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Beschreibung

4. Internationaler Kongress für Echte Psychotherapie, Psycholyse und Alternative Psychiatrie vom 21.bis 23. Juni 2019, Schweiz

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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4. Internationaler Kongress

Für Echte Psychotherapie, Psycholyse und Alternative Psychiatrie

21.– 23. Juni 2019

Internationale Ärztegesellschaft für Echte Psychotherapie und Alternative Psychiatrie

in Zusammenarbeit mit dem World Wide Magic Movement

Avanti, Grossmatt 296, CH-4574 Lüsslingen

www.aerztegesellschaft-avanti.org

www.world-wide-magic-movement.org

Eine Veranstaltung der

Therapeutisch-tantrisch-spirituellen Universität

iin Nennigkofen-Lüsslingen, Schweiz

für Therapeuten, Patienten, Experten, Betroffene und alle Interessierten

www.kongress-echte-psychotherapie.org

Von der Angst, sich selbst zu sein.

Von Trennung, Schuld und Scham zwischen den Menschen und dem Leben,

das daraus kommt.

Von einer Psychotherapie, die sich der Aufgabe stellt,

Liebe und Einssein in die Welt zu bringen.

Das Inzesttabu und Beziehung

Keine Beziehungsangelegenheit kann durch Verbote, Gebote und Tabus geregelt werden; jeder diesbezügliche Versuch wird lediglich zur Beendigung des Bezogenseins führen. Es braucht – und dies unter anderem auch um die Frage des Inzesttabus – eine lebendige und wahrhaftige Auseinandersetzung von Du zu Du. Ohne dass die Menschheit sich dieser Tatsache stellt und die Dreiecksproblematik, die sie beinhaltet, löst, wird es unter den Menschen und insbesondere zwischen Männern und Frauen keinen Frieden geben.

Das Inzesttabu in der Therapie

Daraus folgt unmittelbar, dass auch im therapeutischen Prozess der therapeutische Auftrag erst geglückt sein kann, wenn es gelungen ist, die therapeutische Beziehung aus ihrem Muster und aus allen Mustern überhaupt herauszuführen in ein lebendiges, einmaliges, authentisches und erwachsenes Bezogensein von Du zu Du, das niemanden etwas angeht als die beiden selbstverantwortlichen Betroffenen und in das niemand einen Keil wird treiben können, sofern es wirklich und wahrhaftig in die Liebe – das Ziel jeder Therapie – hineinerlöst wurde.

Inhaltsverzeichnis

Vorträge

Das Inzesttabu – Eine Kurzbeschreibung des Phänomens und der wichtigsten Begriffe – von Rahel Nicolet

Tabuisierung: ein (unreifer) psychosozialer Regulationsmechanismus – von Jörg

Der ehrbare Inzest, die unbekannte Verletzung – von Manfred Dreier

Das Inzesttabu in der Echten Psychotherapie – von Sebastian Weidenbach

Gesetze, Standesregeln und die Gebote der Liebe – von Manfred Dreier und Marianne Principi

Epigenetik – von Helena Gemmel

Die Auseinandersetzung mit dem Inzesttabu verhindert Missbrauch – von Danièle Widmer Nicolet

Das Inzesttabu in der Psychiatrie – von Anne Lehnerer

Das Inzesttabu in der Evolution der Menschheit – Ursprung und Auswirkung des tiefsten Tabus – von Kasia Weidenbach

Gespräch zwischen Sabine Lichtenfels, Benjamin von Mendelssohn und Danièle Nicolet – Moderation: Kasia Weidenbach

Erfahrungsberichte

Heilung durch wahrhaftige Beziehung – von Ulrike Füss

Von der Angst, sich selbst zu sein und der Befreiung zur Liebe – von Andreas Braun

Sonstige Darbietungen

Einblick in die sakralen Bewegungen („Movements“) Gurdjieffs – von Romina Mossi

Workshop: Das Inzesttabu in sich und in Beziehungen erforschen – von Danièle Nicolet Widmer, Helena Gemmel, Kasia und Sebastian Weidenbach

Das Inzestbau in Bildern und Texten, gezeigt in einer Ausstellung – von Cristina Zotter mit Friedrich Aldrup und Kasia Weidenbach

Begrüssung1 – von Kasia Weidenbach

Seid ganz herzlich willkommen zum vierten Internationalen Kongress für Echte Psychotherapie, Psycholyse und alternative Psychiatrie, diesmal unter dem Titel «Das Inzesttabu in der Psychotherapie».

