Das Imperium aus Asche - Anthony Ryan - E-Book
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Das Imperium aus Asche E-Book

Anthony Ryan

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Beschreibung

Im Krieg des weißen Drachen wird Freiheit mit Blut und Feuer bezahlt... Alles steht auf dem Spiel. Die zu bringenden Opfer sind hoch. Der letzte Hoffnungsschimmer liegt in einem uralten vergessenem Wissen. Mit das »Imperium aus Asche« legt Anthony Ryan den fulminanten Abschlussband der Draconis- Memoria-Trilogie vor. Ein unvorstellbar mächtiger Drache hat sich erhoben und führt eine Armee aus Bestien und Verderbten an. Das Überleben der ganzen Menschheit steht auf dem Spiel. Claydon Torcreek, ehemals ein kleiner Dieb und Blutgesegneter, die Agentin Lizanne Lethridge und der Kapitän Corrick Hilemore sind in verschiedene Erdgegenden versprengt. Aber sie stellen sich der todbringenden Macht entgegen, während die Welt vor ihren Augen in Flammen aufgeht. »Eine actionreiche Reihe voller Spannung und Lesevergnügen. Fans großer epischer Abenteuerfantasy wie ›Game of Thrones‹ sollten diese Serie auf keinen Fall verpassen.« Booklist

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Seitenzahl: 972

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Anthony Ryan

Das Imperium aus Asche

Draconis Memoria Buch 3

AUS DEM ENGLISCHEN VON BIRGIT MARIA PFAFFINGER & SARA RIFFEL

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Empire of Ashes. Book Three of the Draconis Memoria« im Verlag

ACE Books, The Penguin Group (USA), New York 2017

© 2018 by Anthony Ryan

Für die deutsche Ausgabe

© 2019, 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: © Birgit Gitschier unter Verwendung einer Illustration von © Federico Musetti

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98400-2

E-Book: ISBN 978-3-608-11568-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Inhalt

Karten

Der Schatten des Tüftlers

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

II 

Das brennende Meer

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

III 

Die roten Gezeiten

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Epilog

Dramatis Personae

Danksagung

Meinem Onkel Bill gewidmet – vormals Sgt. William McNamara bei der königlich-schottischen Dragonergarde – in Anerkennung des Preises, den er dafür gezahlt hat, auf der Seite des Guten zu kämpfen.

Karten

I

Der Schatten des Tüftlers

•••

Aus dem Tagebuch von Miss Lewella Tythencroft – Sanorah, den 27. Termester 1600 (211 Unternehmenszeitrechnung)

Ich erwachte aus einem neuen Traum von Corrick, wie ich es in diesen unruhigen Zeiten fast jeden Tag tue. Wenn – wie die unregelmäßigen Antworten auf meine zahlreichen Briefe an die Protektoratsmarine nahelegen – Leutnant Hilemore tatsächlich tot und nicht nur verschollen ist, hat er einen ruhelosen Geist hinterlassen.

Ich weiß, dass mein Humor unangebracht ist. Grausam sogar. Mir selbst gegenüber und der Erinnerung an den Mann, den ich geliebt habe (den du noch immer liebst, Lewella, mach dir nichts vor). Aber Humor ist immer noch besser als das Jammern und Klagen, das man von uns Frauen erwartet.

Dieser Traum unterschied sich wieder von den anderen. Die nächtlichen Besuche meines früheren Verlobten sind ausgesprochen abwechslungsreich, wenngleich sehr vage. Selbstverständlich habe ich auch früher schon von ihm geträumt, vor allem in den langen, schrecklichen Monaten, die wir getrennt waren, weil er in sklavischer Ergebenheit unseren Herren aus der Führungsschicht diente. Und ganz besonders während des ungerechten Gemetzels an den Dalzianern, welches das Syndikat als Niederschlagung eines »Aufstands« rechtfertigt. Bei den damaligen Träumen handelte es sich jedoch eher um Erinnerungen, ich suchte im Schlaf seine Gesellschaft, die mir im Wachsein verwehrt war. Spaziergänge im Park, Schäferstündchen zu zweit, fernab des stets wachsamen Blickes meiner Eltern, unsere zahllosen, wundervollen Gespräche. Früher habe ich die Träume von ihm geliebt, heute fürchte ich sie, denn Corrick ist darin immer in Gefahr.

Diesmal befand er sich an einem kalten, sehr weit entfernten Ort. Die Bilder sind stets unscharf, aber sein Gesicht ist deutlich zu erkennen, und neuerdings ist ihm anzusehen, dass eine schwere Schuld auf ihm lastet. Corrick neigt im Allgemeinen nicht zu übermäßiger Selbstbeobachtung, aber trotz seines Berufes ist er gefühlvoller, als viele meinen.

Ich tue es schon wieder, ich schreibe in der Gegenwart. Wie meinen unangebrachten Humor kann ich auch das nicht sein lassen. In meinem Herzen, wenn auch nicht in meinem Verstand, weiß ich, dass er am Leben ist … und an einem sehr kalten Ort.

Ich habe ein weiteres Frühstück mit meinen Eltern überstanden, bei dem Vater sich wie üblich hinter einer Ausgabe des Aufklärers versteckte, während Mutter die Stille mit geistlosem Geschwätz füllte. In letzter Zeit, seit die Nachrichten aus dem In- und Ausland immer schlimmer werden, ist ihrem Gequassel eine gewisse Verzweiflung anzumerken. Ihre unzähligen Geschichten über Skandälchen und die Bekanntgabe von Verlobungen sowie ihre spitzen Kommentare wegen meiner nicht vorhandenen Aussichten auf diesem Gebiet trägt sie mit schriller Stimme und weit aufgerissenen Augen vor. Manchmal frage ich mich, ob sie versucht, eine Art Zauber zu wirken, als könnte dieser verbale Firlefanz die näher kommende Gefahr durch belanglose Normalität bannen. Aber die Gefahr ist echt und macht keinerlei Anstalten abzuebben.

»Feros verstummt«, titelt der Aufklärer gewohnt unverblümt. Bislang gibt es noch keine Erklärung für das Schweigen der Stadt, dafür jedoch unzählige Spekulationen. Auf den Innenseiten finden sich schreckliche Einzelheiten zur letzten corvantinischen Revolution, die offensichtlich erfolgreich verlief. »Gesamte corvantinische Adelsschicht in einer einzigen Nacht niedergemetzelt«, »Hunderte Todesurteile nach Scheinprozess«, »Selbsternannter Regierungsrat unter Leitung einer berüchtigten kriminellen Diktatorin« und so weiter. Mehrere meiner Freunde von der Wählerrechtsallianz sind der Ansicht, dass es sich um Lügen handelt, die von der unternehmenskontrollierten Presse verbreitet werden, um Angst vor einer Rebellion zu schüren. Ich bin mir nicht so sicher, dass all diese Schreckensnachrichten tatsächlich nur erfunden sind. Das corvantinische Volk hat jahrhundertelang unter der grausamen Unterdrückung einer schrecklichen, blutgetränkten Regnarchie gelitten. Ist es so überraschend, dass es jetzt mit Rachedurst reagiert?

Andere Artikel berichten von Unruhen in zahlreichen nordmandinorianischen Städten, einer steigenden Desertionsrate unter den Soldaten des Protektorats sowie – und das ist womöglich die beunruhigendste Nachricht von allen – einem Zusammenbruch der unternehmenseigenen Aktien- und Anleihenmärkte. Mir entging nicht, dass Vaters Hände leicht zitterten, als er diese Nachricht las, und ich fragte mich, wie viel von unserem Familienvermögen er wohl in den letzten Jahren in Börsenspekulationen investiert hat. Aber natürlich würde er jede Frage nach finanziellen Dingen entweder mit kühler Gleichgültigkeit quittieren oder aber mit dem Vorschlag, ich solle meine radikale Freizeitbeschäftigung aufgeben und mir eine Anstellung bei einem Unternehmen suchen, wenn ich mich so für geschäftliche Angelegenheiten interessiere. Also schwieg ich, spülte Toast und gekochtes Ei mit Tee hinunter, küsste Mutter auf die Wange und machte mich auf den Weg ins Büro der Wählergazette.

Wie es in letzter Zeit häufiger der Fall ist, artete die morgendliche Redaktionssitzung schon bald in eine politische Debatte und einen lautstarken Streit aus. Mr. Mantleprop, der Photostatist, hätte sich beinahe mit Mr. Mityard, dem Auslandskorrespondenten, geprügelt. Grund dafür war dessen »skandalöse Befürwortung brutaler Racheakte« in seiner Berichterstattung über die corvantinische Revolution. Als amtierende Chefredakteurin war ich stark versucht, sämtliche Korrespondenten zu entlassen. Da ich ohnehin mindestens zwei Drittel jeder Ausgabe selbst verfasse, während meine angeblichen Mitarbeiter ihre Zeit mit zwecklosen Diskussionen verbringen, würde es wohl kaum mehr Aufwand bedeuten, die Zeitung im Alleingang zu betreiben. Außerdem wäre die Arbeitsatmosphäre viel friedlicher. Aber da die Gazette als offizielles Organ der Wählerrechtsallianz als Genossenschaft gegründet wurde und nicht als Privatunternehmen, besitze ich nicht die Macht, jemanden zu entlassen, ohne die Mehrheit der Redaktion auf meiner Seite zu haben.

