Hand auf seine Schulter. »Du wirst mindestens sechs, sieben Umläufe damit verbringen, dich zu erholen.«

»Aber –«

»Schaffst du es, dich von deinem Stuhl zu erheben, bist du stark genug«, schlug Gata vor und rief damit ein leises Lachen von Brûgar und Belîngor hervor.

Goïmron wusste, dass ihn die Zwergin auch in einem weniger angeschlagenen Zustand mit einer Hand auf dem Stuhl halten konnte, und versuchte es nicht einmal. Ich bin wirklich geschwächt. Seufzend ergab er sich in sein Schicksal. »Gut. Ich ruhe mich aus. Aber danach geht es mit der Schienenkutsche nach Enaiko.«

»Ich lasse Vorbereitungen treffen und sende einen Boten ins Blaue Gebirge, damit die Zweiten Bescheid wissen. Immerhin war es einst ihre Stadt. Sie sollen die Augen für uns offen halten«, sagte Gata wohlwollend. »Nichts bleibt unversucht, Goïmron. Wir spüren Mostro in Enaiko auf.«

»Was tun wir, wenn er uns entwischt?«, warf Belîngor in Gestensprache ein. »Er könnte zwischenzeitlich abgereist sein und sein Äußeres verändert haben. Magisch oder mit einer guten Maskerade.« Er nahm sich ein kleines Stück Rinderbraten. »Und wie finden wir Hantu mit seiner unfreiwilligen Gefolgschaft?«

»Schade, dass die Bluthunde ihre Spur nicht mehr aufnehmen können«, sagte Brûgar. »Bis wir in diesem Hain sind, ist die Fährte schon zu alt.«

Gata zuckte zusammen. »Sònuk! Könnte er uns behilflich sein?«

»Sònuk ist tot«, warf Goïmron mürrisch ein. Er hätte uns bestimmt helfen können. Ganz ohne Zauberei. Noch eine Erinnerung, die schmerzte.

»Also, so ganz stimmt es nicht.« Gata zog den Schinken zu sich und schnitt eine schmale Scheibe davon zum Naschen ab. »Gerüchteweise soll er beim Angriff auf Rhuta dabei gewesen sein.«

»Niemals! Sònuk hätte Mostro eher …« Goïmron stockte. »Aber natürlich! Er war dort und wollte Klaey Berengart zur Strecke bringen!« Er legte die Pfeife auf dem Tisch ab, er hatte genug vom Buttertabak.

Brûgar deutete mit dem Mundstück auf Gata. »Normalerweise gebe ich nichts auf Gerüchte, aber angenommen, es würde stimmen: Wo ist unsere Goldnase abgeblieben? Gehörte er zu den beklagenswerten Opfern der Sphärenwesen?«

»Nein. Das hätte man berichtet.« Gata kostete den Schinken. »Aber einige Angreifer sind durch den Schirm gelangt, erzählten sich die Überlebenden. Kann er in Gefangenschaft geraten sein?«

»Wenn wir nach Enaiko reisen, machen wir einen Schlenker nach Rhuta und fragen einfach«, schlug Brûgar vor, was Belîngor einen Lachanfall bescherte. »Warum schüttest du dich aus vor Heiterkeit? Wenn wir höflich fragen, was will Berengart machen? Wir reiben an seinem Spiegel herum und …«

»Der Sprechspiegel!« Goïmron schlug sich gegen die Stirn. »Die magische Kassette mit dem aufklappbaren Spiegel! Das Artefakt, das uns Berengart zu den Verhandlungen in Woogentau bringen ließ und über das er mit uns sprach.«

»Ja, ich erinnere mich. Ich werde Mostros knallrotes Gesicht niemals mehr vergessen«, sagte Brûgar gehässig und paffte genüsslich.

»Du hast den Kasten nicht zufällig dabei?« Gata grinste. »Angeblich hat sich Mostro einen eigenen erschaffen, um Berengart zu jeder Zeit eines Umlaufs beschimpfen zu können.«

»Nun, jener aus Woogentau ist bei Goldhand in Malleniaswacht.« Dann fiel Goïmron ein, dass der greise Heldenzwerg gerade irgendwo im Geborgenen Land unterwegs war, um Vraccimbur zu finden. Ohne zu ahnen, dass dieser Kerl besessen ist.

