Das Ikarusspiel - Charly Essenwanger - E-Book

Das Ikarusspiel E-Book

Charly Essenwanger

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Beschreibung

Es lockte die Versuchung. Er war fasziniert von seinem Spiel. Er hatte den Plan, ein Mädchen zu entführen. Nathalie, aus gutem Hause, jung, hübsch, geliebt. Ihre Freilassung abhängig von einem Geocache-Drama zwischen ihm und Nathalies Eltern. Es war sein Hobby, doch nun ist er getrieben von der Gier nach Macht und Geld. Obwohl alle Forderungen erfüllt werden, wird der Kidnapper sein Opfer nicht freilassen. Die Verwirklichung seines anfangs nur geldgierigen Planes mündet für alle Beteiligten in sein IKARUSSPIEL. Die zunächst einfachen Aufgaben werden im Laufe der Nacht zunehmend schwerer. Sollten die Eltern scheitern, droht der Spielführer mit furchtbaren Konsequenzen.

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Inhaltsverzeichnis

14 Uhr

15 Uhr

16 Uhr

17 Uhr

Nathalie

18 Uhr

19 Uhr

20 Uhr

21 Uhr

Nathalie

23 Uhr

8 Uhr

9 Uhr

13 Uhr

15 Uhr

15:45 Uhr

16:35 Uhr

17 Uhr

17:30 Uhr

17:40 Uhr

18:00 Uhr

19:15

19:30 Uhr

20 Uhr

Nathalie

20:30 Uhr

21:00 Uhr

21:20 Uhr

Nathalie

21:30 Uhr

23:10 Uhr

23:25 Uhr

23:50 Uhr

Nathalie

00:10 Uhr

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0:40 Uhr

1:05 Uhr

1:10 Nathalie

1:05 Uhr

1:27 Uhr

1:50 Uhr

2:20 Uhr

3:00 Uhr

Nathalie

3:30 Uhr

3:40 Uhr

3:55 Uhr

Nathalie

4:15 Uhr

Epilog

14 Uhr

Tag für Tag, über Wochen hinweg habe ich sie beobachtet. Und heute ist der große Tag. Es ist unwahrscheinlich, dass sie ausgerechnet heute aus ihrer Routine ausbrechen wird. Ich denke an sie und an ihre sensationelle Figur, die sie mit ihren 13 Jahren schon hat. Die kleinen Brüste, die noch wachsen werden. Die Hüfte, die nicht mehr kindlich schmal ist. Ihr Hintern fest, die Beine von ihren Sportaktivitäten herrlich stramm und schlank. Ich stelle mir vor, wie ich mit meinen zupackenden Händen die Straffheit des Gesäßes prüfe. Es regt sich etwas an mir, ich zwinge mich zur Konzentration.

Der Wetterbericht hat schönes Wetter vorausgesagt und recht behalten. Ein leichter Wind weht an diesem herrlichen Mittwoch im Juni. Das Blätterwerk der vielen Laubbäume in der Allee, die zwischen Fahrbahn und Fußweg seit Jahrzehnten wachsen, raschelt leise in einer beruhigenden Monotonie. Vögel zwitschern fröhlich in den Ästen. Nur selten wird der Gesang von langsam vorbeifahrenden Autos unterbrochen. Meist Mütter, wenige Väter die ihr Kind am frühen Nachmittag von der Schule abholen wollen und ihrem Nachwuchs den Gewaltmarsch über einige hundert Meter bis zum Zuhause nicht zumuten wollen. Möglicherweise ist auch eine Spur Angst der Grund dafür, dass man Tochter oder Sohn nicht unbeaufsichtigt über die Straßen gehen lassen will. Die Welt ist voller Verbrecher, man liest ja schließlich so einiges. Kein Wunder, dass der Trend zu Helikoptereltern geht. Die armen Kleinen sollen allzeit beschützt sein, dass ihnen auch ja nichts Schlimmes widerfahren möge.

Ich sitze in meinem weißen VW-Bus, die Fenster sind geöffnet und auch die Schiebetür für den hinteren Bereich lässt die laue Luft herein. Hier und da verschandeln hässliche Rostflecke das unschuldige Weiß des Busses. Auch wenn ich sie wegspachtle und neu lackiere; die Reinheit ist nicht mehr gegeben.

Die Rückbänke habe ich ausgebaut, sie wären nur störend für meinen Plan. Normal können bis zu acht Personen in dem Fahrzeug befördert werden. Nicht, dass das jemals der Fall war. Ich pflege, alleine zu fahren. Doch heute werden wir zu zweit sein.

Das Radio habe ich ausgeschaltet, ich will jetzt in keiner Weise auf mich aufmerksam machen. Schlimm genug, dass ich mit so einem billigen Fahrzeug in der Parklücke stehe. Einige Meter vor mir steht ein schicker Audi SUV, hinter mir ein nagelneu wirkender, dicker Mercedes. An Geld scheitert es in dieser gehobenen Gegend wahrlich nicht.

Ich sehe auf die Uhr, kurz vor zwei. Ich spüre, wie mein Puls sich langsam beschleunigt und sogar leicht hämmernd an den Schläfen fühlbar ist. Das erste Adrenalin macht sich in meinem Körper bemerkbar, doch muss ich mich zur Ruhe zwingen. Immer wieder bin ich den Plan durchgegangen, habe Fehler gesucht, habe Fehler gefunden und diese eliminiert, bis ich der Meinung war, dass er perfekt ist. Das Schwierigste war, Nathalie unauffällig zu beobachten. Natürlich fällt eine fremde Person auf, die täglich zur gleichen Zeit in der Allee rumlungert. Deshalb musste ich variieren. An manchen Tagen war ich zu Fuß unterwegs. Immer wieder habe ich mich verkleidet und sogar einen Hund aus dem Tierheim ausgeliehen, um mit ihm Gassi zu gehen. Eigentlich war das Hundi ganz nett. So ein schwarzer Mischlingsrüde, der eine gute Erziehung genossen hatte. Ich vergewisserte mich bei der Heimleitung, dass der Rüde kastriert ist und bis dahin auch keinen Nachwuchs gezeugt hat.

