Das Hotel der Erinnerung - Chelsea Bobulski - E-Book
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Chelsea Bobulski

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Beschreibung

Wenn Albträume erwachen ... »Shining« trifft »Titanic«! Als die 16-jährige Nell mit ihrem Vater in das Grand Winslow Hotel zieht, hofft sie die dunklen Jahre nach dem Tod ihrer Mutter endlich hinter sich lassen zu können. Das opulente Resort scheint der perfekte Ort für einen Neuanfang zu sein. Doch dann tauchen an den Wänden plötzlich mysteriöse Nachrichten auf. Und Nell wird von Albträumen geplagt, die schlimmer sind als je zuvor. Alles deutet auf eine Tragödie hin, die sich vor Jahrzehnten an diesem Ort ereignet hat. Kann Nell mit Hilfe des Hotelangestellten Alec verhindern, dass sich die schrecklichen Ereignisse wiederholen? Atemlos, prickelnd, düster - ein packender Mysterythriller mit einer unwiderstehlichen Liebesgeschichte. 

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Seitenzahl: 444

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Chelsea Bobulski: Das Hotel der Erinnerung

Nell hat schon in vielen Hotels gewohnt, doch das imposante Grand Winslow Hotel fühlt sich endlich an wie ein Zuhause. Hier kann sie tanzen, bekommt den Kopf frei. Doch dann hört sie Stimmen. Und wird in ihren Träumen von einem toten Jungen heimgesucht, der sie vor etwas warnen will. Nell sucht nach Erklärungen und stößt bei ihrer Recherche auf eine Tragödie um ein Mädchen Namens Lea. Zwischen den beiden gibt es eine Verbindung – und die führt geradewegs in die Arme des Angestellten Alec, der gleichermaßen anziehend wie geheimnisvoll ist …

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ERSTER TEIL

Kapitel Eins

LEA

Juni 1905

Es ist ein Jammer, dass heute Morgen so viele Boote auf dem Fluss unterwegs sind. Wenn ich über die Reling der Fähre ins Wasser gleiten würde – aus Versehen natürlich –, würde man mich sehr wahrscheinlich nicht ertrinken lassen.

Doch wenn ich ehrlich bin, würde ich es wohl ohnehin nicht tun. Mutter sagt gern, dass ich immerzu ein Riesentheater mache, aber niemals Taten folgen ließe, und vielleicht stimmt das sogar. Vielleicht hat mir Vater schon vor langer Zeit jeden Ungehorsam ausgetrieben. Doch wie es sich auch verhält: Ich werde heute nicht über Bord springen, deshalb reiße ich meinen Blick von den Wellen los, die gegen den Schiffsrumpf schwappen. Stattdessen betrachte ich das Grand Winslow Hotel, dem wir uns rasch nähern.

Bereits im Prospekt hatte das Hotel pompös gewirkt, doch die Schwarz-Weiß-Skizzen sind nichts im Vergleich zur Realität. Auf der Insel vor mir ragt ein riesiges, mit weiß gestrichenem Holz verkleidetes Gebäude auf. Es hat ein Schrägdach aus Kupfer, das bereits Patina angesetzt hat, drei Kuppeln, vier Ecktürmchen und zwei große Rotunden im Erdgeschoss. Genau in der Mitte befindet sich ein Turm, von dem man an einem klaren Tag sicher meilenweit sehen kann.

»Ist es nicht überwältigend?«, sagt der Mann neben mir und schlägt mit der flachen Hand auf die glitschige Reling. »Wussten Sie, dass es eines der größten Holzbauwerke des Landes ist? Vierhundert Zimmer! Und seit 1891 ist das gesamte Hotel mit elektrischem Licht ausgestattet.«

»Ich habe gehört, dass sie für den Bau zehn Millionen Fuß Holz verbraucht haben«, sagt seine kleine Tochter. Ich glaube, ihr Kindermädchen hat sie Mabel genannt.

»Mehr als zwanzig Millionen«, schnaubt ihr älterer Bruder.

Mabel streckt ihm die Zunge heraus.

Ich schließe die Augen und zwinge mich dazu, ihre Begeisterung zu teilen. Doch als ich meine Lider wieder öffne, sehe ich in dem Hotel nur das, was es tatsächlich ist.

Ein Gefängnis.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, legt mein Vater mir eine Hand auf die Schulter. Es ist eine kräftige Hand. Stark. Unnachgiebig. Ich blicke zu ihm auf ins Sonnenlicht. Seine Miene ist düster.

»Aurelea.«

»Vater.«

»Du wirkst bekümmert«, sagt er mit einem warnenden Unterton in der Stimme.

»Ich war nur in Gedanken.«

Sein Griff wird fester und er drückt kurz zu, dann tätschelt er mir die Schulter, wie er es früher getan hat, als ich noch ein Kind war und die Jungen in der Nachbarschaft mich nicht beim Schlagball mitspielen ließen. »Versuch etwas fröhlicher auszusehen, ja? Du triffst gleich deinen Verlobten.«

»Natürlich, Vater. Wie unbedacht von mir.«

Er blickt mich noch einen Augenblick lang an. »Wir können uns glücklich schätzen, in dieser Lage zu sein, Aurelea. Vergiss das nicht.«

Ich sehe hinüber zu Mutter. Sie lächelt und hält Benny an der Hand, der am Bug des Schiffes auf und ab hüpft und auf eine Gruppe von Kranichen nahe dem Ufer zeigt.

»Ja, Vater«, sage ich.

Die Fähre legt an und wir werden zu einer Straßenbahn gebracht, auf deren Front der Name WINSLOW ISLAND RAILROAD COMPANY prangt. Obwohl es ein einzelner Triebwagen ist, der nur dazu dient, die Hotelgäste zur Fähre zu fahren und von dort abzuholen, starrt Benny ihn mit offenem Mund an, genau wie er auch die Züge am Bahnhof von Philadelphia bewundert hat. Sein Kindermädchen Madeline schiebt ihn sanft in den Wagen und ich hebe ihn auf meinen Schoß.

»Lass mich los«, jammert er. »Dafür bin ich zu groß.«

»Ach ja?«

Er nickt feierlich.

»Dann vergib mir bitte«, necke ich ihn. »Mir war nicht bewusst, dass du mit deinen sieben Jahren bereits erwachsen bist. Wenn das so ist, dann soll ich dir heute Abend aus dem Speisesaal bestimmt auch keinen zweiten Nachtisch mitbringen, oder?«

Benny verzieht das Gesicht und scheint abzuwägen, was ihm wichtiger ist: seine Eigenständigkeit oder seine Vorliebe für Süßes.

»Wie wäre es mit einem Kuss auf die Wange, anstatt auf deinem Schoß zu sitzen?«, schlägt er vor.

Ich seufze. »Dann muss ich mich wohl damit begnügen.«

Er verrenkt sich den Hals, um sich zu vergewissern, dass niemand hinsieht. Schließlich küsst er mich flüchtig auf die Wange, hastig und spitz wie ein Vogel, ehe er auf den Sitzplatz gegenüber wechselt. Madeline schmunzelt vor sich hin und die Fältchen um ihre Augen und ihren Mund vertiefen sich.

Sobald alle Gäste eingestiegen sind, fährt die Straßenbahn los und gleitet auf den Schienen Richtung Hotel. Doch während sich alle aus dem Fenster lehnen, um das Grand besser sehen zu können, werfe ich einen Blick über die Schulter: zu den Männern an der Fähre, die Koffer und Automobile entladen, und dann noch weiter zum blauen Wasser und dem Leben, das ich an der fernen Küste zurückgelassen habe.

Wenn alles so läuft, wie Vater es geplant hat, werde ich aus diesem Hotel nicht als Aurelea Sargent, sondern als Aurelea Van Oirschot abreisen – als Frau von Lon Van Oirschot, einem Unternehmer und zukünftigem Erben der Van Oirschot Stahlwerke.