»Ich schicke einen Boten, der das Artefakt abholt, während du dich erholst.« Gata gab Belîngor ein Zeichen, eine entsprechende Nachricht aufzusetzen. »Ein buchgroßer, schwerer Kasten mit eingelassenem Spiegel, auf dem verschnörkelte, florale Muster eingeätzt sind. Mit einem blauen Edelstein. Schreib es auf, damit Meister Goldhand weiß, wonach er suchen soll. Ich hoffe, er findet das gute Stück.«

»Goldhand ist … unterwegs«, warf Goïmron ein. »Schick den Boten zu Herengar Tugendstein aus dem Clan der Saphirfinder. Er ist der Vorsteher der Zwergengemeinschaft in Malleniaswacht und wird unserer Bitte nachkommen.«

»Hoffen wir, dass er ein geschickter Einbrecher ist. Jemand, der Tugendstein heißt, mag sich damit schwertun.« Gata trank ihren Tee aus und rieb über die Brosche am Kragen ihres Untergewands; diese Geste war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. »Also schön. Wir klären den Verbleib von Sònuk, reisen alsbald nach Enaiko und suchen Mostro. Eines unserer Unterfangen wird hoffentlich von Erfolg gekrönt sein.« Sie langte nach der Krone. »Ach ja, ich setze ein Schreiben an die anderen vier Stämme auf, damit sie gewarnt sind. Vraccimbur ist nicht der Zwerg, für den sie ihn auf den ersten Blick halten werden.«

»Es gibt doch noch eine Sache. Die Reise, auf der sich Goldhand befindet, hat einen besonderen Grund«, begann Goïmron und berichtete von Tungdil, der zusammen mit der jungen Zwergin Silbalyn in einer Reisekutsche aufgebrochen war, um den selbst ernannten Allfünfer aufzuhalten. »Wenn sie aufeinandertreffen, dann …«

Zu seinem Erstaunen zuckte Gata lediglich mit den Schultern. »Ist nicht zu ändern. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf Sònuk und Enaiko, um Mostro abzugreifen.« Sie sah den Vierten an. »Sollte sich der Famulus weigern, uns gegen seinen einstigen Leibwächter beizustehen, brauchen wir Adelia. Sie ist die letzte Famula … Maga, die ein Mittel gegen den Rhamak kennen könnte. Oder weißt du noch jemanden, der sich auf Zauberei versteht?« Sie balancierte die Krone hochkant auf der ausgestreckten Hand.

Das Trio blickte Goïmron schweigend an. In ihren Augen stand die unausgesprochene Frage, ob der Vierte es sich zutraute, notfalls selbst gegen Hantu anzutreten.

»Nein«, kam es schnell über seine Lippen, und er rieb über den Rubin, um sich zu beruhigen. »Ich bin kein Zauberkundiger.«

Unvermittelt fiel ihm ein, wen er jedoch um Rat fragen konnte. Tallas!

Der Wasserdrache, der im Binnenmeer lebte und von dessen Existenz niemand außer ihm wusste, schuldete ihm einen Gefallen. Sollten alle Ketten brechen, würde Goïmron an die See reisen und nach ihm rufen. Und ich werde ihn fragen, ob er mich belogen hat, als er mir sagte, ich sei kein Magus.

***

»Wer anderen in den Stollen gräbt, bricht selbst ein.«

 

Zwergische Redensart

KAPITEL II

Das Geborgene Land, Königinnenreich Ribasturian, Sümpfe der Ragana, 1024 n.B. (7515. Sonnenzyklus nach alter Zeitrechnung), Frühherbst

Zimànja saß auf einem ausladenden Ast ihrer Lieblingstrauerweide und betrachtete das dämmernde Moor, an dessen Rand ihr Fachwerkhäuschen stand. Durch die geschwungene Fassade, die gedeckte braungrüne Farbgebung sowie den wuchernden Bewuchs mit Giftefeu, Blauranken und Moosrosen fügte es sich in die Umgebung ein. Wer nicht achtgab, lief daran vorbei.

