Pavel und Ich - Sandra Brökel - E-Book

Pavel und Ich E-Book

Sandra Brökel

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Beschreibung

Zwei Länder, zwei Generationen und zwei völlig verschiedene Menschen. Die Autorin Sandra Brökel ist ein Adoptivkind, auf der Suche nach ihren Wurzeln. Bei ihren Recherchen zum Thema stößt sie schließlich auf ein Buch aus den 1960ern. Autor ist der Prager Kinderarzt und Psychiater Dr. Pavel Vodák. In ihrer Kollegin und Freundin Paula entdeckt sie viele Jahre später überraschend Pavel Vodáks Tochter. Und nicht nur das: Paula hütet das Lebenswerk ihres Vaters, ein umfangreiches Manuskript. Sandra Brökel zeigt eindrucksvoll, auf welch außergewöhnliche Weise zwei Menschenleben miteinander verbunden sein können. Ein bewegendes Buch über die Suche nach der Bedeutung von Heimat und dem eigenen Seelenfrieden.

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Sandra Brökel • Pavel und Ich

Sandra Brökel

PavelundIch

Die Geschichte hinterdem »hungrigen Krokodil«

Vorwort

Meine Lektorin lachte 2017 ins Telefon: »Wenn wir das hier fertig haben, machen wir ein zweites Buch über die Entstehungsgeschichte.« Ich wehrte mich mit Händen und Füßen und gestikulierte so wild, dass ich das Telefon beinahe fallen ließ: »Nein, das mache ich nie wieder! Ich habe die Schnauze gestrichen voll!«

Randbemerkung: Gesten sind beim Telefonieren genauso bescheuert wie die Aussage »nie wieder«. Beides sollte man sich sparen.

In nur zehn Wochen hatte ich damals einen Roman geschrieben und nebenbei versucht, den alltäglichen Wahnsinn, der mein Leben ausmacht, aufrechtzuerhalten. Ich hatte komplett unterschätzt, was es heißt, ein Buch zu schreiben und wusste gar nicht, wie viel Zeit sich andere Menschen dafür nehmen. Sehr blauäugig und mit einem kindlichen Dickkopf »das muss gehen!« machte ich mich an die Arbeit, komplett unwissend, worauf ich mich eingelassen hatte. Nun denn, vielleicht sollte es so sein. Denn hätte ich damals geahnt, was da auf mich zukommt, hätte ich nicht eine einzige Zeile geschrieben. Als ich »nie wieder« sagte, war ich fix und fertig. Jede Faser meines Körpers schrie nach Schlaf, meine Gehirnzellen ließen die Rollladen runter, die meisten synaptischen Verschaltungen streikten für mehr Urlaubstage.

Inzwischen sind zwei Jahre vergangen, ich habe gut 60 Lesungen zum »hungrigen Krokodil« absolviert. Bei diesen Veranstaltungen lese ich sehr wenig aus dem Buch, sondern erzähle von der außergewöhnlichen Entstehungsgeschichte und lese Passagen, die der Verlagsentscheidung »nur Pavels Leben, keine Randgeschichten« zum Opfer fielen. Damals war ich enttäuscht, heute weiß ich, dass es dem Buch guttat.

Fakt ist, die Texte jener Rahmengeschichte sind es, die während der Lesungen sehr berühren. Viele Menschen möchten sie haben, weil sie darin Denkanstöße für ihr eigenes Leben finden. Das freut mich natürlich und deswegen folge ich der Bitte meines Verlages und schreibe diesen Folgeband.

Abgesehen davon ist die Entstehungsgeschichte tatsächlich so spannend wie der Roman selbst. Manchmal klingt sie fiktiv. Ist sie aber nicht. Es ist eine wahre Geschichte.

Ich sollte mir angewöhnen, niemals wieder »nie wieder« zu sagen.

Prag – Juni 2019

Am Ziel oder nur ein Etappensieg?

Meine Stadt …

Ich wünsche mir, dass es in Strömen regnet. Dass Sturzbäche über die Straßen rinnen, es stürmt und ungemütlich wird. Dass die Touristenmassen in Hotels und Bars flüchten und mir den unverstellten Blick auf »meine« Stadt erlauben. Manchmal habe ich Glück.