Als Radfahrer im sportlichen Dress hatte ich zufällig eine Panne und musste sehr umständlich meinen Reifen flicken. Mit dem VW-Bus war ich heute zum ersten und auch zum letzten Mal in der Straße. Aufmerksame Passanten können meinetwegen gerne das Kennzeichen notieren, doch schon in der nächsten halben Stunde werden diese Nummernschilder, die vor kurzem noch an einem japanischen Kleinwagen in einer Tiefgarage befestigt waren, in einem Fluss versinken. Nie wieder werde ich in Zukunft hierher zurückkehren, wenn mein Projekt abgeschlossen ist.

Ein weiterer Blick auf meine Uhr, es ist exakt 14 Uhr. Ich atme einmal tief durch und motiviere mich durch ein leises, aber nachdrückliches „Auf geht’s“. Ich öffne die Tür des Busses und gehe zur Mauer, die wohl im späten 19. Jahrhundert gebaut wurde und durch hohe schmiedeeiserne Gitter den Zugang für Unbefugte verhinderte. Ich schätze die Höhe der Gitter, die am oberen Ende dekorative, aber wirksame Spitzen haben, auf gut drei Meter. Efeu rankt sich an den Steinsäulen empor, die in regelmäßigen Abständen in die Höhe wachsen und den alten Gittern Halt geben. Ich spüre, wie meine Hände feucht werden und zwinge mich zur Ruhe, was durch tiefes Durchatmen einigermaßen gelingt. Ich sehe mich nicht um, ich weiß zu welchem Zeitpunkt Nathalie hier vorbeikommen wird. Ich nehme mein Smartphone in die Hand und schaue betont darauf und gehe an der Mauer entlang einige Meter auf und ab und sehe mir immer wieder den Zaun an. Ab und zu schüttle ich den Kopf oder kratze mich im Nacken. Ich täusche Ratlosigkeit vor. In wenigen Sekunden müssten zwei Kinder im Alter von etwa zwölf Jahren an mir vorbeigehen, die mich nicht weiter beachten werden. Und tatsächlich, fröhlich quatschend geht der Junge mit dem Mädchen mit tief hängenden Schulrucksäcken an mir vorbei. Für die beiden bin ich praktisch unsichtbar, nur ein alter, schlanker Mann um die dreißig, der mit seinem Smartphone beschäftigt ist.

In der nächsten Minute müsste es so weit sein, ich blicke mit gerunzelter Stirn wieder auf mein Telefon und widme meine Aufmerksamkeit dem Gitter, den Säulen und dem Efeu. Ich unterbreche meine offensichtliche Suche, schüttle erneut den Kopf, suche weiter und wage einen Blick. Ein Mädchen steht auf dem Fußweg und grinst mich an. Mein Herz macht einen Sprung, mein Plan ging bis hierher perfekt auf, zum ersten Mal sehe ich Nathalie in die Augen. Sie ist noch schöner, wenn sie mich so ansieht.

„Auf der anderen Seite. Oben“, sagt sie nur und zeigt auf die rechte Seite der Steinsäule.

Ich täusche Erschrecken vor, da ich offensichtlich ertappt wurde.

„Oh, danke, Kleine. Da hab ich mich wohl nicht sonderlich geschickt angestellt.“ Ich lächle das Mädchen dankbar an und gehe zur rechten Seite hinüber, um im Efeu zu suchen. Natürlich wusste ich, dass der Geocache auf dieser Seite versteckt war; das gehört schließlich zu meinem Plan. Mit einem freudigen „Ach, da ist er ja“ nehme ich den grünen Petling vom Gitter und präsentiere meinen Fund Nathalie. Ich strahle sie mit meinem schönsten Lächeln an. Das Mädchen trägt ein gelbes Poloshirt, das sie über die hellblaue Jeans hängen lässt. Ein kleines aufgenähtes Krokodil über ihrer linken Brust zeigt an: Das Hemdchen war sündhaft teuer. Die Hose betont ihre Figur, aber nicht so sehr, dass sie wie eingeschnürt aussieht. Die neue Mode, die hingegen jene Einheitsmädels tragen, finde ich furchtbar. Die Hose hat so einen breiten Bund, dass es so aussieht, als würde sie bis unter die Achselhöhlen reichen. Gruselig.

Eine zarte Goldkette mit einem verschnörkelten N-Anhänger ist um ihren Hals zu sehen.

„Ich bin auch Geocacher“, sagt das hübsche Kind mit den sandfarbenen Haaren, die ihr bis zu den Schultern reichen, und wippt auf den Fußballen. Sie trägt schneeweiße Sneakers, die ihre Unschuld noch betonen. Was für ein wunderbarer Engel sie doch ist.

„Ich hab mich echt doof angestellt, gell? Ich mach das noch nicht so lange“, sage ich, während ich den Deckel aufschraube und das Logbuch herausschüttle.

„Meine Eltern und ich sind schon alte Hasen, was das Geocaching angeht, wir machen das schon seit drei Jahren“, sagt Nathalie mit wichtiger Stimme.

„Respekt.“ Ich schürze anerkennend die Lippen, während ich einen Kuli aus der Hose hole und so tue, als würde ich etwas in das Logbuch schreiben, was ich selbstverständlich nicht mache. „Und wie viel Funde habt ihr schon?“, frage ich interessiert.

„2387“, sagt sie wie aus der Pistole geschossen und will dafür bestaunt werden.

„Das weißt du so genau? Wow! Ich hab so um die 100.“ Ich schraube den Petling wieder zu und hänge ihn zurück an den Zaun aus Gusseisen. Unauffällig wische ich das Plastikröhrchen ab. Ich bin zwar in keiner polizeilichen Akte erfasst, aber sicher ist sicher.

Mir klopft das Herz bis zum Hals. Ich schaue die Straße hoch und runter. Niemand zu sehen. Als ich mich wieder zu Nathalie umdrehe, strecke ich ihr die Hand entgegen.

