Das Hundertwabenland - Jan Kretz - E-Book

Das Hundertwabenland E-Book

Jan Kretz

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Beschreibung

Im ganzen Hunertwabenland herrscht seit vielen Jahrzehnten scheinbar Frieden. Doch die Opfer, die erbracht werden müssen, um diesen scheinbaren Frieden zu bewahren, sind groß. Zu groß? Das ist die Meinung einiger Wesen, die sich gegen diesen trügerischen Frieden zur Wehr setzen wollen. Mehrere Wesen des Hundertwabenlandes schließen sich zusammen, um gegen den Hüter des Friedens zu rebellieren. Andere werden, ohne es zu wollen, in den Konflikt hineingezogen. Die Fassade des Friedens beginnt zu bröckeln.

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Seitenzahl: 765

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ähnliche


Inhaltsverzeichnis

Über das Buch 2

Impressum 2

Über den Autor 3

DAS HUNDERTWABENLAND 3

Kapitel 1 Die Botschafter 4

Kapitel 2 Ben 9

Kapitel 3 Silvan 20

Kapitel 4 Der der schon immer war 26

Kapitel 5 Ben 34

Kapitel 6 Emma 35

Kapitel 7 Nalu und Dwyn 53

Kapitel 8 Ben 64

Kapitel 9 Silvan 74

Kapitel 10 Wilhelm 85

Kapitel 11 Emma 91

Kapitel 12 Ben 94

Kapitel 13 Nalu und Dwyn 103

Kapitel 14 Fenja 108

Kapitel 15 Ben 117

Kapitel 16 Silvan 123

Kapitel 17 Wilhelm 127

Kapitel 18 Emma 129

Kapitel 19 Nalu und Dwyn 137

Kapitel 20 Silvan 145

Kapitel 21 Ben 156

Kapitel 22 Fenja 162

Kapitel 23 Emma 168

Kapitel 24 Jutta 174

Kapitel 25 Ben 177

Kapitel 26 Nalu 182

Kapitel 27 Wilhelm 195

Kapitel 28 Silvan 198

Kapitel 29 Emma 206

Kapitel 30 Fenja 212

Der Wolkenschlüssel 213

Der Felsenschlüssel 214

Der Wellenschlüssel 216

Ausbruch - Einbruch 220

Kapitel 31 Jutta 222

Kapitel 32 Ben 227

Kapitel 33 Nalu 228

Kapitel 34 Wilhelm 234

Kapitel 35 Silvan 236

Kapitel 36 Emma 246

Kapitel 37 Ben 249

Kapitel 38 Nalu und Dwyn 254

Kapitel 39 Emma 261

Kapitel 40 Wilhelm 263

Kapitel 41 Ben 265

Kapitel 42 Silvan 274

Kapitel 43 Wilhelm 277

Kapitel 44 Ben 279

Kapitel 45 Jutta 281

Kapitel 46 Wilhelm 284

Kapitel 47 Nalu und Dwyn 286

Kapitel 48 Emma 292

Kapitel 49 Wilhelm 298

Kapitel 50 Silvan 302

Kapitel 51 Ben 304

Der Angriff 307

Die Flucht 310

Kapitel 52 Wilhelm 315

Kapitel 53 Fenja 317

Kapitel 54 Silvan 322

Kapitel 55 Ben, Emma, Fenja, Jutta, Silvan, Nalu, Dwyn und all ihre Freunde 324

Epilog 1 Die Botschafter 329

Epilog 2 Lando 330

Fortsetzung folgt im zweiten Teil: Das Hundertwabenland und der Verlust des andauernden Friedens. 331

Bis jetzt bekannte Waben und ihre Lebewesen 331

Durchgang Tunnel 331

Braune Reich 37 Waben 2-38 332

Blaue Reich 32 Waben 39-70 332

Grüners Reich 29 Waben 71-99 332

Kuttenträger im Schloss 333

Über das Buch

Im ganzen Hundertwabenland herrscht seit vielen Jahrzehnten scheinbar Frieden. Doch die Opfer, die erbracht werden müssen, um diesen scheinbaren Frieden zu bewahren, sind groß. Zu groß? Das ist die Meinung einiger Wesen, die sich gegen diesen trügerischen Frieden zur Wehr setzen wollen. Mehrere Wesen des Hundertwabenlandes schließen sich zusammen, um gegen den Hüter des Friedens zu rebellieren. Andere werden, ohne es zu wollen, in den Konflikt hineingezogen. Die Fassade des Friedens beginnt zu bröckeln.

Impressum

Texte: © Copyright by Jan Kretz Umschlaggestaltung: © Copyright by Jan Kretz

[email protected]

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]

Über den Autor

Mit Mitte dreißig hat Jan sich getraut, seinen Traum zu verwirklichen: Ein Buch zu schreiben und es zu veröffentlichen. Schon immer hatte er viele fantasievolle Geschichten im Kopf, die nur darauf warteten, aufgeschrieben zu werden. Schon seine Kinder hören sie gerne. Von seiner Frau wurde er immer wieder ermutigt, die Geschichten aufzuschreiben. Einer der Gründe, warum er so lange gewartet hat, war seine Legasthenie. Seine Frau hat ihn ermutigt und gesagt: "Deine Geschichten sind toll und für die Rechtschreibung gibt es Hilfen". Er machte sich an die Arbeit und entwickelte Freude am Schreiben.

DAS HUNDERTWABENLAND

Jan Kretz

und der Schein des andauernden Friedens

Roman

1. Auflage

Kapitel 1 Die Botschafter

Im Hundertwabenland spielt sich etwas Seltenes ab. In der innersten Wabe, der Wabe Nummer 1, befindet sich ein Schloss. Zumindest sieht es so aus, als wäre es vor langer Zeit einmal ein Schloss gewesen. Es fehlt nicht mehr viel. Dann kann man es als Ruine bezeichnen. Aber vermutlich war es zu Glanzzeiten sogar mal ein sehr prächtiges Schloss.

Es steht genau in der Mitte der Wabe. Vor dem düster wirkenden Tor aus dunklem, leicht modrigem Holz mit schwarzen Beschlägen, das so groß ist, dass vier Elefanten nebeneinander hindurch passen, stehen drei Botschafter, jeder aus einem anderen Reich des Hundertwabenlandes.

 Dass sich zwei Bewohner aus verschiedenen Reichen treffen, ist eigentlich sehr selten. Dass sich Bewohner aus allen drei Reichen treffen, das hat es seit vielen Jahrhunderten nicht mehr gegeben.

 So stehen die drei nun vor dem Tor und warten auf Einlass zu dem, den die Bewohner des Hundertwabenlandes nur “Der, der schon immer da war“ nennen. Seinen richtigen Namen kennen nur wenige. Das liegt daran, dass er mehr und mehr zu einem Mythos geworden ist. In den letzten zweihundert Jahren hat ihn außerhalb der ersten Wabe kaum jemand gesehen oder von ihm gehört. Bis zu dem Tag, an dem jeder der drei Botschafter eine Nachricht von ihm erhielt, in der er sie aufforderte, in einer sehr wichtigen Angelegenheit, die keinen Aufschub duldete, zu ihm ins Schloss zu kommen. Wenn “Der, der schon immer da war“, um einen bittet, würde keiner es wagen, die Einladung abzulehnen.

 Die drei Botschafter, die nun am Tor warten, haben wenig mit Menschen gemein. Der erste Botschafter, Carlos, ist ein Peraaroner. Seine Heimat liegt in der elften Wabe. Diese wiederum liegt in dem Reich, das auf der Karte als das braune Reich eingezeichnet ist. Es ist in siebenunddreißig Waben unterteilt: Von zwei bis achtunddreißig.

 In diesem Reich gibt es nur Lebewesen, die einen festen Körper haben. Zwölf Waben hat Carlos durchquert, bis er vor dem Tor steht. Seine Erscheinung ist kraftvoll. Er hat eine stattliche Größe, etwa drei Meter. Sein Körper ist aus etwas, das wie Sand aussieht. An jeder Seite seines Körpers befinden sich zwei Arme. Einer ist lang, der andere kurz. Die Beine sind für seine Größe etwas kurz, aber sehr kräftig gebaut. Einen Hals gibt es nicht. Der Kopf ist direkt auf dem Körper aufgesetzt. Den Kopf muss er nicht bewegen können: Er kann seine Augen sogar auf dem Kopf einmal im Kreis bewegen. Das kann zum Beispiel beim Rückwärtslaufen sehr praktisch sein.

 Carlos gilt im braunen Reich als großer Abenteurer. Nur von ihm weiß man, dass er alle siebenunddreißig Waben des braunen Reiches durchquert hat. Sogar die achtundzwanzigste Wabe, in der sich das Reich der glatten Schluchten befindet. Um dorthin zu gelangen, muss man mehrere tiefe Schluchten durchqueren, deren Wände spiegelglatt sind. Dort leben nur Wesen, die fliegen können. Carlos kann das nicht und hat es trotzdem geschafft. Wie, das hat er bis heute niemandem verraten.

 Jedenfalls wartet er mit den beiden anderen Botschaftern darauf, dass sich das Tor öffnet.

 Philimonie. Die zweite Botschafterin gehört zu den Cidariades. Diese stammen aus der 45. Wabe, die in dem Reich liegt, das auf der Karte als das blaue Reich gekennzeichnet ist. In diesen Waben leben ausschließlich Lebensformen, deren Körper flüssig sind. Dieses Reich besteht aus zweiunddreißig Waben, die in die Waben neununddreißig bis siebzig unterteilt sind.