Bei strahlend blauem Himmel mag ich Prag nicht mehr. Dann verschwindet die Stadt, in die meine Seele tief eintauchte und sich zuhause fühlte. Die vielen Menschen verschlucken sie, erdrücken sie unter abgelatschten Sohlen, verfälschen sie mit billigen Selfie-Stangen und hochwertigen Spiegelreflexobjektiven. Die Stadt und ihre Geschichte ersticken in der Flut der Touristen, ich kann die Atmosphäre nicht mehr atmen.

Dabei bin ich doch selbst nur ein Besucher. Ich komme mit einem deutschen Autokennzeichen, schlafe im Hotel. Aber ich fühle mich anders und gehe inzwischen andere Wege. Wenn ich in Prag bin, spüre ich, dass ich den Pavel in mir noch nicht ganz ablegen konnte. Ich kann nicht mehr unterscheiden, mit wessen Augen ich diese Stadt sehe und mit wessen Antennen ich sie wahrnehme. Der Prager Pavel Vodák, in dessen Leben ich komplett eintauchte, leitet mich.

Mutter Natur stattete mich mit einem extrem schlechten Orientierungssinn aus. Aber in Prag fahre ich ohne Navi. Die tschechische Sprache zu lernen war ein sinnloses Unterfangen, denn sie ist viel zu schwer. Aber in Prag denke ich plötzlich tschechisch, wenn auch mit gruseliger Grammatikstruktur. Wenn ich durch die Gassen schlendere, fühle ich mich wohl. Es ist ein Ankommen. Am liebsten bummele ich allerdings nachts. Oder im strömenden Regen. Abseits von Karlsbrücke, Astronomischer Uhr und anderen Touristenmagneten. Am liebsten ganz allein.

Eines Nachts war ich auf der Karlsbrücke. Die Moldau brach sich in schwarzen Wellen an den kleinen Staustufen und ich musste lächeln. Erinnerungen sind ein Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können. Hier strampelte ich bei meinem ersten Pragbesuch um unser Leben. Um meines und das meiner Freundin Paulchen. Ich hatte sie überredet, ein Tretboot zu mieten. Sie wollte das zunächst nicht, gab sich aber schließlich geschlagen. So mietete ich ein Tretboot und Paulchen stakste in Stöckelschuhen, Tigermantel und dicker Prada-Sonnenbrille widerwillig an Bord. Tretbootfahren war nicht ihre Welt und diese Aktion ihre persönliche Premiere. Der Bootsverleiher verkniff sich ein Lächeln und klärte uns lang und breit über Sicherheitsbestimmungen auf: »Nur im Bereich der Bojen. Und nur dort!« Er sagte es auf Tschechisch, Englisch und Deutsch. Letztes quittierte ich mit einem selbstgefälligen Augenrollen. Sollte heißen: Wir sind nicht blöd, wir haben Sie verstanden und werden uns an die Regeln halten.

Also trampelte ich los, flussabwärts und bestaunte die Silhouette der Prager Kleinseite samt Burganlage. Paulchen legte die Füße bequem auf das Boot, schoss Fotos mit ihrem iPad und befand den erzwungenen Ausflug als durchaus passabel. Wir vergaßen Raum und Zeit. Plötzlich dröhnte ein Ausflugsdampfer, eine schrille Pfeife zerschnitt die Idylle und ein Fischer schrie aus Leibeskräften. Ich ärgerte mich über die Lautstärke, fühlte mich aber nicht angesprochen. Bis meine Freundin panisch wurde und auch ich erkannte, dass wir gemeint waren. Die Touristenmassen auf der Karlsbrücke hatten ihren Einheitstrott gestoppt und starrten sensationsgierig auf uns nieder. Ich überblickte endlich den Ernst der Lage: Unser kleines Tretboot, fernab aller Bojen, schipperte geradewegs auf die Staustufe zu. Einen Meter noch und wir würden kentern oder wären mit viel Glück das erste Tretboot unter der Karlsbrücke.

Paulchen wetterte und ich trampelte. Unnötig zu erwähnen, dass sie nicht mitstrampelte. Ebenso überflüssig ist die Beschreibung der Reaktion des Bootsverleihers, als wir mit zittrigen Beinen wieder Festland betraten …

Jetzt auf der nächtlichen Karlsbrücke kann ich sogar in der Dunkelheit erkennen, dass die Staustufen, die die Moldau hinunterrauscht, höher sind, als ich damals dachte. Manchmal hat man Glück im Leben.

Und manchmal nicht.

