Das hungrige Krokodil - Sandra Brökel - E-Book

Das hungrige Krokodil E-Book

Sandra Brökel

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Beschreibung

Prag 1968: Wie viele andere Tschechen schöpft Pavel Vodák Hoffnung. Hoffnung auf Reformen, auf Freiheit, auf Demokratie. Dann rollen die Panzer und machen all seine Träume zunichte. Pavel will nicht, dass seine Tochter Pavla unter diesen Umständen aufwachsen muss. Sie soll frei denken und entscheiden können. Also plant er, mit seiner Familie aus der tschechischen Heimat nach Deutschland zu fliehen. Nachdem er an deutsche Pässe gelangt ist, folgt die größte Herausforderung: Denn seine schwer kranke Schwieger­mutter und seine Tochter ahnen nichts von der Flucht. Sie glauben, die Familie fährt in einen Jugoslawienurlaub. Eine abenteuer­liche Reise beginnt …

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Sandra Brökel • Das hungrige Krokodil

 

Dr. Pavel Vodák wurde im Juni 1920 in Prag als Sohn eines tschechischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren. Schon als Kind hatte er sich überlegt, später einmal Arzt zu werden und setzte alles daran. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Jahr 1939 änderte vieles. Jüdische Kommilitonen mussten die Universität verlassen. Wenig später wurden die tschechischen Universitäten vorerst geschlossen. Nach dem Krieg konnte er sein Medizinstudium abschließen und war als Kinderarzt und Psychiater tätig. Nach den Ereignissen des Prager Frühlings im August 1968 sah Dr. Pavel Vodák keine Zukunft in seiner Heimat. Er hatte die Reformbewegung unterstützt und stand unter Beobachtung. Er befürchtete irgendwann verhaftet zu werden. Zudem glaubte er nicht, dass die kommunistische Partei seiner Tochter ein Studium erlauben würde. So entstand der Plan, mit der Familie zu fliehen. 1970 brach die Familie zu einer abenteuerlichen Flucht in den Westen auf, die über Jugoslawien, Italien und Österreich nach Deutschland führte. Dank seiner internationalen Kontakte erhielt er schnell eine Stelle als Arzt in Nordrhein-Westfalen. In den letzten Jahren trug er seine Lebenserinnerungen zusammen. Er starb im März 2002.

Sandra Brökel

Das hungrige

Krokodil

Familienroman

Eine wahre GeschichteFür Paulchen

Prag – 25. Juni 1970

Die Tür seines Dienstzimmers schließt seit ein paar Wochen schlecht. Pavel muss seine Hüfte fest gegen das dunkle Holz pressen, damit der Schnapper widerwillig einrastet. Es sollte mich nicht mehr stören, denkt er, jemand anderes wird sich darum kümmern.

Er will einen Moment alleine sein. Nur ein paar Minuten nicht antworten müssen, nicht schauspielern. Einfach nur der unerträglichen inneren Anspannung und Erschöpfung nachgeben. Müde lässt er sich in den Chefarztsessel hinter seinem Schreibtisch fallen. Das weiche Leder ist angenehm, die Lehne gibt nach, wenn er sein Gewicht nach hinten verlagert. Er schaltet ab. Immer nur Vollgas nach vorne funktioniert nicht. Er ist auch nur ein Mensch.

Den Kopf auf seine Unterarme gestützt, lässt er seinen Blick durch den Raum schweifen. Ziemlich klein für ein Chefarztzimmer. Karg und steril. Irgendetwas fehlt an den Wänden. Kollegen neigen zu einer gerahmten Galerie wichtiger Urkunden, die eine erfolgreiche Approbation und andere bedeutungsschwere Titel bescheinigen. Er verzichtet bewusst auf diese Zurschaustellung, stellt seine Kompetenz lieber im direkten Kontakt mit den Patienten unter Beweis. Seine Dokumente schlummern in irgendeinem Aktenordner. Er wird sie zurücklassen müssen. Das könnte später zum Problem werden.

In seinem Büro hängen nur zwei gerahmte Bilder: Eines ist ein alter Kupferstich des Prager Stadtbildes. Das Andere hängt etwas schief. Er quält sich aus dem Ledersessel, schlurft zu dem Bild und rückt es liebevoll gerade. Seine Finger fassen in eine feine Staubschicht. Er pustet sie von der stumpfen Glasscheibe, die die verblichene Fotografie eines alten Mannes mit grauweißem Spitzbart, schwarzem Hut und silberner Nickelbrille schützt. Der Rahmen des Bildes ist viel zu klein für einen solch großen Mann, denkt Pavel. Jetzt hängt er wieder gerade. So wie es ihm gebührt. Pavel neigt den Kopf zur Seite und flüstert dem Foto zu: »Tut mir leid. Sie werden wohl bald auf dem Müll landen. Ich bin froh, dass Sie diese Zeiten nicht mehr erleben müssen.« Das Bild zeigt den Philosophen und Schriftsteller Tomáš Garrigue Masaryk. Als erster Präsident der Tschechoslowakei setzte er sich unermüdlich für einen demokratischen und liberalen Humanismus ein. »Ihr Portrait kann ich nicht retten«, fährt Pavel kaum hörbar fort, »aber Ihre Worte werden mich immer begleiten. Danke.«

Das war’s. Sein letzter Arbeitstag im Institut. Er lässt sich wieder in den Sessel fallen und pustet ein paar letzte Staubkörner des Masarykbildes von den Fingerkuppen.

Behutsam streicht er über das polierte Holz des massiven Schreibtisches. Da sind ein paar Kratzer auf der blanken Fläche, von damals, als ihm die Mutter eines Patienten zum Dank unbedingt diese Tomatenstaude in einem riesigen Blecheimer überreichen wollte. Und auch das Brandloch ist trotz der Politur noch fühlbar. Da hat ein Vater, der nicht begreifen wollte und konnte, dass sein Sohn niemals ein eigenständiges Leben führen würde, wutentbrannt die Glut seiner Zigarre ins Holz gedrückt. Pavel hinderte den verzweifelten Vater nicht an der Verunstaltung des Schreibtisches. Holz kann man reparieren. Eine schwere geistige Behinderung nicht. Seine Finger gleiten noch einmal über die rundliche Brandstelle und den Kratzer. Momente, die Pavel nie vergessen wird.

Vor drei Wochen feierte er seinen fünfzigsten Geburtstag in diesem Institut. Der große Besprechungsraum verwandelte sich in einen Festsaal. Leckereien, süß und deftig, wurden gereicht, es mangelte an nichts. Auch nicht an guter Stimmung. Alle waren gekommen und gratulierten. Einige ehrlich, andere heuchelnd.

In wenigen Wochen wird hier ein anderer Chefarzt sitzen. Vermutlich zieren bald gerahmte Urkunden die kargen Wände. Ganz sicher aber kein gerahmtes Portrait von Tomáš G. Masaryk.