Normalerweise hätte ich mich bemüht, für Ordnung zu sorgen, doch heute war ich von der unruhigen Nacht zu ausgelaugt. Also überließ ich stattdessen meine Kollegen ihren Meinungsverschiedenheiten und begab mich mit Stift und Notizblock zum Hafen. Wie jeder erfahrene Berichterstatter weiß, eignen sich die Hafenanlagen stets zur Informationsbeschaffung, besonders aber in schwierigen Zeiten. In den umliegenden Tavernen wimmelt es nur so von Seeleuten aus allen Ecken der Welt, die ein ausgesprochen großes Mitteilungsbedürfnis haben – vor allem, wenn sie von einer jungen und nicht gerade unattraktiven Frau befragt werden, die bereit ist, die eine oder andere Runde Bier auszugeben.

Heute waren derlei Winkelzüge jedoch überflüssig, denn als ich am Hafen eintraf, herrschte dort große Aufregung. Vor etlichen Wochen hatte die sogenannte Gesegnete Dämonin ihre Schreckensherrschaft in der Sumpfheide beendet, um die Hafenanlagen in Brand zu stecken und anschließend auf mysteriöse Weise zu verschwinden. Die Schäden sind bislang nur teilweise behoben, und zahlreiche Lagerhäuser liegen nach wie vor in Trümmern. Allerdings ist es der Syndikatsbehörde gelungen, neue Hafenkräne aufzustellen und die hölzernen Landungsstege zu reparieren, die bis zur Wasseroberfläche abgebrannt waren.

Der Kai war voller Soldaten und Gendarmen des Protektorats, darunter etliche hochrangige Offiziere. Am anderen Ende des breiten Hafenbeckens stieg Rauch von den großen Maschinen auf, welche die Wachmauer heben und senken. Normalerweise wird nach dem morgendlichen Gezeitenwechsel nur ein Tor geöffnet, doch heute wurden alle drei gleichzeitig hochgezogen.

Natürlich trugen meine Versuche, die Protektoratsoffiziere zu befragen, mir nur ein kurz angebundenes, aber höfliches »Kein Kommentar« oder den frostigen Hinweis ein, mir den Stoff für meine »Wählerpropaganda« gefälligst woanders zu suchen. Aus diesem Grund sah ich mich – wenn auch widerwillig – gezwungen, meine Informationen aus einer freigiebigeren Quelle zu beziehen.

Ich entdeckte Sigmend Talwicks schlaksige Gestalt in der Mitte des Kais. Er hockte auf einer Kiste und schrieb etwas in sein Notizbuch. »Miss Tythencroft«, begrüßte er mich. Sein breites Lächeln hätte freundlich und einladend gewirkt, wäre da nicht die schlecht verhohlene Begierde gewesen, mit der er meinen Körper betrachtete. »Wie läuft es bei der Gazette? Wie ich höre, steigen Ihre Verkaufszahlen und sind letzten Monat fast im vierstelligen Bereich gelandet.«

»Fünfstellig«, log ich, wie so oft in Mr. Talwicks Gegenwart, und stellte wieder einmal fest, wie wenig dies doch mein Gewissen belastet. »Ich muss Ihnen zur letzten Ausgabe des Aufklärers gratulieren«, fuhr ich fort. »Für ein Blatt, das sich der vulgären und geschmacklosen Berichterstattung verschrieben hat, haben Sie sich wirklich selbst übertroffen. Will man Ihnen glauben, dann grillen und essen die corvantinischen Rebellen offenbar kleine Kinder.«

Er versteifte sich, und das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Ich bin lediglich ein Reporter, Miss. Nicht der Herausgeber.«

»Selbstverständlich, Sir.« Ich wandte mich um und zeigte mit dem Kinn auf die sich hebenden Hafentore. »Haben Ihre Freunde vom Protektorat Ihnen vielleicht verraten, was das zu bedeuten hat?«

»Nein«, erwiderte er, fast schon kokettierend. »Haben sie nicht, aber normalerweise öffnet man nicht alle drei Tore für ein einziges Schiff.«

»Eine Flotte also. Und keine feindliche.«

»Wohl kaum. Aber woher? Wollen Sie eine Wette abschließen, Miss Tythencroft? Ich tippe auf eine Flottille dalzianischer Söldner, die vom Protektorat angeheuert wurden, um die Nordflotte zu unterstützen.«

»Das Spekulieren mit Geld überlasse ich meinem Vater, Sir. Allerdings bezweifle ich, dass nach dem Aufstand viele Dalzianer bereit sind, sich in den Dienst des Protektorats zu stellen.«

»Dann eben Varestianer. In der präkolonialen Zeit haben sie für jeden gekämpft, wenn der Preis stimmte.«

Dann waren die Hafentore vollständig geöffnet, wie der Chor der Dampfpfeifen von der Mauer verkündete. Kurze Zeit später schob sich der dunkle Umriss eines Schiffes langsam durch den mittleren Eingang in den Hafen. Ich erkannte sogleich, dass es sich um eine kleine Dampffähre handelte, wie sie normalerweise in Küstengebieten für die Passagierschifffahrt eingesetzt wird. Dem Aussehen nach war diese jedoch viele Tage lang auf See gewesen. Die Außenwände waren rußgeschwärzt und den Schaufelrädern fehlten mehrere Blätter, sodass die Fähre sich nur mühsam einem der nahe gelegenen Landungsstege näherte.

Mr. Talwick und ich eilten zur fraglichen Brücke, wo bereits Taue von Bord an Land geworfen wurden. Auf dem Vorderdeck standen zahlreiche Menschen, vor allem Frauen und Kinder, allesamt von dem graugesichtigen Schweigen erfasst, das sich nach langen Entbehrungen einstellt. Im Näherkommen sahen wir, dass viele von ihnen weinten, ob aus Erleichterung oder Kummer vermochte ich nicht zu sagen.

»Es ist tatsächlich eine Flotte«, bemerkte Mr. Talwick und deutete auf die geöffneten Tore, durch die jetzt noch weitere, ähnlich mitgenommene Schiffe kamen. »Aber sie besteht aus Flüchtlingen, nicht aus Söldnern.« Inzwischen waren wir nahe genug, um den Schriftzug am Rumpf der Fähre zu erkennen: ERS Botschafter – Reg. Hafen von Feros, 03.06.177. »Sie haben den ganzen Weg von den Tyrell-Inseln in einem dreißig Jahre alten Küstendampfer zurückgelegt«, sagte Talwick anerkennend.

Eine Gangway war ausgelegt worden, und die Passagiere verließen das Schiff, die meisten gebückt und mit unstetem Schritt, der große Erschöpfung zum Ausdruck brachte. Manche der Älteren wurden von ihren jüngeren Kameraden gestützt, viele weinten immer noch. Als sie sich am Kai versammelten, fiel mir eine Gestalt auf, die aufrechter dastand als die anderen. Eine großgewachsene Frau von südmandinorianischem Aussehen, die – gemessen an dem Verhalten, mit dem ihr die anderen Flüchtlinge begegneten – eine gewisse Autorität besaß.

»Joya«, rief sie einem schlanken Mädchen zu, das gemeinsam mit einer bleichen Frau mit auffälliger Gesichtsbemalung einem Mann mit Augenbinde von Bord half. »Bringt ihn hierher. Die Patienten müssen zusammenbleiben. Molly, wenn du Mr. Adderman versorgt hast, geh zurück an Bord und hol alle Medikamente, die du findest. Ich weiß nicht, wie großzügig unsere Gastgeber sein werden.«

»Guten Tag, Madam.« Talwick, der schon immer einen untrüglichen Blick für die beste Quelle gehabt hatte, marschierte schnurstracks auf die große Frau zu und verneigte sich vor ihr. »Sigmend Talwick. Chefkorrespondent des Sanoraher Aufklärers. Dürfte ich Ihren Namen erfahren?«

»Natürlich«, antwortete die Frau und kehrte ihm den Rücken zu. »Er lautet: Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram.«

Talwick streckte den Rücken durch und schniefte gekränkt, ließ sich jedoch wie üblich nicht von der Jagd nach einer guten Geschichte abbringen und machte sich sogleich daran, die anderen Flüchtlinge zu befragen. Ich dagegen hatte das Gefühl, dass Frau Kümmern-Sie-sich-um-Ihren-eigenen-Kram noch einiges an Informationen zu bieten hatte, und folgte ihr mehrere Minuten durch die Menschenmenge, bis sie meine Anwesenheit zur Kenntnis nahm.

»Sind Sie auch von der Presse?«, fragte sie und sah von der Armwunde auf, die sie gerade untersuchte. Das Mädchen mit der Verletzung hatte wohl nicht mehr genug Kraft zum Weinen. Es saß einfach nur ruhig im Schoß seiner Mutter und starrte mit weit aufgerissenen, aber ausdruckslosen Augen auf die bläulich-rote, mit Nähten überzogene Stelle.