Meine Freundin fehlt mir. Der Moment ihres unerwarteten Todes wurde zu einer Zeitmarke in meinem Leben. Seitdem teile ich alles, was mit dem Roman »Das hungrige Krokodil« zusammenhängt, in zwei Abschnitte. In einen, als sie noch lebte und sich auf das Erscheinen des Buches über ihre Familie freute und in einen danach. Der zweite fühlt sich einsam an. Paulchen war es, die mir Prag zeigte und mich in diese Welt entführte, in der ich mich vom ersten Augenblick an wohlfühlte. Ihre Heimatstadt wurde zu meinem seelischen Ankerplatz. Sie selbst hatte ein gespaltenes Verhältnis zu dieser Stadt. Zerrissen zwischen guten und schlechten Erinnerungen, zwischen Schrecken, Angst und tiefer Liebe. Ich schlenderte unbedarft durch die alten Gassen, sog die Atmosphäre ein und ließ mich von ihr einfangen.

Sie ging bedächtig, ich neugierig forsch.

Überhaupt waren wir zwei Freundinnen, wie sie auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher hätten sein können. Ihr Kleidungsstil war von Prada und anderen edlen Marken geprägt, eine Duftnote von Chanel No 5 hüllte sie ein. Ohne Lippenstift ging gar nichts und nur ein Tausendfüßler könnte alle Schuhe tragen, die sie ihr Eigen nannte. Rausgehen ohne Handtasche? Undenkbar. Outfit ohne auffällige Kette? Niemals. All diese Accessoires waren bei ihr nicht aufgesetzt, sondern absolut authentisch. Dieser Stil war ihr Schutz und garantierte Abgrenzung. So konnte sie sicher sein, dass andere auf Distanz blieben. Wirklich nah kommen durften nur ganz wenige.

Ich laufe meist in Jeans und Schlabberpulli herum. Mein Accessoire ist ein dicker Schal um den Hals und meine schwarze Jacke ist von der Marke Weiß-ich-doch-nicht-wie-die-heißt-Hauptsache-praktisch-und-bequem. Wäre es wärmer, hätte ich die Jeans hochgekrempelt und liefe barfuß. Handtaschen sind mir lästig. Die Autoschlüssel stecken in der Jeanshose neben dem Feuerzeug, die eine Jackentasche reicht für Taschentücher und preiswerte tschechische Zigaretten. Manchmal habe ich ein Portemonnaie dabei, meistens jedoch nur einen Schein in der Handyhülle oder ein paar Münzen in der Hosentasche. Immer mal wieder schenkte sie mir eine Modeschmuckkette oder einen Lippenstift. Sozusagen, um einen Anfang zu wagen. Hat aber nicht wirklich funktioniert.

Gegensätze ziehen sich an. Sagt der Volksmund. Stimmt nicht ganz, halte ich dagegen. Denn unter der Oberfläche, die das Auge sieht, sind Paula und ich uns durchaus ähnlich. Wir teilen das traumatische Erlebnis eines Verlustes in der Kindheit. Doch hatten wir völlig andere Startpunkte. Sie wurde aus ihrer Heimat entwurzelt, ich kämpfte derweil als Baby in einem Kinderheim ums Überleben ohne feste Bezugsperson, eine Art Trainingslager in Sachen Autonomie …

Eine Horde grölender Jugendlicher reißt mich aus meinen Träumen. »Du hast die Haare schön« singen, beziehungsweise schreien die jungen Deutschen und torkeln volltrunken über das Steinpflaster der friedlichen Brücke. Sie entweihen die Geschichte der Goldenen Stadt. Ich schäme mich und tröste mich dann gleich wieder mit dem Gedanken, dass es viele Besucher gibt, die Prag wertschätzen und respektvoll durch die Straßen gehen.

Wer ich hier wirklich bin, kann ich nicht beantworten. Natürlich keine Einheimische, irgendwie aber auch keine Touristin mehr. Vielleicht bin ich einfach nur ein Mensch, der sich in diese Stadt verliebt und einen persönlichen Sehnsuchtsort gefunden hat.