Es wird ein Hauen und Stechen um diese Position geben. Schon seit einigen Monaten verfolgt Pavel kommentarlos die Intrigen seiner Stellvertreterin. Eine überzeugte Kommunistin, eine Ideologiefeste. Frau Dr. Pološerová verfügt über eine hohe fachliche Kompetenz. Als Mensch aber tut er sich schwer mit ihr. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern sind kalt, dem Lächeln mangelt es an Aufrichtigkeit und Empathie. Pavel schaudert. Er weiß genau, dass es dieser Frau nicht entgangen ist, wie sehr er selbst dieses politische System ablehnt. Und sie weiß, dass das richtige Parteibuch schwerer wiegt als die fachliche Kompetenz. Wie oft hatte Pavel sich angreifbar gemacht, indem er seine Meinung sagte und sich nicht ins System pressen ließ. Bislang war es gutgegangen. Er ist bei den Mitarbeitern der unteren Hierarchie und den kleinen und größeren Patienten beliebt. Er ist eine Koryphäe auf dem Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und in der gesamten Republik bekannt. Das weiß er und das wissen die anderen. Das ist sein Schutzschild. Falsch! Das war sein Schutzschild. Er ist nun offiziell »angezählt«.

Er steht unter Beobachtung, darf nicht mehr ins westliche Ausland reisen. Keine Dozententätigkeit mehr, kein fachlicher Austausch auf Kongressen, keine Begegnungen mit frei denkenden Menschen. Pavel hat aufgehört, die Warnschüsse zu zählen. Äußerlich ließ er sie abprallen, innerlich reiht sich Wunde an Wunde. Es ist nur noch eine Frage von Tagen, vielleicht auch nur Stunden, bis er endgültig getroffen und niedergestreckt wird. Und mit ihm die Seele des Instituts. Lass dieses Pathos!, mahnt sein innerer Zensor.

Aber diese Gedanken sind wahr. Es ist sein Institut, sein Leben, seine Arbeit als Psychiater, Neurologe und Kinderarzt. Alles hier trägt seine Handschrift, seine Methodik, seine abwägende, ruhige Art. Es sind seine kleinen Patienten. Seine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Allesamt gut ausgebildete Fachkräfte, die ihn als Chef schätzen und wertvolle Arbeit leisten. Bis auf die Oberärzte vielleicht, die sich hinter seinem Rücken hauptsächlich mit seiner Nachfolge befassen und wie Hyänen nach dem Chefsessel gieren. Allen voran Dr. Pološerová.

Klingt ein bisschen nach narzisstischer Störung, denkt Pavel, so was wirst du doch hoffentlich nicht selbst entwickeln. Er gluckst in sich hinein. Immer, wenn er mit Lob überhäuft wird, mahnt er sich innerlich zu Demut und Bescheidenheit. Pavel, sagt er sich, vergiss nie, dass jeder aufs Klo muss! Da nämlich verrichten alle das gleiche Geschäft. Und das stinkt bei jedem. Genau wie Eigenlob! Mit dem Hintern auf der Schüssel sind alle gleich: Der weltbeste Arzt, der Nobelpreisträger, der Straßenkehrer, der Parkplatzwächter.

Er atmet tief durch. Die wenigen Krankenakten sind fein säuberlich auf der linken Seite des Schreibtisches gestapelt. Aufgeräumt. So kann es bleiben. Er klatscht in die Hände, steht auf und reckt seinen Körper. Er schreitet um den Schreibtisch herum und rückt die beiden schweren Holzstühle zurecht. Zwanghafter Ordnungssinn ist ihm normalerweise völlig fremd. Heute aber muss es so sein. Er schiebt jeden Stuhl ganz genau vor den Tisch. Das dunkle Holz der Lehnen ist weicher, als es aussieht. Wie oft hatten verzweifelte Eltern auf ihnen Platz genommen, wenn Pavel ihnen mit ruhiger, aber bestimmter Stimme und sehr viel Geduld die Diagnosen ihrer Kinder erklärte. Er tätschelt die Stühle, als wolle er ihnen danken, dass sie stumm und zuverlässig die Schwere des Schicksals getragen haben. Zu den schwierigsten Momenten des Lebens, auch für den Arzt, gehören die, wenn Elternträume von der gesunden und unbeschwerten Zukunft ihrer Kinder wie Seifenblasen zerplatzen. Pavel seufzt. Für seine eigene Tochter hegt er Hoffnungen und große Pläne. Aber nicht hier in Prag. Wo nur?

Diese Frage verbietet er sich. Er weiß auch keine Antwort. Er kann nur darauf vertrauen, dass er Glück hat und sein Ziel, wo auch immer das sein wird, erreicht.

Es ist vorbei. Er streift den weißen Arztkittel ab und hängt ihn an den Haken links neben der Tür. Er strafft sich, drückt mit fester Hand auf die Türklinke und geht. Einen weiteren Blick zurück verwehrt er sich. Zu gerne hätte er sich in Ruhe von allen Mitarbeitern und Patienten verabschiedet. Doch es muss so sein wie immer. Nur kein Aufsehen erregen. In der Mittagspause hatte er allen »Ahoj« gesagt. Sie wünschten ihm einen erholsamen Sommerurlaub. Er mimte Vorfreude und wusste, dass dies ein Abschied für immer war.

Pavel geht mit festen Schritten über den menschenleeren Flur, saugt noch einmal bewusst den vertrauten Geruch der Klinik ein. Eine Mischung aus Desinfektion und Kantine. Die fünf Stufen nach unten zum Haupteingang nimmt er mit aufgesetzter Beschwingtheit. »Schönen Urlaub, Herr Doktor«, ruft der Portier hinter ihm her. »Danke«, antwortet Pavel, dreht sich kurz um und fügt mit einem Augenzwinkern hinzu: »Passen Sie mir gut auf das Institut auf. Ich verlasse mich auf Sie!« Der Portier nickt, deutet einen übertriebenen Salut an und versichert lächelnd seine Loyalität.