„Vielen Dank, Kleine. Ich bin der Ralf“, gebe ich einen falschen Namen an. Nathalie denkt nicht darüber nach und reicht mir ihre. Sie ist etwas feucht und kühl. Lächelnd macht sie den Mund auf, um sich vorzustellen, doch im nächsten Sekundenbruchteil setze ich einen gelernten Judogriff an und werfe das Mädchen in den offenen VW-Bus. Nur ein überraschtes, kieksendes Geräusch ist von Nathalie zu hören, als ich hinter ihr in den Bus steige und mit einer fließenden Bewegung die Tür zuwuchte. Plötzlich ist das Tageslicht nahezu ausgesperrt. Die Scheiben des Busses sind mit dunkler Folie beschichtet. Natürlich, ich will ja aus naheliegenden Gründen nicht, dass Hinz und Kunz ins Innere blicken können. Ich halte Nathalie den Mund zu und lege mich mit meinem ganzen Gewicht von achtzig Kilo auf ihren schlanken Körper. Mit einer Hand öffne ich eine Kunststoffflasche und ein stechender Geruch breitet sich in dem engen Raum aus. Ich nehme einen vorbereiteten Lappen, träufle die Flüssigkeit drauf und drücke ihn auf Mund und Nase des Mädchens. Sie sträubt sich, sie bäumt sich mit dem Unterleib auf, ihre Füße trommeln verzweifelt auf den Wagenboden, doch irgendwann muss sie einatmen, wenn sie nicht ersticken will, und wird nach kurzer Zeit schlaff. Weitere Sekunden halte ich das Tuch auf ihr Gesicht gedrückt, ehe ich es wegnehme und Nathalie ins Gesicht blicke. Ihr dezent geschminktes Gesicht wirkt leider nicht mehr kindlich rein auf mich, einige Falten haben sich von der Gegenwehr gebildet, was ich sehr schade finde. Ich fühle ihren Puls, der trotz ihrer Bewusstlosigkeit schnell und fest hämmert; ein gutes Zeichen. Auch wenn Nathalie einige Zeit nicht aufwachen wird, fessle ich ihre Hände mit Kabelbindern vor ihrem Bauch und lege das Kind flach auf den Wagenboden. Ich klettere nach vorne auf den Fahrersitz und starte den Bus. „Dann wollen wir mal“, sage ich aufgeregt über die Schulter. Mein Weg führt in einen nahen Wald. Ich bin vollgepumpt mit Adrenalin, was mich schwindeln lässt. Ich trommle euphorisch immer wieder auf das Lenkrad und bin begeistert, dass mein Plan tatsächlich so perfekt funktioniert hat.

15 Uhr

Wie erhofft sind wir völlig alleine in diesem dichten Wald. Außer Vogelgezwitscher ist nichts zu hören. Auch über diesen Ort habe ich ausreichend recherchiert. An wie vielen Tagen ich hier war, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber es war oft. Niemals ist mir hier ein Mensch begegnet. Nur Rehe sprangen grazil mit einem aberwitzigen Tempo zwischen den Bäumen durch. Sogar ein Wildschwein begegnete mir. Mit seinen listigen Augen stierte es mich an, kümmerte sich aber schließlich nicht weiter um mich, als ich weder Anstalten machte zu flüchten noch anzugreifen. Von meinem schlanken Körper wäre der Schwarzkittel eh nicht satt geworden.

Während Nathalie ihren außerplanmäßigen Schlaf abhält, schraube ich die geklauten Nummernschilder ab und befestige die Originale am Bus. Plötzlich fahre ich zusammen und erstarre mit dem Schild in der Hand. Ein eisiger Schauer läuft mir über den Rücken. Ein klapperndes Geräusch aus dem Wageninneren ist der Auslöser. Ich eile zur offenen Schiebetür und sehe nach dem Mädchen. Hat sie sich bewegt?, frage ich mich und sehe, dass das Smartphone aus ihrer hellblauen Jeans gerutscht ist und das Geräusch auf dem Wagenboden gemacht hat, das mir kurzzeitig die Haare zu Berge hat stehen lassen. Ich atme auf, steige aber trotzdem in den Bus, um mich vom Tiefschlaf Nathalies zu überzeugen. Ich nehme einige schwarze, massive Kabelbinder aus einem Kunststoffbehälter, in dem ich mein Werkzeug aufbewahre. Ich stecke ihr Handy in meine Hosentasche und beginne, das Mädchen bewegungsunfähig zu machen. Zur Sicherheit lege ich noch einen der Plastikstreifen um ihre Hände und mache sie an den Füßen bewegungsunfähig. Zur Sicherheit verwende ich hier mehrere Kabelbinder. Nathalie müsste schon Superwoman sein, um diese stabilen Plastikdinger zu zerreißen. Ich betrachte das Mädchen. Zu meinem Leidwesen sieht sie jetzt aus wie eine Tote, die man aufgebahrt hat. Nur das regelmäßige Heben und Senken des Bauches zeugt davon, dass sie lediglich ohne Bewusstsein ist. Ihr Kopf ist zur Seite gekippt und ein Speichelfaden bahnt sich aus ihrem geöffneten Mund einen Weg zum Wagenboden. Mir tut es leid, das schöne Mädchen so zu sehen. Irgendwie ist der Zauber des unschuldigen Teenagers nun hinüber. Ich habe vorerst genug von dem deprimierenden Anblick, lasse sie noch einmal von meinem CHCL3, besser bekannt als Chloroform, schnuppern, um die Kleine weiter träumen zu lassen. Man muss mit diesem Teufelszeug gut aufpassen und die richtige Dosierung mischen. Ist die Verdünnung zu gering, tritt lediglich ein Rauschzustand ein. Ist die Mischung zu hoch, kann die Dröhnung tatsächlich tödlich sein. Bei 1,4 Volumenprozent ist gewährleistet, dass ein Mensch in Vollnarkose fällt.

Ich nehme ihr Telefon an mich, hopse aus dem Wagen und werfe mit diesem typischen Rollgeräusch eines VW-Busses die Schiebetür zu. Ich muss ein paar tiefe Atemzüge machen, so penetrant riecht dieses Zeug. Ich habe wenig Lust, aus den Latschen zu kippen.