Vater räuspert sich. »Aurelea.«

Ich drehe mich wieder nach vorn.

Die Straßenbahn rollt durch Canvas City, an unzähligen gestreiften Segeltuchzelten vorbei, für die man laut Prospekt in einer ganzen Woche genauso viel bezahlt wie für eine Nacht im Hotel. Und wenn einem ein festgestampfter Lehmboden und die bescheidene Grundausstattung reichen, dann kostet die Woche sogar nur noch die Hälfte.

Männer, Frauen und Kinder winken uns von der Straße aus zu, manche tragen Badekleidung, andere haben sich fürs Mittagessen zurechtgemacht. Ich entdecke eine Gruppe Mädchen, die Arm in Arm unterwegs zum Strand sind. Sie sind ungefähr in meinem Alter, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger. Ihre Haut ist gebräunt und ihr Haar von der Sommersonne gebleicht. Einen Moment lang stelle ich mir vor, ich hätte mich bei einer von ihnen untergehakt. Ich sehe es direkt vor mir, dieses andere Ich, das Haar feucht von der Meeresbrise und die Haut verkrustet vom Salz. Wir fünf sind die besten Freundinnen: Wir sind zusammen aufgewachsen und kennen unsere tiefsten, dunkelsten Geheimnisse. Jede von uns hat einen Geliebten, den sie sich selbst ausgesucht hat, aber das bedeutet nicht, dass wir ihn auch wirklich heiraten werden. Wir diskutieren darüber, was wir zu Mittag essen sollen – Eis, um unsere von der Sonne erhitzten Körper zu kühlen, oder lieber etwas Gehaltvolleres, damit wir für den Rest des Tages genügend Energie haben und es mit den Wellen aufnehmen können. Bestimmt einigen wir uns auf beides, denn beste Freundinnen sind gut darin, Kompromisse zu schließen.

Die Straßenbahn schlingert an den Mädchen vorbei und die Bilder in meinem Kopf verblassen. Ich bin nicht länger eine von ihnen.

Wir biegen in einen von Zypressen gesäumten Kiesweg ein. Louisianamoos hängt von den Ästen wie geisterhafte Vorhänge und dann kommt die Straßenbahn vor dem riesigen Hotel zum Stehen. Der Wind ist hier sogar noch stärker, er fährt durch die Palmwedel und durch die offenen Fenster der Straßenbahn. Sobald der Schaffner die Tür entriegelt hat, springt Benny aufgeregt aus dem Triebwagen. Er flitzt die Hoteltreppe hinauf, die Arme ausgebreitet wie Flügel.

»Benjamin!«, bellt Vater.

Benny erstarrt. Vater muss nichts weiter sagen. Ein strenger Blick und ein leichtes Anheben seiner Prügelhand genügen, und schon kommt Benny brav zurück.

»Du bist zu alt, um so durch die Gegend zu rennen«, murmelt Vater. »Das ziemt sich nicht.«

Benny nickt. »Entschuldige, Vater.«

Vater tätschelt ihm die Schulter. »Schon gut, Sohn. Mach es nur nicht noch einmal.«

Aber Benny wirkt nicht beruhigt. Vater lässt solche Dinge nie ungestraft durchgehen.

Mutter greift nach meiner Hand. »Komm mit, mein Schatz. Mal sehen, ob wir deinen Liebsten finden.«

Ich drücke die Schultern durch und trage die Maske zur Schau, die Mutter mir von klein auf antrainiert hat. Ich brauche keinen Spiegel, um zu wissen, dass meine Stirn jetzt vollkommen glatt ist. Meine Lippen sind zu einem eingeübten Lächeln verzogen, das niemand als aufgesetzt zu erkennen vermag – jedenfalls nicht, wenn ich meine Mutter dabei beobachten kann, wie sie dieselbe Wandlung durchläuft. Ihre flüchtige Sorge um Benny verschwindet, als hätte es sie nie gegeben.

Mutter wartet, bis Vater und Benny vorausgehen, dann steigen wir hinter ihnen die Stufen hoch auf die verschnörkelten Holztüren des Grand Winslow Hotel zu.

Kapitel Zwei

NELL

Juni, Gegenwart

Dad lenkt unseren knatternden 94er Corolla Kombi auf die gewundene Zufahrtsstraße, vorbei an hohen Palmen und Damen mit teuren Handtaschen, und ich werfe einen ersten Blick auf das Hotel.

»Was meinst du?«, fragt Dad und biegt in die Wagenauffahrt ein.

»Bist du sicher, dass wir nicht den Dienstboteneingang oder so etwas nehmen sollen?«

Er lacht. »Es macht ganz schön was her, oder?«

»Es sieht aus wie ein Schloss«, sage ich leise.

Im Gegensatz zu den kastenförmigen Durchschnittshotels, in denen Dad sein Leben lang gearbeitet hat, sieht dieses Hotel schon von außen ganz anders aus. Man könnte meinen, jemand hätte hundert viktorianische Häuser gewaltsam zu einem Hotel zusammengeschoben und dann mit einer weißen Holzverkleidung und einem patinagrünen Kupferdach versehen, um die Übergänge zu vertuschen.

Der Wagen kommt mit quietschenden Bremsen zum Stehen und es reißt uns nach vorn, die zerschlissenen Gurte mit den vielen Kaffeeflecken drücken uns in die Sitze.

»Nervös?«, frage ich Dad mit einem Seitenblick.

Er lächelt einer blonden Familie zu, die unser Auto anglotzt und sich in rasantem Französisch unterhält. Hinter uns wartet in angemessenem Abstand ein Aston Martin. »Kein bisschen.«

»Dad.« Ich sehe ihn scharf an. »Der Schalthebel steht noch auf Drive. Du hast gerade die Handbremse angezogen.«

Mit einem Stirnrunzeln betrachtet er den Schaltknauf. »Ja?«

Ich schenke ihm ein gequältes Lächeln. »Keine Sorge, du wirst das super hinkriegen.«

»Danke, Nellie-Maus. Es ist nur … das ist die ganz große Nummer.«

»Ich weiß.«

Wir reden jetzt nicht über die Schmerzen in der Brust, die ihn im letzten Herbst plötzlich überfielen und eine Panikattacke auslösten. Aus Angst vor Herzversagen hat er sich selbst in die Notaufnahme eingeliefert. Der diensthabende Arzt riet ihm, es langsamer angehen zu lassen, weil er sich sonst ein frühes Grab schaufeln würde. Eine Zeit lang hat er darauf gehört und kam tatsächlich hin und wieder eher nach Hause, dann haben wir einen Filmabend gemacht oder den Taco-Dienstag gepflegt. Diesen Frühling ist er sogar an einem Samstag zur Schulaufführung gekommen, obwohl er seine Vertretung am Wochenende nur ungern allein ließ. Und damals ging es um eine schäbige Lodge in den Blue Ridge Mountains mit gerade mal dreißig Zimmern, grob überschlagen ein Sechzehntel des Winslow Grand Hotels. Abgesehen davon, dass es in einer idyllischen Kleinstadt lag und von Familien mit Kindern gebucht wurde – kein Vergleich mit einem Resort der Luxusklasse am Meer, das einen exzellenten Ruf genießt.

Ich kann von Glück reden, wenn ich Dad neben einem gelegentlichen frühen Frühstück zu Gesicht bekomme.