Pavel tritt aus der Tür heraus auf den Gehsteig der Dittrichstraße. Menschen wie den Portier wird er vermissen. Es gibt Momente, da sehnt er sich die Leichtigkeit und Unbekümmertheit dieses Mannes herbei. Der Portier geht morgens zur Arbeit und sitzt hinter der kleinen Scheibe am Eingang des Instituts. Er ist freundlich zu den Menschen, erklärt den Weg zu den Stationen, zur Ambulanz und achtet peinlich genau auf die Einhaltung der Besuchszeiten. Abends schlendert er nach Hause zu seiner Frau. Der Feierabend duftet nach heißen Knödeln und kaltem Bier. Er macht sich keine Gedanken über die politische Lage. Solange die Moldau Wasser führt, die Familie gesund und der Teller gefüllt ist, ist er zufrieden. So einfach. Er nimmt die täglichen Herausforderungen, wie sie kommen und macht das Beste daraus. So wäre Pavel auch gerne. Das Leben genießen und die politischen Gegebenheiten akzeptieren, die durch den Einzelnen nicht zu ändern sind. »Regen Sie sich doch nicht darüber auf, was die Mächtigen tun«, sagte der Portier einmal zu ihm, »die ändern Sie sowieso nicht. Machen Sie sich lieber einen angenehmen Feierabend!«

Pavel seufzt. So einfach kann das Leben sein. Und so kompliziert, wenn man zu viel denkt. Und noch komplizierter, wenn man seine Gedanken mit anderen teilt. So wie er. Er ahnt, dass er sich selbst Steine in den Weg legt, weil er sich unermüdlich den Kopf zerbricht. Pavel öffnet die Tür seines weißen Škoda. Er riecht immer noch neu, nach frischem Plastik, Benzin und Fabrik. Heute fährt er nicht hinunter zur Moldau, sondern biegt rechts ab Richtung Prager Neustadt. Nur wenige Meter von der Dittrichstraße, die sein Institut beherbergt, parkt er und steigt aus. Sein Ziel ist der Karlsplatz, der größte Platz seiner Heimatstadt Prag.

Sein Sakko bleibt im Auto, die Krawatte auch. Die oberen Knöpfe des Hemdes geöffnet schlendert er quer über die Rasenfläche. Vor über 100 Jahren wurde dieser große Park gestaltet und einige der Linden, Platanen und Kastanien haben bis heute überlebt. Pavel achtet sehr genau darauf, dass ihm niemand folgt oder ihn beobachtet. Und noch mehr darauf, dass er sich nicht allzu häufig umschaut und dadurch Aufmerksamkeit erregt.

Seit fast zwei Jahren kann er dieses einschnürende Gefühl der Enge nicht mehr abschütteln. Es frisst sich ganz langsam durch seine Eingeweide, würgt und stranguliert ihn. Es schmeckt nach bitterer Galle. Es dringt in die Luftröhre ein und nistet im Kopf. Es wütet nicht nur in ihm. Die Intelligenz der gesamten Stadt erstickt unter einem unsichtbaren Etwas, das sich wie ein Leichentuch über die Menschen legt. Viele nehmen es wahr, andere verdrängen es, wieder andere versuchen, trotz des Tuches einen klaren Blick auf den Himmel zu wahren. Und einige wenige stärken das schwere Tuch, bestimmen seine Form, machen es blickdicht und starr. Sie statten es mit Augen und Ohren aus, um jene zu finden, deren Blick auf den Himmel gerichtet ist. So können sie das Tuch unsichtbar und leise immer enger weben. Bis auf die Größe einer kleinen Gefängniszelle. Oder die eines Sarges.

Für Pavel ist es, als könne er sich zwar bewegen, aber nur in einem vorgegebenen Rahmen. Als könne er atmen, aber nur die Luft, die ihm die Mächtigen lassen. Als könne er denken, aber nur die Gedanken, die erwünscht sind. Als könne er sprechen, aber nur über das, was kommunistische Ohren dulden. Oberflächlich betrachtet ist alles möglich. Darunter sehnt er sich nach Freiheit. Er selbst könnte sich vielleicht noch mit den Gegebenheiten arrangieren, sich anpassen, unterordnen und seinen Freigeist zähmen. Aber was ist mit Pavli? Morgen wird seine Tochter zwölf Jahre alt. Sie ist intelligent, kreativ und aufgeweckt. Dass ein politisches System die Potenziale seiner nächsten Generation einschränkt ist ihm unerträglich. Der Traum von einem Sozialismus mit menschlichem Antlitz, für den er einst kämpfte und alles riskierte, wurde am 21. August 1968 unter Panzerketten begraben.

Pavel erreicht eine Parkbank unter der alten Platane, von der er glaubt, dass sie zu den ältesten Bäumen gehört. Ein weiteres Mal lässt er seinen Blick in die Runde schweifen. Niemand, der ihn im Visier hat. Nur drei ältere Damen, die plaudernd spazieren gehen und Kinder, die weit entfernt herumtollen und Fangen spielen. Niemand auf einer anderen Parkbank, der vorgibt, eine Zeitung zu lesen und niemand, der so tut, als würde er die Vögel oder sonst etwas beobachten. Pavel setzt sich.

Vorsichtig beugt er sich zum hinteren Teil der Parkbank, der von dem Heckengrün an der Rückseite verdeckt ist. Hier muss es irgendwo sein. Seine Finger tasten am Holz entlang. Erst auf der rechten Seite, dann links. Ganz vorsichtig. Er fühlt einige Splitter, die er nicht in seinen Fingerkuppen haben möchte. Er sucht weiter. Da ist nichts. Verdammt! Er tastet weiter. Plötzlich, am hinteren linken Fuß der Bank, fühlt er ein anderes Material. Es knistert leise. Könnte eine Plastiktüte sein. Ja, das muss es sein!

Mit einem Ruck löst er die Tüte, die an den Fuß geklebt wurde, und zieht sie behutsam nach oben. Seine Hände zittern und er schaut sich noch einmal um. Die plaudernden Damen haben sich weiter von ihm entfernt, die Kinder toben unbekümmert weiter. Er öffnet die Tüte, schaut hinein und würde am liebsten einen lauten Jubelschrei ausstoßen. Es hat geklappt! Sein Herz pocht aufgeregt und sein Mund ist trocken. Tief berührt und voller Dankbarkeit zieht er einen Briefumschlag aus der Tüte. Ohne Adressat und ohne Absender. Er öffnet den Umschlag und liest die wenigen Zeilen, die mit einer Schreibmaschine auf das blütenweiße Papier geschrieben wurden: Wir halten vier westdeutsche Pässe bereit. Gehen Sie am Abend nach Ihrer Ankunft zum Meer. Direkt nach Einbruch der Dunkelheit. Auf Höhe Ihres Hotels finden Sie Umkleidekabinen zu Beginn des Strandabschnitts. Dort wartet Ihre Kontaktperson. Sie trägt ein orangerot gemustertes Strandkleid.

Pavel schaut sich noch einmal um. Nachdem er die Zeilen ein zweites Mal gelesen hat, reißt er die Nachricht in kleine Stücke. Ebenso den Briefumschlag. Danach steht er auf, schlendert noch eine Runde durch den Park und wirft die Schnipsel samt Plastiktüte in einen Mülleimer. Jetzt kann er den Duft von Rasen und Blumen wahrnehmen. Auch der abendliche Gesang der Singvögel dringt zu ihm durch.

Vier Pässe der Bundesrepublik Deutschland. Eintrittskarten in die Freiheit. In diesem Moment erlaubt Pavel sich Hoffnung. Er denkt an die Worte von Václav Havel, dem konsequenten Wortführer der nichtkommunistischen Intellektuellen: »Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht. Sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht.« Diese innere Haltung beruhigt Pavel.