»Irgendwie schon«, erwiderte ich. »Ich repräsentiere die Wählerrechtsallianz.« Beim Anblick der wachsenden Zahl mitgenommen aussehender Menschen hatte ich plötzlich einen Frosch im Hals und musste mich räuspern. »Ich versichere Ihnen, dass ich nur helfen möchte.«

»Gut.« Die Frau machte sich daran, dem Mädchen einen frischen Verband anzulegen. Die Kleine kniff die Augen zusammen und schmiegte sich noch enger an ihre Mutter. »Diese Menschen brauchen medizinische Hilfe.« Die Frau richtete sich auf und wandte sich mir zu. »Und die Leute auf den anderen Schiffen benötigen Unterkunft und Verpflegung. Kann Ihre Allianz uns dabei behilflich sein?«

»Ja«, sagte ich mit plötzlicher Überzeugung. »Ich werde mich sofort in unser Büro begeben und eine Hilfsaktion in die Wege leiten.« Ich streckte ihr die Hand hin. »Lewella Tythencroft.«

»Fredabel Torcreek.« Als wir uns die Hände schüttelten, umspielte ein schwaches, bitteres Lächeln ihren Mund – vermutlich, weil meine Gefühle mir so deutlich anzusehen waren. »Das ist wohl ein ungewohnter Anblick für Sie, meine Liebe?«

»Ja.« Ich räusperte mich erneut und richtete mich auf. »Bitte, eine Frage noch. Sie waren doch in Feros, oder?«

»Ja. Und es ist verloren. Drachen und Verderbte griffen vom Meer und vom Himmel her an und brachten es unter ungeheurem Blutvergießen in ihre Gewalt. Wir Flüchtlinge aus Kerberhafen und ein paar weitere konnten gerade noch entkommen, aber unzählige andere hatten weniger Glück.«

»Ich … habe einen Freund«, setzte ich an und hasste mich dafür, wie zögerlich die Worte aus meinem Mund kamen. »Mein ehemaliger Verlobter, um genau zu sein. Leutnant Hilemore. Er wurde vermisst und für tot erklärt. Ich habe mich gefragt, ob …«

»Hilemore?« Mrs. Torcreek starrte mich einen Moment an, dann lachte sie auf. »Erstens lautet sein Titel neuerdings Kapitän. Und zweitens ist er nicht tot, meine Liebe. Meinem letzten Kenntnisstand nach ist er quicklebendig, auch wenn er sich vermutlich gerade mit meiner Familie den Allerwertesten abfriert.«

Kapitel 1

Clay

Ihm war, als würde er flüssiges Feuer trinken. Sobald das Herzblut seine Zunge berührte, durchzuckte ihn ein Pfeil glühenden Schmerzes. Irgendwie gelang es ihm, die Phiole nicht fallen zu lassen, sondern sie weiter gegen die Lippen zu pressen, bis sich ihr gesamter Inhalt den Weg durch seinen Hals in den Magen gebrannt hatte. Er krümmte sich und hieb wild um sich, als die Qualen weiter zunahmen und jedes andere Gefühl auslöschten, alles um ihn erst grau, dann schwarz färbten. Ob er wohl an den Schmerzen sterben würde, noch bevor Jack Letzter Anblick ihm mit einem Flammenstoß den Garaus machte? Wie sein Ende auch aussehen mochte, Clay wusste mit absoluter Gewissheit, dass er nur noch wenige Sekunden zu leben hatte.

Dann war es vorbei. Von einer Sekunde auf die andere war die Pein verschwunden. Clay blinzelte, und die schwarze Leere lichtete sich. Er befand sich noch immer im Wasser und trieb schwerelos unter der flirrenden Oberfläche. Es war kalt, doch die Kälte fühlte sich irgendwie gedämpft an, war weit außerhalb seines Körpers, eines Körpers, der riesige Dimensionen angenommen hatte, wie er schnell feststellte. Vor sich sah er verschwommene Farben, kaltes Azurblau, durchsetzt von orangenen Flecken und kleinen dunkelroten Sprenkeln. Sie sehen Wärme statt Licht, hatte Ethelynne Drystone gesagt, als sie in der verfallenen Arena ihre Erinnerungen mit ihm geteilt hatte. Er betrachtete die Welt erneut durch die Augen eines Drachen.

Diesmal waren die Farben nicht so grell wie die, die der unglückselige Schwarze vor hunderten von Jahren eingefangen hatte. Allerdings vertrieb der Ton in Clays Ohren jeglichen Gedanken an die eingeschränkten Sichtverhältnisse. Es handelte sich um ein gleichmäßig vibrierendes Echo, dessen Höhe sich von Sekunde zu Sekunde änderte. Clay wusste zwar nicht, was es damit auf sich hatte, doch tief in seinem Geist schlummerte ein Begreifen, das instinktive Wissen des Besitzers dieser Erinnerung. Die Schlussfolgerung war ebenso unausweichlich wie beängstigend: Ich habe eine Trance-Verbindung zu Jack Letzter Anblick.

Da durchbrach ein lauter, gellender Schrei die Klanglandschaft, die Blickrichtung änderte sich, und Clay schnellte mit einer Geschwindigkeit durchs Wasser, die jeden von Menschenhand geschaffenen Apparat übertraf. Als der Schrei erneut ertönte, steigerte sich der Puls des Drachen von einem rhythmischen Pochen zu einem rasenden Trommeln. Es war eindeutig ein Hilferuf, aus dem panische Furcht sprach. Wie sie so durch das Wasser schossen, spürte Clay Jacks wachsende Sorge, und dank der Trance wusste er, dass es sich um elterliche Angst handelte. Irgendwo war Jacks Kind in Gefahr.

Dann wurde der Hilferuf von einem Schrei abgelöst, der so durchdringend war, dass Clay ihn als körperlichen Schmerz erlebte, und plötzlich erstarb. Ein weiterer Sinneseindruck flutete seinen Geist, diesmal war es kein Geräusch, sondern ein Geruch. Normalerweise hätte dieser Duft den Hunger des monströsen Jägers geweckt, aber jetzt rief er nur Verzweiflung hervor. Blut, jedoch nicht von einer möglichen Beute oder einem Wal-Kadaver. Es stammte von einem blauen Drachen.

Jetzt stieß Jack Letzter Anblick selbst einen Schrei aus, ein tiefes, kehliges, trauererfülltes Brüllen, das die See förmlich zum Erbeben brachte. Dennoch setzte er seinen Weg mit unverminderter Geschwindigkeit fort, von Zornesenergie getrieben. Der Blutgeruch wurde immer stärker, bis Clay schließlich einen dunkelrot wogenden Nebel vor sich erblickte, der sich zu rosa abkühlte, als das Wasser die Wärme absorbierte. Jack wurde erst langsamer, als er die Wolke erreichte, in deren Mitte Clay jetzt ein dunkles Muster erkennen konnte, ein Netz, das sich fest um etwas Großes, Schlaffes wickelte. Mehrere Harpunen ragten aus dem Kadaver des Blauen, bei dem es sich gemessen an seiner Größe um ein Jungtier handelte. Als das Netz zusammengezogen und der Leib angehoben wurde, strömte das Blut mit neuer Intensität. Jacks Blick folgte den Zugseilen nach oben zu zwei langen, dunklen Umrissen. Er kannte diese Form und wusste, dass sie Gefahr bedeutete. Normalerweise hätte ihr Anblick ihn dazu veranlasst, Zuflucht in der Tiefe zu suchen. Aber nicht heute.

Als Erstes zerriss er das Netz, zerfetzte es mit seinen dreieckigen, rasiermesserscharfen Zähnen und befreite das darin gefangene Junge. Dann hielt er inne und sah zu, wie der Kadaver langsam tiefer sank und in einem Schleier aus Blut in dem kalten, schwarzen Abgrund verschwand. Eine neue Erinnerung erschien vor Clays innerem Auge. Ein frischgeborener Blauer schlüpfte aus dem Leib seiner Mutter und drückte sich gegen die Flanke seines Vaters, der seinen großen Körper schützend vor seine Familie stellte und ein sanftes Lied anstimmte, um den Kleinen zu beruhigen.

Das Bild verblasste, und Clay stellte fest, dass Jack sich wieder den beiden dunklen Umrissen zugewandt hatte. Er brüllte erneut, doch jetzt mischte sich seine Verzweiflung mit Zorn. Dieses Gefühl fand sich bei Blauen nur selten und war eigentlich der Paarung oder den Revierstreitigkeiten mit jüngeren Männchen vorbehalten. Nun allerdings steigerte es sich ins Unermessliche und füllte jede Zelle von Jacks Körper. Clay spürte, wie etwas in Jacks Geist nachgab, ein plötzlicher Schnalzer, und der letzte Rest Vernunft war ausgelöscht. Sein Brüllen erstarb. Jack hatte keinen Grund mehr, seine Wut kundzutun. Er war Wut.

Die beiden dunklen Umrisse hatten sich in Bewegung gesetzt. Das sie umgebende Wasser schäumte weiß, und ein rhythmisches Stampfen erfüllte den Ozean. Clay sah zwei schwachgelbe Kugeln in der Mitte der Schiffe aufleuchten, als die Maschinisten die Motoren anheizten. Vom plötzlichen Verlust ihrer Beute irritiert, hatten die Seeleute offenbar beschlossen, das Weite zu suchen. Aber das würde sie nicht retten.

Jack hielt auf den linken Umriss zu, näherte sich ihm stetig, aber ohne Eile. Obwohl sein Geist immer noch von Zorn erfüllt war, ließ sein Jagdinstinkt ihn nicht im Stich und sagte ihm, dass er alle Kraft für den Angriff benötigen würde. Als er auf etwa fünfzig Meter an die sich drehenden Schaufelräder des Blauenjägers herangekommen war, schlug er zu. Ein einziger Schwanzhieb zertrümmerte die Schaufelblätter, das Schiff beschrieb einen Halbkreis und kippte. Ringsum stürzten kleine, dunkle Gestalten ins Wasser, Matrosen, die vom Deck des getroffenen Boots fielen. Jack ließ sich Zeit, um jeden einzelnen der zappelnden Männer zu zerbeißen. Ihre Reste spuckte er aus, denn der Geschmack dieser winzigen Monster missfiel ihm. Ihr Blut war bitter, und sie hatten zu viele Knochen. Außerdem war er nicht zum Fressen hier.

Er schlug erneut mit dem Schwanz, eine explosive Entladung seiner Kraft, die ihn in die Luft katapultierte. Er flog über das Schiff, die Männer starrten angsterfüllt zu ihm empor und schrien, als er das Maul aufriss und seinen Feuerstrahl auf sie richtete. Die Flammen hüllten das Boot von Bug bis Heck ein, erfassten die Matrosen ebenso wie die Armaturen, wogten in die Frachträume und entzündeten alles Brennbare.