Der Hotelpage verkneift sich gekonnt jegliche Reaktion auf unser verbeultes Auto und erlaubt sich nur einen flüchtigen Blick auf die eingedrückte Stoßstange, bevor er Dads Schlüssel entgegennimmt. Ich steige aus, schultere meinen Rucksack, der mit Panzertape zusammengehalten wird, und strecke die Beine. Dad lädt währenddessen mit einem anderen Pagen das Gepäck auf einen Kofferwagen. Er stellt sich allen Mitarbeitern im Umkreis von drei Metern als neuer Manager für die Gästebetreuung vor. Ich muss mich gar nicht nach ihm umdrehen, um zu wissen, dass er die Brust vorstreckt, die Schultern strafft und ein strahlendes Lächeln aufgesetzt hat, das seine Grübchen besonders zur Geltung bringt.

Mit dem Rücken zum Auto und dem dahintergelegenen Parkplatz betrachte ich die breite Backsteintreppe, die zum Vordereingang führt. Die geöffneten altmodischen Flügeltüren mit den schicken ovalen Scheiben sind aus Holz und mit Schnitzereien von Magnolienblüten, Efeu und Cherubinen verziert. Dahinter sind vage die Umrisse anderer Gäste zu erkennen, die gerade einchecken. Um diese Leute soll Dad sich ab jetzt kümmern, was seinen Hang zum Workaholic weiter fördern wird.

Freu dich für ihn, ermahne ich mich. Vergiss nicht, was Dr. Roby gesagt hat: Rechne immer damit, dass etwas Gutes geschieht.

»Und was mache ich, wenn ich etwas Gutes erwarte und etwas Schlechtes passiert?«, habe ich Dr. Roby bei unserer ersten Therapiesitzung vor vier Jahren gefragt, während meine Knie an dem Lederstuhl vor seinem Schreibtisch festklebten. Schon mit zwölf hatte ich verstanden, dass es ein Test war, als er sagte, ich könne mich hinsetzen, wo ich wolle. Ich dachte nicht daran, ihm so viel Macht über mich zu geben und mich auf das elende Ledersofa zu legen. »Ist es nicht weniger schlimm, wenn man auf das Schlechte schon vorbereitet ist?«

Dr. Roby hatte meine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet – »Wieso gehst du davon aus, dass dir schlimme Dinge passieren?« –, und mir wurde auf der Stelle klar, dass ich von ihm keine Hilfe zu erwarten brauchte.

Jetzt legt Dad mir einen Arm um die Schultern und geht mit mir die Treppe hinauf – Dad wird das super machen, es wird super laufen, alles wird super –, aber mein Herz rast, während wir auf die Tür zugehen, und mein Kopf fühlt sich an, als würde nicht genug Blut hindurchfließen, um ihn oben zu halten.

Rechne immer damit, dass etwas Gutes geschieht.

Mit diesem Mantra schleppe ich mich vorwärts, doch kurz vor dem dunklen Schlund der Eingangshalle schießt mir ein anderer Gedanke durch den Kopf.

LAUF.

Ich bleibe stehen.

Dad wirft mir einen sorgenvollen Blick zu. »Ist alles okay?«

Nein. Nie zuvor hatte ich so eindeutig das Gefühl, dass hier etwas überhaupt nicht stimmt. Doch es kommt wie aus dem Nichts und ich weiß, dass es von einem tieferen Problem, einer tieferen Angst herrührt. Als ich den Rucksack weiter hochziehe, spüre ich im Rücken die harten Kanten der Tablettenbox.

»Jep«, lüge ich. »Alles bestens.«

Meine Ballerinas klatschen auf die Stufen. Dad zieht mich an sich und betritt mit mir durch die Flügeltür das Hotel.

Kapitel Drei

LEA

 

Es gelingt mir kaum, über die Schwelle zu treten, auch nicht als Mutter, Vater und Benny mich nachdrücklich dazu auffordern. Bestimmt spüren sie meine tief sitzende Angst und die Gewissheit: Wenn ich jetzt nicht davonlaufe, werde ich keine weitere Gelegenheit mehr bekommen. Doch dann ergreift Mutter meinen Arm und zieht mich in die Lobby wie ein Kapitän, der sein Schiff steuert.

Sobald wir die Eingangshalle betreten haben, bleibt sie stehen und legt die Hand auf ihre Brust. »Oh, Aurelea, ist es nicht wunderschön?«

Die Lobby ist wunderschön – das muss ich zugeben – mit ihren hohen Säulen und der vertäfelten Decke aus dem gleichen polierten Mahagoni. Wie auf den Eingangstüren des Hotels finden sich an jeder Säule geschnitzte Verzierungen aus Efeu, Magnolienblüten und schelmischen, Harfe oder Flöte spielenden Cherubinen wieder. Neben der großen Treppe wartet eine goldene Aufzugkabine und von einer Galerie im ersten Stock blickt man auf den großzügigen Sitzbereich und den Hoteleingang – wahrscheinlich ist das der Grund, warum sich so viele Damen dort oben aufhalten und die Ankunft der neuen Hotelgäste verfolgen. Irgendwie erinnert mich das Ganze an das Kolosseum in Rom, als beträte ich durch ein Tor die Arena und wartete darauf, dass der Löwe aus einem anderen hervorkommt.

Ich irre mich nicht.

Ich sehe ihn, bevor er mich sieht. Zusammen mit drei weiteren Herren schlendert er in die Lobby. Alle tragen weiße Hemden und Hosen und haben Tennisschläger bei sich. Hastig wende ich mich ab und verberge mich hinter einer Säule, da ruft Mutter: »Lonnie! Hier drüben.«

Ich kneife die Augen ganz fest zu und stoße meinen Kopf gegen die Säule. Denk einfach daran, dass du sie liebst und sie es nur gut meint, sage ich mir.

»Mrs Sargent«, sagt Lon und seine Stimme dröhnt wie Kanonendonner in meiner Brust. »Wo ist Aurelea?«

Ich hole tief Luft, setze mein einstudiertes Lächeln auf und trete hinter der Säule hervor. »Guten Tag, Lon«, sage ich und zwinge mich zu einem fröhlichen Ton, nach dem mir nicht zumute ist. »Wie wundervoll, dich wiederzusehen.«

Er nimmt meine Hand und streift mit den Lippen über meinen Handschuh. Ich beiße mir auf die Zunge, damit ich ihm meine Hand nicht entziehe.

Es ist nicht so, als wäre Lon vollkommen abstoßend. Meine Freundinnen zu Hause würden mich nicht derart beneiden, wenn er nicht ein gut aussehender und begehrter Junggeselle wäre, der obendrein ein Vermögen besitzt. Doch auch wenn ich auf rein objektive Art seine ganz und gar nicht abstoßenden Gesichtszüge durchaus zu würdigen weiß, wecken sie dennoch keinerlei Gefühle in mir.

»Wir werden uns jetzt sehr viel häufiger sehen«, sagt er. Sein Geruch – eine Mischung aus Bergamotte, Kaffee und Zigarren – dringt mir in die Nase, reizt meine Bronchien und löst einen dumpfen Schmerz hinter meinen Augen aus.

»Das nehme ich an«, erwidere ich. Tränen treten mir in die Augen. Mutter kneift mich unauffällig ins Handgelenk und mein Lächeln wird strahlender. »Und die Aussicht darauf könnte mich nicht mehr erfreuen.«

»So geht es mir auch.«

Mutter erkundigt sich nach Lons Tennismatch und seinen Gegnern – Geschäftspartner, erzählt Lon, die den Sommer ebenfalls im Hotel verbringen, sodass er Arbeit und Vergnügen verbinden kann. Ich nutze die Gelegenheit, um Zentimeter für Zentimeter zurückzuweichen, bis das Brennen in meiner Kehle nachlässt.

»Während eurer Flitterwochen im September wird ja wohl nicht gearbeitet«, tadelt Mutter ihn sanft.