Auf dem Weg zum Auto muss er unwillkürlich lächeln. Sein Gang hat sich verändert, er schreitet sicherer und forscher voran. Die Vorstellung, dass seine kleine Tochter mit einem westdeutschen Pass reisen soll, weckt seinen Humor. Die Kleine spricht kein Wort Deutsch. Seine Ehefrau und seine Schwiegermutter auch nicht. Also würden alle drei wohl oder übel den Mund halten müssen. Drei Frauen, die schweigen. Pavel lacht in sich hinein, öffnet die Autotür und schwingt sich auf den Fahrersitz. Welche Ironie des Schicksals. Ausgerechnet deutsche Pässe. Deutsche! Jene Menschen, die einst tiefste traumatische Erlebnisse in Pavels Seele säten, wandeln sich heute zu Verbündeten.

Auf dem Beifahrersitz liegt das Zeugnis seiner Tochter Pavlina. Behutsam nimmt er es in die Hand und schaut es sich an. Nur Einsen. Als er das Zeugnis am Morgen in der Schule abgeholt hat, hatte er es keines Blickes gewürdigt. Zu groß war die innere Anspannung. Eigentlich müsste Pavli noch einen weiteren Tag zur Schule. Doch aufgrund ihrer hervorragenden Leistungen darf sie schon morgen in die Ferien. Die Schulleitung hatte Verständnis dafür, dass die Familie gemeinsam mit einer Reisegruppe nach Jugoslawien fahren möchte. Der Termin sei nicht verschiebbar. Und so wurde Pavels Antrag genehmigt. Er schmunzelt, denn das erinnert ihn an den Moment, in dem er entschieden hatte, Arzt zu werden: Er war ein kleiner Junge. Aufgeweckt, abenteuerlustig, neugierig aufs Leben. Rotznase, Segelohren, aufgeschlagene Knie, dreckige Fingernägel und ungekämmtes Haar. Glücklich und zufrieden. Sein Onkel, ein Arzt, lud ihn ein, die Ferien bei ihm zu verbringen. Pavel freute sich. Nur leider hatten die Schulferien noch nicht begonnen. So schritt jener Onkel bedeutungsschwer in die Schule, erklärte lang und breit, weshalb sein Neffe schon zwei Tage vor Ferienbeginn mit ihm fahren sollte. Die Schule willigte ein. Der Onkel nahm den kleinen Pavel triumphierend an die Hand und sagte: »Siehst du mein Junge, wenn man Arzt ist wie ich, dann hat man viel Einfluss. Dadurch schafft man es sogar, dass ein kleiner Junge wie du schulfrei bekommt!« In diesem Moment wusste Pavel, welchen Beruf er ergreifen würde!

Der Onkel hatte Recht, denkt er belustigt, legt das Zeugnis auf den Beifahrersitz und startet den Wagen. Er liegt gut in der Zeit.

Das Sonnenlicht des späten Nachmittags ändert langsam seine Farbe. Sanfte Rottöne mischen sich mit grellem Weiß und hüllen die Stadt in eine wohlige Atmosphäre. Er fährt hinunter zur Moldau. Auf der rechten Seite schimmert das goldene Dach des Nationaltheaters, auf der linken Seite wacht die Burg wie ein unumstößlicher Fels über die Stadtbewohner. Stille, starre Mauern aus verlässlichem Stein. Pavel sucht einen Parkplatz. Noch einmal möchte er das Wasser riechen und die Silhouette der Kleinseite seiner Heimatstadt aufnehmen, um sie für immer in seiner Seele zu bewahren.

Als er Minuten später im Gras sitzt, überkommt ihn ein unheilvolles Gemisch aus widersprüchlichen Gefühlen. Er versucht, das Gefühlschaos zu entwirren und spürt nach, was er wahrnehmen kann: Wehmut, Angst, Zuversicht, Wut, Enttäuschung, Entschlossenheit und tiefe Traurigkeit.

Ein dicker Kloß in seinem Hals hindert ihn am Schlucken. Die Hände sind feucht und ein stechender Schmerz wütet in seiner Brust. Er muss Abschied nehmen. Die Entscheidung, die sein Kopf vor vielen Wochen traf, muss sein Herz jetzt ertragen. In wenigen Stunden würde nicht nur ein neuer Tag beginnen, sondern ein neues Leben. Entweder als Neuling in einem fremden Land auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs oder als Staatsfeind im Gefängnis auf der östlichen.

Er setzt nicht nur seine Existenz aufs Spiel. Er nimmt drei weitere Menschen mit. In die Freiheit oder ins Verderben. Ganz sicher aber in eine ungewisse Zukunft. Von diesen dreien steckt eine voller Angst und die anderen beiden wissen überhaupt nichts von seinen Plänen. Er setzt alles auf eine Karte. Jetzt gibt es nur noch weiß oder schwarz. Sämtliche Grautöne wurden ausradiert.

Erschöpft lässt er sich nach hinten ins Gras fallen und schaut in die Wolken. Niemand hatte ihm je versprochen, dass das Leben leicht würde und doch sehnt er sich danach. Niemand außer er selbst hatte sich zur Flucht entschieden. Alles lastet auf seinen Schultern. Niemand kann ihm einen guten Ausgang versprechen oder garantieren. Es ist so schwer. So verdammt schwer!

Das Gras kitzelt in seinem Nacken und Tränen laufen aus seinen Augen. Pavel fühlt, wie sie sich sacht in seinen Ohren sammeln. Er lässt es einfach geschehen, obwohl es unangenehm ist. Mit jeder Träne löst sich ein klitzekleines Teilchen des bedrohlichen Gefühlschaos in seinem Inneren. Ein halbes Jahrhundert lebte er als Tscheche in seinem Land. Früher bezeichnete er sich stolz als Patriot. Das kommt ihm jetzt unehrlich und verlogen vor. Er kann an nichts anderes mehr denken, als dieses Land zu verlassen.

Seine Seele trauert und der Kopf zieht eine Bilanz der letzten fünfzig Jahre. Viele kleine mosaikartige Bilder huschen durch sein Gedächtnis. Erinnerungen an die Heimat, die er heute zum letzten Mal sieht. Auf diesem Boden hat er gelacht und geweint, sich gefreut und laut gejubelt. Hier ist er an Enttäuschungen gewachsen, hat Herausforderungen angenommen und Umwege akzeptiert. Er ist sie gegangen – mal widerwillig, mal freiwillig. Er erlebte unvergessliche Momente, speicherte wertvolle Augenblicke im Herzen. Probte kleine Abschiede, hieß Neues willkommen. Hier schaute er in Wolken und Sterne, entdeckte Sternschnuppen, verschickte Wünsche, wob Träume und schmiedete Pläne. Er arbeitete hart, entspannte ausgiebig, er liebte und küsste, schimpfte und fluchte, vertraute und verzweifelte. Er genoss Freiheit und ertrug Enge, mal eintönig, mal bunt. So war sein Leben. Der vertraute Alltag in Prag, unter den er heute einen Schlussstrich zieht. Ziehen muss.