Die Politik …

Es hat ein wenig gedauert, bis ich merkte, dass ich mit dem »hungrigen Krokodil« nicht nur einen historischen Familienroman, sondern auch ein politisches Buch geschrieben habe. Ich war mir dessen nicht bewusst, vielleicht hätte es mich auch erschreckt. Für mich waren und sind demokratische Werte wie Meinungs- und Pressefreiheit und auch Mitmenschlichkeit in erster Linie eine Frage der Moral und Ethik und weniger der Politik. Schlicht und einfach eine Lebenshaltung. Dass Demokratie keine Selbstverständlichkeit ist, sondern wir alle aufgefordert sind, für ihren Erhalt zu kämpfen, war mir viele Jahre nicht klar. Das westliche Europa, in dem ich so selbstverständlich und unbeschwert heranwuchs, dehnte sich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gen Osten aus. Ich erinnere mich sehr gut, dass ich den Fall der Mauer und diese Erweiterung wunderbar fand, aber ich unterschätzte die Hürden, die für eine wirkliche Wiedervereinigung zu überwinden waren und sind. Nicht nur das vereinte Deutschland, auch Europa bekommt Risse. Ich nehme eine Spaltung wahr: in ost und west, arm und reich, alt und jung, nationalistisch und europaaffin, in rechts und links. Manche Gespräche offenbaren sogar eine Kluft zwischen Stadt und Land. Die Demokratie steht. Aber manchmal auf wackeligen Beinen.

Es brodelt in Prag, so etwas wie trotzige Gegenwehr liegt in der Luft. »Sieh genau hin«, flüstert der Pavel in mir, »die Geschichte wiederholt sich.«

Ich schreibe dieses Buch zu einer Zeit, in der es die Menschen wieder auf die Straßen treibt. Heute ist die größte Demonstration seit 1989. Ich bin mitten drin in der Stadt. »Lass dich nicht verhaften«, schreibt mir mein Mann. »Du hast morgen eine Lesung!«

Stimmt. Ich bin zehn Tage hier, um in Ruhe zu schreiben, vor allem aber, weil morgen die bislang wohl wichtigste Lesung ansteht. Ich werde »Das hungrige Krokodil« im Prager Literaturhaus präsentieren. Als mich die Einladung vor vier Wochen erreichte, mischte sich Wut in die Freude über diese Ehre. Wut auf das Schicksal, das mir mein Paulchen raubte. Ich spürte, dass ich sie bei dieser Lesung wirklich brauchen würde! »Du stehst da nicht alleine«, schrieb mir ein lieber Bekannter per WhatsApp. Kann sein, dachte ich. Aber manchmal hilft kein Verstorbener, den man in seinem Herzen mitnimmt. Manchmal braucht es einen Menschen aus Fleisch und Blut, der die passenden Antworten auf Fragen geben kann.

Den gesamten Vormittag habe ich schreibend im Café lavia verbracht und immer wieder aus den großen Fenstern geschaut. Seit einer Stunde kommen immer mehr Menschen mit großen Plakaten vorbei. Mit entschlossenen, festen Schritten gehen sie Richtung Wenzelsplatz. Es ist an der Zeit, dass auch ich mich auf den Weg mache. Der Pavel in mir freut sich: »Gut so! Zeig deine Meinung, geh auf die Straße. Die, die nichts gegen das Unrecht unternehmen und es stumm geschehen lassen, sind nicht besser als die, die Unrecht begehen.«

Als ich auf den sonnenheißen Bürgersteig vor dem Café trete, frage ich mich, ob es tatsächlich so etwas wie passive Täter gibt. »Na klar«, meldet sich Pavel, »erst ihre Passivität erlaubt den anderen die ungestörte Aktivität …«