Nun montiere ich das fehlende Nummernschild an das Heck, dann lehne ich mich lässig an den Wagen und widme meine Aufmerksamkeit dem Smartphone. Ich schüttle den Kopf; die Kleine nutzt keinerlei Sperren. Ich kann nach Lust und Laune in ihrem Telefon stöbern und in ihre Intimsphäre eindringen. Aber außer WhatsApp interessiert mich nicht viel. Ich scrolle durch ihre Chatverläufe. Ich lese das typische Gequatsche unter Heranwachsenden. Emma ist offensichtlich ihre beste Freundin, mit ihr hat sie die häufigsten Kontakte. Es wird über Musik geredet, die mir nichts sagt. Aber Ed Sheeran kenne ich. Die Mädchen sind sich einig, dass der Sänger von der Insel voll hässlich aussieht, aber total süüüß ist. Anscheinend schreiben sich die Mädels während des Unterrichts, denn nach Schulschluss kam bisher keine Nachricht mehr von Emma.

Ich sehe mir nun den Chatverlauf mit MamaPapa an. Mama oder Papa schrieb am Morgen, dass sie nicht vor 19 Uhr nach Hause kämen, die Tochter solle sich doch eine Pizza bestellen. Abgeschlossen wurde die Nachricht mit Bussi und dem passenden Emoticon dazu. Die Antwort von Nathalie klingt patzig. Warum wundert mich das nicht? dann eben wieder Scheißpizza. Sonst nichts, kein Bussi, kein Smiley. Der Akkustand zeigt mir 71 % an; das sollte doch eigentlich reichen. Ich gehe zu einer Fichte und lege das Gerät in eine Wurzelhöhlung. Fichtenzapfen und Zweige lege ich darüber. Klar, dass ich vorher meine Fingerabdrücke abgewischt habe.

Ich weiß, dass ihre Eltern nur selten früher nach Hause kommen, 18 Uhr wäre schon eine Überraschung gewesen. Aber so ist das mit den Businessmenschen: Sie leben, um zu arbeiten und Geld zu machen. Vater ist ein gefragter Rechtsanwalt. 40 Jahre, schon grau an den Schläfen und mit Vollgas auf den ersten Herzinfarkt zusteuernd. Mutter steht ihrem Gatten in nichts nach und ist selbstständige Firmenberaterin. Sie ist immer adrett und modern gekleidet. Sie wirkt wie eine stolze, erfolgreiche Unternehmerin, die sie ja auch ist, doch auch sie lebt gesundheitlich auf Pump. Die Augenringe erkennt man durch ihre Schminke hindurch, und auch sie wirkt älter als die 37 Jahre, die sie in Wirklichkeit ist.

Doch zum Wochenende wird das Familienleben gepflegt, dann macht die Familie gerne Ausflüge und geht dem gemeinsamen Hobby, dem Geocaching nach. Eine Art GPS-unterstützte Art der Schnitzeljagd. Einfach für den Laien ausgedrückt heißt das, Menschen nutzen Satelliten, die Milliarden gekostet haben, starren auf ein Gerät, das Hunderte gekostet hat und gehen in den Wald, um Tupperware zu suchen. Sie tragen sich in ein Logbuch ein und verschwinden wieder. Klingt komisch, macht aber süchtig. Auch ich bin seit Jahren Geocacher, und selbstverständlich habe ich Nathalie angelogen, als ich gesagt habe, dass ich ein Anfänger mit gerade mal einhundert Dosen bin.

Ich bin fertig mit meiner Arbeit und sehe auf die Uhr an meinem Handgelenk. Es ist gerade mal eine Stunde her, dass ich die ersten Worte mit Nathalie gewechselt habe, und trotzdem ist sie mir schon so vertraut. Ich lege die falschen Nummernschilder auf den Beifahrersitz. Bevor ich losfahre, sehe ich noch einmal nach meinem Gast, der aber immer noch tief und fest schläft. Trotzdem schließe ich nun leise die Tür und fahre mit offenem Fahrerfenster langsam aus dem Wald heraus, meinem Heim entgegen. Als ich die Brücke über den Fluss erreiche, steige ich schnell aus, sehe mich um und werfe die geklauten Nummernschilder mit einer schwungvollen Handbewegung aus dem Fenster. Ich sehe den davonsegelnden Blechteilen nach, die in der Luft umherwirbeln, kaum hörbar aufschlagen und schließlich langsam im Wasser versinken

Ich wohne einigermaßen ungestört am Ortsrand eines Minidorfes. So ein Kaff, an dem sie kleine grüne Schilder hinstellen, statt gelbe. Hier kennt man sich, hier grüßt man sich, falls man sich vielleicht mal trifft. Mein nächster Nachbar ist wenigstens dreihundert Meter von mir weg. Das Einfamilienhaus wurde in den 1960ern gebaut und ich habe es recht günstig erwerben können. Das ganze Grundstück ist riesig groß. Um Rasen zu mähen, nehme ich einen Aufsitzmäher. Das macht Spaß, wenn ich gemütlich im Sattel sitzend um die Apfelbäume kurve. Außerdem erleichtert es mir die Arbeit ungemein. Dieses Jahr waren die Bäume über und über voll mit Blüten. Wenn das Wetter über den Sommer einigermaßen gut wird, dann kann ich auf eine sensationelle Ernte hoffen. Ich mag Äpfel sehr gerne.

Den Keller habe ich kürzlich grundlegend renoviert. Das war notwendig, denn es ist ja davon auszugehen, dass Nathalie durch Schreie auf sich aufmerksam machen will, weil sie ihre temporäre Unterkunft unzureichend gemütlich empfindet. Gegen die Villa, in der sie eigentlich wohnt, kann ich nicht anstinken.