Entschlossen richtet er sich auf, wischt die Tränen fort, putzt sich die Nase und geht zurück zum Auto. Zu Hause muss gepackt werden. Das Flugzeug, das in den frühen Morgenstunden von Prag nach Jugoslawien fliegen soll, wird nicht warten. Das Abwarten und der Stillstand finden mit dem neuen Tagesanbruch ihr Ende.

»Na endlich, wo warst du nur so lange?« Pavels Frau Věra läuft hektisch durch die Wohnung. Ihre Hände zittern, als sie ein geblümtes Kleid in den Koffer legt. Sie schaut ihn nicht an. »Ich packe hier schon seit über einer Stunde. Und es wäre wirklich hilfreich gewesen, dich hier zu haben!« Pavel setzt sich gelassen auf den Boden vor den Kleiderschrank und genießt die stürmische Begrüßung seines Hundes Ready. Der Boxer leckt ihm das Gesicht und sucht trotz seiner Körpergröße einen gemütlichen Platz auf Pavels Beinen. »Ready, du bist kein kleiner Schoßhund«, flüstert Pavel dem Hund ins Ohr und krault ihn liebevoll. »Die Kleine schlägt ihre neuen Schulbücher ein«, sagt Věra vorwurfsvoll. »Sie ist ganz stolz, dass sie in diesem Jahr gut erhaltene Bücher bekommen hat und freut sich auf das neue Schuljahr nach den Sommerferien. Ich kann das nicht mit ansehen! Sie weiß nicht, dass wir weggehen. Pavel, ich habe Angst!« Er hört die Worte seiner Frau und krault seinen Hund weiter.

»Pavel, steh doch auf! Wir haben Stühle! Musst du immer auf dem Boden sitzen! Was soll noch in den Koffer?« Mühsam richtet er sich auf und streicht sich die Hundehaare von der dunklen Anzughose. »Wann bringst du den Hund weg? Wann müssen wir eigentlich heute Nacht los? Hast du alles mit Stanislav Fiala besprochen? Fährt er uns?« Pavel schaut seine Ehefrau an. Er liebt sie. Immer noch. Wie am ersten Tag, als er sie in der Universität sah. »Gib mir verdammt noch mal eine Antwort«, schimpft sie. Endlich unterbricht sie ihren hektischen Aktionismus und schaut ihn an. In ihren Augen steht die blanke Angst. Wie so oft. Er nimmt sie in den Arm und flüstert ihr leise ins Ohr: »Bleib ruhig. Es ist alles geregelt. Wir schaffen das.«

Er geht ein paar Schritte bis ins Wohnzimmer der kleinen Wohnung. Ready trottet hinter ihm her. Pavli sitzt auf dem Perserteppich und schlägt ihre neuen Schulbücher ein. »Papa! Schau mal«, strahlt sie. »Die Bücher sind fast neu! So schön!«

»Ja, die sind wirklich toll. Genau wie dein Zeugnis. Nur Einsen.« Er küsst sie zärtlich auf die Wange und klopft ihr auf die Schulter. »Papa?«, fragt die Kleine und schaut ihn mit ihren blauen Augen an. »Was meinte Mama eben mit Weggehen? Wo wollen wir denn hingehen?« Pavel gefriert das Blut in den Adern und für einen Moment glaubt er, der Boden öffne sich unter seinen Füßen. »Papa, ich will nicht weggehen. Ich will hierbleiben.«

Er zwingt sich zur Gelassenheit. »Pavli, wir fliegen nach Jugoslawien. Urlaub am Meer! Alle zusammen. Mama, Oma, du und ich. Fiala fährt uns heute Nacht zum Flughafen und passt auf Ready auf.«

»Bis wir wiederkommen?«, hakt das Kind nach. Pavel nickt, dreht sich um und geht in die Küche. Es duftet nach deftigem Essen. Františka Tůmová, Pavels Schwiegermutter, steht wie immer mit Kopftuch und Schürze vor dampfenden Töpfen und rührt eine Soße. Pavel hebt den Deckel eines Kochtopfs und schaut hinein.

»Lass das«, sagt die alte Dame und schlägt ihm leicht auf die Finger, »die Kartoffeln müssen noch kochen.«

»Jawohl, Pirat«, antwortet Pavel mit gespieltem Gehorsam, steckt seine Hände in die Hosentaschen und lehnt sich an den Küchenschrank. Pavels Schwiegermutter ist eine hervorragende Köchin. Wegen des Kopftuches, das sie beim Kochen trägt, nennt er sie seit vielen Jahren liebevoll »Pirat«. Der Hund setzt sich neben seine Beine. Beide schauen auf den Herd, genießen den unwiderstehlichen Essensduft in der Nase. Sie riechen Kartoffeln, Fleisch und in der Soße muss irgendetwas mit gedünstetem Speck und Zwiebeln sein.

»Jetzt guckst du wie dein bettelnder Hund«, sagt sie. »Es geht nicht schneller, wenn du mir im Weg stehst. Raus hier!« Sie ist ein wahrer Schatz. Führt den Haushalt und kümmert sich um die Kleine, während Věra arbeitet. Ohne ihre Mutter wären sie verloren.

Die winzige Speisekammer neben der Küche hat Pavel zum Arbeitszimmer umfunktioniert. Der Raum ist groß genug für einen Schreibtisch, seine Bücher und seine unzähligen Aufzeichnungen. Hier kann er die Tür hinter sich schließen und in Ruhe schreiben. Viele seiner Fachbücher sind hier entstanden. Diese wenigen Quadratmeter sind seine geistige Oase. Ready quetscht sich unter den Schreibtisch und Pavel setzt sich. Er schaut auf den Tisch. Alle Papiere geordnet. Er pustet ein paar Staubflocken in die Ecke. So kann es bleiben. Flüchtig blättert er noch einige Unterlagen durch. Nichts von Bedeutung. Die wichtigsten Dokumente hat er in seinem Kopf gespeichert, alle anderen können hierbleiben. Er öffnet die Schreibtischschublade und kramt ein kleines Notizbuch hervor. Es enthält die wichtigsten Adressen und Telefonnummern seiner Kollegen im Ausland, im Östlichen wie Westlichen. So viele Nummern kann er sich beim besten Willen nicht merken. Dieses kleine Notizbuch muss er mitnehmen. Věra poltert in den kleinen Raum und schließt sofort die Tür hinter sich. Jetzt wird es wirklich eng. »Pavel, ich drehe durch! Sie will nicht mit nach Jugoslawien!«, flüstert sie panisch. »Sie will zu meinem Bruder!« Ihre Stimme bebt. Er steht auf und steckt das Notizbuch in die Hosentasche. »Ohne meine Mutter komme ich nicht mit! Ich lasse sie nicht in diesem Land!« Pavel schaut ihr tief in die Augen. »Ich weiß«, sagt er so ruhig wie möglich. »Wir schaffen das. Vertrau mir.«

Wenig später sitzen alle am Tisch und essen zu Abend. »Kinder«, eröffnet Františka Tůmová das Gespräch, »ich habe es euch schon mal gesagt. Ich fahre nicht mit in den Urlaub. Ich bin alt, ich muss nicht mehr nach Jugoslawien und schon gar nicht mit einem Flugzeug.« Pavel sieht wie bei seiner Ehefrau die Angst aus dem Gesicht weicht und Platz macht für blanke Panik. Ihr fehlen die Worte. Věra sitzt mit offenem Mund da und starrt ihre Mutter an.