 Philimonie kann man vielleicht ein wenig mit einer Qualle vergleichen. Ihr Kopf geht wie bei einer Qualle direkt in den Körper über, aus dem unten sechs Arme herausragen. Dieser wiederum scheint über einen Körper gestülpt zu sein, der genauso aussieht, nur ohne Gesicht und doppelt so groß, und nur vier Beine ragen unten aus dem Körper heraus. Ihre geleeartige Haut schimmert leicht rosa.

 In ihrem Reich gilt sie als besonders mutig und wagemutig. Einmal, was bisher als unmöglich galt, tauchte sie bis auf den Grund der Wabe siebenundsechzig, die nur aus Meer besteht, um eine Kette zu holen, die ins Meer gefallen war. Auf dem Weg nach unten lauern viele Gefahren, die einem das Leben kosten können. Sehr starke Strömungen, die dich gegen die Wand treiben, riesige Kreaturen, die so groß sind, dass du es nicht einmal merkst, wenn sie dich versehentlich verschlucken. Wenn man noch tiefer taucht, stößt man auf eine Dunkelheit, die einem die Orientierung raubt... um nur einige Gefahren zu nennen. Trotz alledem gelang es Philimonie, die Kette wieder heraufzuholen.

 Sie musste nur drei Waben durchqueren, um mit den beiden anderen Botschaftern darauf zu warten, dass sich das Tor öffnet.

 Chipper, ein Lupure, kommt aus dem Gebiet, das auf der Karte als grünes Reich gekennzeichnet ist und mit 29 Waben das kleinste ist. Er ist aus der zweiundneunzigsten Wabe angereist und hat somit den weitesten Weg von den dreien zurückgelegt, um hier mit den beiden anderen Botschaftern vor dem Tor zu warten.

 Auch Chipper ist in seinem Reich für seinen außergewöhnlichen Mut, seine Abenteuerlust und seine Schlauheit bekannt.

 Wie alle Bewohner der Grünen Region hat er ein gasförmiges Aussehen, ein wenig wie ein Tiger, nur größer und breiter. Er steht auch nur auf zwei Beinen, kann aber genauso gut auf allen vieren laufen. Das tut er vor allem, wenn er es eilig hat. Sein gasförmiger Körper ist schwarz mit vereinzelten grünen Streifen.

 In der neunundneunzigsten Wabe herrscht immer ein heftiger Sturm. Kein vernünftiges Wesen, das einen gasförmigen Körper besitzt, geht dorthin. Wer es trotz aller Warnungen versucht, wird in alle Richtungen geblasen, bis sich das ganze Körpergas aufgelöst hat. Der einzige, der es hinein und wieder heraus geschafft hat, ist Chipper. Er soll einen Weg gefunden haben, den Wind zu überlisten. Aber wie, das hat er nie verraten. So wurde er zu einer lebenden Legende im grünen Reich.

 Die drei stehen nun schon eine ganze Weile vor dem Tor, ohne auch nur ein einziges Wort miteinander gesprochen zu haben. Schließlich ist es eine Ewigkeit her, dass sich Bewohner dreier verschiedener Reiche gegenübergestanden, geschweige denn miteinander gesprochen haben.

 Philimonie wollte schon mehrmals etwas sagen, aber ihr fiel nichts ein, was man in einer solchen Situation sagen konnte. Da ergreift Carlos zuerst das Wort: »Ich bin Carlos aus der neunten Wabe.« Seine Stimme ist tief und rau. Die beiden anderen tun es ihm gleich. »Ich bin Philimonie aus der fünfundvierzigsten Wabe.« Ihre Stimme klingt hoch und weich. Sie spricht mit einer leichten melodischen Stimme. Der tigerähnliche Botschafter stellt sich mit leiser, leicht zischender Stimme vor: »Chipper nennen sie mich in der zweiundneunzigsten Wabe. Ich wurde hierher eingeladen, wahrscheinlich wie ihr auch.« Die beiden anderen nickten zustimmend. »Wurdet ihr über das Anliegen informiert?«, fragte Chipper weiter. Beide wissen von nichts. Wieder tritt ein kurzes Schweigen ein.

 Im Hundertwabenland gibt es nur eine Sprache, was die Verständigung untereinander sehr erleichtert. Zwar haben sich im Laufe der Zeit einige Dialekte und andere Sprachformen herausgebildet, aber fast jeder kann die Ursprache sprechen.

 Wieder ist es Carlos, der das Schweigen bricht: »Bei uns im braunen Reich gab es einige merkwürdige Vorfälle, die sich niemand erklären kann. Meine Vermutung ist, dass die Einladung damit zu tun hat.« Philimonies Miene wird ernster und sie fragt: »Was für Vorfälle?« Carlos zögert ein wenig, er ist sich nicht sicher, wie viel er den Fremden erzählen soll: Denn die Vorfälle waren sehr beunruhigend. Schließlich entscheidet er sich, ihnen davon zu erzählen. Er hat den Verdacht, dass das der Grund ist, warum sie alle hier sind. »Bei uns im Braunen Reich«, beginnt er zögernd, »wurde berichtet, dass eine Wabe verschwunden ist.« Er holt tief Luft, bevor er fortfährt: »Es war die fünfunddreißigste Wabe, dort leben die Steinmeisroller.«

 (Die Steinmeisroller sind ein sehr verspieltes und humorvolles Volk. Sie sehen aus wie runde Steinbrocken. Es gibt sie ganz klein, mit einem Durchmesser von nur 10 cm, oder riesengroß, mit einem Durchmesser von 2 m. Sie bewegen sich ausschließlich durch Rollen.)

 »Die Tore zu den Nachbarwaben waren verschlossen, man kam nicht mehr durch, um zu den Steinmeisenrollern zu gelangen.«

 »Wenn man nicht mehr durch die Tore kommt, woher weiß man dann, dass die Wabe verschwunden ist?«, fragt Chipper Carlo »War«, korrigiert Carlos, »ein Steinmeisroller berichtete, dass er die Nachbarwabe besuchen wollte, und als er durch das Tor ging, war dort ewiger Nebel. Er konnte kaum etwas sehen und fand nur mit Mühe den Weg zurück. Am nächsten Tag wollte ein anderer Steinmeisroller wieder die Nachbarwabe erkunden, aber da war wieder die gewohnte Wabe vierunddreißig mit all ihrer Baumbracht. Auch die Tore waren wieder offen. So etwas ist bei uns im braunen Reich noch nie der Fall gewesen?« Carlos schweigt wieder und wirkt nachdenklich.

 »Es ist wirklich sehr merkwürdig«, beginnt Philimonie, »bei uns im Blauen Reich, in der dreiundvierzigsten Wabe, ist etwas ganz Ähnliches passiert. Dort leben die Platteken.«

 (Sie sehen aus wie laufende Pfützen, und es gibt sie in allen erdenklichen Formen und Farben, die von dem dort ständig herrschenden bunten Regen stammen - nur eines haben sie gemeinsam: Sie sind flach. Wenn man sie von der Seite betrachtete, musste man sehr genau hinsehen, um überhaupt einen Strich zu erkennen.)

 »Auch die benachbarten Tore waren geschlossen. Ein Platteke erzählte, dass er, als er durch das Tor ging, geblendet wurde, weil alles so hell war, dass er die Augen nicht öffnen konnte, ohne nach kurzer Zeit zu erblinden. So versuchte er mit geschlossenen Augen den Rückweg zu finden, was ihm glücklicherweise auch gelang.« Mit den Worten: »Am nächsten Tag war alles wieder wie immer«, beendet Philimonie ihre Erzählung.

 »Ja, das ist wirklich alles sehr seltsam«, hört man Chipper leise sagen: »Aber wenigstens ein bisschen erklären, könnte es, die Ereignisse bei uns im Grünen Reich?« Er schweigt nachdenklich, die beiden anderen Botschafter werden schnell ungeduldig und es bricht aus ihnen heraus: »Was für Ereignisse?«

 »Entschuldigung«, kommt es jetzt noch leiser vom Chipper: »In Gedanken war ich. Bei uns wurde von Bewohnern des braunen und blauen Reiches berichtet, die sofort wieder verschwanden. Das passt, zu dem, was ihr erzählt, nehme ich an.«

 Aber es gibt keine Gelegenheit mehr, weiter über die seltsamen Ereignisse zu sprechen, denn das große Tor öffnet sich langsam. Eine Gestalt in einer blutorangenen Kutte mit schwarzem Saum, die Kapuze so tief ins Gesicht gezogen, dass man nicht erkennen kann, wer oder was sich darunter verbirgt, taucht hinter dem Tor auf.

 Er sagt kein Wort, nur mit einer Handbewegung fordert er sie auf, ihm zu folgen. Dann dreht er sich um und läuft los.