»Selbstverständlich nicht«, sagt Lon und sieht zu mir. »Das würde mir nicht im Traum einfallen.«

Er wartet auf eine Reaktion von mir – vielleicht soll ich sagen, wie sehr ich mich jetzt schon freue, während der Flitterwochen seine volle Aufmerksamkeit zu genießen, oder dass ich den September innig herbeisehne. Doch ich denke nur an eines: In nicht mal drei Monaten werde ich dazu gezwungen sein, das Bett mit diesem Mann zu teilen – einem Mann, der in Rasierwasser badet, eine horrende Anzahl von Zigarren raucht und mir vollkommen fremd ist.

Deshalb sage ich gar nichts.

Vater kehrt von der Rezeption zurück, tritt neben Lon und schüttelt ihm die Hand. »Lon. Schön, dich zu sehen. Ist dein Vater auch in der Nähe?«

»Ich glaube, er macht einen Spaziergang am Strand. Während unseres Aufenthaltes hier folgt er stets einem festen Tagesplan. In all den Jahren, in denen wir den Sommer im Grand verbracht haben, ist er noch nie davon abgewichen. Habt ihr euch schon angemeldet?«

»Ja. Man hat mir gesagt, unser Gepäck würde in Kürze eintreffen.«

»Dann will ich euch nicht länger aufhalten. Ich muss mich sowieso für das Mittagessen umziehen.« Er wendet sich wieder zu mir und nimmt meine Hand. »Sehen wir uns im Speisesaal, sagen wir, in einer Stunde?«

Ich neige den Kopf. »Das würde ich um nichts in der Welt verpassen wollen.«

Lon grinst. »Wunderbar. Wenn ihr mich dann bitte entschuldigt.«

Mutter sieht ihm hinterher und ihr Blick wandert weiter nach unten, als es sich für eine echte Lady gehört. »Er ist ziemlich gut gebaut, nicht wahr?«

Warum heiratest du ihn dann nicht?, denke ich und kann es mir gerade noch verkneifen, die Worte laut auszusprechen.

»Wenn ich bitten dürfte, meine Damen«, befiehlt uns Vater und durchquert die Lobby Richtung Fahrstuhl. Mutter und Benny folgen ihm in die Kabine, nur ich stehe noch davor. Selbst auf das Drängen des Liftboys hin schaffe ich es nicht, in den Aufzug zu steigen. Mein Herz schlägt schneller und mir fällt das Lied über den Vogel in seinem goldenen Käfig ein. Plötzlich läuft mein gesamtes Leben vor meinem inneren Auge ab, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermischen sich miteinander.

Ein Tag gleicht dem anderen. Ich werde als derselbe Mensch leben und sterben, in demselben goldenen Käfig wie am Tag meiner Geburt. Und obwohl ich diesen Gedanken zuvor schon einmal gehabt habe und er mir in der Schwärze schlafloser Nächte die Kehle zugeschnürt hat, trifft er mich erst jetzt mit voller Wucht: Ich sehe meine Eltern und meinen Bruder, die es sich in der kleinen Liftkabine gemütlich machen, und auf der anderen Seite stehe ich mit der Gewissheit, nicht dorthin zu gehören.

Vaters Augen werden schmal. »Aurelea«, sagt er leise. »Du steigst augenblicklich in den verdammten Aufzug.«

Ein Mann und eine Frau kommen die Treppe herunter und werfen uns im Vorbeigehen neugierige Blicke zu. Vater lächelt sie an und sagt: »Sie hat furchtbare Höhenangst.« Er steigt aus dem Fahrstuhl und fasst mich am Ellbogen. »Es ist alles in Ordnung, Liebes. Wir fahren nicht weit nach oben.«

»Sie kann auch die Treppe nehmen«, schlägt der Liftboy vor.

Vater funkelt ihn wütend an.

Der Mann krümmt sich unter Vaters Blick. »Miss?«, fragt er bittend.

Ich hole tief Luft. »Schon gut.« Vater quetscht mir fast die Knochen zusammen. »Ich muss diese Angst ja irgendwann überwinden.«

Ich betrete die Kabine und der Fahrstuhlführer schließt die Tür hinter mir.

Ich schließe die Augen, bis er sie wieder öffnet.

Kapitel Vier

NELL

 

Die Panik lässt nach, sobald wir die Lobby betreten, als wäre das Wort LAUF mit der Meeresbrise aufgestiegen und ich selbst von einer Strömung erfasst worden, die nicht für mich bestimmt war.

»Irrationale Ängste«, sagt Dr. Roby und lässt seinen Kuli klicken wie ein Metronom, »kommen bei Patienten, die in einem so frühen Alter traumatische Erfahrungen gemacht haben, häufig vor. Wir werden nun daran arbeiten, diese Ängste in den Griff zu bekommen, damit sie nicht mehr so viel Macht über dich haben.«

»Und?«, fragt Dad und breitet die Arme aus. »Was sagst du?«

Ich verdränge das beigefarbene quadratische Patientenzimmer aus meinen Gedanken und konzentriere mich auf den Raum, in dem ich mich jetzt befinde.

Als Tochter eines Mannes, der von Hotels besessen ist, kenne ich mich mit Eingangshallen aus. Von erschwinglichen Franchise-Unterkünften an der Landstraße bis zu großen Wolkenkratzern in der City, von rustikalen Bergchalets bis zu Frühstückspensionen im Zuckerbäckerstil habe ich schon alles gesehen – auch zeitgenössische Lobbys mit einer klaren Linie oder ganz moderne, die Feng Shui ins Gesicht lachen. Aber das hier …

Es ist, als würde man die Zeit zurückdrehen.

Die weitläufige Halle ist mit Säulen gespickt. Von dem schmuckvollen Empfangstresen zu der Galerie und den Balken, die zu einem Diamantmuster gekreuzt sind, ist offenbar alles aus dem gleichen polierten dunklen Holz gestaltet, das im warmen Licht der Wandleuchten und des antiken Kronleuchters glänzt. Man könnte das Ganze für einen Traum halten, und ich denke nur: Mom hätte sich hier unglaublich wohlgefühlt.

Während Dad an der Rezeption beschäftigt ist, gehe ich einmal durch die Halle. Gegenüber vom Haupteingang führt eine Flügeltür in einen großen Garten. Ich trete in die salzige Meeresluft hinaus. Im Innenhof des Hotels ragen Balkone und Laubengänge vor mir auf.

Der Garten ist märchenhaft schön. In einem Arrangement aus Obstbäumen, Magnolien und Zypressen stehen alte Eisenbänke, und ein Kiesweg schlängelt sich durch eine Anlage mit Rosenbüschen und blühenden tropischen Sträuchern. Ich folge dem Geräusch fließenden Wassers auf die andere Seite, wo unterhalb einer Steinmauer ein Teich glitzert. Die Skulptur eines Löwenkopfs ragt hervor, aus dessen Maul Wasser in den Teich sprudelt. Koi-Karpfen flitzen unter den Seerosenblättern hindurch und ihre bunten Schuppen funkeln unter der Wasseroberfläche wie ein Regenbogen. Ich bleibe kurz stehen, sehe ihnen zu und frage mich, ob sie sich jemals Sorgen um etwas machen, das sie nicht kontrollieren können – beispielsweise, ob das Wasser verdampft oder jemand vergisst, sie zu füttern.

Der Wind frischt auf und weht den Duft von Zitronenblüten herbei. Ich drehe mich um und gehe denselben Pfad wieder zurück, doch auf halbem Weg zur Lobby entdecke ich einen einsamen Zitronenbaum auf einem Rasenfleck. Ich laufe über das feuchte Gras und schnuppere an den Blüten. Mein Herz krampft sich bei dem frischen Duft zusammen, was auch geschieht, wenn ich die Lieblingsblumen meiner Mutter oder ihr Parfüm an einer anderen Frau rieche. Aber wir haben nie in warmen Gefilden gelebt, wo sie Zitronenbäume hätte anpflanzen können, und ihr Parfüm duftete nach Jasmin und Geißblatt, nicht nach Zitronenblüten. Stirnrunzelnd streiche ich mir die Haare hinter die Ohren und gehe wieder in die Eingangshalle.