»Sieh doch«, fährt diese fort, »Frída braucht mich doch auch! Ich bin gerne in seinem Garten. Es ist Erntezeit. Ich kann ihm und seiner Frau helfen. Und wenn ihr aus dem Urlaub zurück seid, komme ich wieder zu euch nach Prag. Es sind doch nur zwei Wochen.«

»Eben«, faucht Věra, »es sind nur zwei Wochen. Nach Böhmisch Leipa zu Frída kannst du danach fahren. Die haben keine Kinder und kommen gut alleine klar. Wir haben diese Reise für dich gebucht. Da kannst du nicht einen Abend vorher sagen, dass du nicht mitkommst!«

»Deswegen sage ich euch das auch schon länger«, erwidert die alte Frau sanft. »Was soll ich denn in meinem Alter so weit weg von zu Hause? Ich bin euch doch nur ein Klotz am Bein.«

Pavel wird schwindlig. Ein Klotz am Bein – wahre Worte. Eine unheilvolle Stille senkt sich über den Esstisch. Alle schweigen. Er holt tief Luft, schaut sich seine drei Frauen genau an: Věra, wie immer von zermürbender Angst besessen, unsicher und zu unüberlegten Äußerungen bereit. Pavlina, lieb und folgsam. Aber auch aufgeweckt und somit wie jedes Kind für eine Überraschung gut. Seine Schwiegermutter, 84 Jahre alt, geistig fit, aber körperlich gebrechlich und unwillig zu verreisen.

Pavel, um Gelassenheit und Ruhe ringend, ergreift das Wort: »Wir fliegen alle gemeinsam und es wird gut werden. Haben wir alles gepackt?«

»Ja, fast«, antwortet seine Frau mit zittriger Stimme.

Was du da vorhast, ist der reinste Wahnsinn, denkt Pavel und könnte sich ohrfeigen. Außer der vagen Hoffnung, dass alles ein gutes Ende nehmen könnte, bleibt ihm nichts. Seine Fluchtpläne sind hochriskant. Auch ohne die drei. Mit ihnen steigt das Risiko um ein Vielfaches. Doch ohne sie kann er nicht gehen.

Wo hatte er sich nur hineingeritten? Und vor allem: Wie viele Menschen stürzt er ins Unglück, wenn es schiefgeht? Und wie viele, wenn es gelingt? Für den Bruchteil einer Sekunde kommt ihm der Gedanke, dass er Gott spielt. Er entscheidet. Nicht nur über sein Schicksal, sondern auch über das anderer Menschen. Gegen ihren Willen. Er entscheidet in guter Absicht, aber das ist keine Rechtfertigung.

Am liebsten würde er jetzt alle Pläne über Bord werfen, Jugoslawien in aller Ruhe genießen und mit der gesamten Prager Reisegruppe, die morgen den Urlaub antritt, wieder zurückkehren. Er würde wieder zur Arbeit gehen, sich einreihen, unterordnen und schweigend weitermachen.

Eine mahnende innere Stimme sagt ihm, dass es dafür zu spät ist. Das Risiko seiner Verhaftung steigt täglich. Ein Versprechen, seine Zunge zu zügeln und die erdrückenden Gegebenheiten zu akzeptieren, kann er sich nicht geben. Dafür kennt er sich inzwischen zu gut. Die Flucht ist seine einzige Option. Die Würfel sind gefallen. Es ist keine sechs dabei. Schade. Bei einer sechs darf man noch mal.

Das darf doch alles nicht wahr sein! Pavel liegt hellwach im Bett, zählt die Sekunden und Minuten, bis der Wecker klingelt.

Die Schwiegermutter schnarcht selig, Pavli wälzt sich unruhig hin und her. Bestimmt hat sie ihr geliebtes Kuscheltier im Arm. Er kann nicht ausmachen, ob sie sich im Schlaf bewegt oder voller Reisefieber und Aufregung gegen die Müdigkeit ankämpft. Er hört nur, wie das Sofa, das sie nachts in ein Bett für ihre Tochter verwandeln, leise knarrt. Pavli hat verstanden, dass ihr »Öhrchen«, das Elefantenkuscheltier mit den überdimensionalen Ohren, nicht mitreisen kann. Der Koffer ist zu klein. Sie ist tapfer und verständnisvoll.

Ob Věra, die neben ihm liegt, schläft, weiß er nicht. Jedenfalls ist sie still, bewegt sich keinen Millimeter. Ihre Atmung ist ruhig und gleichmäßig. Trotzdem kann es sein, dass sie sich schlafend stellt. Genau wie er. Ready, der Boxer, schnauft gelassen durch seine platte Nase. Er liegt wie üblich quer vor dem Bett.

Immer noch hängt vertrauter Essensduft in der Wohnung. Es riecht nach Zuhause, Geborgenheit und Liebe. Der Wecker tickt ganz leise. Eine genaue Uhrzeit kann er nicht ablesen. Dazu müsste er den Kopf drehen. Das will er nicht. Alle sollen denken, dass er schläft.

Plötzlich erschafft sein Geist eine Kinoleinwand. Er sieht einen Film. Gedreht in den letzten fünfzig Jahren seines Lebens in seiner Heimat. Aus seinem eigenen Blickwinkel. Er staunt selbst, was er schon alles überlebt hat. Wenn er glaubte, es geht nicht schlimmer, setzte das Leben noch einen oben drauf. Kein Grund zum Klagen. Vielmehr einer, sich auf die Schulter zu klopfen. Das hilft. Es ist nicht so schnell zu Ende, es geht immer weiter. Irgendwie.

Er lässt den Film einfach laufen und erlaubt den Erinnerungen, in sein Bewusstsein zu treten und sich auf der imaginären Leinwand zu zeigen. Die lustigen Anekdoten, die Energie spenden, ebenso wie die schmerzhaften Augenblicke, die zerschmettern. Denn sie alle, von schön bis grauenvoll, haben ihn zu dem Menschen gemacht, der er heute ist. Zu dem, der seine Heimat über alles liebt und trotzdem verlässt. Und zu dem, der sich nicht einfangen lässt und dessen Lebenswille offenbar gar nicht so leicht zu brechen ist.