 Zuerst durchqueren sie eine Art Eingangshalle. Dort stehen ein paar in die Jahre gekommene Bänke, ein alter Empfangstisch mit einer leichten Staubschicht darauf. An der Wand hängen ein paar Bilder. Eines zeigt zum Beispiel eine fröhliche Tanzgesellschaft in einem großen Ballsaal. Andere Bilder zeigen einfach schöne Landschaften aus dem Hundertwabenland. Auf einem ist ein leuchtender Nebelwald zu sehen, auf einem anderen eine spektakuläre Wasserfontänenwiese. Ein anderes zeigt eine Felsenwüste, aber nicht grau-biege, wie wir sie kennen, nein, sie zeigt eine wunderschöne Farbenpracht. Es sind alles Bilder aus verschiedenen Waben der 3 Reiche. Um die Bilder genauer zu betrachten, blieb den drei Botschaftern keine Zeit.

 Ihr Führer geht schnellen Schrittes durch die Halle. Weiter geht es durch einen langen, dunklen Gang. Links und rechts stehen Statuen von seltsamen Wesen, es müssen an die sechzig sein. Keiner der drei hat je so ein Wesen gesehen. Die Statuen haben zwei Beine, zwei Arme, einen schlanken, länglichen Körper, auf dem Hals sitzt ein Kopf mit zwei Ohren, zwei Augen, Nase und Mund, und alle Statuen haben Haare, mal mehr, mal weniger, mal so gut wie keine. Ansonsten sehen sie alle ziemlich gleich aus. Wie gesagt, seltsame Wesen.

 Zwischen den Statuen sieht man immer wieder größere, etwas kleinere und ganz kleine Türen. Am Ende des Ganges angekommen, öffnet die Person in der Kutte die Tür, die sich dort befand, tritt ein paar Schritte zurück und verschwindet wortlos hinter den Statuen.

 Die Botschafter betreten einen riesigen Saal. Wie prunkvoll es hier einmal zugegangen sein muss, lässt sich nur noch an den Säulen und Kronleuchtern erahnen. Hier müssen einst große Bälle und Feste stattgefunden haben.

 Doch der Saal hat seinen einstigen Glanz verloren. In der Mitte steht nur noch ein alter Steintisch mit vier Holzstühlen. Auf dem Tisch liegen drei Gegenstände, die man aus der Ferne noch nicht erkennen kann, nur ein schwacher Schimmer geht von ihnen aus. Sie warten einen Moment.

 Dann hören sie wie aus dem Nichts eine Stimme. Sie klingt sehr angenehm in den Ohren, leise und sanft. Aber es schwingt ein gewisser Unterton mit, der einen dazu bringt, nicht zu widersprechen. Man merkt, dass die Stimme von jemandem kommt, der es gewohnt ist, dass andere genau das tun, was er sagt. »Bitte setzt euch«, fordert sie die drei auf, und jemand tritt aus dem Schatten und geht auf den Tisch zu.

 Auch er trägt eine Kutte, aber eine goldene mit schwarzem Saum. Sein Mütze liegt auf den Schultern. Die Ähnlichkeit mit den Statuen im Gang fällt sofort auf. Seine Haut ist hell und glatt. Das Haar ist pechschwarz und weist bereits ein paar graue Strähnen auf. Die Gesichtszüge sind sehr weich und sanft. Ein enormes Selbstbewusstsein und gleichzeitig Ruhe strahlen die hellblauen Augen aus. Er ist etwa 1,90 m groß und hat eine elegante aufrechte Haltung. Kurz: Er strahlt Kraft und Würde aus. Und doch sieht man, wenn man genau hinsieht, dass ihn etwas bedrückt.

 Nachdem Carlos, Philimonie, Chipper und die Gestalt in der Kutte Platz genommen haben, stellt sich die Gestalt vor: »Ihr kennt mich als "Der, der schon immer da war". Ich bin ein Mensch. Seit der Erschaffung des Hunderwabenlandes, wie wir es kennen, ist es meine Aufgabe, zusammen mit den Wächtern, die vor jedem Eingangstor zur ersten Wabe stehen, das Hunderwabenland vor Gefahren aller Art zu schützen.« Er macht eine kurze Pause, bevor er fortfährt: »Das ist uns in den letzten paar hundert Jahren auch gelungen. Leider ist es vor kurzem jemandem gelungen, in das Innerste des Schlosses einzudringen, die Türen zu öffnen und damit das ganze Gleichgewicht des Hundertwabenlandes zu gefährden. Die Auswirkungen habt ihr auch gespürt oder davon gehört.« Die drei nicken zustimmend.

 »Zum Glück ist es mir gelungen, den Eindringling rechtzeitig in die Flucht zu schlagen, aber leider ist es mir nicht gelungen, ihn gefangen zu nehmen. Mir ist klar geworden, dass wir eine Schwachstelle haben. Ich werde alles in meiner Macht stehende tun, um den Eindringling zu finden und aus ihm herauszubekommen, wie er das geschafft hat. Dass er das Hundertwabenland in Gefahr gebracht hat, wird er noch bereuen.« Seine Stimme wird immer lauter, je mehr er erzählt: »Wenn es schon einmal jemandem gelungen ist, mich zu überlisten, dann kann das auch wieder passieren, und so etwas darf nicht noch einmal passieren! Sonst ist das ganze Land und alle seine Bewohner in großer Gefahr.« Leise, fast flüsternd wiederholt er: »In sehr großer Gefahr.« Er macht eine kurze Pause.

 »Damit so etwas nie wieder geschieht«, fährt er schließlich fort, »habe ich euch, die ihr in eurem Reich jeweils zu den Mutigsten und Tapfersten gehört, zu mir gerufen, um euch zu bitten, je einen dieser drei Schlüssel, die hier auf dem Tisch liegen, zu nehmen, zu verstecken und mit eurem Leben zu beschützen. Denn nur wer alle drei Schlüssel und die Beschaffenheit aller drei Reiche in sich trägt, kann die Tür zum Innersten öffnen.«

 Mit ernstem Blick sieht er jeden Einzelnen an. Seine Miene hellt sich wieder auf und er hat wieder den gleichen freundlichen Blick wie am Anfang.

 Die drei Botschafter schauen sich die Schlüssel zum ersten Mal genauer an. Der erste hat die Form eines Felsens und leuchtet schwach braun. Der zweite hat die Form einer Welle und leuchtet schwach blau. Der dritte hat die Form einer Wolke und leuchtet schwach grün.

 Carlos nimmt den braunen Schlüssel, Philimonie den blauen und Chipper den grünen. Sie sehen sich den Schlüssel noch einmal genauer an. Chipper wirft mit seiner leisen Flüsterstimme ein: »Warum zerstören wir die Schlüssel nicht einfach?«

 »Zum einen kann man die Schlüssel nicht zerstören, sie tragen einen Energiestein in sich«, antwortete "Der, der schon immer da war", mit ernster Stimme: »Zum anderen muss alle hundert Jahre jemand hineingehen.«

 Das Warum lag den dreien auf der Zunge, aber sie wussten, dass sie keine Antwort bekommen würden. Stattdessen nahm jeder seinen Schlüssel und schwor, ihn mit seinem Leben zu beschützen.

 »Aber was ist, wenn einem von uns etwas zustößt oder ein Notfall eintritt?«, will Chipper noch wissen. "Der, der schon immer da war", macht ein nachdenkliches Gesicht, »es gibt noch einen anderen Weg ins Innerste, aber ich hoffe, dass es nie so weit kommen muss. Nein, das hoffe ich wirklich. Es ist einfach mit zu vielen Opfern verbunden.«

 Allen läuft ein Schauer über den Rücken, als er das sagt. "Der, der immer da war", steht auf, dreht sich um und verschwindet wieder in der Dunkelheit. Ohne ein weiteres Wort.

 Die Botschafter stehen auf, gehen zur Tür. Dort wartet schon wieder die Gestalt in der blutorangenen Kutte von vorhin und begleitet sie hinaus.

 Carlos, Philimonie und Chipper schauen sich an, nicken sich zu und jeder macht sich auf den Weg zurück in sein Reich, in dem Bewusstsein, eine ehrenvolle Aufgabe erhalten zu haben, die eine große Verantwortung mit sich bringt.

Als alle aus dem großen Saal verschwunden sind, tritt aus dem Schatten eine kleine, leise fluchende Gestalt, die alles mit angehört hat. Ein dunkelrotes Licht flackert auf. Im nächsten Augenblick ist es wieder im Schatten verschwunden.

Kapitel 2 Ben

Ben sitzt eingeengt und schmollend mit seinem Onkel Johann, der meistens nur Jo genannt wird, in einem Zelt mitten in den Anden, dem längsten Gebirgszug der Welt. Das Gebirge erstreckt sich über sieben südamerikanische Länder. Von Venezuela bis Feuerland sind es über 7.000 Kilometer. Es ist eines der abwechslungsreichsten Gebirge: ewiger Schnee und Eis, riesige Hochebenen und fast regenfreie Wüstenebenen. Es gibt Seen und brodelnde Vulkane. Sie hatten sich einer 22-tägigen Bergexpedition zum Aconcagua angeschlossen, dem mit fast 7.000 Metern höchsten Berg der Anden. Das perfekte Abenteuergebirge.

 Das Problem war, dass Ben eigentlich gar nicht an der Expedition teilnehmen wollte. Er wollte kein Abenteuer. Nicht wandern. Er wollte auch nicht vor Kälte zitternd im Zelt sitzen und den Schneesturm ertragen. Er wollte auch nicht seinen Stuhlgang in Plastiktüten sammeln, mit sich herumtragen und dann im Basislager wieder abgeben. Außerdem hat man wegen der Höhe einen hohen Wasserbedarf. Diesen kann man nur durch das Trinken von Schmelzwasser decken. Hinzu kommt, dass der Rucksack extrem schwer ist. Zu allem Übel hat man dann auch noch so ein geschmackloses Food im Beutel, um sich zu ernähren. In der Reisebeschreibung stand, dass es sich um eine technisch einfache Normalroute handelt. So hatte sich Ben seine letzten Sommerferien vor der Ausbildung nicht vorgestellt.