Ein anspruchsvolles und sehr herausforderndes Thema haben wir dieses Mal gewählt, das jedoch sehr wichtig ist, bildet doch das Inzesttabu die Basis unserer Konditionierung, unserer Unfreiheit und damit der ganzen menschlichen Misere in dieser Welt. Wir sind also diesmal nach einer Reihe anderer, wichtiger Tabuthemen beim Kernthema angekommen, dem tiefsten Tabu der Menschheit. Viel Ärger haben wir bekommen deswegen, weil wir es wagen, uns damit zu beschäftigen. Wenn man ein Tabu berührt, wird man selbst zum Tabu! Das haben wir zu spüren bekommen und zum Titel eines Buches gemacht, das unsere Auseinandersetzungen diesbezüglich mit den Ärztegesellschaften und der Presse dokumentiert. «Wir sind Tabu – vom Umgang damit, nicht verstanden zu werden»2 heisst es und ist gerade zum Kongress erschienen.

Wir haben wieder ein vielfältiges Programm für dieses Wochenende zusammengestellt: Vorträge, die das Inzesttabu und den Zusammenhang mit Echter Psychotherapie von verschiedenen Seiten beleuchten; ein neuer Film ist entstanden, der heute Abend zum ersten Mal öffentlich gezeigt wird; wir haben heute Nachmittag eine Live-Supervision, in der Fallbeispiele aus der Therapiestube ganz konkret besprochen werden; es wird auch einen Selbsterfahrungsworkshop geben, wobei wir über das ganze Wochenende hinweg Anregungen zur persönlichen Selbsterkenntnis einfliessen lassen werden, denn das Inzesttabu versteht man nicht in der Theorie, sondern in sich selbst und in Beziehung mit anderen. Wir wollen auch zeigen, dass die Menschheit sich schon immer mit diesem Thema befasst hat. Die Schöpfungsmythen vieler Völker erzählen von Inzest und es gibt zahlreiche Literatur über das Inzesttabu oder dessen Auswirkungen. Eine Geschichtenerzählerin wird uns einige, ausgewählte Geschichten erzählen, die für sich stehen, einfach um die Stimmung davon spürbar zu machen. Wir wollten auch gerne wieder einen Gast einladen zum Kongress, doch es hat sich niemand gefunden, der oder die diesen Platz einnehmen will. Wir konnten jedoch im Vorfeld ein sehr spannendes Gespräch von Danièle Widmer Nicolet mit Sabine Lichtenfels, der Mitbegründerin der Gemeinschaft Tamera in Portugal, organisieren, das aufgezeichnet wurde und am Sonntag gezeigt wird. Besondere musikalische Genüsse warten auch wieder auf uns; zum einen wie immer aus dem Kreis der Kirschblütengemeinschaft, zum anderen haben wir eine besondere Sängerin, Malia, gewinnen können, am Samstagabend ein Konzert zu geben.

Missverständnisse sind nicht zu vermeiden, wenn man sich mit Tabuthemen befasst. Um dem trotzdem vorzubeugen, möchte ich eines klarstellen: Unter dem Inzesttabu verstehen wir eine Blockade der Wahrnehmung zwischen Menschen, die es aufzulösen gilt, wenn man frei und wirklich in Beziehung sein will. Dies hat nichts mit Inzest oder Missbrauch zu tun. Im Gegenteil sehen wir Missbrauch als Symptom und Folge der Tabuisierung in Beziehung und Sexualität. Es ist wohl diesmal stimmig, die Beiträge vor allem aus unserem Kreis zu gestalten, denn wenige beschäftigen sich wirklich bewusst und tiefgreifend mit dem Inzesttabu, an dem wir seit Jahren im Leben und in der therapeutischen Arbeit forschen und mit dem wir ringen.