Schilf wogte raschelnd im leichten Wind. Blaue Gasirrlichter flammten an unvorhersehbaren Stellen über den Pfuhlen und Pfützen auf, bevor sie mit einem leisen, dunklen Pfeifen erloschen und woanders neu entstanden. Nachtleuchtende Blüten bereiteten sich auf die Dunkelheit vor, die Blätter glommen in mildem Gelb und Lila. Je tiefer die Finsternis, umso mehr leuchteten sie.

Eine kniehohe beigefarbene Sumpfkatze pirschte sich im Schutz der Binsen an einen unachtsamen Bisam heran. Der Schwanz zuckte aufgeregt, während sich ihr Körper geduckt und gespannt zum Sprung über weichen Boden bewegte.

Mal sehen, wie die Jagd endet. Die Schönheit ihrer Heimat brachte Zimànja jedes Mal zum wohligen Schaudern. Wenn die Sterne über dem Moor aufzogen, ein leichter Nebel emporstieg und der Gesang der Nachttiere einsetzte, ging ihr das Herz vor Wonne auf.

Es ist kalt geworden. Zimànja schloss die Augen und lauschte dem Konzert, das von weiteren tierischen Musikanten übernommen wurde. In das zögerliche Quaken von Fröschen gesellten sich die melodischen Rufe von Wasserdommel und Seerosengleiter. Der Winter naht schnell. Ich fühle es.

Selbst in den eisigen Monden endeten die Konzerte nicht. Einer der vielen Vorteile der Sümpfe. An den warmen, von heißem Wasser aus der Tiefe gespeisten Tümpeln lebten jene Tierarten, die andernorts das Geborgene Land verließen oder sich vor Eis und Schnee verkrochen. Sie sammelten sich ringsherum und suchten Wärme und Schutz.

So wurde ausgerechnet in jenen Zeiten, in denen tödlicher Frost auf Natur und Häusern lag, der Sumpf zu einem der lebendigsten und buntesten Orte. Eine Vielfalt von Lebewesen bevölkerte die morastigen Landstriche, die sich durch drei Reiche zogen. Menschen, die sich nicht auskannten, sahen nur Schrecken und Verderben im Sumpf. Aber für eine Ragana war dieser Ort Perfektion.

Zimànja hatte eine dickwandige Flasche mit heißem, vergorenem Gewürztraubensaft dabei, der sich in Farbe und Geschmack deutlich von Wein unterschied. Die Früchte des Moostraubstocks waren sehr viel aromatischer als alles, was Reben an Hängen, in Ebenen oder auf Terrassen hervorbrachten.

Wie schade, dass ich den Famulus töten musste. Mit geschlossenen Lidern nahm sie einen Schluck, genoss den Geschmack und die Wärme, die sie durchflutete. Mostro hätte noch von Nutzen sein können. Aber der Narr griff mich an. Was hätte ich tun sollen?

Nach ihrer Rückkehr aus Enaiko hatte sie ihrer Sippe vom Verlauf ihrer Suche berichtet. Enttäuschung hatte sich breitgemacht. Alle hatten gehofft, Zimànja kehre mit dem Moordiamanten zurück, den Chòldunja vor ihrer Flucht aus den Sümpfen gestohlen hatte.

Eine unangenehme Schwere stieg in Zimànja auf. Sie blieb verletzlich, wenn es um ihre kleine Schwester ging. Große Liebe, unermessliche Enttäuschung und grässlicher Schmerz folgten aufeinander.

Warum nur? Sie seufzte und fühlte ein Brennen in den Augen. Warum hast du uns unbedingt verlassen wollen? Zimànja hatte Chòldunja geliebt und ihr viel beigebracht. Über den Sumpf. Die Geschichte und Traditionen der Ragana. Das Selbstverständnis. Die Zauberei und die Kräfte, die sie besaßen.

Lange hatte sie die kleine Schwester nach deren Verschwinden gegenüber der übrigen Familie verteidigt und die Jagd durch Cazcaira verhindern können. Gerade hatte sich Gnade für Chòldunja abgezeichnet, wenn diese sich entschlösse, zu ihren Schwestern zurückzukehren – da hatte die Nachricht von ihrem Tod den Sumpf erreicht.