 Eigentlich hat er sich das ganze letzte Jahr nicht so vorgestellt. Am liebsten wäre Ben zu Hause, allein in seinem Zimmer, mit einem Buch in der Hand, abgeschottet von der Welt. Wie hatte er sich nur von seinem Onkel und seinem Vater überreden lassen?

Ben war nicht immer so, er war eigentlich ganz aufgeweckt, entdeckungsfreudig und abenteuerlustig.

 Ben ist groß, aber nicht sehr groß. Sportlich, aber nicht sehr sportlich. Er ist weder dick noch dünn. Er ist gut in der Schule, aber kein Streber. Er gehört nicht zu den Coolen und er gehört auch nicht zu den Loosern. Ben trägt seine hellbraunen Haare meist kurz, ohne sie groß zu stylen. Seine Gesichtszüge sind weich und sanft. Das Einzige, was auffällt, sind seine hellblauen Augen. Kurz gesagt: Ben ist in jeder Hinsicht ein ganz normaler Jugendlicher, der ein ganz normales Leben führt, mit den ganz normalen Problemen, die Jugendliche eben so haben.

 Doch vor einem Jahr änderte sich das schlagartig: Seine Mutter wurde schwer krank. So krank, dass sie gepflegt werden musste. In letzter Zeit konnte man sehen, wie sie immer schwächer wurde. Sein Vater und er waren mit der Pflege voll ausgelastet, es blieb kaum Zeit für Freizeit.

 Morgens musste er ihr aus dem Bett helfen. Während sein Vater ihr beim Anziehen half, bereitete Ben das Frühstück zu. An schlechten Tagen musste er ihr beim Essen helfen. So kam er regelmäßig zu spät zur Schule und bekam statt einer Strafe nur mitleidige Blicke. Das hasste er. Zu Hause kümmerte sich Ben zunächst um das Essen, die Wäsche und alles, was eigentlich seine Mutter gemacht hatte. Mit der Zeit zog sich Ben immer mehr zurück.

 Vor seinen Eltern hätte er nie zugegeben, wie sehr es ihn belastete, dass seine Mutter immer mehr zu einem Schatten ihrer selbst wurde. Viel zu früh musste er so viel Verantwortung übernehmen. Auf gar keinen Fall wollte er jetzt noch mehr zu einer zusätzlichen Belastung werden. Mit seinen Freunden unternahm er immer weniger und wurde immer mehr zum Außenseiter. Seine Rettung war, sich hinter Büchern zu verstecken. Am liebsten tauchte er in Fantasy-Bücher ein, die möglichst weit von der Realität entfernt waren. Dort, bei seinen Helden, fühlte er sich am wohlsten und konnte die Sorgen um seine Mutter ein wenig vergessen.

 So kam es, dass er, wenn er sich nicht gerade um seine Mutter kümmerte, beim Lesen war. Auch in der Schule baute er immer mehr ab, er hatte einfach nicht mehr die Motivation oder die Kraft, am Abend noch etwas zu lernen und seinen Vater schien es auch nicht zu interessieren. Dieser pendelte schließlich nur noch zwischen pflegen und arbeiten hin und her, Ben kam viel zu kurz.

 Kurz vor den Sommerferien kam Onkel Jo zu Besuch. Immer wenn er da war, erzählte er von seinen Abenteuern. Er hatte schon viele Gipfel bestiegen, einige im Himalaya und in den Rocky Mountains. Er liebte Bergexpeditionen.

 Eigentlich sieht sein Onkel gar nicht aus wie ein typischer Abenteurer... Er ist eher klein, sehr dünn, wirkt auf den ersten Blick eher schmächtig. Mit seiner Brille auf der Nase, die etwas zu groß für sein Gesicht ist, dazu ein Vollbart, der schon einige graue Strähnen aufweist, genau wie sein Haar, das immer lichter wird, wirkt er eher wie - ein Professor, der die meiste Zeit hinter Büchern verbringt. Was nicht ganz falsch ist, denn von Beruf ist er Lehrer. Aber man darf seine Kraft nicht unterschätzen. Sein Äußeres ist in diesem Punkt trügerisch.

 Ben liebte es, wenn sein Onkel Jo von seinen Abenteuern in den Bergen erzählte. Am liebsten wäre er immer dabei gewesen. Wenn er darum bettelte, mitkommen zu dürfen, bekam er nur zu hören: »Vielleicht einmal, wenn du etwas älter und kräftiger bist.«

 Einmal hatte er ihm ein geflochtenes Armband aus Bisonleder mitgebracht. Seitdem trägt Ben es immer am rechten Handgelenk.

 Doch dieses Mal war es ein wenig anders. Als sie am Nachmittag an einem spärlich gedeckten Tisch saßen und Kaffee tranken und ein paar Kekse aßen. Ben sprach kaum ein Wort und hörte nur halbherzig zu. Jo merkte sofort, dass es ihm nicht gut ging, dass ihn die Krankheit und die Pflege seiner Mutter mehr belasteten, als er zugab. Begeistert erzählte er von seinem nächsten Reiseziel, einer 22-tägigen Bergexpedition durch die Anden.

 Dann kam der Vorschlag seines Onkels, der sein ganzes weiteres Leben beeinflussen sollte: »Du hast doch bald Ferien. Ich würde mich sehr freuen, wenn du mich auf dieser Reise begleiten würdest.«

 Zuerst wusste Ben nicht, was er antworten sollte. Vor einem Jahr hätte er keine Sekunde gezögert, aber jetzt, wo seine Mama krank ist und auf seine Hilfe angewiesen war, fiel es ihm schwer, sie mit Papa allein zu lassen. Wenn er jetzt geht, muss sein Papa alles alleine machen, und wenn es seiner Mama in der Zeit, in der er nicht da ist, noch schlechter geht oder noch schlimmeres, könnte er sich das je verzeihen? Nein, er konnte sie nicht allein lassen. Er lehnte dankend ab.

 Die Enttäuschung stand Jo ins Gesicht geschrieben. Aber so schnell gab er nicht auf, denn Jo ahnte den Grund für die Absage und wollte sich nicht so leicht geschlagen geben. Er war überzeugt, dass Ben eine Pause von der Pflege brauchte, dass es für ihn emotional wichtig war.

 Onkel Johann nutzte die Gelegenheit, als Ben sich abends in sein Zimmer zurückzog, um mit seinem Bruder, Bens Vater, darüber zu sprechen. Dieser macht sich schon seit einiger Zeit Sorgen um Ben. Er fand die Idee gut, dass Ben mal Abstand von allem hier bekommt und war dankbar, dass Jo sich in den Ferien um Ben kümmern wollte.

 So wurde Ben mehr oder weniger zu der Bergexpedition gezwungen. Aber das passte ihm gar nicht.

Zwei Wochen später holte Onkel Johann seinen mürrischen Neffen ab, und gemeinsam fuhren sie zum Frankfurter Flughafen. Dort wimmelte es von Menschen. In diesem Chaos trafen sie auf ihre Reisegruppe. Es waren insgesamt 10 Reisende, die nach Argentinien, genauer gesagt in die Hauptstadt Mendoza, fliegen wollten. Davon waren 8 Männer - alle zwischen 30 und 40 Jahre alt, schätzte Ben, er war also das Küken. Auch zwei Frauen waren dabei. Die eine machte einen mürrischen Eindruck und war wohl Mitte 40, die andere sah jünger und freundlicher aus. Ben fand sie ganz hübsch mit ihren leicht zerzausten blonden Haaren, der süßen Stupsnase und dem freundlichen Gesichtsausdruck. Sie mochte Anfang zwanzig sein. Viel Zeit zum Kennenlernen blieb nicht. Sie wurden zu ihrem Flug gerufen.

 Der Direktflug nach Mendoza in Argentinien dauerte knapp 14 Stunden. Im Flugzeug war es sehr eng und unbequem. Richtig schlafen, wie er es eigentlich wollte, konnte er nicht. Deshalb schaute er sich auf dem kleinen Bildschirm vor sich mehrere Filme an. Als er die hübsche junge Frau sah, die ihn begleitete, hoffte er insgeheim, im Flugzeug neben ihr zu sitzen. Stattdessen musste er seinen schnarchenden Onkel neben sich ertragen. Ein so langer Flug bedeutet im Sommer eine Zeitverschiebung von 5 Stunden.

 Nach der Landung wurden sie von einem Mann abgeholt, der im Auftrag des Reiseunternehmens unterwegs war. Er führte sie durch den Flughafen zu einem Kleinbus, mit dem er die Gruppe zum Hotel brachte.  

 Sie checkten um 9 Uhr morgens in einem unscheinbaren Hotel ein, zu Hause wäre es 4 Uhr morgens gewesen. Dementsprechend müde waren alle und machten sich erst einmal auf ihren Zimmern frisch. Sein Zimmer teilte er sich, wie sollte es auch anders sein, mit seinem Onkel, es war klein und die Möbel waren schon relativ alt und rochen auch etwas dementsprechend, aber alles in allem war es sehr ordentlich.