Budweis – 15. März 1939

Dunkle Wolken hängen über dem Böhmischen Land, ein dichtes Schneetreiben verlängert die Nacht bis weit in die Morgenstunden hinein. Der eiskalte Schnee zwingt den sehnsüchtig erwarteten Frühling weiter in winterliche Starre, hindert Knospen und frische Triebe am Aufbrechen. Von Osten peitschen eisige Winde die Schneeflocken durch die Luft, von Westen und Süden bewegt sich eine grau-grüne Schlange von Wagen und Panzern des Deutschen Reiches unaufhaltsam auf das Zentrum des Landes zu. Noch bevor das Licht einen Weg durch die dichte Wolkendecke findet, hat der Konvoi den schönen viereckigen, von Arkaden umrahmten Marktplatz in Budweis erreicht. Dort, wo einst auf der einen Seite die böhmische, auf der anderen die deutsche Jugend spazieren ging, lassen sich die Soldaten nieder. Seit zwei Jahren fällt Pavel auf, dass die Kluft zwischen den beiden Völkern tiefer wird. Aber warum nur? Sie lebten doch stets friedlich miteinander in dem kleinen Land.

In der Mitte des Marktplatzes steht der rundliche Samson-Brunnen, hinter ihm erhebt sich ein hoher dunkler Turm, der an einen mahnenden Zeigefinger erinnert. Auch die wirbelnden Schneeflocken vermögen es nicht, diese Warnung gen Himmel zu verdecken. Kurz vor dem Winter erhielt der Marktplatz ein neues Gesicht. Er wurde neu gepflastert und die jahrhundertealten Kopfsteine mussten weichen. Mit ihnen verschwand auch ein historischer Stein, von den Budweisern »Irrstein« genannt. Er markierte einst die Stelle, an der im Mittelalter der Pranger stand. Jedes Kind in Budweis weiß um den Fluch, der untrennbar mit diesem Ort verbunden ist. Der Sage nach würde derjenige, der sich um Mitternacht auf diesen Stein stellt, dazu verdammt sein, den Rest seines Lebens in der weiten Welt umherzuirren. Getrieben von diesem Fluch würde er weder Heimat noch Ruhe finden. Heute stehen deutsche Wehrmachtssoldaten auf diesem Platz. Zu Tausenden kamen sie durch die kalte Nacht. Adrett und diszipliniert. Mit blank geputzten Stiefeln, Mannschaftswagen, Kanonen und Panzern. Die dicken Schneeflocken, die sich sanft über die Dächer und Straßen legen, lassen die gespenstische Szene beinahe friedlich erscheinen. Eine der letzten Einheiten rollt über die Malschbrücke und singt: »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«. Das Echo des Liedes wird siegreich und drohend zugleich vom alten Gerichtsgebäude zum alten Theater, das einmal eine Brauerei war, getragen und hallt von dem abseits im Park stehenden Deutschen Haus wider. Nur das Wasser der Malsch fließt wie üblich träge und fast geräuschlos weiter, um später in die Moldau zu münden. Immer mehr Soldaten überqueren die Brücke, bis der große Marktplatz fast gänzlich besetzt ist. Gegenüber dem Rathaus nimmt eine sonderbare Einheit ihren Platz ein. Neben einer Flagge mit Hakenkreuz rollen die Soldaten ein Transparent aus. Es verkündet mit schwarzen Lettern auf rotem Grund das Eintreffen des »Hilfszuges Bayern«. Pavel, er ist 18 Jahre alt, beobachtet das Treiben aus sicherer Entfernung. Verglichen mit dem, was sich sonst im Herzen der Stadt ausbreitet, strahlt diese Einheit nichts Bedrohliches aus. Es ist eine Gulaschkanone. Das einzig Friedliche auf diesem Platz. Sie bietet allen Hungernden, die es in Budweis gar nicht gibt, Eintopf mit Würstchen und bayrischen Leberkäs an.

Pavel drängt sich durch die Menschenmenge, die das Spektakel unter den Arkaden verfolgt. Wohin er auch schaut: Überall sieht er Landsleute. Einige sind lautlos erstarrt, von anderen dringt verzweifeltes Schluchzen über das Unvorstellbare in seine Ohren. »Ich verstehe das nicht wirklich«, sagt Pavel zu einem älteren Mann, der neben ihm steht, »noch vor wenigen Monaten erklärte der Führer, er wolle keinen einzigen Tschechen in seinem Reich haben.« Der Alte schaut ihn an, antwortet ihm nicht. »Sagen Sie doch, was passiert hier?«, hakt Pavel nach. »Ich weiß es nicht«, sagt der Alte, »aber ich verbiete dir, zu der Gulaschkanone zu gehen. Die Deutschen werden sich noch wundern, weil nämlich keiner kommt, um von ihrem Eintopf zu kosten.« Es duftet verführerisch.

Inzwischen ist es hell geworden, das Licht hat sich durch die Wolken gekämpft. Pavel schlendert weiter um den Marktplatz herum. Die ersten Geschäfte öffnen ihre Rollläden. Fast scheint es, als breche ein ganz normaler Tag an. Wären da nicht die unzähligen Soldaten, die die kleinen Cafés bevölkern. Hier wird noch richtiger Kaffee getrunken, zum Kuchen reicht man richtige Schlagsahne, so viel der Gast mag. Pavel, der sowohl die tschechische als auch die deutsche Sprache fließend spricht, drängelt sich in ein Café. Er kramt in seiner Hosentasche nach ein paar Münzen, um sich eine warme Milch zu kaufen. Die Kälte des Tages spürt er nicht mehr. Er schwitzt sogar ein wenig. Eigentlich sollte er schon längst auf der Schulbank sitzen, aber die Ereignisse dieses Morgens haben die Regie übernommen und stellen den Alltag auf den Kopf. Das Café wimmelt von Soldaten. Sie ruhen sich aus, unterhalten sich angeregt. »Von welchem Elend will der Führer denn dieses kleine Land befreien?«, fragt ein deutscher Soldat seinen Kollegen. »Die Menschen sind gut genährt, fast zu gut. Und niemand geht in Lumpen. Sie leben hier friedlich miteinander.« Pavel nippt an seiner Milch, lauscht den Gesprächen und attestiert den Soldaten in Gedanken eine gute Beobachtungsgabe.

Am Gymnasium in der Böhmischen Gasse, aus dessen Fenstern man an schönen Tagen die sich in der Malsch tummelnden Karpfen beobachten kann, beginnt der Unterricht wie an jedem anderen Tag auch. Pavel rennt deutlich nach Beginn der ersten Stunde die Stufen hinauf zum Physikraum und läuft dem alten Direktor Trčka direkt in die Arme. Er erschrickt. Das gibt Ärger!