Jack tauchte zurück in die wohltuende Kühle des Ozeans. Er umkreiste das lodernde Schiff und tötete die verkohlten, dem Tode nahen Männer, die vereinzelt im Wasser trieben. Plötzlich durchzuckte ein Beben die umliegende See, etwas im Inneren des Schiffes hatte nachgegeben – gemessen an der Stärke der Explosion vermutlich eine Ladung Schießpulver. Das Boot brach auseinander, versank langsam in der Tiefe und zog dabei eine dunkle Blutwolke aus den Laderäumen hinter sich her. Dass diese nach dem Blut von Seinesgleichen roch, schürte Jacks Zorn noch mehr, und Clay konnte fühlen, wie sein ohnehin schon angeschlagener Geist noch weiter verfiel.

Der riesige Blaue kehrte zurück an die Oberfläche und hob den Kopf aus den Wellen. Das zweite Schiff befand sich mehrere Kilometer nördlich, seine Schornsteine rauchten und die Schaufelräder drehten sich rasend schnell. Doch das würde es nicht retten.

Dann zerfiel die Trance in Bruchstücke. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte Clay, und die geteilten Erinnerungen flirrten in einem Kaleidoskop zerstörter Schiffe und ermordeter Matrosen durch seinen Kopf. Offensichtlich hatte Jacks Leben sich in ein nicht enden wollendes Rache-Epos verwandelt. Seine Tage und Nächte standen im Zeichen der Jagd und der endlosen Suche nach neuen Monstern zum Töten. Walen und Riesenoktopussen stellte er nur dann nach, wenn sein Hunger an Schmerz grenzte. Ansonsten durchstreifte er die Meere auf der Suche nach Schiffen und zerstörte alle, die er fand. Aber es gab immer mehr.

Dann wandelte sich der Strudel aus Zorn und unermüdlicher Jagd plötzlich. Jahrelang hatte Jack seine Artgenossen gemieden und ihre Grußgesänge ignoriert, wann immer er in die Nähe einer Herde kam. Irgendwie wusste er, dass er keiner der ihren mehr war. Ihre Gesänge, die von Verbundenheit, Spiel und der Freude an der Jagd erzählten, waren Echos von etwas, das er für immer verloren hatte. Jack kannte nur noch ein Lied, das Lied des Zornes. Eines Tages hörte er jedoch etwas Neues, keinen durch die Tiefen hallenden Klageschrei, sondern einen Gesang in seinem Geist.

Clay wurde von einem weiteren Schmerzblitz durchzuckt, als das Lied ihn umhüllte, fremd, verwirrend und dabei doch schrecklich vertraut. Der Weiße. Das Ausmaß seiner Bosheit war unverkennbar, obschon es ihm unmöglich war, die Gedanken der Bestie vollends zu ergründen. Allerdings konnte er sie fühlen, konnte empfinden, wie Jack von einem neuen Gefühl der Bestimmung erfasst wurde, das mit seiner Wut verschmolz. Clay spürte, wie der Blaue sich gegen die Einmischung wehrte. Er hatte seine eigenen Absichten und wollte keine anderen, doch der Weiße duldete keinen Widerspruch. Schon bald stellte sich eine neue Bilderflut ein, ein anderes Schiff, durch die Augen eines anderen Blauen gesehen. Es unterschied sich von den vorherigen, die Kanonen legten nahe, dass es sich um eine Kriegsfregatte handelte. Außerdem besaß es keine Schaufelräder. Die Überlegenheit, dachte Clay und sah, wie an Deck eine junge Frau zwei Revolver zückte. Loriabeth, an dem Tag, als wir von dem Blauen angegriffen wurden. Loriabeths Kugeln trafen ihr Ziel, und das Bild veränderte sich: Ein roter Nebel verhüllte das meiste, was folgte, dennoch registrierte Clay ein plötzliches Erstarren und erinnerte sich, wie er und die varestianische Blutgesegnete den Blauen mithilfe von Schwarz festgehalten hatten, während Kapitän Hilemore und Leutnant Steelfine die Kanone schussbereit machten. Ein Blitz inmitten des roten Nebels, dann wurde alles schwarz.

Jacks Gefühl der Bestimmung wurde von einem unerbittlichen Befehl abgelöst, der mit einem Bild der Überlegenheit einherging. Diesmal konnte Clay den Gedanken des Weißen eine deutliche Botschaft entnehmen: Geh nach Süden … Töte sie.

Clay wurde von Panik erfasst, als Jacks Erinnerungen durch seinen Geist wirbelten. Er hat ihn uns auf den Hals gehetzt. Er wusste, wohin wir unterwegs waren. Woher? Die Antwort dämmerte ihm schnell, begleitet von Selbstvorwürfen, weil er nicht schon früher darauf gekommen war. Silbernadel. Die Überreste ihres Bewusstseins lebten in ihm fort, seit sie ihn im Berg verraten hatte und umgekommen war. Er ist ihrem Geruch gefolgt und hat den armen, verrückten Jack dazu gebracht, uns zu jagen.

Noch mehr Erinnerungen: Jack war wieder Teil einer Herde, wenngleich die Blauen, mit denen er jetzt schwamm, keine Lieder sangen. Die Zerstörung der Kraghurst-Station und sein unterdrücktes, aber unverkennbares Vergnügen, so viele kleine Monster brennen zu sehen. Jack, der die Überlegenheit durch den Kanal zwischen den Drosslern und dem Riff hetzte, und das Gewicht des riesigen Felsvorsprungs, der ihn in die Tiefe drückte, so tief, dass der Druck ihn fast zerquetscht hätte. Aber er war nicht gestorben, irgendwie war es ihm gelungen, sich zu befreien und sich mithilfe seiner malträtierten Muskeln an die Oberfläche zu kämpfen. Schon bald überwältigte ihn die Erschöpfung, und er trieb schlaff an der Wasseroberfläche. Hätte ihn nicht die Herde gefunden und mit vereinten Kräften an der lebensrettenden Luft gehalten, wäre er wieder in der Tiefe versunken. Aber er war verwundet und benötigte Zeit und Nahrung, um sich zu erholen. Die anderen Blauen brachten ihm Walross- und Walfleisch und hungerten selbst, damit er zu fressen hatte. Wäre er noch zu derlei Dingen in der Lage gewesen, hätte er einen Dankesgesang für sie angestimmt. Aber eigentlich waren sie nicht seine Herde, und solche Gesänge waren nur ein entferntes Rauschen dessen, was er einmal gewesen war.

Er fraß, erholte sich und wartete. Dann kam der große Hitzestoß, der das Eis spaltete und ihm die Suche nach den Monstern ermöglichte, die ihn verletzt hatten. Er rief seine schweigende Herde zusammen und schickte sie in das zersplitterte Eis, wo sie große Distanzen zurücklegten, bis einer seine Beute fand. Ein neues Schiff, eines ohne Hitzeblume im Rumpf, aber mit Monstern an Deck. Jack mochte zwar verrückt sein, aber er war alles andere als dumm. Da ihm diese Kreaturen erst vor Kurzem Schmerzen zugefügt hatten, entschloss er sich zu einem klügeren Ansatz und schickte seine Herde vor, um sich den brutalen, widernatürlichen Verteidigungsanlagen zu stellen und deren Hauptlast zu tragen. Er sah zu, wie die Blauen kämpften und einer nach dem anderen umkamen, unterdrückte seinen Zorn und zwang sich zur Geduld. Erst als das letzte Mitglied seiner Herde eine Wolke aus Blut hinter sich herziehend in der Tiefe versank, beschloss Jack zuzuschlagen.

Dann tauchte eine neue Ablenkung auf, eine neue Hitzeblume wuchs von unzähligen Luftblasen begleitet aus der Tiefe empor. Etwas stieg an die Oberfläche. Jack hatte keine Ahnung, worum es sich handelte, sein Blick vermochte den Rumpf nicht zu durchdringen, um mögliche Wärmequellen dahinter auszumachen. Aber als es oben angekommen war und vier Monster daraus hervorkletterten, wusste er, dass er zum ersten Mal seit Langem leichte Beute vor sich hatte. Ein kurzes Abtauchen und Hochschnellen, und schon zappelten die Monster im Wasser. Jack hielt auf das nächstgelegene zu und stieß einen kurzen Schmerzenslaut aus, als eines der Ungeheuer etwas vom Schiff aus nach ihm warf. Es war klein, traf ihn jedoch mit genug Wucht, um ein Loch in seine Schuppen zu reißen. Der Schmerz war ihm vertraut, er hatte bereits zahllose Narben ähnlichen Ursprungs. Und so zollte er der Wunde kaum Aufmerksamkeit, schließlich befand seine Beute sich in unmittelbarer Nähe.

Die Kreatur, die unter ihm im Wasser zappelte, schaute mit ihren winzigen, Perlen gleichenden Augen zu ihm auf und griff nach etwas an ihrem Hals. Womöglich nach einer Waffe. Als könnte etwas so Kleines ihm gefährlich werden …

Clay sah, wie das Bild von ihm selbst im Wasser erstarrte und zerbarst und nur einen gestaltlosen Nebel hinterließ. Um ihn herum stieg Dunst auf, verdichtete sich zu bunten Wolken und löste sich wieder auf. Hier und da erhaschte er einen Blick auf solidere Erinnerungen, die versinkenden Kadaver von Blauen, zerfetzte Matrosen, brennende Schiffe. Das also war die Gedankenlandschaft von Jack Letzter Anblick. Unter dem ganzen Grauen spürte Clay, wie eine große Verwirrung auf ihn eindrang, durchsetzt von wachsendem Ärger.