Die Straßenbahnen quellen über, es ist gar nicht so leicht, einen Platz zu ergattern. Alles, was in Richtung Zentrum fährt, steckt fest und verzweifelte Touristen verstehen die Welt nicht mehr. Kein Durchkommen und niemand, der den Besuchern das plötzliche Wimmelbild um sie herum erklären würde. Ich schaffe es über einen Umweg mit der Metro, zwänge mich achtsam, aber beharrlich durch die Menge. Irgendwann stehe ich mittendrin. Mehr als 120 000 Tschechen protestieren friedlich. Sie fordern Anstand und Ehrlichkeit, »Es reicht« steht auf Plakaten und läuft als Schriftzug über die elektronischen Werbeflächen am Wenzelsplatz. Damit meinen sie den umstrittenen Premierminister, einen Multimilliardär, in dessen Firma EU-Subventionen versickern sollen, und seine Justizministerin, die die Vorwürfe der Europäischen Union in seinem Sinne untersuchen soll. »Wo das Geld spricht, schweigt die Wahrheit«, bringt es Radka Denemarková, eine der bekanntesten tschechischen Schriftstellerinnen, auf den Punkt. Die demonstrierenden Tschechen wittern den Untergang ihrer Demokratie. Zum Konzern des Premiers zählen auch einige Medien, er hat seine Macht ausgebaut und wertet Berichte aus Brüssel und Straßburg als Einmischung in nationale Angelegenheiten. Er verspricht, die Tschechen vor Migration zu beschützen und zieht eine unsichtbare Grenze hoch. Ziemlich genau 30 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Ich sehe alle Altersgruppen, sogar Neugeborene in Kinderwagen, die die lautstarken Forderungen seelenruhig verschlafen. Alle sind sehr rücksichtsvoll, älteren Menschen werden Sitzplätze auf den Bänken des Wenzelsplatzes angeboten. Nicht nur die Prager Bevölkerung ist heute auf den Beinen. Viele sind aus Städten der gesamten Republik angereist und zeigen Flagge. Neben der tschechischen Trikolore werden auch die europäischen gelben Sterne auf blauem Grund geschwenkt. Auf der Bühne sprechen Persönlichkeiten aus Kultur, Politik und Publizistik. Viele von ihnen zitieren Václav Havel und mir kommen Bilder aus dem Spätherbst 1989 in den Sinn. Die Geschichte wiederholt sich. In den letzten 30 Jahren gab es keine Kundgebung mehr in dieser Größenordnung. Bei der nächsten, auf dem Letnáhügel, wird eine Viertelmillion erwartet.

Guck mal Pavel, wie findest du das?

Übermorgen würde er seinen 99. Geburtstag feiern. Schlechtes Timing. Knapp daneben ist auch vorbei. Aber egal, dann ist dieser Abend eben ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk. Vor zwei Jahren schenkte ich ihm meine Vertragsunterzeichnung mit dem Pendragon Verlag posthum zum 97. Geburtstag.

»Guck mal Pavel, wie findest du das?«, flüstere ich kaum hörbar, als ich in der Ječna aus der Straßenbahn 22 steige und vor dem Gebäude stehe. Es hat den klangvollen Namen Pražký litéraní dům autorů německého jazyka. Zu Deutsch: Prager Literaturhaus deutschsprachiger Autoren. »Hier haben wir gleich eine Lesung, Pavel. Deine Lebensgeschichte darf ich in diesem Haus präsentieren!«

In seinem Inneren finden sich große Namen. So auch Max Brod, der Franz Kafkas Aufzeichnungen nach dessen Tod publizierte und ihn damit unsterblich machte. Verdammt große Schuhe, die mir ganz sicher nicht passen!

Im Grunde habe ich etwas Ähnliches gemacht: Auch Pavel hatte viel geschrieben, bevor er starb, ich habe es später verbreitet. Zwar nicht in der ursprünglichen Fassung, sondern literarisch bearbeitet und zu einem Roman geformt. Viele Tausend Leser litten und bangten bereits mit ihm und seiner Familie und ich wünsche mir, dass es noch mehr werden. Auch wenn Pavel und ich niemals Kafka und Brod das Wasser reichen können, so blieb er zumindest während der Lesestunden und meiner Buchpräsentationen lebendig.

In meine Freude, als Autorin das ehrwürdige Literaturhaus betreten zu dürfen, mischt sich ein anderes Gefühl: Ich spüre das Krokodil.

Mir ist, als lauere die literarische Metapher für das Böse in der glühenden Sommerhitze Prags. Es stellt sich dösend und träge, aber es ist da. Wehe, wenn es zuschnappt!

Pavel sah sich dieser Bedrohung ein Leben lang gegenüber. Mal in Form der deutschen Wehrmacht, danach zeigte es sich in den Racheakten der Tschechen bevor es russisch und kommunistisch wurde und ihn zur Flucht zwang.

Das ungute Gefühl lässt sich nicht abschütteln. Es ist heute ganz präsent, ich kann aber nicht ausloten, aus welcher Ecke es seine Beute ins Visier genommen hat, ich finde es nicht. Ich weiß auch nicht, ob ich gemeint bin. Aber ich fühle es deutlich: Lautlos schleicht es in Prag umher. Vielleicht habe ich es selbst herbeigerufen, indem ich mal wieder zu tief in die Geschichte eintauchte. Vielleicht hängt diese Demonstration vom Vortag noch in der Stadt und reizt die Gegenpartei des friedlichen Protestes. Oder es sind meine Selbstzweifel, die an die Oberfläche drängen. Rational betrachtet halte ich mich für gestört und paranoid. Emotional lässt sich das Krokodil nicht wegdiskutieren.