Mir sind ja solche Leute suspekt, die sich ein hochmodernes Domizil hinstellen lassen, mit allem Schnickschnack, und dann eine hohe Mauer um ihr Haus ziehen. Niemand soll auch nur einen Blick auf die Familie erhaschen können. Sie grenzen sich aus von der Allgemeinheit, dem Fußvolk und zeigen allen, ihr könnt uns mal, ihr hättet ja auch etwas Gescheites lernen können. Einzig, wenn das Stahltor des Anwesens sich automatisch nahezu geräuschlos öffnet und Sekunden später ein Protz-SUV der Marke Porsche aus der Einfahrt rollt, wird einem kurz Einblick auf das Wegepflaster und den perfekt grünen Rasen gewährt. Mit einem Robotermäher wird das Gras behandelt und keinem Gänseblümchen das Leben gegönnt. Wenn das Tor sich schließt, wird dem Glotzen ein Ende bereitet. Doch genau dieses Verhalten, dieses Absondern von den anderen, macht neugierig, und man fragt sich, was haben diese Menschen zu verbergen? Das hat auch mich neugierig gemacht, und deshalb kam ich erst auf die Idee, meinen Plan auszutüfteln.

16 Uhr

Wir sind angekommen. Ich fahre den Bulli rückwärts entlang der Grasbausteine auf mein Grundstück und stelle ihn unter einem Apfelbaum ab. Es müsste schon jemand auf meinen Besitz kommen, um zu sehen, was ich tue. Aber ich wirke auf meine Umgebung so normal und langweilig; es hat keiner der Dorfbewohner einen Grund, zu mir zu kommen. Trotzdem blicke ich mich um, indem ich mich im Kreis drehe und schaue auch auf die Rückseite des Hauses, man weiß ja nie. Womöglich packt die Dorfjugend die Abenteuerlust und sie spielt Verstecken auf meinem Grund. Aber die Luft ist wie erwartet rein. Ich entriegle die Tür und ziehe Nathalie zu mir heran. Ich gehe in die Knie und werfe mit einem Schwung das Mädchen über meine Schulter. Ich fasse sie an den festen Oberschenkeln, ihre gefesselten Arme baumeln synchron an meinem Rücken entlang. Ihre schlaffen Hände schlagen immer wieder gegen meinen Hintern, was mich angenehm erschauern lässt. Nun muss ich dreizehn Stufen über die Außentreppe in den Keller hinabgehen. Auch wenn das Kind keine fünfzig Kilo wiegt, atme ich nach einigen Stufen schon schwer. Unten angekommen, taste ich nach dem Schlüssel in meiner Jeanstasche, finde ihn und öffne das nagelneue Sicherheitsschloss. Ein muffiger Geruch begrüßt mich, es riecht nach Moos, Feuchtigkeit und Moder. Ich liebe diese Symbiose der Düfte aus alten Häusern. Ich achte darauf, dass ich nicht mit dem Kopf von Nathalie gegen den Türstock oder die niedrige Decke stoße. Ich will nicht, dass ihr schönes Köpfchen Schaden nimmt, doch alles geht gut. Mit der freien Hand schließe ich hinter mir sorgfältig ab. Mit ein paar Schritten habe ich den ersten Raum durchquert. Ich öffne den nächsten und betrete das temporäre Zuhause meines Gastes. Vorsichtig lasse ich den zarten Körper von meiner Schulter gleiten und lege Nathalie auf das bereitgestellte Bett. Ich arrangiere sie so, wie ich vermute, dass es für sie angenehm ist. Der Kopf liegt auf einem weichen Kissen. Nun sieht sie wieder wie ein unschuldiger Engel aus; ich bin zufrieden.

Ich setze mich zu ihr, knipse mit einem Seitenschneider die Kabelbinder auf und erlöse das Mädchen von ihren Plastikfesseln. Es tut mir leid, dass ihre Handgelenke gerötet sind und Druckstellen haben, aber das wird schnell wieder vergehen. Vielleicht sind die Hände auch eingeschlafen, aber solange Nathalie vor sich hinträumt, wird sie nicht spüren, dass ihre Gliedmaßen kribbeln. Sie hat schöne Finger, lang und feingliedrig. Es freut mich, dass sie nicht an den Nägeln kaut. Das ist so eine Unart, die ich nicht gutheiße. Warum tun Mädchen sich das an? Das sieht so ungepflegt aus und macht aus einem hübschen Teenager einen Bauerntrampel. Aber Nathalie hat schön gefeilte Nägel, die sie mit einem sehr hellen Lack angestrichen hat.

Ich lege meinen Kopf schräg und betrachte ihr Gesicht. Wie schön sie ist, denke ich wieder. Sie wird eines Tages der Schwarm der jungen Männer sein. Aber nur, wenn ich das auch zulasse. Ich streiche eine dunkelblonde Strähne aus ihrem Gesicht. Dabei habe ich das Gefühl, als träfe mich ein Stromschlag, der mich erschauern lässt. Ich nehme ihre kalten, schlaffen Hände in meine und reibe sie, damit sie warm werden. Ich erschrecke, als ein leises Seufzen aus ihrem Mund dringt und sie leicht den Kopf hin und her bewegt. Ich habe völlig vergessen, dass Nathalie ja irgendwann in sehr naher Zukunft aufwachen wird. Ich muss mich beeilen. In den Beton des Kellerbodens habe ich eine Stahlkette angedübelt. Am anderen Ende befindet sich eine breite Schelle, die ich um das rechte, zarte Fußgelenk lege und zuschraube. Ich achte darauf, dass die Schelle festsitzt, aber ihr nicht ins Fleisch schneidet. Die Länge der Kette habe ich so ausgemessen, dass Nathalie sich im Raum, den ich extra für sie umgebaut habe, frei bewegen kann, aber sie nicht die Tür erreichen kann. Schnell nehme ich das Werkzeug und die zerstörten Kabelbinder, stehe vom Feldbett auf und verlasse eilig den Kellerraum. Ich sichere die Tür und lehne mich zitternd dagegen. Erst jetzt merke ich, dass ich so einen harten Penis habe, dass es wehtut.