Du spürst, dass ich hier bin, nicht wahr?, fragte Clay in der Hoffnung, dass der Drache die Bedeutung seiner Worte verstand. Der Nebel ringsum flirrte, und rote Blitze zuckten als Beweis für Jacks zunehmenden Zorn. Tja, du wirst mich nicht los, zumindest fürs Erste. Also lass uns reden.

Es blitzte erneut, aus dem Nebel wickelten sich blutrote Ranken um Clay und zerrten mit unerbittlicher Ablehnung an ihm. Er wappnete sich gegen das Gefühl und kämpfte gegen die Übelkeit und Verwirrtheit an, die drohten, der Trance ein Ende zu machen. Ich weiß, dass du guten Grund hast, mich und meine Artgenossen zu hassen, sagte Clay, als die Übelkeit sich langsam in Schmerz verwandelte. Aber der Weiße … Er brach ab, denn plötzlich flammten tief in seinem Innern explosionsartig Qualen auf. Wieder begann die Gedankenlandschaft zu flirren, und Clay merkte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Verbindung ganz abbrach, denn Jack setzte jetzt alles daran, den verhassten Eindringling loszuwerden.

Verhandeln bringt nichts, dachte Clay und wandte seinen ganzen Willen auf, während Jacks Gedankenlandschaft um ihn herum loderte und ihm weitere Szenen voll Mord und Flammen offenbarte. Er ist zu verrückt. Er versuchte sich zu erinnern, was Ethelynne über die Auswirkungen von Herzblut gesagt hatte und darüber, wie es ihr mit seiner Hilfe gelungen war, die Kontrolle über Lutharon zu gewinnen. Falsch, dachte er. Nicht die Kontrolle. Sie sprach von »Verständigung«. Aber wie konnte er mit einem Geist, der von so vielen schlimmen Erinnerungen geschädigt war, in Verbindung treten? Er hielt kurz inne, denn jetzt kamen ihm noch mehr von Ethelynnes Worten in den Sinn: Die Erinnerungen der Drachen sterben nicht mit dem einzelnen Individuum. Sie werden über mehrere Generationen vererbt.

Er betrachtete das Chaos, das um ihn herum wütete und Jacks Toben und seinen anhaltenden Versuchen, Clay loszuwerden, geschuldet war. Lutharon konnte sich an den Weißen erinnern. Obwohl er ihn nie gesehen hat. Vielleicht war ihm ja auch einer von Jacks Vorfahren begegnet. Aber was sollte das bringen? Die Erlebnisse von Jacks Vorfahren würden kaum ausreichen, um dessen Verstand wiederherzustellen. Doch dann fiel Clay etwas ein, das Silbernadels Geist gesagt hatte, ein winziger Hinweis darauf, dass sie mehr gewesen war als nur eine Dienerin des Weißen: Und sind Menschen nicht überhaupt nur Ansammlungen von Erinnerungen?

Clay nahm seinen ganzen Willen zusammen und entfesselte ihn auf einmal, sodass der umliegende Nebel verpuffte. Er spürte, wie Jack unter der Wucht seiner mentalen Kraft zusammenzuckte, die seinen Zorn vorübergehend unterdrückte. Das muss am Herzblut liegen, dachte Clay. Es verleiht der Trance mehr Wirkung.

Bei der Betrachtung der Erinnerungsfetzen, die jetzt in einer schwarzen Leere um ihn herumschwebten, erhielt er weitere Einblicke in blutige, flammende Racheakte. Eines dieser Fragmente zog er zu sich heran – einen kompakten Ball mit Bildern des Angriffs auf die Kraghurst-Station. Dann wandte er seinen Willen erneut auf, presste den Ball zu einer winzigen Kugel zusammen und zertrümmerte sie. Auf diese Weise arbeitete er sich weiter vor, durchstöberte Jacks Gedankenlandschaft und zerstörte alle traumatischen Erinnerungen, die er dort fand. Jack wehrte sich, feuerte weiter rote Blitze ab, doch mit seinen Erinnerungen schwand auch seine Kraft. Clay wurde nicht aller Fragmente habhaft, manche waren zu undefiniert und ließen sich nicht einfangen, andere waren bloße Bruchstücke von nicht weiter im Gedächtnis gebliebenen Gemetzeln. Hie und da fand er klare und sogar freudige Momente, meist in Bezug auf Jacks Leben vor seinem irren Rachefeldzug. Diese verschonte er, auch wenn es zu wenige waren und zu viel Abstand zwischen ihnen lag, um den Verstand der Bestie zu heilen.

Als Clay die letzte große Erinnerung zerschmettert hatte, herrschte Verwirrung in der Gedankenlandschaft. Sie zeigte den Todeskampf eines Blauenjägers, den Jack tagelang gequält hatte. Alle paar Stunden war er an die Oberfläche gekommen, um ein, zwei Seeleute mit einem Feuerstoß zu grillen, ehe er wieder abtauchte und die Überlebenden den Gedanken an ihr bevorstehendes Schicksal überließ. Offenbar hatten die Menschen ihn die Freuden des Sadismus gelehrt. Mit diesem Bild schwand Jacks ganzer Widerstand und hinterließ lediglich ein schwaches Bewusstsein dafür, wer oder was er war. Ich könnte jetzt einfach das Weite suchen. Die Trance beenden und ihn mit unwiederbringlich zerstörtem Geist durchs Eis ziehen lassen. Aber wem würde das nützen?

Mal sehen, was deine Vorfahren dir vererbt haben. Clay durchsuchte sein eigenes Gedächtnis nach dem deutlichsten Bild, das er vom Weißen besaß. Der letzte Blick, den er im Berg auf die Bestie erhascht hatte, als sie inmitten des Schwarms der von ihr ausgebrüteten Jungtiere wütete. Weckt das irgendwelche Erinnerungen bei dir?, fragte er, doch Jack gab keine Antwort. Clay dehnte die Erinnerung aus und füllte die Leere damit. Komm schon, da muss es doch etwas geben, irgendwo tief in dir vergraben.

Und dann entdeckte er ein schwaches Schimmern in der Leere. Er bot seinen ganzen Willen auf, holte es näher heran und füllte es mit dem Bild des Weißen, sodass es wuchs und zu einem weiten Himmel über einer aufgewühlten grauen See erblühte. Überall zerfurchten Blaue das Wasser, durchschnitten mit ihren langen Leibern die Wogen, während über ihnen eine Schlacht tobte. Rote und schwarze Drachen kreisten unter gräulichen Wolken, bespuckten einander mit Feuer oder verstrickten sich mit schlagenden Schwänzen und schnappenden Kiefern in hässliche Kämpfe. Mit grausiger Regelmäßigkeit stürzten welche ins Meer und gingen entweder sofort unter oder zappelten an der Oberfläche, während ihr Blut ins Wasser strömte. Die Blauen ignorierten die verwundeten Roten, stürzten sich jedoch feuerspuckend und zähnefletschend auf jeden Schwarzen. Der Geist, von dem die Erinnerung stammte, fühlte sich leer an, er war weitgehend frei von Gedanken und kannte nur eine Absicht, die nicht seine eigene war. Tötet sie, erklang der Befehl, und das Bild veränderte sich, als der Besitzer dieser uralten Augen einen verwundeten Schwarzen ins Visier nahm, der vergeblich versuchte, sich mit nur noch einem Flügel in die Luft zu schwingen. Tötet sie a–

Und dann war Schluss. Die Absicht, der Befehl erstarb. Verschwand aus dem Geist des Blauen, sodass er mit Eindrücken überschwemmt werden konnte. Der Kampfdrang ließ nach, und der Blaue brach seinen Angriff ab. Stattdessen umkreiste er den verzweifelten Schwarzen und begrüßte ihn mit einem neugierigen Gesang, als dessen Kraft ihn verließ und er in den Wellen versank. Der Blaue hob den Blick zum Himmel, wo die sich bekriegenden Parteien voneinander abgelassen hatten. Die Roten flogen in loser Formation nach Nordosten, während die verbleibenden Schwarzen nach Westen aufbrachen. Auf dem Rücken von mindestens einem von ihnen konnte Clay den vagen, aber unverkennbaren Umriss eines Menschen ausmachen, ehe die Schar hinter einer Wolke verschwand.

Das war das Ende des Krieges, dachte er. Des ersten. Der Weiße hat sich schon einmal erhoben, und sie haben ihn besiegt. Nur wie?

Er schob die Frage zur Seite, denn es war offenkundig, dass die Antwort nicht im Geist dieses lange toten Blauen lag. Als er dessen Erinnerungen durchsuchte, stellte er fest, dass es sich um einen einfacheren Charakter als Jack handelte. Seine Gesänge waren fröhlich und enthielten nur eine winzige Spur von Zorn. Eine einfache Seele, dachte Clay und kämpfte seine Schuldgefühle nieder. Ich weiß nicht, ob dir dein neues Zuhause gefallen wird.

•••

Als die Trance abbrach, umschloss ihn die Kälte wie eine Stahlfaust. Er keuchte unwillkürlich, hätte er genug Luft gehabt, hätte er geschrien. Während er in der Strömung trieb, ließ der riesige Blaue sich zurücksinken und ging auf Abstand, er blieb jedoch in der Nähe und betrachtete Clay aus einem Auge, den Kopf hielt er knapp über der Oberfläche. Clay spürte, wie das Lied der Bestie, von Verzweiflung erfüllt, durchs Wasser vibrierte. Offenbar hatte die Trance ihn gelehrt, die Gesänge der Blauen zu verstehen.