Das Inzesttabu ist schwer zu fassen, schwer zu verstehen. Ihr werdet vielleicht zwischendurch verwirrt, irritiert oder konfrontiert sein. Ich möchte euch dazu einladen, mit all dem, was in euch ausgelöst wird, ganz aufmerksam und liebevoll zu sein, euch dabei zu spüren und zu beobachten. Doch das Inzesttabu berührt nicht nur jeden persönlich. Es hat Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft, die ganze Welt, Fragen wie:

Warum sind die Menschen so unglücklich in ihren Beziehungen?

Warum gibt es so viel Streit, Krieg und Umweltzerstörung?

Warum sind manche Menschen reich, während andere verhungern?

Und – warum sind Familienfeste meistens so furchtbar anstrengend?

Auch solche Fragen haben einen Zusammenhang mit dem Inzesttabu.

Was mich wieder sehr berührt, sind die vielen Menschen, die seit Wochen und Monaten und besonders in diesen Tagen hart und zum Teil Tag und Nacht ohne Lohn dafür arbeiten, das dieser Kongress zustande kommt und zu einem schönen Erlebnis für uns alle wird. Wie jeder und jede seinen Platz einnimmt und sein Bestes gibt. Und zu sehen, wie Menschen aus der ganzen Welt kommen, um hier dabei zu sein. Es ist faszinierend zu beobachten, wie aus dem Schaffen vieler Einzelner ein grosses, gemeinsames Werk entsteht. Und ich frage mich, was uns alle dazu bewegt. Welche Absicht, welche Verbindung, welches Schicksal bringt uns zusammen?

Ich hoffe, wir können eine Stimmung zusammen schaffen, die inspirierend ist, die uns das Sein mit solchen Fragen, tiefe Einsichten und ein freudiges und kraftvolles Zusammensein ermöglicht.

1 Die Schreibweise in diesem Buch folgt der schweizerischen Schreibweise ohne ß, Originalzitate wurden indes wie ursprünglich belassen.

2 „Wir sind tabu – Vom Umgang damit, nicht verstanden zu werden“, BoD, 2019

Vorträge

Das Inzesttabu – Eine Kurzbeschreibung des Phänomens und der wichtigsten Begriffe – von Rahel Nicolet

Tanz in mir

Was lässt dieses ewige Herumtanzen der Energie

in mir entstehen?

Ich bin hier,

ganz angekommen im Moment,

zufrieden,

da.

Dann sehe ich dich,

du siehst mich

und es beginnt:

Mein Kern springt an,

streckt sich aus zu dir

und haftet an.

Eigentlich würde ich gern zu dir kommen,

mit dir nahe sein,

Austausch über das im Innern,

fallen in deinen Blick

und unser Leuchten erneuern.

Aber wir finden uns nicht im Reden,

im Blick auch nur streifend.

Das Leuchten im Innern blitzt auf

und beginnt zu tanzen,

weil es nicht direkt in dich strahlen darf.

Der Tanz geht so:

Mein Blick streift dich,

wenn du gerade im Tun verhaftet bist.

Dein Tun ist begleitet

von meiner inneren Aufmerksamkeit.

Im Aussen Coolness, Distanz.

Man kennt sich nicht.

Im Innen das Schauen,

ob du mich doch auch in dir trägst,

ein Brennen auch,

ein Fühlen der Barrieren,

ein Überprüfen,

ob du die Schlichtheit der inneren Wärme

auch fühlst zwischen uns.

Was ist es,

das diesem ewigen Herumtanzen der Energie

zwischen uns zugrunde liegt?

Inzesttabu nennen wir es.