Aber der alte Herr ist zu verstört, um den Abiturienten zu rügen. Er bleibt auf den Stufen stehen und murmelt vor sich hin: »Dass sich nichts ändert, wenn ein Mensch stirbt, das wissen wir. Aber dass alles genauso weiterläuft wie vorher, wenn die Welt eines ganzen Volkes untergeht? Es muss sich doch etwas ändern, oder ist unsere Welt nur ein Glas Wasser im unendlichen Universum, das niemanden interessiert? Oder ist es vielleicht so, dass etwas, was für den einen den Weltuntergang bedeutet, von dem anderen gar nicht wahrgenommen wird? Noch gestern habe ich doch den Schülern erklärt, dass alles, und sei es noch so klein, die ganze Welt verändern kann. Hatten die Philosophen etwa Unrecht? Waren sie alle nur selbstherrliche Schwätzer?«

Pavel mustert den alten Mann und weiß keine Antwort. Er tut ihm leid. Trčka, zu dem er gewöhnlich respektvoll aufschaut, ist binnen weniger Stunden zu einem kleinen Haufen Elend geschrumpft. Langsam schleicht der Direktor weiter die Stufen hinunter, ohne sich noch einmal zu Pavel umzudrehen.

Dieser verharrt auf der Treppe und denkt über die Worte nach. Er kann sich nicht vorstellen, dass sein ganzes Volk untergehen wird. Die Deutschen, die er am Morgen gesehen hatte, wirkten zwar bedrohlich, aber auf eine gewisse Art auch menschlich. Sie sprachen miteinander, tranken Bohnenkaffee. Pavel kennt die Deutschen. Seine Mutter ist Deutsche. Eine lebensbejahende, extrovertierte, hübsche Frau. Weniger die Kategorie böhmische Hausfrau, eher die Dame von Welt, die auch im Alltag eine Bühne für die guten Seiten des Lebens sucht und findet. Es gibt eine Fotografie, auf der sie gemeinsam mit ihren beiden Schwestern ihre schönen Beine in feinsten Strumpfhosen in die Kamera hält. Eine Aufnahme voller Lebensfreude und Ästhetik. So ein Volk genießt das Leben, nutzt die Beine zum Tanzen und nicht zum Marschieren. Oder? Vielleicht ist seine Mutter eine Ausnahme, weil sie den Gleichschritt im Land ihrer Wurzeln nicht übte. Verheiratet mit einem liebevollen Tschechen, einem Offizier, ist ihr die Armee zwar vertraut, aber sie misst ihr keine große Bedeutung bei.

Pavel hat die Tür der Abiturklasse erreicht. Er drückt langsam die Klinke herunter und schleicht sich möglichst unauffällig herein. Der Physiklehrer, Herr Soutor, ist ein Greis mit schlohweißem Haar und hellblauen Augen in einem erschlafften Gesicht. Er ist gutmütig und dafür bekannt, dass er seinen Schülern nicht allzu viel abverlangt. In Wirklichkeit ist er gar nicht mehr in der Lage, ihnen physikalische Zusammenhänge zu vermitteln. Doch er verfügt über eine Sammlung von Eselsbrücken in den verschiedensten Sprachen, die das Auswendiglernen der Formeln erleichtern. Um sich den Radius der Erde zu merken, verwendet er den Spruch »Schone dich, Esel«, dessen Anfangsbuchstaben auf Tschechisch auch die ersten Buchstaben der richtigen Zahlen sind. Das Planetensystem ordnet Herr Soutor auf Deutsch: »Mein Vater erklärt mir jeden Sonntag unsere neun Planeten. – Merkur, Venus, Erde, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun, Pluto.« Er kennt noch viele weitere Sprüche in englischer, französischer und italienischer Sprache, für die Ludolphsche Zahl bedient er sich gar des Lateinischen.

Pavel sieht in ihm einen guten, hilfsbereiten Mann mit vielseitigen Sprachkenntnissen. Sein Wissen entspricht seinem Alter und der Zeit, in der er aufgewachsen ist, der Zeit der Österreich-Ungarischen Monarchie. Jeden Morgen betritt Herr Soutor tief vorgebeugt die Schule, ein Inbegriff des Vergänglichen. In letzter Zeit machen ihn die Schüler immer mal wieder darauf aufmerksam, dass seine Hose oder andere Teile seiner Kleidung nicht geschlossen sind. Er zuckt kurz zusammen und bedankt sich mit versteinertem Gesichtsausdruck. Einmal sagte er zu Pavel: »Das Alter hat etwas Schreckliches an sich. Zuerst vergisst man Namen, später sich die Hose wieder zuzumachen und schließlich sogar, die Hose zu öffnen. Das ist die Tragik.« Der traurige Blick, der die Worte untermalte, berührte Pavels Seele. In dem Augenblick entschied er, den alten Lehrer zu würdigen, anstatt sich in bester Schülermanier über ihn lustig zu machen. Die Unterrichtsstunden bei Herrn Soutor zählen zu den erholsamsten. Fast alles scheint erlaubt. Angeregte Gespräche mit Sitznachbarn, Abschreiben von Hausaufgaben und allgemeine Beschäftigung mit Dingen, die nicht wirklich auf dem Lehrplan für Physik zu finden sind. Wenn man es physikalisch oder mathematisch formulieren möchte: Der Lärmpegel der Klasse steht im antiproportionalen Verhältnis zur Durchsetzungskraft des Lehrkörpers.

Am heutigen Mittwoch ist alles anders. Als Pavel den Raum betritt, schlägt ihm eine absolute Stille entgegen. Niemand rührt sich. Pavel huscht auf seinen Stuhl und setzt sich lautlos. Er hört nur das Klopfen des eigenen Herzens und den Atem seines Sitznachbarn. Herr Soutor ist auf seinem Stuhl hinter dem schweren Pult zusammengesunken. Sein Kopf ist in den Händen vergraben und lautlose Tränen fallen in ein offenes Buch vor ihm. Die gesamte Stunde herrscht Totenstille. Jede einzelne Minute dehnt sich aus zur Ewigkeit, niemand spricht ein Wort, niemand wagt eine Bewegung.

In der Stille dringen die Eindrücke des Morgens langsam in Pavels Bewusstsein. Ihm ist, als würde das, was er auf dem Marktplatz sah, erst jetzt real. Er merkt, wie sich die Bilder in ihren Details verändern. So, als würde ein Objektiv andere Bildausschnitte scharfstellen. Der lächelnde Mund eines plaudernden Soldaten, dem eine Tasse duftender Bohnenkaffee zugeführt wird, verschwimmt. Stattdessen treten die blank geputzten Stiefel in Reih und Glied in den Vordergrund. Ebenso die schweren Ketten der Panzer und das kalte Metall der Fahrzeuge, auf denen das Hakenkreuz prangt. Nach einer gefühlten Ewigkeit erlöst die Pausenklingel die Abiturienten aus der erdrückenden Atmosphäre.