Es schärft meine Sinne und blockiert mich gleichzeitig. Ich schwitze.

»Du stehst da nicht alleine«, erinnere ich mich und ich versuche, Pavel und Paulchen auf eine persönliche Weise mitzunehmen. So recht will es mir nicht gelingen.

Eine unerträgliche, niederdrückende Schwüle erdrosselt heute meine Stadt. Kein einziger Windhauch, nur Schwere. Die Menschen suchen Schatten und bewegen sich langsam.

Mein Blazer hängt schlaff über meinem Arm und mutiert zur zusätzlichen Heizdecke, der andere Arm zieht ermattet einen Rollenkoffer voller Bücher. So stehe ich vor dem Literaturhaus in der prallen Sonne, am heißesten Tag der Woche.

Drinnen werde ich sehr freundlich empfangen. Ob ich einen Kaffee möchte?

Nein, lieber ein kühles Wasser, danke.

Der Raum voller Bücher und Exponate, den ich vor zwei Jahren ehrfürchtig als Besucherin betrat, wurde heute für mich (!) hergerichtet. Schier unglaublich.

Ich kann mich aber nur kurz darüber freuen. »Mist!«

»Ist was?«, will die freundliche Mitarbeiterin des Literaturhauses wissen. Ich nicke nur stumm und durchwühle ein weiteres Mal den kleinen Rollenkoffer voller Bücher. Das kann doch nicht wahr sein! Ich habe meine Brille vergessen!

Ohne sie sehe ich keine Buchstaben und eine Lesung in dunkler Sonnenbrille erscheint mir völlig daneben. Ich werde wohl oder übel noch einmal quer durch Prag müssen, um sie zu holen. Das Krokodil grinst mich hämisch an und fordert zum Duell.

Auf geht’s, nur keine Zeit verlieren. »Wo ist denn ihr Hotel?«, fragt die Mitarbeiterin skeptisch mit Blick auf ihre Armbanduhr. »In Jinonice«, antworte ich und reibe mir ein paar Schweißperlen von der Stirn. Die Dame seufzt und in ihrem Blick steht: Das ist weit.

Das Warten auf die Straßenbahn zieht sich hin, die Sekunden dehnen sich zur Ewigkeit. Am Karlsplatz, der nächsten Metrostation, wird gerade gebaut. Ich irre durch die mit Bauwänden abgesperrten Katakomben und finde keinen Einstieg in den Untergrund. Wegweiser würden mir wirklich helfen, aber ich sehe nur Werbeplakate. Mit Sonnenbrille unter der Erde ist es sowieso doof.

Meine eleganten Sandalen mit Absatz drücken. Also ziehe ich sie aus und setze meinen Weg barfuß fort. Oben hui, unten pfui. Der Boden ist dreckig und staubig, kleine Steinchen piksen an den Fußsohlen, aber das stört mich nicht. Ohne Schuhe bin ich definitiv schneller. Nichts wie raus aus der Metrostation, deren Züge unauffindbar sind, zurück in die gleißende Sonne und ab in die stickige Tram. Ich muss eine Haltestelle weiter zur Nationalstraße. Der Asphalt glüht unter meinen Füßen.

Es dauert lange, bis ich das Hotel erreiche, wo meine Brille unschuldig auf dem kleinen Glastischchen im Zimmer liegt. Noch eine knappe Stunde bis zur Lesung! Verdammt! Sollte ich auch nur eine Bahn verpassen, klappt es nicht. Also nehme ich das Auto. Einen Parkplatz in der Nähe des Literaturhauses zu ergattern, ist ein sinnloses Unterfangen, aber ich kann bestimmt nah ranfahren. »Pavel hilf«, flehe ich in Gedanken nach oben und düse los. Einmal quer durch Prag in der Hitze des Feierabendverkehrs. Es geht viel schneller als ich vermutete und in der Ječna, meiner Zielstraße, erinnere ich mich, dass ich in der Nähe schon einmal geparkt habe. Hier hatte ich mit Paulchen vor ein paar Jahren eine legendäre Nacht verbracht. Ich lache laut auf bei der Erinnerung.