Zu meiner Linken führt eine prachtvolle Treppe ins untere Stockwerk, und um die Ecke gelegen ein weiterer Aufgang zur ersten Etage. Auf den Stufen entdecke ich mehrere Frauen, deren Kleidungsstil mich an die Titelseiten der Vogue erinnert. Ich mustere meine Jeans, die ich seit drei Tagen anhabe, und mein Lieblings-Sweatshirt. Wegen der Monster-Burger, die wir in Greensboro gefuttert haben, hat es unten am Ärmel nun auch noch einen Senffleck.

Ich klemme das Bündchen unter meine Finger, gehe an der Treppe vorbei und weiter zu einer Flügeltür. Streichmusik dringt durch die geschlossene Tür, über der in goldenen Lettern das Wort Ballsaal steht. Ich trete näher, weil mir das Lied auf unheimliche Weise bekannt vorkommt. Als ich einige Töne summe, folgt meine Stimme der Melodie in die Höhen und Tiefen, obwohl ich mich nicht erinnern kann, woher ich sie kenne.

Dad spricht immer noch mit der Empfangsdame an der Rezeption. Sicherlich lässt er sich ihre Lebensgeschichte erzählen, so was ist genau sein Ding. Ich sehe mich in der Halle um. Da mich offenbar niemand bemerkt, lege ich die Hand auf den Türknauf und ziehe, obwohl mir bewusst ist, dass ich das nicht tun sollte.

Die Tür geht einen Spaltbreit auf, und nach einem letzten Blick über die Schulter stehle ich mich in den Saal.

Es ist, als würde ich eine Kathedrale betreten. Auch diese Kuppeldecke ist aus dunklem Holz geschnitzt und mit einem beeindruckenden Strahlenkranzmuster verziert. Vier Kristalllüster spenden dem großen Raum Licht. So leer, wie er jetzt ist – mit einem einsamen Staubsauger in der Mitte –, kommt er mir fast so groß wie ein Fußballfeld vor.

Leer bedeutet, hier spielt kein Streichquartett, obwohl die Musik weiterhin erklingt. Während ich in den Saal hineingehe, sinken meine Schuhe geräuschlos in den blau-weißen Teppichboden im viktorianischen Stil. Ich passiere eine kleine Bühne, auf der tatsächlich ein Ensemble spielen könnte, und überquere die Tanzfläche, bis ich zu einer langen Fensterfront auf der anderen Seite gelange. Dahinter liegen der begrünte Haupteingang und die gepflasterte lange Auffahrt, die von Zypressen mit Louisianamoos gesäumt ist.

Als die Musik anschwillt, erfüllt sie mich wie eine Strömung, obwohl ich immer noch keine Lautsprecherboxen entdeckt habe. Ich folge dem Klang zur Bühne in der Saalmitte, wo irgendwo die Anlage versteckt sein muss.

»Beeindruckend, nicht wahr?«

Ich zucke zusammen. Hinter mir steht eine Frau Mitte dreißig mit dichtem braunem Haar und einem seltsamen Lächeln. Ihre Augen sind rund wie Glasperlen.

Ich fahre mir mit der Hand ans Herz. »Entschuldigung – der Zutritt ist wohl nicht erlaubt?«

Sie winkt ab. »Alles gut. Hier wird nur gerade alles für eine Konferenz vorbereitet.« Sie streckt die Hand aus. »Ich bin Sofia Moreno, die Geschäftsführerin des Hotels.«

Wir schütteln uns die Hand. »Äh, Nell«, sage ich. »Nell Martin.«

»Ich weiß, wer du bist.« Sie sagt das so, als würde sie weitaus mehr als meinen Namen kennen, und ich winde mich unter ihrem eulenhaften Blick.

Meine Hand lässt sie auch nicht los.

»Nell?« Von der Flügeltür hallt die Stimme meines Vaters herüber.

»Sie ist hier«, ruft Sofia, ohne den Blick von mir abzuwenden. Sie beugt sich vor, als wollte sie mir ein Geheimnis verraten. »Wir haben dich gesucht.«

»Ja.« Ich entziehe Sofia meine Hand. »Tut mir leid.«

Dad kommt näher und zieht die Augenbrauen hoch. »Was machst du denn hier?«

»Mich umschauen?«

Er sieht mich auf diese bestimmte Weise an, die mir sagt, dass ich mit meiner guten Erziehung mehr Respekt vor geschlossenen Türen haben sollte.

Sofia räuspert sich. »Ich dachte, ich zeige Ihnen erst mal Ihr Zimmer, damit Sie sich dort einrichten können, und dann führe ich Sie herum.«

»Das hört sich gut an«, sagt Dad.

Sie gibt uns die Schlüsselkarten und ihre neonorangen Fingernägel funkeln grell im Schein der Kronleuchter. Ich streiche mit dem Daumen über die viereckige Karte, auf der das Grand bei Nacht abgebildet ist, voll erleuchtet mit riesigen altmodischen Glühbirnen. Noch eine Karte für meine Sammlung.

»Kommen Sie mit«, sagt Sofia.

Sie geleitet uns aus dem Ballsaal zu einem leeren Aufzugschacht mit schmiedeeisernem Gehäuse.

»Es dauert höchstens eine Minute, bis er kommt«, sagt sie und lächelt Dad an.

Unsichtbare Getriebe und Flaschenzüge surren in der Höhe, bis der Boden des Aufzugs erscheint. Klirrend hält er an. Eine innen liegende Tür gleitet zurück, ein weißer Handschuh erscheint, und schon werden auch die Außentüren aufgezogen und eine vierköpfige asiatische Familie steigt aus. Der kleinere Junge hat ein Eimerchen und eine kleine Schaufel zum Sandburgenbauen in der Hand. Die Gäste nicken im Vorbeigehen und lächeln uns zu, bevor Dad die vergitterte Kabine betritt.

»Guten Tag, Sir«, sagt der Liftboy, dessen flaumiges weißes Haar sich wie Zuckerwatte um seinen Zylinder kräuselt. Seinem Aussehen nach war er bereits hier, als das Hotel eröffnet wurde. »Nach oben?«

»Ja, bitte«, antwortet Dad.

Meine Zehen schweben über dem Rand des eisernen Kastens. Ich rede mir gut zu hineinzugehen, doch etwas daran fühlt sich falsch an. Mir wird regelrecht übel, als ich in die winzige Aufzugkabine starre. Mein Vater sieht mich fragend an, während Sofia mir mit ihrem Blick Löcher ins Rückgrat brennt. Aber mein Kopf ist völlig leer, ich habe vergessen, wie man sich bewegt.

Dad runzelt die Stirn. »Alles in Ordnung, Nellie-Maus?«

Irrationale Ängste. Das ist alles.

»Klar«, sage ich mit einem gezwungenen Lächeln und betrete – gefolgt von Sofia – den Käfig. »Alles bestens.«

»Welches Stockwerk?«, fragt der Liftboy.

»Viertes, bitte«, erwidert Sofia.

Der alte Mann nickt und zieht die Aufzugtüren zu. Nachdem er auf einen Knopf gedrückt hat, setzt sich das Getriebe über unseren Köpfen knirschend in Bewegung und der Aufzug schwebt mit einem sanft murmelnden Zischen aufwärts.