17 Uhr

Ich hätte gar nicht so überstürzt verschwinden müssen. Nathalie hat einfach weitergeschlafen. Sie hat sich zwar immer wieder mal geregt, aber sie kam bis jetzt noch nicht zu sich. Mich plagten Bedenken, ob ich die Mischung des Chloroforms nicht doch etwas zu hoch dosiert hatte, aber ich bin die Rezeptur durchgegangen und kam sogar auf einen leicht niedrigeren Wert, als ich ursprünglich wollte. Also beruhige ich mich und schaue interessiert auf den Monitor auf meinem Schreibtisch im Computerzimmer. Dort, wo ich die zwei Kameras angebracht habe, kann ich praktisch jeden Winkel des Raumes von meinem Schreibtisch aus einsehen. Viel zu überwachen gibt es ja eh nicht, dieser Teil des Kellers hat nur eine Länge von 3,5 Metern und eine Breite von drei Metern. Wenn Nathalie endlich wach und klar ist, wird sie schnell die Kameras entdecken. Nein, sie kann die Kameras nicht zerstören. Sie sind zwar in greifbarer Höhe, aber ich habe eine Plexiglasscheibe eingemauert, die jeden Versuch, an die Kameras zu gelangen, scheitern lässt. Ich halte mich schon für einen netten Entführer. Meiner Nathalie soll es an nichts mangeln und ihren Aufenthalt bei mir möglichst angenehm machen. Es ist klar, dass ich ihr den Luxus, den sie von Zuhause gewohnt ist, nicht bieten kann. Vielleicht, wenn ich mit diesem Projekt fertig bin, aber ich fürchte, dann wird sie nicht bei mir bleiben wollen. Ich mache mir da keine Illusionen, aber Hoffnungen. Entführer wirken in der Regel nicht sonderlich sympathisch auf ihre Opfer. Wobei es ja durchaus schon oft vorgekommen ist, dass Opfer ihre Täter toll finden. Dieses Phänomen nennt sich „Stockholm-Syndrom“ und geht auf das Jahr 1973 zurück. Bei einem Banküberfall wurden vier Geiseln genommen. Nach fünf Tagen Angst bedankten sich die Opfer bei den Tätern und haben sie sogar später im Knast besucht. Doch fürchte ich, dass mir dieses Glück nicht beschieden wird. Ich meine jetzt nicht den Knast, da geh ich eh nicht rein, ich meine, dass sich Nathalie in mich verliebt, wenn ich ein netter Entführer bin. Allein schon bei dem Altersunterschied von 19 Jahren wird die Süße zurückschrecken. Doch das hat es alles schon gegeben, einen Rest Hoffnung habe ich also noch.

Ich muss meine Jeans öffnen, ich halte diese Enge darin nicht mehr aus. Meine Unterhose spannt und hebt sich deutlich ab. Die Versuchung ist so groß, mir Erleichterung zu verschaffen, doch ich muss mich zusammennehmen. Ich hätte sonst das Gefühl, meinen Engel zu betrügen.

Nathalie

Das 13-jährige Mädchen wand sich hin und her. Ihre Stirn runzelte sich immer wieder, ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, als koste es sie eine unmenschliche Anstrengung, aufzuwachen. Womöglich wehrte sich ihr Körper auch gegen das Erwachen. Ihre Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern. Nathalie drehte ihren Körper hin und her, um eine gemütliche Stellung zu finden, doch die Matratze war viel härter als ihr neues Boxspringbett zu Hause. Ein klirrendes, metallisches Geräusch war ungewohnt. Sie wurde ruhiger, die Bewegungen wurden weniger. Nathalie öffnete ein Auge einen Spalt, die Pupille wollte sich wieder wegdrehen. Ihr fiel es schwer, etwas zu fokussieren. Sie schloss das Auge wieder für ein paar Sekunden und versuchte es erneut. Sie zwang ihre Augen zur Ruhe und blickte an die Decke. Sie sah nur verschwommen und ihr Gehirn gab dem anderen Auge den Befehl, auch dieses zu öffnen. Das Mädchen blinzelte mehrere Male hintereinander. Ihre Sicht wurde besser, das graue Etwas über ihr nahm Konturen an, sie konnte Muster erkennen, die keinen Sinn ergaben. Ihr Gedanke war: Hatte Papa, während sie schlief, die Zimmerdecke neu gestrichen? Aber dieses Grau war doch schrecklich, sie würde mit ihm ein Wörtchen reden müssen. Und dieses grelle Licht! Niemals würde ihr Vater eine Leuchtstoffröhre anbringen. Sie drehte den Kopf nach rechts und nach links. Sie wusste, das konnte nicht ihr Zimmer sein; das war viel größer als dieses hier. Sie konnte nur Holz und Beton sehen. Sie dachte nach und konnte keine Erinnerung an diesen Raum finden. Wo war sie bloß? Langsam setzte sie sich auf, ein Schwindel ergriff sie; das Mädchen wollte sich dem Impuls folgend wieder auf die harte Matratze legen. Doch sie blieb sitzen, legte ihre Finger beidseitig an ihre Schläfen und rieb daran, um dieses fiese Pochen im Kopf zu lindern. Wieder sah sie sich um, verständnislos furchte sie die Stirn und schwang ihre Beine von der Matratze. Dieses Rasseln hatte kurz zuvor bereits ihr Unterbewusstsein registriert. Sie sah zu dem Geräusch hin und erkannte an ihrem Fußgelenk eine angeschraubte Kette.

Was soll das denn?, fragte sie sich. Sie verfolgte mit den Augen den Verlauf der grobgliedrigen Kette, die am Boden endete. Eiskalt lief es ihr nun den Rücken herunter, sie kam zu der einzig logischen Erklärung: Sie war gefesselt und an einem ihr unbekannten Ort. Auch wenn es ihr nicht erlaubt war, sie kannte die Art Filme, bei der jemand entführt wurde. Sie wurde panisch und ruckte am Ende der Kette, um sie aus dem Boden zu reißen, doch scheiterte sie kläglich bei dem Versuch. Die Kette war unnachgiebig im Boden festgeschraubt. Aber es gab ja zwei Enden; sie untersuchte die Schelle an ihrem Bein und versuchte, sie mit beiden Händen über ihren Fuß zu streifen. Einige wenige Millimeter schaffte sie, doch das dickere Fußgelenk ließ mehr nicht zu, auch wenn sie so zartgliedrig gebaut war. Mit einem frustrierten Laut ließ sie die Fessel los und warf sich zurück auf die Matratze.