 Noch ziemlich müde traf sich die Reisegesellschaft in der Lobby, es gab ein gemeinsames Mittagessen, um sich etwas besser kennenzulernen, er hatte gehofft, diesmal neben der jungen Frau sitzen zu dürfen, stattdessen landete er neben Bruno, der ohne Punkt und Komma von seiner Autowerkstatt erzählte. Vielleicht nahm er an, dass Ben sich wie die meisten in seinem Alter für Autos interessierte, aber das war nicht der Fall. Trotzdem hörte er aus Höflichkeit zu und nickte hin und wieder, während er seine Lechona aß, ein typisches Gericht der Region, das aus Schweinefleisch bestand und das er, nun ja, gewöhnungsbedürftig fand.

 Wenigstens erfuhr er ihren Namen "Sandra", als sich alle kurz vorstellten, damit man wusste, mit wem man die nächsten 22 Tage verbringen würde.

 Den Rest des Tages ruhten sich alle im Hotel aus und gewöhnten sich an die Umgebung. Ben blieb den ganzen Tag im Bett und vertiefte sich in sein Buch, das er von zu Hause mitgebracht hatte.

Am nächsten Tag ging es mit dem Kleinbus weiter nach Los Penitentes, in der Nähe eines Skigebietes. Das liegt nicht weit vom Provinzpark Aconcagua entfernt.

 Nach einer dreistündigen Fahrt hielten sie vor einem Hotel, das ihre nächste Übernachtungsmöglichkeit sein sollte. Es sah etwas heruntergekommen aus. Dafür hatte man einen wunderschönen Blick auf die schneebedeckten Berge der Anden. Die ganze Reisegruppe schwärmte von der Schönheit der gigantischen Bergkette mit ihren schneebedeckten Gipfeln. Am Himmel waren nur wenige Wolken zu sehen, hinter denen sich die Sonne versteckte. Man sah nur ihre Strahlen, die dem Ganzen einen majestätischen Anblick verliehen.

 Alle waren voller Vorfreude, auf und über diese Bergkette zu wandern und die Gipfel zu erklimmen. Oder besser gesagt, alle außer Ben, der sich für all das noch nicht so recht begeistern konnte. Seine Gedanken waren ständig woanders, meistens bei seiner Mama und dem Gefühl, sie im Stich zu lassen. Jo hatte sich mit den meisten der Gruppe schon etwas angefreundet und erzählte ihnen ausschweifend von seinen anderen Abenteuern. Ben hatte bisher kaum 10 Sätze gesprochen. Die Gruppe bezog ihre Zimmer. Diesmal mussten sie sich zu viert ein Zimmer teilen. Bernd und Walter wurden ihnen zugeteilt.

 Vor der Nachtruhe wurde das Gebäck so vorbereitet, dass die Pferde es am nächsten Tag gut durch den Nationalpark transportieren konnten. Es gab noch ein gemeinsames Abendessen: Ein Kartoffelgericht. Dabei erfuhr Ben, dass es in der Region über 3000 Kartoffelsorten gibt, was ihn mit einem "Aha Ok" nicht weiter interessierte.

 Was ihn aber ein wenig freute, war, dass Sandra ihm direkt gegenüber saß. Endlich konnte er sich mit ihr unterhalten. Dumm nur, dass er keine Ahnung hatte, worüber. Zu seinem Glück begann sie das Gespräch: »Du bist Ben, Stimmts?« Er brachte nur ein kurzes »Ja« heraus. »Sandra«, stellte sie sich vor und redet direkt weiter »Das ist meine erste Bergtour, meine Mama hat mich dazu überredet und es gefällt mir bisher sehr gut, ich meine natürlich die Gegend hier. Wir sind noch nicht gewandert, ich bin gespannt, es wird auf jeden Fall ein Abenteuer.« Sie sprach sehr schnell mit einer etwas hohen Stimme, wie Ben fand. »Und du? Hast du so was schon mal gemacht?«, fuhr sie fort. »Nein, äh«, aber bevor Ben noch mehr sagen konnte, fuhr Sandra fort. »Dann geht es dir wie mir, also ...« Sie redete nicht nur schnell, sondern auch viel, aber das störte Ben nicht, er konnte schon immer gut zuhören und war froh, wenn er selbst nicht viel sagen musste. So ging es den ganzen Abend weiter, bis sich alle in ihre Zimmer zurückzogen.

 Es war eine schreckliche Nacht für Ben. Walter schnarchte so laut, dass man meinen konnte, in den ganzen Anden bliebe kein Baum stehen. Ben hatte das Gefühl, dass jedes Mal, wenn es ihm gelang, mit einem Taschentuchfetzen im Ohr einzuschlafen, Walter ein besonders lautes Schnarchen von sich gab, was man einem so kleinen Mann, der nicht viel größer als sein Onkel war, gar nicht zutrauen würde.

 Entsprechend müde ging es für Ben am nächsten Tag weiter. Zuerst fuhren sie mit dem Auto ein ganzes Stück. Bis über die Grenze nach Chile. Doch davon bekam Ben nicht viel mit, er schlief im Auto wieder sehr schnell ein.

 Erst 2 Stunden später, als der Kleinbus vor dem Eingang des Nationalparks in Horcones hielt, wachte Ben wieder etwas erholter auf. Dort stießen zwei erfahrene Bergsteiger hinzu, die die Gruppe zum Gipfel führten. Die beiden könnten vom Aussehen her kaum unterschiedlicher sein. Der eine - groß, schlank, athletisch, mit einem vom Wetter gezeichneten Gesicht, das sich hinter einem dunklen Vollbart und langen Haaren verbarg. Der andere - ein Kopf kleiner, muskulös, mit einer halben Glatze, und einer Haut so gut wie frei von Falten.

 Der Eingang war nicht viel mehr als ein Holzschild, auf dem "Nationalpark Horcones" stand.

 Die beiden stellten sich kurz als Pedro und Sergio vor. Jeder aus der Reisegruppe nahm sein Gepäck, das sie für die Pferde vorbereitet hatten, und übergaben es den beiden Guides, die es auf die mitgebrachten Pferde luden.

 Nun konnte der gut vierstündige Marsch nach Confluencia beginnen. Zum ersten Mal auf dieser Reise mussten sie eine längere Strecke zu Fuß und mit den bepackten Pferden zurücklegen. Der Weg durch den Nationalpark war wunderschön. Es gab unzählige verschiedene Arten von Blumen in den unterschiedlichsten Formen. Es gab kleine und große. Alle Farben waren vertreten: rot, gelb, blau, lila, rosa und viele Farbkombinationen - ein Paradies für einen Botaniker. Ben entdeckte mehrere Andengänse. Am Himmel kreiste ein schwarzer Andenkondor mit weißem Kopf. Es war einfach traumhaft schön. Ben genoss es für einen Moment, bis ihm die Krankheit seiner Mutter wieder in den Sinn kam.

 Es war einfach alles so ungerecht. Er wollte nicht glücklich sein, wenn seine Mutter litt. Er sollte bei ihr sein.  

 Auf dem Weg durch den Park kamen sie noch an einer Gedenkstätte für ein verstorbenes deutsches Bergsteigerpaar vorbei. Auf dem Kreuz, das zu ihrem Gedenken aufgestellt worden war, stand nur "Stella und Harald in den Anden verschollen". Das erschütterte die anderen. Aber Ben achtete kaum darauf, denn seine Gedanken waren immer noch bei seiner Mutter.

 Petro, der das bessere Deutsch der beiden Bergführer sprach, erzählte mit ernstem Gesichtsausdruck und gebrochenem Deutsch etwas dazu: »Das waren erfahrene gute Bergsteiger, die schon öfter in den Anden unterwegs waren. Sie waren auf dem Weg zum Aconcagua, als sie von einem unerwarteten Schneesturm überrascht wurden, der innerhalb von Minuten über sie hereinbrach. Die wenigen Bergsteiger, die sich in Sicherheit bringen konnten, brachen die Bergtour wegen des vielen Neuschnees ab. Ein weiterer Aufstieg wäre zu gefährlich gewesen. Bis auf die beiden schafften es alle zurück. Erst einige Tage später konnte eine Rettungsaktion gestartet werden, aber die beiden wurden nie mehr gesehen.« Alle schauen etwas nachdenklich, da setzt Petro wieder ein fröhliches Gesicht auf und sagt: »Von so etwas wollen wir uns den Spaß nicht verderben lassen« und führt die Gruppe zusammen mit Sergio weiter zu der riesigen Hängebrücke, die es zu überqueren gilt.

 Wer da rüber will, darf keine Höhenangst haben. In der Mitte bleibt Ben stehen. An dieser Stelle schaut sich Ben die Gegend zum ersten Mal etwas genauer an. Die mächtige Schlucht mit ihren hellen, braunen Felswänden, der wilde Fluss, der sich durch die Schlucht schlängelte und die schönen, zum Teil interessanten Bäume, die es sogar schafften, an den Felsen zu wachsen. Die Sonne stand genau zwischen den beiden Seiten der Schlucht. Ihre Strahlen, die man teilweise erkennen konnte, zeichneten die Landschaft wie ein Gemälde. Trotz der Trockenheit der letzten Wochen war es ein atemberaubender Anblick. Als Ben das alles auf sich wirken ließ, empfand er für einen kurzen Moment so etwas wie Freude und inneren Frieden.