Als er ein Platschen vernahm, blickte er nach links, wo Kriz und Loriabeth sich bemühten, Leutnant Sigorals Kopf über Wasser zu halten. Das Gesicht des Corvantiners war bleich und sein unversehrtes Auge trüb. Zu Clays Rechter spritzte Wasser auf, begleitet von krachenden Schüssen und dem Pfeifen mehrerer Kugeln. Der gequälte Gesang des Blauen, der einstmals Jack Letzter Anblick gewesen war, wurde höher, als das Untier vor dem Kugelhagel floh und tiefer ins Wasser sank.

»Halt–!« Clay wandte sich dem Schiff zu, doch der Rest seiner Worte erstarb unter dem Klappern seiner Zähne. An der Reling hatte eine Reihe bewaffneter Männer Aufstellung genommen, darunter auch sein Onkel Braddon. Im Krähennest stand Prediger, das Gewehr an der Schulter. Noch besorgniserregender war, dass Leutnant Steelfine und Kapitän Hilemore hektisch versuchten, eine Kanone in Stellung zu bringen. Offensichtlich war sie beschädigt, denn das Rohr war fest mit einem Seil umwickelt, sodass Clay sich fragte, ob sie nicht eine größere Gefahr für die Mannschaft als für Jack darstellte.

Er holte tief Luft und schrie so laut er konnte: »HÖRT AUF ZU SCHIESSEN!« Seine Worte drangen über das Wasser und brachten alle Aktivitäten an Bord des Schiffs zum Erliegen. Verwirrt ließ Kapitän Hilemore von der Kanone ab und richtete sich auf.

»Clay!«, keuchte Loriabeth, und als Clay sich umdrehte, sah er, dass Sigoral ihr entglitt. Er schwamm zu ihr, tauchte unter und bekam den Corvantiner gerade noch rechtzeitig an der Jacke zu fassen. Er zerrte ihn an die Oberfläche, Kriz und Loriabeth packten mit an, und verzweifelt begannen sie, zu dritt Wasser zu treten, um Sigoral vor dem Untergehen zu bewahren. An Bord des Schiffs ertönten Schreie, Hilemore wies mehrere Männer an, ein Boot ins Wasser zu lassen. So viel Zeit haben wir nicht, dachte Clay beim Anblick von Sigorals blutleerem Gesicht grimmig. Außerdem gelangten Kriz und Loriabeth langsam an ihre Grenzen, da das kalte Wasser ihnen sämtliche Kraftreserven raubte.

Er drehte sich zu dem großen Blauen um, der zwanzig Meter von ihnen entfernt sein Klagelied sang. Dann nahm er seine ganze Konzentration zusammen, beschwor die Erinnerung an die neue Gedankenlandschaft, die er im Kopf der Bestie erschaffen hatte, und füllte sie mit seinem Hilferuf. Die Reaktion erfolgte überraschend schnell, der Blaue schoss auf sie zu, rollte sich herum und streckte ihnen seine Rückendornen entgegen.

»Haltet euch fest.« Clay streckte die Hand nach dem nächsten Dorn aus, packte sowohl diesen als auch Sigorals Jacke mit festem Griff und zog sich heran. Kriz musste Loriabeth helfen, da diese die Arme offenbar nicht mehr über die Wasseroberfläche heben konnte. Kriz legte ihr einen Arm um die Brust und zerrte sie auf die Flanke des riesigen Drachen zu. Als alle sich festhielten, rollte der Blaue erneut herum, befreite sie aus der tödlichen Kälte und hielt auf das Schiff zu.

Wie sie so durchs Wasser glitten, erspähte Clay etwas auf der Oberfläche – seinen Rucksack, der von dem bauchigen Gegenstand darin oben gehalten wurde. Langsam, sagte er, und der Drache verringerte gehorsam die Geschwindigkeit, sodass Clay den Rucksack greifen konnte. Keine Sorge, Kleines, beruhigte er das Ei in Gedanken. Ich hab dich viel zu weit mitgeschleppt, um dich jetzt zurückzulassen.

Neben dem Schiff angekommen, sah er zum Deck auf und blickte in eine Reihe blasser, erstaunter Gesichter. Die einzige Ausnahme bildete Onkel Braddon. Dessen Überraschung wurde von der Freude überlagert, seine Tochter wiederzusehen. »Wie ich sehe, hast du ein neues Haustier«, sagte Braddon und lächelte breit.

»Eher einen neuen Freund.«

»Das ist Jack Letzter Anblick«, stellte einer der Matrosen fest. Clay brauchte einen Moment, um den Mann mit dem ausgemergelten Gesicht und dem zottigen Bart als Scrimshine zu identifizieren. Der ehemalige Schmuggler hielt ein Gewehr in den knochigen Händen und starrte mit großen Augen auf den mächtigen Körper des Blauen herab. Dann wandte er sich Hilemore zu und forderte mit schriller Stimme: »Wir sollten ihn töten, Kapitän! Jetzt gleich auf der Stelle!«

Als die anderen Männer ihre Zustimmung kundtaten und Clay Hilemores zweifelnden Blick bemerkte, sagte er: »Dieser Name passt nicht mehr zu ihm. Das hier«, Clay neigte sich vor und tätschelte die schuppige Stelle zwischen den Augen des Blauen, »ist der alte Jack. Und er wird uns hier wegbringen.«

Kapitel 2

Lizanne

Gar nichts?«

Sofiya Griffan schüttelte den Kopf, und ihre roten Locken fielen ihr in die blasse Stirn. Seit die Gewinnträchtige Unternehmung aus Corvus abgesegelt war, hatte Sofiya zumeist still und bedrückt gewirkt. Ihr unerfahrener Geist war zweifelsohne von den schrecklichen Dingen erfüllt, die sie beim Fall der Hauptstadt gesehen hatte. Jetzt schien sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Ihr Mann umfasste ihre Hände, die zitternd in ihrem Schoß lagen.

»Nichts«, sagte sie und sah Lizanne anklagend an, als wäre sie für diese Wende verantwortlich. »Feros schweigt. Das … das gab es noch nie.«

»Haben Sie nicht noch eine andere Kontaktperson?«, hakte Direktor Thriftmor nach, der wie immer ein Glas Whiskey in der Hand hielt. »In Sanorah?«

Sofiya nickte nervös. »Einen Notfallkontakt im Hauptquartier der Nordflotte. Ich hatte vor weniger als einer Stunde eine Trance-Sitzung mit ihm. Er hatte seit gestern keinen Kontakt mehr mit Feros und den anderen Flotteneinheiten im Hafen. Mit Blut …« Ihre Stimme versagte, und sie schloss die Augen, um die Tränen aufzuhalten, dann presste sie hervor: »Mit Blutbrennern ausgerüstete Patrouillenboote wurden ausgeschickt, aber es wird noch mehrere Tage dauern, ehe sie Bericht erstatten.«

Stille breitete sich in der Offiziersmesse aus, während die Anwesenden diese Nachricht verdauten, und der Direktor nutzte die Gelegenheit, um sich nachzuschenken. Schließlich brach Kapitän Verricks das Schweigen. Lediglich das Zucken seines beeindruckenden grauen Schnurrbarts verriet sein Unbehagen. »Mein Befehl ist klar«, sagte er in einem barschen Tonfall, der viel über sein Talent verriet, selbst in Zeiten großer Unsicherheit eine unerschütterliche Autorität zu bewahren. »Die Gewinnträchtige Unternehmung wird Direktor Thriftmor und Miss Lethridge nach Abschluss ihrer Mission im Corvantinischen Kaiserreich nach Feros bringen. Ich beabsichtige, diesen Befehl zu befolgen. Ganz egal, was diese Trance erbracht hat.«

»Feros ist gefallen«, erklärte Lizanne ihm, und die Bestimmtheit in ihrer Stimme konnte es mit seiner mehr als aufnehmen. Ihre Vorstellungskraft hatte ihren Geist mit schrecklichen Bildern geflutet, die zeigten, was wahrscheinlich aus denen geworden war, die sie zurückgelassen hatte, um ihren Abenteuern im Corvantinischen Reich nachzugehen. Tante Pendilla, Jermayah, Vater … Tekela. In ihrer Brust regten sich Schuldgefühle und Selbstvorwürfe. Ich hätte sie mit dem ersten Schiff nach Mandinorien schicken sollen. Aber sie hatte nicht geahnt, dass der Weiße so schnell so weit im Norden zuschlagen würde, und Feros war einer der am besten verteidigten Häfen der Welt gewesen.

»Meine Befehle …«, setzte Kapitän Verricks an, aber sie schnitt ihm das Wort ab.

»Ihre Befehle stammen von einem Vorstand, der inzwischen vermutlich tot oder versklavt ist.« Angesichts ihres harschen Tons schluchzte Sofiya erschrocken auf, doch Lizanne ignorierte sie und trat auf den Kapitän zu, um ihren Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Hoffentlich Ersteres, denn die Vorstellung, dass unser Gegner ihre Geheimnisse erfährt, gefällt mir nicht – sollten sie ihm lebendig in die Hände gefallen sein, hat er das inzwischen aber bestimmt.«

Blinzelnd sah Verricks zwischen ihr und Thriftmor hin und her. »Wenn dem so ist«, sagte er, und Lizanne bemerkte, wie er unter dem Bart angewidert den Mund verzog, »ist also Direktor Thriftmor die einzige verbleibende Autorität?«

Thriftmors Whiskeyglas machte auf halbem Weg zu seinem Mund Halt, als alle sich erwartungsvoll zu ihm umwandten. Neben Lizanne, Verricks und den Griffans waren noch die ranghöheren Offiziere des Schiffes anwesend. Es war offensichtlich, dass Thriftmor die Aufmerksamkeit eines so großen Publikums nicht behagte.