Wer sperrt mich ein, wer will denn was von mir? Ich hab doch niemandem etwas getan?, stellte sie sich grübelnd Fragen. Sie starrte an die Decke, sie dachte an ihre Eltern und ihre Augen wurden feucht. „Mama, Papa, holt mich hier raus. Bitte“, schluchzte sie. Ihr Kinn zitterte, ihr Mund verzog sich und sie konnte nicht anders, sie begann in ihrer Verzweiflung zu weinen. Sie ließ die Tränen seitlich an ihrem Kopf abfließen, ohne den Versuch zu machen, sie abzuwischen.

Plötzlich hörte sie auf zu weinen, ihre Augen wurden klar. Sie zog die Nase geräuschvoll hoch und tastete nach einem Papiertaschentuch in ihrer Jeans. Sie setzte sich auf, schnaubte hinein und steckte es zurück.

Da war dieser Mann, erinnert sie sich, dieser Typ, der nach einem Geocache gesucht hat, dort an dem gusseisernen Zaun in der Nähe der Schule. Er war nett, sie unterhielten sich über ihr Hobby, und dann? Nichts! Dann war nur noch diese Schwärze. War es möglich, dass dieser Mann sie hierhergebracht hatte? Und wenn das der Fall war, warum denn bloß? Sie zermarterte sich den Kopf, dann wurde ihr siedend heiß, ihr kribbelte das Rückgrat und sie fasste sich zwischen die Beine. Einigermaßen beruhigt stellte sie fest, dass ihr dort nichts wehtat. Derjenige hatte es wohl nicht auf ihren Körper abgesehen. Doch sicher war sie sich nicht, sie öffnete den Knopf ihrer Hose und fühlte unter ihrem Höschen – nichts – sie atmete erleichtert durch und schloss die Jeans wieder.

Nathalie schaute sich in dem Raum um. Kein Tisch, nackte Wände bis auf ein Poster, das offensichtlich eine Rockband zeigte, die ihr nichts sagte. LED ZEPPELIN stand darauf. Sie fand, dass das Poster viel zu alt aussah. Denn so lange gab es LED-Beleuchtungen doch noch gar nicht?! In der Verlängerung ihres Bettes war eine Holztür. Ihr Weg zur Freiheit, der durch die Kette an ihrem Fuß zunichtegemacht wurde. Was ist das am Boden? So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie überbrückte den Meter bis zu dem seltsam anmutenden Kunststoffteil und untersuchte es. Der Deckel war leicht zu öffnen und sie konnte im nächsten Augenblick einen chemischen Geruch wahrnehmen. Nun ahnte sie auch, was sie vor sich hatte. Es war eine dieser portablen Campingtoiletten. Im selben Moment spürte Nathalie tatsächlich einen Harndrang. Aber sie würde sich auf keinen Fall dieser Demütigung hingeben und sich darauf setzen; sie würde dieses menschliche Bedürfnis unterdrücken, so lange es ihr möglich war. Sie ließ den Deckel los, der mit einem endgültigen Geräusch klappernd auf die graue Klobrille fiel und sie in ihrer Meinung zu bestätigen schien.

Sie drehte sich zu ihrer Bettstatt um und sah nun erst, dass am Fußende der Matratze zwei große Flaschen mit Wasser standen. Nathalie machte schmatzende Geräusche und spürte, dass ihr Mund trocken vor Durst war. Sie griff sich eine der Plastikflaschen und drehte den Verschluss auf, der anscheinend noch nicht vorher geöffnet worden war. Trotzdem schnupperte das Mädchen am Inhalt, konnte aber nichts Verdächtiges riechen. Vergiften will er mich also nicht, dachte sie. Vorsichtig nahm sie einen kleinen Schluck, in Erwartung, dass sie Säure zu spüren bekam. Aber Nathalie schmeckte nur frisches, wenn auch lauwarmes Wasser. Absurderweise dachte sie darüber nach, dass diese Flasche einmal so ein Petling war, der mit hohem Druck aufgeblasen wurde, um eine Einwegflasche zu werden, die nach der Benutzung in einen Rückgabeautomaten gesteckt wird. Der nächste Schluck war größer, das Schlucken tat ihr am Anfang weh, also setzte sie ab. Nachdenklich betrachtete sie die Flasche und setzte sie wieder an ihre Lippen, um nun große, gierige Schlucke zu nehmen. Mehr als die Hälfte hatte sie getrunken, als sie das Wasser wieder absetzte und schwer atmete, weil sie die Luft beim Trinken angehalten hatte. Sie verspürte immer noch Durst und schaute wehmütig das Behältnis an. Die Vernunft siegte; sie wusste schließlich nicht, wie lange sie in diesem Raum bleiben musste und ob sie überhaupt Nachschub bekam. Zu spät fiel dem Mädchen zudem ein, dass sie durch ihre Gier früher oder später doch pinkeln würde müssen. Verärgert über ihre Kurzsichtigkeit warf sie die Flasche auf die Matratze und legte sich daneben. Die Kette machte dabei ein rasselndes Geräusch. Sie starrte an die niedrige Decke.

Nathalie bekam es langsam immer mehr mit der Angst zu tun. Wie lange war es her, seit sie erwacht war? Sie hatte keine Uhr und wenig überraschend: kein Handy. Doch sie hatte in all der Zeit kein einziges Geräusch vernommen, lediglich das leise elektrische Summen der Leuchtstoffröhre war zu hören. Was, wenn der Mann nicht mehr kommt? Wenn er mit einem Auto unterwegs ist und einen schweren Unfall hat? Was dann? Niemand weiß wahrscheinlich, wo ich bin. Womöglich findet mich niemand, und dann verdurste oder verhungere ich?, spann sie ein Horrorszenario in ihrem Kopf zusammen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich als vertrocknete Leiche auf der Matratze liegen, die Hände verkrümmt, die Haut faltig um ihren ausgedörrten Körper. Ein moderner Ötzi. Nun bereute sie noch mehr, dass sie so leichtsinnig das kostbare Nass verschwendet hatte, auch wenn der Durst nun erträglicher war.