 Ben's Onkel John beobachtete ihn mit einem Lächeln. Er hatte ihn schon lange nicht mehr so glücklich gesehen.

 Sandra gesellte sich zu ihm. »Wunderschön, nicht wahr?«, begann sie das Gespräch. »So einen Anblick hat man nicht oft.«

 »Ja, sehr schön hier«, kam es leise von Ben. Die beiden schwiegen eine Weile und ließen die Szene auf sich wirken.

 Plötzlich verfinsterte sich Bens Miene wieder. Wenn nur seine Mutter so etwas noch einmal sehen könnte. Sandra bemerkte die Veränderung. »Was ist los?«, fragte sie. Ben überlegte kurz, ob er ihr von seiner Mutter erzählen sollte. Doch genau in diesem Moment rief Sandras Mutter vom Ende der Brücke mit ihrer herrischen Stimme: »Sandra, komm endlich!« Sandra sah ihn weiter an. »Ach, es ist nichts«, sagte Ben, »deine Mutter ruft dich.« Sandra legte ihm kurz die Hand auf die Schulter, sie wusste natürlich das es nicht stimmte, deshalb lächelte sie ihn mitfühlend an und lief zu ihrer Mutter. Ben mochte Sandras offene Art.

 Am Ende des Tages erreichten sie ein großes Zeltlager mit mehreren riesigen Zelten. Dieses lag auf einer Höhe von ca. 3.450 m über dem Meeresspiegel. Dort mussten sie alle zusammen in einem großen Zelt schlafen. Sie wurden von einer sehr freundlich aussehenden Frau begrüßt. Ein Zelt, das vor langer Zeit einmal weiß gewesen sein muss, wies sie ihrer Gruppe zu. Sie zeigte ihnen auch, dass es etwas abseits der Zelte ein Plumpsklo gibt. In der Mitte des Lagers gibt es eine große Feuerstelle, um die viele Holzbänke stehen. Über dem Feuer hing ein großer Gusstopf, in dem ein Kartoffeleintopf köchelte, um den sich ein Mann kümmerte.

 Zuerst holten sie das Gepäck von den Pferden und brachten es in ihr Zelt. Es hatte mehrere Etagenbetten. Ben suchte sich ein Bett weit weg von Walter aus. Schließlich wollte er heute Nacht ein bisschen schlafen können. Er legte seinen Rucksack auf das obere Bett und rollte seinen Schlafsack aus, während Jo sich darunter ausbreitete. Danach trafen sich alle am Feuer, um gemeinsam zu essen.

 Es hatten sich noch zwei weitere Gruppen von Reisenden zu uns gesellt. Sie wurden von der Frau und ihrem Mann bedient, die dafür sorgten, dass das Feuer immer eine angenehme Wärme ausstrahlte und der Eintopf nicht anbrannte. Die beiden betreuten das Lager schon seit vielen Jahren. Alle unterhielten sich angeregt in heiterer Stimmung.

 Nachdem die Sonne untergegangen war, konnte man auch die Sterne am Himmel bewundern. Walter saß neben ihm und rückte seine Brille zurecht, um die Sterne besser sehen zu können. »Sind sie nicht faszinierend?« Ben nickte: »Ja, beeindruckend.« Eigentlich war Walter sehr nett, aber Ben störte sein Schnarchen ein wenig.

 Dass Sandra an diesem Abend auf der anderen Seite neben ihm saß, hatte Ben besonders gefreut. Irgendwie gefiel sie ihm, obwohl sie etwas älter war als er. Aber das war auch das Einzige, was ihm an der Reise gefiel.

 Normalerweise wäre das für Ben ein Abenteuer gewesen. Das war schon immer einer seiner Träume gewesen: ein Zelt mit einem Lagerfeuer unter dem Sternenhimmel. Er hätte es in vollen Zügen genossen. Aber all das gab ihm im Moment das Gefühl, dass er es nicht verdient hatte. Das Glück zu spüren, während seine Eltern zu Hause leiden mussten. Also suchte er überall nach einem Grund, warum er nicht hier sein wollte. Zum Beispiel der Rauch des Feuers, der ihm in den Augen brannte, die Kleidung, die danach roch, wenn sie später ins Bett gingen. So etwas wie ein Plumpsklo oder ein unbequemes Bett wäre ihm eigentlich egal gewesen. Aber weil er gar nicht hier sein wollte, hatte er ein Problem mit all diesen Dingen. Er sprach es nie laut aus, aber das brauchte er auch nicht, sein Gesichtsausdruck verriet alles.

 Sein Onkel fragte sich schon, ob es eine gute Idee gewesen war. »Nein«, sagte er sich, »es ist wichtig, dass der Junge mal auf andere Gedanken kommt, er ist eigentlich viel zu jung, um seine Mutter in so einem Zustand zu sehen und diese Mitverantwortung zu tragen. Er braucht mal einen anderen Anblick. Mal eine Pause. Es war richtig, ihn mitzunehmen! Und jetzt geht die Expedition erst richtig los, er wird schon noch auf den Geschmack kommen,« hofft Johann.

 Ben blieb nicht allzu lange am Feuer sitzen und legte sich in sein Stockbett. Durch die viele frische Luft und die Anstrengungen des Tages schlief Ben schnell ein und schlief sogar bis zum nächsten Morgen durch.

 Tatsächlich gelang es Ben in den folgenden Tagen, seine Gedanken ein wenig zur Ruhe zu bringen. Schon in den frühen Morgenstunden wurden sie von Petro und Sergio geweckt, um sich frisch zu machen und sich auf die nächste Etappe vorzubereiten.

 Jedes Zelt ist mit einer Art Waschgelegenheit ausgestattet. Letztendlich ist es nicht viel mehr als ein Kanister Wasser mit Seife und einer Schüssel, aber immer noch besser als gar nichts.

 Bevor es losging, gab es von den beiden Campleitern noch belegte Brötchen zum Frühstück und etwas zum Mitnehmen, das jeder in seinen Rucksack packte. Die beiden Guides beluden die Pferde wieder mit dem ganzen Gepäck. Dann ging es los.

 Das nächste Ziel war das Camp Plaza Francia, das ca. 4.200 Meter über dem Meeresspiegel liegt.

 Nicht so schnell wie möglich ankommen, sondern den Körper und die Kräfte schonen, war von den beiden Guides vorgegeben. Sie legten das Hauptaugenmerk auf die Akklimatisation. Wenn man das nicht schaffe, könne es passieren, dass der Körper schon jetzt überfordert sei. Langsamkeit war also der Schlüssel zum Erfolg.

 Das langsame, fast schleichende gehen tat Ben gut. So konnte er die malerische Landschaft auf sich wirken lassen. Er beobachtete, wie die Sonne hinter dem Aconcagua mit seinem mächtigen Schneegipfel hervorkam. Bäume gab es eigentlich keine mehr, nur ein paar Büsche. In den Anden liegt die Baumgrenze bei etwas über 3.000 Metern. Die Stein- und Graslandschaft ist mehr als beeindruckend.

 Im Laufe des Tages ist es Ben sogar gelungen, sich mit dem einen oder anderen kurz zu unterhalten.

 Die Höhenanpassung war für ihn überhaupt kein Problem. Es war der erste Tag, an dem er etwas weniger an seine Eltern dachte.

 Erschöpft von der langen Wanderung wurden sie im Camp von einer Herde putziger Alpakas begrüßt. Es sind erstaunliche Tiere, die unter den widrigsten Bedingungen in den Bergen überleben können. Deshalb werden sie dort auch gerne als Lasttiere eingesetzt.

 Dieses Camp ist etwas kleiner. Diesmal wurden sie auf zwei Zelte aufgeteilt. Die Zelte sind auch nicht mit Etagenbetten ausgestattet, sondern nur mit einfachen Feldbetten. Es gab zwei Männer, die sich um das Camp kümmerten und verpflegten.

 Ansonsten lief alles ähnlich ab wie am Abend zuvor. Alle saßen zusammen, aßen etwas, unterhielten sich und genossen den Blick auf die mächtige Steilwand des Horcones.

 Auch der nächste Morgen verlief sehr ähnlich. Die Teilnehmer wurden geweckt, machten sich frisch, aßen ihr Frühstück, packten alles auf die Pferde und machten sich auf den Weg zu einer achtstündigen Wanderung.

 Dieser führte durch das Horcones-Tal. Ein Sandsturm peitschte durch das Tal. Er blies den Sand in alle Ritzen der Kleidung und kratzte überall unangenehm auf der Haut. Von der schönen Landschaft war nichts mehr zu sehen. Jeder musste sich ein Tuch vor die Augen binden, um wenigstens die eigenen Füße erkennen zu können.

 Die beiden Bergführer nahmen ein Seil, an dem sich jeder festhalten musste. Petro übernahm die Spitze und Sergio das Ende: So konnte sich keiner verirren. Da war sich Ben wieder sicher: Es war ein Fehler, mitgekommen zu sein.

 Wäre da nicht der Sandsturm gewesen, hätte man förmlich sehen können, wie Bens Laune immer mehr den Bach runterging.

 Ben konnte nicht mehr sagen, wie weit sie gekommen waren, ob sie überhaupt vorangekommen waren oder nicht. Vielleicht waren sie nur im Kreis gelaufen.