»Ich … äh«, stammelte er, ließ das Glas sinken und nickte Verricks zu. »Ich denke, dass es in Krisenzeiten das Beste ist, dem Militär die Entscheidungen zu überlassen.« Er hustete, dann lächelte er den Kapitän gezwungen an. »Wie lautet Ihr Rat?«

Verricks verzog kurz höhnisch das Gesicht, ehe er sich von Thriftmor abwandte und seine Offiziere anblickte: »Höchstwahrscheinlich ist die Unternehmung näher an Feros als jedes Patrouillenboot des Protektorats. Unsere oberste Pflicht ist es, dem Syndikat zu dienen. Wir werden in Schlachtformation zu den Tyrell-Inseln fahren und sie umfassend auskundschaften. Sobald wir herausgefunden haben, was in Feros los ist, wird Mrs. Griffan unsere Erkenntnisse dem Hauptquartier der Nordflotte übermitteln und um weitere Befehle ansuchen.«

Hätte Lizanne noch an ihren Richtlinien als Agentin der Abteilung Außerordentliche Maßnahmen festgehalten, hätte sie protestiert, womöglich sogar auf ihren Status gepocht und den Kapitän gezwungen, auf der Stelle nordwärts zu segeln. Wochenlang hatte sie den Gestank und die Gefahren von Scorazin, der kaiserlichen Gefängnisstadt, ertragen, um den Bastler mit seinem wertvollen Wissen zu befreien. Dann hatten die Revolution und der Fall von Corvus alles ins Chaos gestürzt, und Lizanne hatte sich ständig gefragt, wann die Kurfürstin wohl ihre Rechnung begleichen würde. Und das alles nur, um den Bastler an Bord dieses Schiffes zu bringen. Jetzt nach Feros zu fahren, bedeutete, alle Vorteile aufs Spiel zu setzen, die seine Geheimnisse ihnen möglicherweise bringen würden. Aber sie konnte die Schuldgefühle nicht abschütteln, sie musste einfach herausfinden, was aus denen geworden war, die sie zurückgelassen hatte. Also stand sie nur schweigend da, während Kapitän Verricks seinen Offizieren eine Reihe von Befehlen erteilte.

»In der Zwischenzeit«, sagte der Kapitän zu Lizanne, als das Zimmer sich geleert hatte, »sollten Sie einen Bericht mit allen Informationen erstellen, die die Abteilung Außerordentliche Maßnahmen von Ihnen benötigt. Mrs. Griffan kann ihn dann durchgeben, bevor wir die Inseln erreichen.«

»Leider«, seufzte Lizanne und ging an Thriftmor, der sich eilig nachschenkte, vorbei zur Tür, »ist das nicht ganz so einfach.«

•••

»Du hast mir Sicherheit versprochen«, sagte Bastler mit gewohnt ausdrucksloser Stimme. Er ließ den Blick durch die karge Kabine schweifen, die man ihm zugewiesen hatte, und Lizanne fragte sich, ob er sich wohl nach seinen Büchern und Skizzen sehnte. »Das hier ist was anderes.«

»Ich habe versprochen, dich aus Scorazin rauszubringen«, entgegnete Lizanne. »Und das habe ich auch getan. Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt.« Sie streckte ihm eine mit Blau gefüllte Phiole hin. »Jetzt bist du an der Reihe.«

»Abmachungen lassen sich nachverhandeln«, sagte er und machte keinerlei Anstalten, das Fläschchen zu nehmen. »Besonders wenn der Wert des fraglichen Gegenstands gestiegen ist …«

Er verstummte, als Lizanne einen Revolver aus der Tasche ihres Rocks zog und auf seinen Kopf richtete. Sie spannte den Hahn, die Trommel knackte. »Mir ist nicht nach deinen Launen, junger Mann«, erklärte sie ihm langsam und unmissverständlich. »Habe ich dir je Grund gegeben, an meinen Worten zu zweifeln?«

Sein Gesicht blieb weiterhin regungslos, und er schüttelte nur leicht den Kopf.

»Gut. Dann vertrau mir, wenn ich dir sage, dass du mir jetzt entweder deine Geheimnisse anvertraust oder dein Gehirn schon bald diese Kajüte ziert.« Sie streckte ihm die Phiole erneut hin. »Wie gesagt, mir ist nicht nach deinen Launen.«

Mit seinen schlanken, flinken Fingern entzog er Lizanne das Fläschchen. »Eine Trance wird nicht reichen«, sagte er, zog den Stöpsel und trank die Hälfte der Flüssigkeit. »Die Informationen sind umfangreich und zu komplex.«

Lizanne verleibte sich den Rest ein. »Dann ist es umso wichtiger, dass wir anfangen.« Sie senkte die Waffe und sah Bastler in die Augen. Mehrere Sekunden geschah nichts, die erwartete Trance wollte sich nicht einstellen. Möglicherweise war Bastler aufgrund seiner einzigartigen Persönlichkeit zu einer solchen Verbindung nicht imstande, immerhin erforderte sie ein emotionales Band, so schwach dieses auch sein mochte. Allerdings hatte er zumindest mit einer Person in Scorazin Freundschaft geschlossen, auch wenn sogar die leider nicht mehr unter den Lebenden weilende Melina einmal den Drang verspürt hatte, ihm eine Ohrfeige zu verpassen.

»Vielleicht mit einer stärkeren Dosis.« Sie wollte schon in ihren Beutel greifen, da blinzelte Bastler und die Kabine löste sich auf.

Die Vision, die Lizanne empfing, war erstaunlich detailreich und von einer Klarheit und Genauigkeit, wie sie es noch nie bei einer Blau-Trance erlebt hatte. Selbst die lebhafteste Erinnerung wurde sonst von dem Geist, dem sie gehörte, verändert, unwichtige Einzelheiten waren entweder unscharf oder wurden komplett ausgelassen. Für Bastler dagegen schien nichts unwichtig zu sein. Jeder Pflasterstein unter ihren Füßen leuchtete im schwachen Sonnenlicht, das durch die langsam am Himmel dahinziehenden grauen Wolken fiel. Jeder Ziegel, jeder Balken und jede Glasscheibe der umliegenden Häuser waren deutlich zu erkennen, dasselbe galt für den Geruch nach Pferdeäpfeln, der sich mit dem Duft von Holzfeuer und einer Spur Salz mischte.

Ein Hafen, dachte Lizanne, und sie musste sich zusammenreißen, um sich das Erstaunen nicht anmerken zu lassen, als sie ihre neue Umgebung studierte. Sie erspähte einen großen Turm, der sich im Süden über die Dächer erhob. Seine Spitze ähnelte dem Orakeltempel im Park von Morstal, wo sie sich mit Tekela und Major Arberus versteckt hatte. Der Gedanke an Tekela erstickte sofort jede Verblüffung. Wir haben eine Aufgabe, sagte sie sich und wandte sich zu Bastler um, der mit gewohnt ausdrucksloser Miene ein paar Meter entfernt stand.

Wo sind wir?, fragte sie ihn.

In Valazin. Hier wurde ich gezeugt.

Sie war zwar noch nie in Valazin gewesen, wusste jedoch, dass es die größte Hafenstadt an der Nordostküste des Corvantinischen Kaiserreiches war. Als einst unabhängiger Stadtstaat war es vor etwa sechshundert Jahren in das Reich eingegliedert worden. Im Rahmen ihrer unzähligen Lektionen in corvantinischer Geschichte hatte sie gelernt, dass sich dort einige der schrecklichsten Szenen der Revolutionskriege abgespielt hatten. Unklugerweise hatten die Einwohner das Chaos genutzt, um archaische Vorstellungen von der Wiedergewinnung ihrer Unabhängigkeit in die Tat umzusetzen. Eine Reihe kurzer Schlachten und ausgedehnter Massaker durch die drei mittlerweile ausgelöschten Legionen der Haushaltsdivision hatte derlei Illusionen jedoch ein Ende gemacht. Insofern, als es sich bei vielen der Häuser um Neubauten handelte und an den Wänden zahlreiche kaiserliche Propagandaplakate hingen, sah sie wohl Valazin wenige Jahre nach der Unterjochung vor sich.

Bastler überquerte die Straße und blieb vor einem Schaufenster stehen, auf dem die Worte »Eskovins Spielwaren und Schmuckgegenstände – Valazins bester Spielzeughersteller seit 1209« standen. Lizanne trat neben ihn und lugte durch die Scheibe nach drinnen, wo eine winzige Gestalt hinter einer Werkbank stand. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie, dass es sich um eine Frau um die zwanzig handelte, die damit beschäftigt war, eine kleine Holzschachtel in braunes Papier einzuschlagen. Lizanne bemerkte den runden Bauch der Frau. Deine Mutter.

Ja. Das war unser Familienbetrieb. Großvater hat Mutter gezeigt, wie man Spielzeug baut, und nach seinem Tod hat Vater den Laden übernommen.

Wenn sie erwartet hatte, beim Anblick seiner Mutter einen Hauch von Zuneigung auf seinem Gesicht zu entdecken, wurde sie enttäuscht. Es war ausdruckslos wie immer, während er der Frau dabei zusah, wie sie die Schachtel einwickelte und anschließend mit einem Stück Garn verschnürte. Als sie fertig war, klemmte sie sich das Päckchen unter den Arm und verließ den Laden, wobei die Glocke über der Tür klingelte. Die Ähnlichkeit mit Bastler war verblüffend, ihr blasses Antlitz war das weibliche Gegenstück zu dem Mann neben Lizanne, und genauso leer. Die Reglosigkeit in ihrem Blick sprach von einer Unfähigkeit, die Welt zur Gänze wahrzunehmen, als stünde sie unter Drogen. Als die Tür zuschwang, bemerkte Lizanne einen Mann, der mit dem Gesicht nach unten neben der Werkbank auf dem Fliesenboden lag, inmitten einer großen Lache frischen Blutes. Vater hat versucht, sie aufzuhalten, erklärte Bastler. Da hat sie ihm einen Schraubenzieher in die Brust gerammt.