Es war Zimànja bei der Suche nach Mostro nicht nur darum gegangen, die Macht des Diamanten für ihre Sippe zu sichern. So rau und ruppig sie sich auch nach außen gab, sie hätte den Stein gern als Andenken an Chòldunja bewahrt. Nun habe ich nichts außer der Erinnerung an sie. Sie trank von dem vergorenen Gewürztraubensaft.

Er half nicht gegen die Melancholie.

Im Konzert aus Binsenrauschen und Vogelstimmen entstand ein Misston. Der alarmierende Ruf eines Schwarzwächterkehlchens quäkte in die Harmonie. Gleich darauf verstummten die Tiere, Geisterkormorane und andere Vögel stoben in Schwärmen auf, um auf Bäumen oder in Hecken nach Sicherheit zu suchen.

Ein Störenfried nähert sich. Zimànja öffnete die braungrüngelben Augen und blickte sich von ihrer erhöhten Position aus um. Was treibt sich bei Dämmerung in meinem Moor herum?

Die Sumpfkatze war verschwunden, der Bisam lag angefressen auf dem dunkelgrünen Mondschattengras. Froschreiher, Neuntöter und Kormoran saßen auf den oberen Ästen und krakeelten ob der Störung. Aus dem melodischen Konzert war eine lautstarke Beschwerde geworden.

»Normalerweise gelingt es mir, unbemerkt zu bleiben. Aber Tiersinne sind nicht so leicht zu täuschen wie deine«, sprach eine samtene Stimme schräg über ihr. »Sie haben mich verraten. Oder dich zumindest aufmerksam werden lassen.«

Zimànja hob den Blick.

Ein dunkelhaariger Alb saß auf dem Ast über ihr, in der Linken einen Runenspeer aus Tionium; die Rechte steckte in einem auffälligen Panzerhandschuh aus dem gleichen Material. Um seinen dünnen Leib lag ein eng geschnittener schwarzer Mantel, dessen Saum um die hohen Stiefel schwang. Zum Schutz gegen die Frühherbstkälte hatte er eine Kapuze aufgesetzt, an deren Rand weißer Pelz faserige Schatten auf sein Antlitz warf.

»Du bist weit von Dsôn Khamateion entfernt«, stellte Zimànja trocken fest. Sie fürchtete sich nicht vor dem Besucher. Er befand sich auf ihrem Land und war somit ihren Kräften ausgeliefert. Der ungewöhnliche Speer verriet seinen Besitzer, aber sie tat so, als wüsste sie nicht, wer zu ihr gekommen war. Das soll er mir selbst sagen.

»Und doch genau an jenem Ort, an dem ich sein will«, erwiderte er freundlich.

»Oy! In meinem Moor?« Zimànja balancierte die Flasche vor sich auf dem Ast aus, damit sie die Hände frei hatte. Eine Bügelschere trug sie im Gürtel bei sich, doch die taugte nicht bei einem Widersacher wie ihm. Gegen den Runenspeer und die magischen Fähigkeiten des Albs halfen einzig ihre Raganakräfte. Das Moor um sie herum war ihr Verbündeter und wartete auf ihren Befehl. Eine Geste, ein Hinweis von ihr, und es würde zuschlagen. »Weder bat ich dich her noch möchte ich dich hier. Es kann folglich nicht der Ort sein, an dem du sein willst.«

»Außer ich suchte nach einer Ragana.« Er legte die gepanzerte Rechte auf seine Körpermitte und neigte sanft das Haupt. »Mein Name ist Mòndarcai.«

»Albische Namen konnte ich mir noch nie merken«, log Zimànja. »Sag, kennt man dich aus irgendwelchen Gründen?«

»Das spielt keine Rolle«, erwiderte er. »Wichtiger als die Vergangenheit ist, was das Kommende bringen wird.«

»Dazu brauchst du die Meinung einer Ragana?« Zimànja überlegte, warum er nicht damit prahlte, Ûra besiegt zu haben – eine Tat, wie sie sonst niemand im Geborgenen Land zustande gebracht hätte. Ebenso wie das Kunststück, die Tioniumrüstungsplatten, die er gewiss unter dem Mantel trug, samt Panzerhandschuh und Runenspeer aus dem Reich der Albae zu stehlen. »Wir haben mit deinesgleichen nichts zu schaffen.«