 Irgendwann kamen sie an eine Stelle, an der es einen kurzen, aber steilen Anstieg auf 4.370 Meter über dem Meeresspiegel gab. Petro versucht alle aufzumuntern: »Ihr habt es fast geschafft, es ist nur noch ein kurzes Stück. Das Basislager Plaza Mulas ist nicht mehr weit. Das war eine Meisterleistung von euch allen.«

 Alle kamen kurze Zeit später glücklich und stolz an und waren froh es geschafft zu haben.

 Es war der letzte Stopp, an dem man noch mit Essen und Trinken versorgt wurde. Das gastfreundliche Inka-Team hier bestand aus zwei Paaren, die gemeinsam die Holzhütte bewirtschafteten.

 Die ganze Gruppe war froh, dem Sturm entkommen zu sein und ein festes Dach über dem Kopf zu haben. Die Holzhütte ist sehr schlicht eingerichtet: Es gibt eine Küche mit offener Feuerstelle, zwei private Räume und einen großen Raum, der als Matratzenlager für die Nacht dient. Das Abendessen wurde bei Kerzenlicht eingenommen, da es in der rustikalen Holzhütte keinen Strom gibt. Die ganze Gruppe saß um einen großen, abgenutzten Tisch, der überall Brandflecken von den Kerzen aufwies. Die Bänke, die den Tisch umgaben, wirkten nicht sehr vertrauenerweckend, Ben hatte Angst, dass sie unter dem Gewicht zusammenbrechen würden. Dafür schmeckte das Essen. Es gab einen schmackhaften Bohneneintopf mit hellem Fleisch darin, Hühnchen vermutete Ben, doch am nächsten Tag sollte er erfahren, dass es Meerschweinchenfleisch war, eine Delikatesse bei den Inkas. Ben wurde bei dem Gedanken übel, denn er hatte selbst ein Meerschweinchen, Freddy, als Haustier.

 Der Abend verlief für Ben wie der Rest des Tages. Zuerst freute er sich, als Sandra wieder neben ihm saß, doch im Gespräch mit ihr erfuhr Ben, dass sie bereits verlobt war und auf Wunsch ihrer Mutter vor der Hochzeit noch eine gemeinsame Bergtour machen wollte, nur sie beide.

 Ben lief es kalt den Rücken hinunter, denn er hatte begonnen sie wirklich zu mögen. Natürlich ließ er sich nichts anmerken. Er verabschiedete sich früh von den anderen, ging ins Matratzenlager und legte sich in seinen Schlafsack, wälzte sich noch ein wenig hin und her, doch dann machte sich die Anstrengung des Tages bemerkbar und er schlief ein.

 Morgens hieß es wieder früh aufstehen, gemeinsam frühstücken und sich frisch machen. Jetzt wurde es richtig anstrengend. Jeder musste seinen schweren Rucksack selbst tragen. Das bedeutete, von nun an in einem Doppelzelt zu schlafen. Das war die letzte feste Unterkunft für die nächsten Tage.

 Der Wind vom Vortag hatte sich zum Glück gelegt. Nach Sonnenaufgang ging es im Schneckentempo weiter. Dabei konnte man die Kalk- und Sandsteinformationen in fast allen Farbtönen gut beobachten. Das gefiel Ben, nur Pflanzen gibt es auf einer Höhe von über 5.000 Metern über dem Meeresspiegel nicht mehr viel zu sehen. Ab und zu war ein Vogel oder ein Adler zu sehen. Es war bereits der siebte Tag seit dem Start in Frankfurt.

 Am achten Tag wurde ein Ruhetag eingelegt. Obwohl einige weiter wollten, bestanden die Bergführer darauf.

 Sergio war Arzt und wusste, wie gefährlich ein zu schneller Aufstieg sein kann. Er machte an diesem Tag bei allen einen Gesundheitscheck und sorgte auch dafür, dass alle immer genug Wasser tranken, was zum Glück durch das Gletscherwasser, das überall in kleinen Bächen herunterfloss, immer genug vorhanden war. Leider schmeckt es nicht besonders gut. In der Höhe war Wasser lebenswichtig, da das CO2 etwas höher ist und über die Nieren ausgeschieden werden muss. Außerdem war man immer in Gefahr, die Höhenkrankheit zu bekommen.

 Mit jedem aus der Gruppe machte Sergio noch einen Fitnesstest, um den Akklimatisationszustand zu überprüfen. Das alles nahm einige Zeit in Anspruch.

 Ansonsten war der Tag eher langweilig und ereignislos. Man erzählte sich Geschichten, aß gemeinsam das geschmacklose Food im Beutel.

 Für die Nacht musste man sich trotz Schlafsack warm anziehen. Die nächtlichen Temperaturschwankungen waren sehr groß. Nachts kann die Temperatur auf 5000 Meter schon mal unter Null fallen. Morgen, so sagten ihre Guides, würden sie auf eine Höhe kommen, wo alles mit Schnee bedeckt sein würde.

 Nach der ersten überstandenen Nacht im Doppelzelt ging es am nächsten Tag weiter zum Ziel: 5.500 Meter über dem Meeresspiegel zum Campo Canada.

 Die Landschaft wurde immer monotoner. Das Tal war vor lauter Nebel nicht mehr zu erkennen und die Landschaft wechselte höchstens zwischen verschiedenen Grautönen. Vogelgezwitscher war auch nicht mehr zu hören, nur ab und zu hörte man den Wind pfeifen.

 Alles schien tot zu sein, genau wie Bens Gedanken, denn er hatte begonnen, das Denken sein zu lassen und setzte nur noch einen Fuß vor den anderen, wie eine Maschine, die immer wieder mit Schmelzwasser und Beutelfutter betankt werden musste.

 Nach einem schier endlosen Marsch erreichten sie schließlich ihr Ziel, den Campo Canada, wo sie ihre Zelte für die kommende Nacht aufschlugen. Ben und seine Onkel machten den Fehler, nicht darauf zu achten, wo Walter sein Zelt aufschlug. Es stand direkt daneben.

 Als sie es sich in ihrem Zelt so bequem wie möglich gemacht hatten, versuchte Onkel Jo, Ben ein wenig aufzumuntern, als er sah, wie dogmatisch er die Bergtour ablehnte - vielleicht nicht durch das, was er sagte, aber durch das, was er nicht sagte. »Versuch doch mal, dich darauf einzulassen. So ein Abenteuer wolltest du doch schon immer erleben. Früher hast du immer darum gebettelt«, kam es von Onkel Jo.

 »Was interessiert mich früher?«, murmelte Ben.

 »Deine Eltern, vor allem deine Mutter, wollen, dass du dir etwas gönnst, dass du Spaß hast. Dass du wieder lachst und dich freust, dass du die Zeit hier genießt. Manchmal ist es im Leben so, dass man durch einen dunklen Wald gehen muss, aber auch da gibt es immer wieder Sonnenstrahlen, die uns helfen, weiter zu gehen bis zum Ende des Waldes, wo die Sonne wieder auf uns wartet. Das ist so ein kleiner Sonnenstrahl. Der Alltag kommt schneller zurück als man denkt.«

 »Ich darf mich fühlen wie ich will.« platzt es aus Ben heraus: »Das geht euch einen Dreck an.« Er wandte sich von Jo ab und verkroch sich in seinem Schlafsack.

 Jo schwieg kurz, dann versuchte er es noch einmal: »Starke Menschen haben nie eine leichte Vergangenheit. Aber steinige Wege führen oft zu den schönsten Plätzen.« Als von Ben keine Reaktion kam, legte sich auch Jo hin. Beide waren so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie nicht einmal Walters Schnarchen hörten.

 Als sich am nächsten Tag die Gemüter etwas beruhigt hatten und die Sonne sie weckte, hieß es frühstücken, trinken, Zelte abbauen und weiter. Langsam und schleppend ging es mit den schweren Rucksäcken dem Gipfel entgegen.

 Zu allem Überfluss kam am zehnten Tag unerwartet ein Schneesturm auf. So schnell kann das Wetter in den Anden umschlagen. Der Schneesturm zwang sie, die Zelte vorzeitig aufzuschlagen. Was sich bei diesen Wetterverhältnissen als sehr anstrengend und mühsam herausstellte. Sie mussten immer zu viert aufbauen, damit das Zelt nicht sofort vom Sturm weggeweht wurde. Nicht einfacher wurde es dadurch, dass man seine eigene Hand kaum noch sehen konnte. Sie mussten erst einmal den Sturm hinter sich bringen.

So landet Ben im Zelt und verflucht sich, dass er sich von seinem Onkel und seinem Vater hat überreden lassen. Er denkt an alles Negative, was ihm in diesem Moment einfällt. Seit dem letzten gescheiterten Gespräch versucht sein Onkel immer wieder, ihn in ein Gespräch zu verwickeln - mal auf humorvolle Weise, mal versucht er es mit einfachem Smalltalk oder stellt ihm eine Frage, aber Ben schweigt einfach weiter und schmollt.

 Irgendwann gibt Jo auf. Beide warten weiter schweigend den Schneesturm ab.

 Erst am nächsten Tag, auch wenn das Wetter grau und trüb ist, können sie weiter. Die kleine Reisegruppe muss erst wieder alles zusammenpacken, was wegen des vielen Neuschnees, den der Sturm über Nacht gebracht hat, sehr mühsam ist und nur langsam vorankommt.