Während der Fahrt unterhält mein Vater sich mit dem Liftboy und fragt, woher er kommt (»auf Winslow Island geboren und aufgewachsen«) und wie lange er schon im Grand arbeitet (»Neunundsechzig Jahre, hab mit elf als Schuhputzer angefangen«), doch ihre Stimmen sind gedämpft, als würden sie unter Wasser miteinander sprechen. Mein Blick zuckt über den wirbelnden goldenen Käfig. Die Wände verformen sich langsam und wölben sich wie eine zerquetschte Dose nach innen. Der Boden drückt gegen meine Füße und die Decke sackt bröckelnd nach unten. Unter dieser Last verbiegt sich die verschnörkelte Goldverzierung des Aufzugs und blitzt im Deckenlicht wie Metallzähne.

Ganz ruhig, denke ich. Das ist nicht echt. Ich mustere die Gesichter von Dad, Sofia und dem Liftboy, um festzustellen, ob sie es auch bemerken – den Sauerstoffmangel, die unerträgliche Hitze. Doch sie lächeln nur und nicken einander zu, als würden wir nicht von den Wänden zerquetscht. Als würden sie nicht unsere Organe platt drücken und unsere Knochen zermahlen.

Endlich sagt der Liftboy »Vierter Stock« und öffnet die Aufzugtüren. Ich bin als Erste draußen. Dort stütze ich die Hände auf die Knie und ringe nach Luft, während ich auf meinen Vater und Sofia warte.

Plötzlich tauchen Dads Schuhe neben meinen auf, und er legt mir den Arm um die Schultern. »Nell? Geht es dir nicht gut?«

»Mir war nur schwindlig«, keuche ich. Das hört sich immer noch besser an als Klaustrophobie, und auch nicht so verrückt. Ich atme noch einmal tief durch und richte mich auf. »Ist schon wieder besser.«

Meinen Vater kann ich damit nicht überzeugen, doch Sofia geht bereits weiter und führt uns zu einem der sonnendurchfluteten Flure mit Blick auf den Garten im Innenhof. Ich folge ihr und Dad um die Ecke und halte mich krampfhaft an den Schulterriemen meines Rucksacks fest.

13. AUGUST 1905

Detective Roberts: Wie haben Sie Miss Sargent kennengelernt?

Tatverdächtiger 1: Wir sind uns am Tag ihrer Ankunft im Hotel begegnet. Ich habe ihr Gepäck und das ihrer Familie auf ihr Zimmer gebracht.

Detective Roberts: Wie würden Sie Miss Sargents Verfassung zu diesem Zeitpunkt beschreiben?

Tatverdächtiger 1: Sie wirkte ein wenig distanziert, wobei das nichts Ungewöhnliches ist. Wie Sie sich sicher vorstellen können, treten die Gäste nur selten mit dem Personal in Kontakt.

Detective Roberts: Dennoch wurden Sie beide mehr als einmal von diversen Hotelgästen zusammen gesehen. Wie genau würden Sie Ihre Beziehung zu Miss Sargent beschreiben?

Tatverdächtiger 1: Wir waren befreundet.

Detective Roberts: War es eine enge Freundschaft?

Tatverdächtiger 1: (schweigt)

Detective Roberts: Ich nehme an, Ihnen war bekannt, dass sie im September einen gewissen Mr Lon Van Oirschot heiraten sollte, der ebenfalls im Hotel logierte?

Tatverdächtiger 1: Ja, das wusste ich.

Detective Roberts: Und wie würden Sie Miss Sargents Haltung zu Mr Van Oirschot beschreiben?

Tatverdächtiger 1: Liegt das denn nicht auf der Hand?

Detective Roberts: Beantworten Sie bitte die Frage.

Tatverdächtiger 1: Abweisend. Ich würde sie als abweisend bezeichnen.

– Befragungsprotokoll Tatverdächtiger 1 –

Fallakte Aurelea Sargent

Kapitel Fünf

LEA

 

Kaum hat Mutter die Tür zu unserer Suite geschlossen, nimmt Vater mich beiseite und hält mir eine Standpauke, weil ich ihn wegen eines Aufzugs vor Gott und jedermann sonst lächerlich gemacht habe. Mutter, die stets ihren Blick abwendet, wann immer Vater Benny oder mich züchtigt, macht eine Bemerkung über das bezaubernde Wohnzimmer und betont, wie schön es sei, eine Veranda mit Blick aufs Meer zu haben. Zusammen mit Benny und seiner Kinderfrau tritt sie hinaus auf die überdachte Terrasse und ignoriert dabei völlig den festen Griff, mit dem Vater meinen Arm umschließt.

»Du wirst auf keinen Fall weiter dagegen angehen, sondern die Situation akzeptieren, Aurelea. Und solltest du irgendetwas anderes als reine Begeisterung über diese Hochzeit zeigen, dann werde ich, Gott sei mein Zeuge …«

Aber ich bekomme nicht mehr mit, was er dann tun wird, denn sein Vortrag wird von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.

Ich entziehe ihm meinen Arm. »Ich habe es verstanden.«

Vater presst die Kiefer aufeinander, aber er lässt mich gehen.

Ich fahre mit der Hand über meinen Ärmel, streiche den Stoff glatt und öffne dann die Tür.

Als Erstes sehe ich einen Hals. Einen sehr gebräunten Hals mit einem hervortretenden Adamsapfel und einem Schlüsselbein, das ein Stück weit unter dem blendend weißen Kragen hervorschaut. Unterhalb des Halses befindet sich eine Pagenuniform, die den Eindruck macht, als wäre sie gerade erst in aller Hast übergestreift worden. Die Jacke sitzt schief, weil das erste Knopfloch ausgelassen wurde. Mein Blick wandert wieder zu dem Hals mit dem hochstehenden Hemdkragen und dann weiter zu einem kräftigen, kantigen Kinn, hohen Wangenknochen und Lippen, die zu einem leichten Lächeln verzogen sind. Glatte dunkle Haare hängen dem Pagen über die Schläfen und umrahmen seine dunklen üppigen Augenbrauen. Und diese Augen …

Nie zuvor habe ich so blaue Augen gesehen – wie Zwillingssaphire, und vollkommen makellos, ohne den geringsten Sprenkel. Ganz anders als meine haselnussbraunen Augen, in denen sich Braun- und Grüntöne mischen. Doch nicht nur die Farbe ist faszinierend, obwohl ich mir sicher bin, dass ich noch nicht mal einen Himmel in einem solchen Blau gesehen habe. Es ist der weiche Ausdruck, mit dem er auf mich hinabblickt, gepaart mit den Lachfältchen in seinem Gesicht. Diese Augen haben etwas Unerschrockenes, fast Gefährliches. Ein Mehr liegt darin.

»Miss Sargent?«, fragt der Page.

Ich räuspere mich. »Ja?«

»Ich bringe das Gepäck.« Er zeigt nach links, wo ein Gepäckwagen steht.

»Oh, richtig.« Ich zähle vier Gepäckstücke und runzele die Stirn. »Aber es ist nicht vollständig.«

Es ist nur eine Feststellung – Mutter beschuldigt mich oft, zum unpassendsten Zeitpunkt laut zu denken. Doch kaum sind mir die Worte entschlüpft, da begreife ich, dass sie vorwurfsvoll klingen könnten, als würde ich ihn verdächtigen, sich mit dem restlichen Gepäck aus dem Staub machen zu wollen.

»Ja, das stimmt«, bestätigt der Page. »Das fehlende Gepäck wird in Kürze heraufgebracht. Wir haben zu zweit nicht in den Lift gepasst.«

»Natürlich nicht«, entgegne ich. »Wie dumm von mir.«

Er lächelt höflich. »Nein, gar nicht. Ich wäre auch sehr besorgt, wenn ich feststellen würde, dass etwas fehlt.«

»Sie sind zu freundlich. Kommen Sie herein.« Ich trete zur Seite, damit er an mir vorbeikann, überlege es mir aber anders und stelle mich ihm wieder in den Weg. »Einen Moment noch.«

Er legt den Kopf schief und seine Mundwinkel zucken.