Das Tabu, echt zu sein mit mir, mit dir,

egal, wie du im Leben stehst.

Egal, wie ich es tu’.

Das Tabu,

immer, immer wieder neu zu sein,

neu zu fühlen,

wie es ist in mir zu dir

Und dass die Energie nicht tanzen muss,

sondern landen darf bei dir.

Ich begrüsse Sie ganz herzlich zu meinem Vortrag. Der Titel verrät es: Mein Auftrag ist, Ihnen in Kürze die wichtigsten Begriffe rund um das Inzesttabu in Erinnerung zu rufen in der Hoffnung, dass eine Klärung der relevanten Begriffe gleich zu Beginn unseres Kongresses dazu beiträgt, die häufigen Missverständnisse im Zusammenhang mit dem Inzesttabu in den kommenden Tagen auszuräumen und ein intelligentes, gemeinsames Forschen zu diesem Thema zu ermöglichen. Wichtig ist zu sagen, dass die Begriffe rund um die Inzestproblematik psychologische Fachbegriffe sind. Bei ihrem Verständnis und Gebrauch ist auf jeden Fall eine gewisse Intelligenz und Bereitschaft zu verstehen, notwendig.

Das Inzesttabu bezeichnet den Umstand, dass wir es uns nicht zutrauen, mit der Beziehungswirklichkeit zwischen uns und einem anderen umgehen zu können. Anstatt in jeder Begegnung mit einem Menschen jedes Mal wieder ganz neu und unvoreingenommen zu schauen, wie wir es miteinander haben und was wir miteinander wollen, belegen wir die Beziehung mit einem Tabu. Wir haben Angst davor, nicht adäquat mit einer Begegnungssituation umgehen zu können, und vor allem mit der sexuellen Anziehung zwischen uns, die darin spürbar ist. Deshalb begegnen wir einander nicht unmittelbar, sondern aus unseren über die gesellschaftliche Norm definierten Rollen heraus. Wir stehen uns nicht einfach als zwei Menschen gegenüber, sondern als Frau von und Mann von, als Lehrerin und Schüler, als Mutter und Sohn, Vater und Tochter, Therapeut und Klient usw. Diese Rollen regeln, inwiefern zwischen uns Nähe und sexuelle Anziehung erlaubt oder vor allem nicht erlaubt sind. Anstatt auf unsere Wahrnehmung verlassen wir uns auf Konventionen, Gesetze und Tabus, die unsere Beziehung regeln.

Beim Inzesttabu geht es vor allem auch um das Tabu, überhaupt wahrzunehmen, in mich und in meine Beziehung zu dir hinein zu fühlen. Schon das Wahrnehmen ist verboten und unterdrückt in uns, das Reden, der offene Austausch und Abgleich mit dir darüber, wie ich die Beziehungswirklichkeit zwischen uns fühle, sowieso. Und dies nicht nur in inzestuösen Beziehungen im Sinne familiärer Verwandtschaft, sondern in allen Beziehungen zwischen Menschen. In Abhängigkeitsbeziehungen wie denen zwischen Lehrer und Schüler oder Therapeut und Klient, aber auch in den Beziehungen zwischen gleichwertigen Erwachsenen, zum Beispiel zwischen meinem Mann und deiner Frau. Das Inzesttabu bezeichnet also nicht in erster Linie die Unfreiheit, in Handlung zu gehen, da, wo es für beide Beteiligten als reife, erwachsene Menschen stimmig ist – das auch –, sondern es beginnt viel früher, schon beim Wahrnehmendürfen und sich Ausdrücken über sein Innerstes.