Um sich abzulenken, durchsuchte Nathalie ihr Gefängnis nach weiteren Dingen, die ihr Entführer vielleicht hinterlegt hatte. Womöglich etwas zu essen? Doch außer einer Rolle Klopapier fand sie nichts. Die Matratze hatte sie hochgehoben, ohne Erfolg. Frustriert setzte sie sich wieder und sah sich um. Plötzlich stutzte sie. Dort, fast am Ende der Wand in der oberen Ecke sah sie etwas. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, und erkannte etwas Schwarzes, das sie frappierend an … „Du Drecksau“, sagte sie empört zu der Kamera, die sie hinter einer Scheibe entdeckt hatte. Dieser Typ beobachtet mich, zog sie den richtigen Schluss und spürte, wie sie wütend wurde. Sie starrte auf das Objektiv, hob nach einigen Sekunden beide Hände hoch, um die Mittelfinger mit ausgestreckten Armen ihrem Spanner entgegenzustrecken. Sie wusste, dass sie mit dieser Geste nichts erreichen würde, und doch fühlte es sich richtig an, diesen Typen zu beleidigen. Mit betont verächtlicher Miene wandte sie den Kopf ab und bemerkte Sekunden später, dass auch in der anderen Ecke eine Kamera auf sie gerichtet war. „Du perverser Wichser!“, schrie Nathalie die Kamera an, warf sich auf die Matratze und zog sich die dünne Decke über den ganzen Körper, die einzige Möglichkeit, dass dieser Typ sie nicht sehen konnte, und auch nicht, dass sie bittere Tränen vergoss.

18 Uhr

Das war nett anzusehen am Anfang, als Nathalie aufwachte. Sie war so hilfsbedürftig, am liebsten wäre ich rein und hätte sie in die Arme genommen und zu ihr gesagt, dass alles gut werden würde, wenn ihre Eltern schön kooperieren. Wie sie die Äuglein geöffnet hat, um zu gucken, wo sie ist. Kurz darauf die Erkenntnis, dass sie eine Gefangene ist. Es war so putzig, wie sie die Schelle über ihr schlankes Beinchen stülpen wollte. Ihr Rehblick aus blauen Augen. Ja, es klingt paradox, haben diese scheuen Waldtiere doch tiefbraune, treue Augen. Aber ich denke an den Blick, der so warm wirkt. Verwirrt hat Nathalie ihre Toilette angesehen, die ich in einem Campingfachgeschäft gekauft habe. Ich habe mich für die teuerste Version entschieden, für die ich knapp 140 € ausgegeben habe. Ja, diese Ausgabe hat durchaus ein Loch in mein Säckel gebohrt, aber mein Engel ist es mir wert. Offenbar weiß sie das gar nicht zu würdigen, so wie sie sich verhalten hat. Was mich jedoch erschüttert hat, das war, als das hässliche Teufelchen aus ihr herauskam. Sie hat die Kameras entdeckt und mir den beidseitigen Stinkefinger gezeigt. Dazu hat sie mich noch verbal beleidigt. Ihr süßes, junges Gesicht hat sich zu einer sehr hässlichen Fratze verzogen. Das hat mir mehr wehgetan als die obszöne Geste. Ich habe mir die Szene noch mehrere Male in Zeitlupe angesehen. Wie ihre zarten Lippen diese bösen Worte ausgestoßen haben. Einige Tropfen Speichel flogen dabei aus ihrem Mund. Ihre Augenbrauen zogen sich vor Wut zusammen und sie sah mit den Falten mindestens zwanzig Jahre älter aus. Ich weiß jetzt nur nicht, wie ich das sanktionieren soll.

Nun hat sie sich die Decke über den Kopf gezogen. Ihre Schultern wackeln verdächtig; ich bin mir daher sicher, dass sie tüchtig weint. Tränen heilen, heißt es doch so philosophisch. Ich lasse sie weinen, bis sie sich beruhigt hat.

Mittlerweile ist es nach 18 Uhr. Ob Nathalies Eltern schon zu Hause sind? Ich glaube nicht, aber es kann nicht mehr lange dauern, bis das Stahltor auffährt und der fette Porsche die Einfahrt passiert. Doch diesmal wird alles anders sein. Nein, zunächst wird die Routine noch eingehalten. Frau Demler wird zum Briefkasten gehen und die Post hervorholen. Ohne einen Blick darauf zu werfen, wird sie erst im Haus die Briefe sortieren. Reklameblättchen werden einen kleinen Haufen bilden, Rechnungen einen kleinen Stapel, und dann wird da noch ein beiger DIN-A4-Umschlag dabei sein, der an Stefan und Dagmar adressiert ist. Leider werde ich nicht in Erfahrung bringen, was als Erstes geschieht. Fragen die Eltern sich, warum es im Haus so ruhig ist und ob Nathalie überhaupt daheim ist, oder holen sie erst das Schreiben aus dem Umschlag, um die Info zu bekommen, dass ihre Tochter heute nicht zu Hause schlafen wird?

Nur zu gern würde ich Mäuschen spielen und dem Schauspiel beiwohnen, das sich mir dort bieten würde. Obwohl sie sich so verbarrikadieren, obwohl sie so viel Wert auf ihre Privatsphäre legen, sind sie machtlos, weil ihre Tochter nun bei mir ist.

Bei der weiteren Lektüre des Schreibens werden Stefan und Dagmar bemerken, dass es sich um eine Entführung handelt. Einfach daran zu erkennen, dass dort eine siebenstellige Zahl steht und ein Eurozeichen. Ich verdiene zwar recht gut als Elektroniker, aber über etwas Sommergeld würde ich mich schon freuen. Sind wir doch mal ehrlich: Der Familie tut das nicht wirklich weh und mir tut es gut. Ich achte lediglich auf gerechte Verteilung.