»Ihre Uniform«, erkläre ich. »Sie ist etwas derangiert.«

Er blickt an sich hinunter und flucht leise. »Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug.«

»Mich stört das nicht«, sage ich rasch, bevor er noch einen falschen Eindruck bekommt.

Mit fliegenden Fingern knöpft er die Jacke wieder auf und ich erhasche einen Blick auf die hervortretenden Bauchmuskeln unter seinem Hemd. Unverzüglich wende ich meinen Blick ab und betrachte die Wand hinter ihm. »Mein Vater hingegen …«

»… ist kein Freund falsch geknöpfter Uniformjacken?«

»Nicht wirklich.« Er knöpft die Jacke wieder zu, diesmal richtig.

»Haben Sie Ihre Schicht gerade erst begonnen?«, frage ich, »oder kommen Sie aus Ihrer Pause?«

Er klappt den Hemdkragen um. »Nicht wirklich«, wiederholt er meine Worte mit einem Augenzwinkern. »Wissen Sie, ich bin eigentlich kein Page.«

»Ach nein?«

»Ich bin eher eine Art Laufbursche«, erklärt er. »Ich kann beinahe jeden Job hier im Hotel übernehmen – also, jeden Job, für den man nicht studiert haben muss. Deshalb helfe ich immer dort aus, wo Not am Mann ist. Gerade komme ich vom Kartoffelschälen und heute früh habe ich auf dem Golfplatz gearbeitet.«

Ich lehne mich mit der Schulter an den Türrahmen. »Was Sie nicht sagen. Ich bin beeindruckt.«

Er streicht mit den Händen über seine Hose und glättet den Stoff, dann strafft er die Schultern und imitiert in perfekter Weise einen Soldaten bei der Musterung. »Besser?«

Ich lache. »Viel besser.«

Er entspannt sich. »Danke schön. Ganz ehrlich. Sie haben mich vor einer Blamage und wahrscheinlichen auch vor einer Herabstufung bewahrt. Ich stehe für immer in Ihrer Schuld.«

»Vorsicht. Vielleicht muss ich das einmal ausnutzen.«

Er grinst schief. »Das hoffe ich.«

Ich sehe ihn noch einen Augenblick lang an, unsicher, was ich von ihm halten soll, dann entferne ich mich ein Stück von der Tür und rufe ins Zimmer: »Die Koffer sind da.«

»Nur vier von ihnen«, ergänzt der Page, der eigentlich ein Laufbursche ist. Er zwinkert mir zu, während er den Gepäckwagen vor sich herschiebt. »Aber ein weiterer Page wird die übrigen Gepäckstücke jeden Moment bringen.«

Vater seufzt und zieht seine Brieftasche hervor, die sehr viel flacher aussieht, als ich es sonst von ihm gewohnt bin. Er drückt dem Jungen einen Dollarschein in die Hand. »Sie teilen sich das Trinkgeld, verstanden?«

»Ja, Sir«, erwidert er.

Ich drücke mich gegen die Wand, während der Junge unsere Koffer in die Schlafzimmer trägt, die Mutter uns bereits zugewiesen hat. Noch vor einem Jahr hätte jetzt ein Dienstmädchen bereitgestanden, um meine Sachen auszupacken, aber sicher schaffe ich das auch allein.

Als er fertig ist, greift der Junge nach dem leeren Gepäckwagen und will zur Tür gehen, doch Vater hält ihn auf. »Wie ist Ihr Name?«

»Alec, Sir«, sagt er. »Alec Petrov.«

Vater kneift die Augen zusammen. »Ich werde mich beim Hotelmanager nach Ihnen erkundigen, Mr Petrov, und nachfragen, ob Sie das Trinkgeld mit dem anderen Pagen geteilt haben.«

An Alecs Unterkiefer zuckt ein Muskel. »Sehr gern, Sir.«

Er verbeugt sich steif zum Abschied und wirft mir noch einen Blick zu. Dann schiebt er den Gepäckwagen hinaus auf den Flur und schließt die Tür hinter sich.

»Was denkst du denn von ihm?«, sage ich zornig zu Vater.

»Dass er seinen armen Kollegen übers Ohr haut?«

Vater zieht die Augenbrauen hoch. »Achte auf deine Ausdrucksweise, Liebes. Lon soll nicht glauben, wir hätten dich auf einer Farm in Kansas aufgegabelt.«

Oh nein. So leicht kommt er mir nicht davon. »Also denkst du das wirklich?«

Er wirft mir einen vielsagenden Blick zu. »Manchmal vergesse ich, wie naiv du bist, Aurelea. Junge Männer in seinem Alter, in seiner Position – können sich geradezu animalisch verhalten.«

Ich schüttle den Kopf. »Du kennst ihn doch nicht einmal.«

»Und du schon?«

»Nein, aber ich ziehe es vor, erst einmal vom Besten auszugehen.«

Vater starrt mich noch einen Moment an und lacht dann leise. »Zieh dich um. Lon erwartet dich in einer halben Stunde im Speisesaal.«

Ich würde ihn gern fragen, ob Lons jeweilige Launen meinen ganzen Sommer dominieren werden, aber natürlich kenne ich die Antwort bereits.

Kapitel Sechs

NELL

 

Sofia führt uns durch mehrere gewundene Flure, die kein Ende nehmen wollen und nur hier und da zu dem einen oder anderen Hotelzimmer abzweigen. Dankbar nehme ich die Hinweisschilder an den Wänden zur Kenntnis, obwohl ich trotz ihrer Hilfe bezweifle, dass ich allein zur Treppe zurückfinde. Keinesfalls werde ich noch einmal den Aufzug benutzen.

Sofia biegt in einen Gang ein, an dessen Ende zwei Türen liegen. »Wir sind da.« Mit ihrer Universalschlüsselkarte öffnet sie die Tür auf der linken Seite. »Home sweet home.«

Unser Zimmer ist doppelt so lang wie breit, verfügt über ein großes Bad, einen begehbaren Kleiderschrank, zwei Doppelbetten und hohe Fenster mit weißen Holzläden. Zwei gehen auf das grüne Dach des riesigen Hotels hinaus, während man durch die gegenüberliegende Fensterreihe auf ein hübsches Balkongeländer blickt. Allerdings versperrt ein großer Baum die Aussicht, dessen Äste bei einem starken Windstoß das Fenster streifen könnten. Ich wähle das Bett an der Fensterfront und lege meinen Rucksack auf der weichen Daunendecke ab.

Da unser Gepäck noch nicht angekommen ist und wir uns infolgedessen nicht umziehen oder häuslich einrichten können, bittet Dad Sofia um die angekündigte Hotelführung.

Sie klatscht in die Hände. »Gute Idee.«

Ich stecke die Schlüsselkarte in die Hosentasche, schließe die Tür und folge ihnen in den kleinen Flur. Sofia lenkt uns zu einer schmalen Treppe, die mir zuvor nicht aufgefallen war.

»Wollen wir oben anfangen und uns langsam nach unten vorarbeiten?«, fragt sie.

Dad nickt. »Klingt gut.«

Da Dad die Gäste betreut, soll er sich Sofia zufolge möglichst schnell den Grundriss des Hotels einprägen – falls zum Beispiel in einem der Zimmer ein Notfall eintritt. Ich versuche ihrer Unterhaltung zu folgen, während wir uns durch die engen Flure im vierten Stock schlängeln. Sofia zufolge lagen hier früher die Schlafräume der Zimmermädchen und Pagen, die durchgehend im Grandhotel beschäftigt waren. Doch der Blick durch die Fenster, die entweder auf den Strand oder die Auffahrt mit dem Kopfsteinpflaster hinausgehen, lenkt mich ab.