Dieses Tabu, Wirklichkeit in Beziehung wahrzunehmen, ist fest verankert in uns. Wir sind als Kultur und als Menschheit kollektiv darauf konditioniert und individuell, in jedem persönlich ist es seit unseren frühesten Kindheitserlebnissen tief verankert seit unserer ersten Erfahrung mit der Thematik im Mutter-Vater-Kind-Urdreieck in der Kernfamilie, in die wir als Kind als Dritter dazustossen. Dort lernen wir normalerweise, dass wir nicht zu dritt unabhängig und frei in Beziehung sein können. Stattdessen bilden wir Fraktionen, solidarisieren uns mit dem einen oder anderen und lernen nicht, unsere Aufmerksamkeit frei fliessen zu lassen. Später kennen wir dann gar keine andere Möglichkeit mehr. Unsere Wahrnehmung ist nicht frei, unser Blick auf alle Situationen, in denen es um Bezogensein, Nähe und Anziehung gehen könnte, ist vom Inzesttabu geprägt. Die Folge sind Entfremdung und der Verlust von Nähe zu uns selbst und zu anderen. Wir finden uns in engen, langweiligen Leben wieder. Oder die lebendige Urkraft in uns, die wir nicht ihren natürlichen Impulsen folgen lassen, aber doch nie ganz abtöten können, bricht in unschöner Weise als Perversion, Süchte, Gewalt, Krieg, Missbrauch usw. aus uns hervor. In beiden Fällen geben wir das Inzesttabu von Generation zu Generation immer weiter.

Das sind die zwei Seiten der Inzestproblematik: Entweder finden Grenzüberschreitungen, unstimmige, missbräuchliche Handlungen satt, weil die Lebendigkeit in uns durch das Tabu nicht ganz unterdrückt werden kann und sich dann auf ungesunde, unstimmige Weise einen Ausdruck verschafft. Hier kennen wir den vollzogenen familiären Inzest, also die sexuelle Vereinigung zwischen nahen Blutsverwandten wie Vater und Tochter, Mutter und Sohn, Geschwistern oder Grosseltern und Enkel usw. Dieser kann als gewaltsamer Übergriff stattfinden. Oder er kann auf eine liebevolle Art erschlichen werden. Beides ist aber nicht gut. Solange einer der beiden Beteiligten nicht mündig, reif und erwachsen ist, kann eine solche Vereinigung nicht in verantworteter Weise geschehen und kann im Unmündigen später traumatische Folgen haben und ihm das Gefühl geben, nicht gesehen und missbraucht worden zu sein.

Die andere Möglichkeit ist, dass sich das Inzesttabu in Form des sogenannten ehrbaren Inzests äussert. Hier findet kein Übergriff statt, kein Überschreiten einer Grenze. Vielmehr wird aus Angst davor, keinen adäquaten Umgang mit Beziehungssituationen zu finden, eine unnatürliche Distanzierung und Zurückweisung geübt. Beispielsweise erzählen viele Frauen, dass sie mit Beginn der Pubertät und dem körperlichen Zur-Frau-Werden vom Vater zunehmend distanziert behandelt wurden und kein körperlicher Kontakt mehr erlaubt war. Auf einmal durften sie nicht mehr auf dem Schoss des Vaters sitzen, wurden angehalten, das Badezimmer abzuschliessen, wenn sie sich duschten, oder durften nicht mehr seine Hand halten beim Spazieren. Die ehrbaren Väter haben es sich nicht zugetraut, mit dem Heranreifen der Tochter auf liebevolle, stimmige Art umzugehen und stattdessen die Konfrontation mit dem Zur-Frau-Werden ihres Kindes durch einen innerlichen Rückzug vermieden.

Beide Symptome des Inzesttabus – der vollzogene Inzest (also der missbräuchliche Übergriff) und der ehrbare Inzest (also die ängstliche Zurückweisung) – haben im Kind schlimme Auswirkungen. Seine Grenzen werden missachtet und die natürliche, unschuldige Beziehung zu ihm wird nicht als solche gewürdigt. Oder es fühlt sich nicht wahrgenommen als das Wesen, das es ist und lernt, dass es nicht aus sich heraus unschuldig sein darf, wer es ist.