Lizanne und Bastler folgten der Frau in südlicher Richtung durch die verwinkelten Straßen und Gassen. Sie bewegte sich mit automatischer Präzision, bog ohne innezuhalten hier und dort ab, als würde sie einem voreingestellten Kurs folgen. Schließlich trat sie aus einer schmalen Gasse auf den breiten Hafenkai. Mit instinktiver Leichtigkeit wich sie den zahlreichen Wagen und Karren aus und hielt auf ein großes dreistöckiges Gebäude zu, das Lizanne als das Zollhaus erkannte. Bastlers Mutter näherte sich dem uniformierten Wachmann neben der Tür und überreichte ihm die Schachtel. Dabei sagte sie leise und deutlich: »Ich soll Ihnen das hier geben.«

Der Wachmann nahm das Paket mit einem breiten, überraschten Lächeln entgegen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht verwandelte sich jedoch gleich darauf in Erschrecken, als die Frau kehrtmachte und raschen Schrittes davonging. Der Mann hatte gerade noch Zeit, ihr nachzurufen, sie solle stehen bleiben, dann explodierte das Päckchen. Lizanne war beeindruckt, mit welcher Mühelosigkeit es der Frau gelungen war, ein so mächtiges Gerät in ein so kleines Behältnis zu stecken. Als der Rauch sich verzog, war nicht mehr viel von der Wache übrig, nur ein paar rote Spritzer an der Tür des Zollhauses. Bastlers Mutter stand ein Stück abseits des Gemetzels, die Hände vor den runden Bauch gelegt. Ein merkwürdig zufriedenes Lächeln lag auf ihren Lippen. Als sich wenige Augenblicke später ein Trupp Wachtmeister auf sie stürzte, sagte sie mit der Überzeugung eines Kindes, das ein schlecht auswendig gelerntes Gedicht rezitiert: »Für ein freies Valazin, nieder mit dem Kaiserreich.«

Warum?, fragte Lizanne, als die Erinnerung in grauem Nebel verschwand. Sie machte wirklich keinen radikalen Eindruck.

Es wurde ihr aufgetragen, antwortete Bastler, als der Nebel einer vertrauteren Umgebung Platz machte.

Scorazin, dachte Lizanne grimmig. Diese Vision war genauso deutlich wie die erste und noch verstörender, weil sie eine unwillkommene Reminiszenz an Lizannes Zeit hinter diesen Mauern darstellte. Sie blickten durch ein teilweise zerbrochenes Fenster auf die Gefängnisstadt. Durch den vertrauten Rauch waren mehr Dächer zu erkennen als in Lizannes Erinnerung. Bastler hatte auch das unverwechselbare Aroma von Schwefel, Kohle und Tod, das Lizanne am liebsten nie wieder gerochen hätte, perfekt eingefangen.

Als sie hinter sich einen leisen Klageschrei hörte, drehte sie sich um und sah einen Mann, der ein Kind im Arm hielt. Daneben lag unter einer schmutzigen Decke eine bleiche Frau. Lizanne trat näher und ihr Verdacht bestätigte sich, dass es sich um Bastlers Mutter handelte, deren Gesicht im Tod noch ausdrucksloser wirkte.

Sie haben sie hierhergeschickt, sagte Bastler und trat neben den Mann mit dem Kind, wie er es vorausgesehen hatte. Bei Verrat wird nicht einmal eine Schwangere der Gnade für würdig befunden.

Lizanne betrachtete den Mann genauer. Er war ein stämmiger, glatzköpfiger Kerl in seinen Dreißigern, aus seinem gelblichen Gesicht sprach die Härte derer, die bereits Jahre hinter diesen Mauern verbracht hatten. Er starrte das Kind mit kalter Feindseligkeit an, und sein Blick verriet nicht die geringste Regung, als das Kleine die winzige Hand nach seiner unrasierten Wange ausstreckte. Wer ist das?, fragte Lizanne.

Du bist ihm schon mal begegnet. Aber da war er tot.

Lizanne fiel die Kammer unter Bastlers Quartier in der Zinnobermine ein, die vierzehn Leichen, unter denen sich auch der vor langer Zeit verstorbene Tüftler befunden hatte.

Er hat dich hierhergebracht. Sie tat sich ungewohnt schwer damit, die volle Bedeutung dieser Feststellung zu erfassen. Wie?

Die Trance, antwortete Bastler. Er trat einen Schritt zurück, als der Mann aufstand und mit dem Kind zum Fenster ging.

Lizanne runzelte verwirrt die Stirn, all das entzog sich ihrer Erfahrung. Wie konnte jemand eine Nicht-Blutgesegnete über die Trance zu solch extremen Taten verleiten? Sie musste daran denken, was Silbernadel Clay im Versteck des Weißen enthüllt hatte, dass die Trance mehr war als geteilte Erinnerungen. Das Blau ist ein bemerkenswertes Produkt. Bisher habt ihr nur einen winzigen Teil seiner Kräfte erkannt. Irgendwie hatte die Klingenmeisterin die anderen Langgewehre dazu gebracht, die Suche nach dem Weißen fortzusetzen, als eigentlich schon feststand, dass es am sinnvollsten wäre, nach Kerberhafen zurückzukehren. Darüber hinaus war es ihr gelungen, Clay an sich zu binden und ihn zu zwingen, dem schlafenden Weißen gegenüberzutreten. Aber sowohl sie als auch Clay waren blutgesegnet, was auf Bastlers Mutter wohl kaum zutraf.

Er hatte den Segen. Lizanne zeigte mit dem Kinn auf den Mann, der jetzt mit dem Kind im Arm auf die Gefängnisstadt blickte. So wie du. Aber deine Mutter hatte ihn nicht. Der Segen ist nicht vererbbar.

Was ist der Geist, wenn nicht ein Mittel, um den Körper zu kontrollieren?, sagte Bastler. Den Geist zu teilen bedeutet, die Kontrolle zu teilen oder sich einem stärkeren Willen zu unterwerfen. Er hatte lange nach mir gesucht, oder nach jemandem wie mir. Hatte alles darangesetzt, ein blutgesegnetes Kind zu finden, das sich noch im Leib seiner Mutter befand. Der Geist eines Ungeborenen ist leer und leicht einzunehmen, und dadurch auch die Mutter. Später teilte er die Erinnerung an die Tat mit mir, wie er sie hierhergebracht hatte, das Verbrechen, zu dem er sie gezwungen hatte. Er hoffte wohl, es würde mich bestürzen. Stattdessen hat es mich fasziniert.

Jetzt machte der Mann am Fenster den Mund auf, seine Stimme war leise und krächzend, die Heiserkeit einer Seele, die Schuld auf sich geladen hatte. »Du armer kleiner Scheißer«, sagte er zu dem zappelnden Kind in seinen Armen. »Wenn ich ein anderer Mensch wäre, würde ich dich auf der Stelle erdrosseln.«

Die Erinnerung wechselte ein weiteres Mal und führte sie an einen neuen, noch dunkleren Ort. Sein Zuhause in der Mine, dachte Lizanne, als sie die schroffen Felsen sah. Inzwischen war Bastler mindestens zehn Jahre alt, aber seine zarte Statur ließ ihn jünger erscheinen. Er saß neben einem Bett und hielt einem mehr oder weniger bewusstlosen Mädchen ein Wasserglas an die Lippen. Obwohl sie erst an die fünfzehn war, war sie bereits so groß, dass ihre schmutzigen Füße über den Bettrand ragten.

»Sie kann nicht hierbleiben«, sagte eine rauhe Stimme, und als Lizanne sich umdrehte, sah sie den Mann von vorher schwankend im Türrahmen stehen. Sein Gesicht war noch bleicher und fahler geworden, und seine Augen glichen zwei dunkelroten Löchern. In seiner Hand baumelte eine halbleere Flasche, und aus seinem Atem schlug Lizanne der beißende Geruch der Flüssigkeit entgegen, die sich darin befand. »Wir können sie nicht hierbehalten«, lallte der Mann und wedelte mit der Flasche. »Du hättest sie nicht herbringen sollen.«

Der junge Bastler würdigte ihn kaum eines Blickes, sondern hielt dem Mädchen weiter das Glas hin. Dabei sagte er mit der flachen Stimme, die ihn bis ins Erwachsenenalter begleiten sollte: »Ich bin davon ausgegangen, dass du am Morgen nicht mehr da bist. Deine Organe müssen doch langsam mal den Geist aufgeben.«

Der Mann reagierte mit einem Knurren, das in Lizannes Ohren etwas halbherzig klang, als hätte er schon vor langer Zeit alle Wut auf den Jungen, den er zu einem Leben an diesem Ort verdammt hatte, verbraucht. »Immer dasselbe«, brummte er. »Seit du reden kannst. Du hast keine Seele, Junge.« Er trank aus der Flasche, und seine gierigen, verzweifelten Schlucke verrieten einen Mann, der mit einem in die Länge gezogenen Selbstmordversuch beschäftigt war. »Wir schicken sie zu der Alten, die das Bergmanns Rast übernommen hat«, sagte er, als er ausgetrunken hatte. »Sobald es ihr besser geht.«

»Nein.« Bastler stellte das Glas ab. »Du wirst schon bald tot sein, und ich brauche jemanden, der mir assistiert.«