Die Dielen knarren unter meinen Schritten und ich male mir aus, wie es wohl vor hundert Jahren war, hier entlangzugehen. Ich sehe das Hotel buchstäblich vor mir, mit einem anderen Teppichboden, nicht so modern, aber auch nicht halb so flauschig wie in den unteren Etagen. Dazu eine frischere Wandfarbe, weil das Gebäude noch nicht so alt war und weniger unter dem Klima und nachlässigen Gästen gelitten hatte. Schließlich nutze ich mein Halbwissen über die Epoche, um die es hier geht. Ich stelle mir einen Mann vor, der auf mich zukommt, in einer hellbraunen Hose und einem weißen Hemd unter einer karierten Weste und einem braunen Mantel. Er lächelt mich an und tippt im Vorbeigehen an seine Ballonmütze.

»Miss«, sagt der flüchtige Bekannte in meiner Einbildung.

Ich drehe mich zu ihm um und antworte mit einem Lächeln.

Es scheint im Bereich des Möglichen zu liegen, diese Person und ihre Begrüßung in diesem Flur, den es seit über hundert Jahren gibt und durch den Tausende von Menschen gegangen sind. Ganz so, als läge ihre Gegenwart schwer in der Luft, jedes Jahr, jeder einzelne Gast, alle gleichzeitig am gleichen Ort, aber doch auf verschiedenen Existenzebenen. Ich strecke die Hand aus und greife ins Leere, dorthin, wo der Mann aus meinen Gedanken an mir vorbeigelaufen ist.

Gab es ihn wirklich? Oder jemanden, der ihm ähnlich war? Wie viele Menschen sind über die Jahre an diesen Fenstern vorbeigekommen? Wie viele haben genau die gleiche Aussicht genossen wie ich jetzt? Was haben sie gedacht und gefühlt? Wie sah ihre Zukunft aus? Und wie ihre Vergangenheit?

Ich habe mich nie für historische Daten und Fakten wie Schlachten, Dokumente und Regierungen interessiert, doch die Gesichter, die mich von Schwarz-Weiß-Fotos oder lebensechten Porträts ansehen, werfen in meinen Gedanken immer Fragen auf: Was ist deine Geschichte? Wie hast du gelebt? Wie bist du gestorben?

Nach der Sache mit Mom hat sich das Bedürfnis, den Sinn des Ganzen zu erkennen, noch verstärkt. Wenn ich sehe, wie die Fäden zahlloser Leben über die Jahrhunderte hinweg miteinander verknüpft sind, möchte ich das irgendwie verstehen.

Dad ruft vom Ende des Flurs nach mir und ich beeile mich.

»Und diese Treppe«, sagt Sofia, »führt in unseren höchsten Turm.«

»Können wir raufgehen?«, frage ich und lege eine Hand auf das Geländer.

Sofia schüttelt den Kopf. »Da oben ist es dunkel und nicht sonderlich sauber. Der Turm ist aus versicherungstechnischen Gründen abgeschlossen und wird nicht mehr genutzt. Tut mir leid.«

»Kein Problem«, sage ich, doch die Enttäuschung schwingt in meiner Stimme mit.

Während wir mit der Hotelführung auf den anderen Gäste-Etagen fortfahren, passieren wir weitere Treppen. Ich brauche also nicht mal mehr in die Nähe des Aufzugs zu gehen, wenn ich nicht möchte. Je tiefer wir vordringen, umso breiter werden die Flure. Schließlich gelangen wir in den ersten Stock, der noch weitläufiger ist als die anderen. Wenn Dad, Sofia und ich mit ausgebreiteten Armen nebeneinanderstünden, könnten wir die Breite des Hauptgangs möglicherweise ausfüllen. Doch ich möchte die geschäftsmäßige Atmosphäre nicht stören, indem ich meine Theorie überprüfe.

Sofia erklärt uns, dass seit vielen Jahren die wohlhabendsten und wichtigsten Gäste auf dieser Etage absteigen.

Antike Möbel aus der Originaleinrichtung – zart geschwungene Sofas mit Samtkissen und drei Meter hohe Spiegel, aus deren Holzrahmen Efeuranken und Cherubinen hervorragen – sind an strategisch günstigen Stellen postiert. Ihr Anblick verstärkt das Gefühl, Vergangenheit und Gegenwart würden nebeneinander bestehen. Doch irgendetwas daran stört mich, als wäre ich in meinem Körper nicht wirklich zu Hause. Als würde ein Teil von mir diese Wände prägen, tief in die Bodendielen sinken und wie Tausende anderer Besucher vor mir ein Stück meiner Seele diesem Ort vermachen.

Ich frage mich, ob es sich für Dad auch so anfühlt.

Während Sofia und Dad die Aussicht auf den Garten genießen, stelle ich mich vor einen der alten schwarz angelaufenen Spiegel. Die Cherubine blicken starr zu mir hinunter, während ich mein Spiegelbild betrachte. Wer stand in all den Jahren schon davor?

Plötzlich habe ich das Bild eines Mädchens in einem roséfarbenen Ballkleid aus Satin vor Augen, das sich vor dem Spiegel dreht und lacht. Ich strecke die Hand nach ihm aus und streife mit den Fingerspitzen über das Glas, doch sie ist so schnell verschwunden, wie sie mir erschienen ist. Ich komme mir lächerlich vor, weil die Fantasie so mit mir durchgeht.

Die Führung auf dieser ersten Etage endet in der Galerie über der Eingangshalle.

»Früher haben hier die Frauen gesessen«, erklärt Sofia, während wir uns über das Geländer beugen. »Sie nahmen hier ihren Tee ein und beobachteten die Gäste in der Lobby. Von hier aus behielten sie wie in einer Daily Soap aus dem neunzehnten Jahrhundert alles genau im Auge – jede Beziehung und jedes private Drama, das durch die Flügeltüren hier Einzug hielt.«

»Faszinierend«, sagt Dad. So tief waren seine Grübchen noch nie.

Als Nächstes zeigt Sofia uns die Frühstücks- und Speisesäle sowie einen Souvenirladen. Darin kann man alles Mögliche rund um das Grandhotel kaufen, zum Beispiel Fotos von Lottie Charleston, einem Filmstar aus den 1930er Jahren. Offenbar ist sie gern hier abgestiegen und überzeugte sogar die damaligen Hollywoodgrößen, einen ihrer berühmtesten Filme hier zu drehen.

»Da«, sagt Sofia und führt uns in einen Gang mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotos. »Das ist unsere Erinnerungswand.«

Die Fotos wurden vergrößert und auf Leinwände geklebt, sodass sie sehr lebendig wirkten. Auf einem Bild stehen Männer und Frauen in viktorianischer Kleidung vor dem Garten und betrachten ein Schild mit der Aufschrift »The Winslow Island Horticulture Club«. Auf einem anderen sonnen sich Frauen mit für Stummfilmstars typischen Frisuren und dunklem Augen-Make-up am Strand, und auf einem weiteren singt Lottie Charleston in einem schwarzen Glitzerkleid mit Pelzstola in ein altmodisches Mikrofon. Auf dem Foto daneben trinkt Cornelius Vanderbilt Tee auf der Veranda, die rund um das Hotel verläuft.

Doch das Foto, das mich am meisten interessiert, wurde im Ballsaal aufgenommen, den Petticoats nach zu urteilen irgendwann in den 1950er Jahren. Die altmodischen Glühbirnen der Kristalllüster leuchten wie üppige Sterne über den tanzenden Paaren, und mit einem Klick hat der Fotograf den Schwung und die Aufregung jener Nacht für zukünftige Generationen festgehalten.

Was habt ihr erlebt?

Warum wart ihr hier?