 Ben ist trotz der zusätzlichen Pause, die sie einlegen mussten, erschöpft. Das liegt auch daran, dass er sich eine Erkältung eingefangen hat.

 Schon beim Packen läuft ihm die Nase und es wird immer schlimmer. Er fühlt sich schlapp und hat das Gefühl, Fieber zu haben, aber er will seinem Onkel auf keinen Fall etwas sagen. Er kämpft tapfer weiter.

 Stundenlang laufen sie im Gänsemarsch hinter den Bergführern her, um nicht vom Weg abzukommen oder einen Fehltritt zu begehen. Doch Ben hat mittlerweile extreme Gliederschmerzen und seine Kräfte verlassen ihn langsam. Er macht einen Schritt zu weit zur Seite, der Schnee gibt unter seinen Schneestiefeln nach und er stürzt. Sein schwerer Rucksack zieht ihn nach hinten und er überschlägt sich mehrmals den Berghang hinunter. Während er rollt, hört er Jo verzweifelt seinen Namen rufen »BEN, BEEEEN«.

 Als er zum Stehen kommt, bleibt er einige Sekunden benommen liegen und atmet tief durch, so gut es seine Nase zulässt. Erst dann nimmt er Jo's Stimme wieder wahr: »Ben, alles in Ordnung? Ben, antworte!«

 »Alles in Ordnung«, ruft Ben und streckt den Daumen in die Höhe: »Ich komme rauf«

 Erst jetzt wird ihm bewusst, wie viel Glück er gehabt hat, dass er nicht auf einen der spitzen Felsen gelandet ist, die aus dem Schnee ragen. Der Gedanke, was alles hätte passieren können, lässt ihn schaudern.

 Hier oben, knapp 6.000 Meter über dem Meeresspiegel, ist es nicht einfach, um nicht zu sagen unmöglich, schnell Hilfe zu bekommen. Eine schwere Verletzung konnte hier zum Todesurteil werden.

 Am ganzen Körper zitternd macht er sich in Zeitlupe wieder auf den Weg nach oben.

 Sein Onkel wartet auf ihn, sichtlich erleichtert, dass es Ben gut geht. »Du schaffst das«, versucht er Ben zu motivieren. »So ein Hängchen kann dich nicht aufhalten. Komm, gib nicht auf«.

 Ben kommt nur mühsam vorwärts und ab und zu rutscht er auch noch ab.

 Der Absturtz dauerte nur wenige Sekunden, nun ist er schon wieder eine knappe halbe Stunde am hochgeklettert. Und er hat erst die Hälfte geschafft.

 »Nur weiter so, gleich hast du es geschafft.« Die Sprüche seines Onkels gehen ihm langsam auf die Nerven.

 Als er sich gerade hinsetzen will, um eine Pause zu machen, hört er erst ein leises Knacken, dann ein etwas lauteres Knacken, dann noch ein Knacken und noch ein Knacken, da sieht er, dass die Eisplatte, auf der er steht, Risse bekommt. Noch bevor er reagieren kann, bricht das Eis. Es ist, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen und er stürzt in die Tiefe. Das Letzte, was er hört, bevor er das Bewusstsein verliert, ist der Schreckensschrei seines Onkels „BEEEEENNNNNN“, dann wird es dunkel.

Kapitel 3 Silvan

»HIIIILFE!!! Hört mich denn niemand? Bitte, ich brauche HIIILFE!«

 Silvan steckt in einer Art Netz aus fingerdicken Schnüren, die mit einer gelben, zähen Masse überzogen sind. Sie erinnert ein wenig an Honig, nur längst nicht so schmackhaft.

 Seit Stunden versuchte er, sich aus dem Netz zu befreien, doch ohne Erfolg.

 Silvan gehört zu den Chamaros. Sie leben in der neunten Wabe im braunen Reich. Sofort fallen die Augen auf, die ein Drittel seines Gesichtes ausmachen, oder viel mehr seines Körpers, denn Kopf und Körper sind ein und dasselbe.

 Man wundert sich, dass aus dem besonders kleinen Mund ein so lauter Hilfeschrei kommen kann.

 Uns würde Silvan an einen Steppenläufer erinnern, an einen Heuballen, wie man ihn oft in Westernszenen in einer verlassenen, trostlosen Gegend sieht. Aber das wäre eine Beleidigung für Silvan, denn Chamaros sind sehr stolz auf ihr Aussehen.

 Sie wachsen nicht wie die meisten Lebewesen. Sie suchen sich besonders schöne Stöcke oder Zweige, auch Gräser und Blumen und befestigen sie an sich, aber das ist schwieriger, als es sich anhört. Chamaros sind sehr eitel und es kommt sehr selten vor, dass sie etwas Passendes finden.

 Silvans Eitelkeit ist mit schuld daran, dass er jetzt im Netz feststeckt und um Hilfe ruft.

 Langsam geht ihm die Kraft aus, seine Hilferufe werden leiser - auch eine gewisse Müdigkeit überkommt ihn. Das Problem ist, dass beides, das Schreien und das Wachbleiben, überlebenswichtig ist.

 Das Netz, in dem er hängt, gehört mehreren Eresurus, die in Wabe 8 leben. Diese sehen aus wie eine Art Spinne, nur viel größer, etwa so groß wie eine Handfläche. Statt 8 Beine wie eine Spinne, hat eine Eresurus nur 6 Beine. Sie hat auch eine Art kurzen Schwanz. Der Körper erinnert an ein dunkelrotes Kohlebrikett, an dem die Beine wie abgebrannte Streichhölzer befestigt sind. Der Schwanz wird für den klebrigen Faden benutzt.

 Man fragt sich, wie so ein kleines Ding einen fingerdicken Faden hinbekommt. Sie schaffen es nicht. Sie arbeiten immer in Gruppen. An einem Seil sind mindestens 6 Eresurus beteiligt, die ihre Fäden umeinander wickeln.

 Ein Netz wird meist von 30 bis 50 ihrer Art bewohnt. Das einzige, was sie fürchten, ist Lärm.

 Genau das ist es, was Silvan immer wieder um Hilfe rufen lässt. Als er einmal eine kurze Pause macht, um seine Stimme zu schonen, kommen schon einige der Eresurus aus dem Schatten, um ihn zu zerlegen.

 Um zu verstehen, wie Silvan in diese missliche Lage geraten ist, müssen wir zwei Tage zurückgehen.

Silvan war - wie so oft - auf der Suche nach etwas Besonderem, das er sich anhängen konnte, vielleicht eine besonders seltene Blume, die er trocknen lassen konnte, oder einen schönen Ast.

 Doch in Wabe 9 war es alles andere als einfach, etwas Passendes zu finden. Hier leben sehr viele Chamaros und sie sind alle sehr eitel und präsentieren ständig ihre neuesten Errungenschaften. Deshalb sind alle ständig auf der Suche nach etwas noch Schönerem, Seltenerem oder Einzigartigerem. So eine Suche kann schon mal mehrere Wochen oder sogar Monate dauern.

 Es gibt die ganz kleinen Chamaros, die kaum größer als eine Faust sind und noch viel Arbeit vor sich haben, und die großen, die schon die Größe eines Gymnastikballs erreicht haben.

 Silvian ist etwas größer als ein Fußball. Obwohl es so viele von ihnen gibt, ist es nicht immer einfach, sie zu finden, denn egal, wohin man schaut: nach oben oder unten, nach links oder rechts, nach hinten oder vorne, ob nah oder fern - die ganze Wabe 9 ist voll von allen möglichen Büschen, Hecken und Gestrüpp. Und das alles in einer herrlichen Farbenvielfalt, zum Beispiel rote Büsche mit blauen Beeren oder Hecken mit gelben, orangefarbenen und braunen Blättern. Manche haben Dornen, andere sternförmige Blätter. Alle wachsen dicht an dicht.

 Ein Strauch sticht mit seinen weinroten, herzförmigen Blättern besonders hervor: der Chamaros-Strauch, aus dessen Früchten die kleinen, faustgroßen Chamaros wachsen. Es gibt nicht viele davon, aber jedes Jahr bringt er bis zu 20 solcher Chamaros hervor.

 Man muss sich in diesem Dickicht gut auskennen, um einen Weg zu finden. Vor allem, wenn man kein Chamaros ist oder eine Steinhaut hat, wird man auf Schritt und Tritt gestochen und gekratzt.

 Die meisten leben in kleinen Gruppen zusammen. Meist sind es zwischen 10 und 20 Tiere. Ihre Behausungen sind kaum zu erkennen. Sie sehen den Büschen sehr ähnlich.

 Es gibt aber auch Einzelgänger wie Silvan.

 Silvan schlenderte durch die Gegend in der Hoffnung, einen Glückstreffer zu landen. Da trifft er auf Anouk. Der stolziert umher, um seine neueste Errungenschaft zu präsentieren. Er ist etwas größer als Silvan, und die beiden hatten schon immer einen besonderen Konkurrenzkampf.

 Silvan hatte nun schon seit einiger Zeit kein Glück mehr gehabt und war frustriert. Er wollte Anouk ein wenig aufziehen, um seine Laune zu heben: »Na Anouk, hast du wieder ein Stöckchen gefunden, das du für einen Salixsast hältst, oder warum sonst würdest du so herumstolzieren?« Silvan grinste verschmitzt.