Später setzt sich das erwachsen gewordene Kind vielleicht mit seinen Erfahrungen mit dem Inzesttabu auseinander, versucht zu ergründen, wo das Gefühl der Unlebendigkeit in seinem Leben seinen Ursprung findet. Vielleicht tut es das im Rahmen einer unterstützenden Psychotherapie. Leider geschieht dort manchmal statt eines Korrektivs eine Wiederholung der kindlichen Erfahrung. Entweder wiederholt sich die Missbrauchserfahrung in einem sogenannten therapeutischen Inzest, also einer sexuellen Begegnung zwischen Therapeut und Klient; das kann einvernehmlich sein oder nicht, kann aber auch hier nicht verantwortet sein, solange der Klient nicht seiner Klientenrolle entwachsen und gänzlich reif und erwachsen geworden ist. Oder – was wahrscheinlich häufiger geschieht, insbesondere in der angepassten Psychotherapie, wie wir sie nennen – es wiederholt sich die Erfahrung, die das Kind durch den ehrbaren Inzest gemacht hat. Der Therapeut ist nicht bereit oder nicht in der Lage, seinem Klienten in einer echten Beziehung wirklich zu begegnen. Im Therapeuten selbst wirkt das Inzesttabu und er kann deshalb den Klienten nicht ganz wahrnehmen als das Wesen, das er ist. Er kann nicht wirklich da sein mit ihm in der Therapiestube, nicht mit ihm lernen, die Beziehungswirklichkeit in sich selbst und in der Beziehung zu einem anderen zu erfühlen, zu formulieren und in eine authentische, echte Beziehung zu einem Gegenüber zu treten. In der angepassten Therapie wird eine wirkliche Beziehung zwischen Klient und Therapeut von Anfang an ausgeschlossen. Der Klient wird dadurch letztlich immer in der Rolle des Klienten, des Abhängigen gehalten. Die Beziehung darf sich nicht aus dieser Rollenverteilung herausentwickeln und in ein ebenbürtiges Nebeneinanderstehen münden. Die Therapie bleibt also letztlich beschränkt und es findet keine wirkliche Heilung statt.

In der alternativen, echten Psychotherapie, wie sie die Ärztegesellschaft Avanti, die diesen Kongress hier ausrichtet, beschreibt, ist das anders. Hier lässt der Therapeut wirkliche Beziehung zu. Sein therapeutisches Angebot ist vor allem ein Beziehungsangebot. Das heisst vor allem, dass er als sich selbst – und nicht in erster Linie in der Rolle des Therapeuten – in der Therapiestube sitzt. Er nimmt wahr, lässt die Beziehungswirklichkeit zwischen sich und seinem Klienten zu und es darf mit ihm über diese gesprochen werden. Das Wesentliche dabei ist also seine innere Haltung, seine innere Tabufreiheit, das innere Bezogensein, das mit ihm möglich ist. Das ist nicht zu verwechseln mit einer Handlung, die im konkreten, materiellen Leben tatsächlich stattfindet. Durch eine solche Psychotherapie, die an der Wirklichkeit ausgerichtet ist, kann der Klient eine korrektive Erfahrung machen und neu lernen, sich selbst und in Bezug auf andere zu fühlen.

Der Echte Psychotherapeut betreibt gewissenhaft Selbsterkenntnis, er kennt sich selbst, fühlt und befreit sich selbst und die Beziehungen, die er zu anderen hat, vom Tabu, wahrzunehmen. Der Therapeut verlässt sich nicht auf Regeln ein, die die Nähe zwischen ihm und dem Klienten regeln, sondern ist offen dafür, dass sich die Wirklichkeit zeigen darf zwischen den beiden. Eben deshalb muss er präzise Selbsterkenntnis betreiben, sich gut kennen und unterscheiden können, was Übertragungen des Klienten sind, seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse, und was die Wirklichkeit.

Im Optimalfall gelangt der Klient im Verlaufe eines solchen, wahrscheinlich jahrelangen Therapie- oder Selbsterkenntnisprozesses an den Punkt, an dem er sich bewusst geworden ist über sich selbst und die Tabus, die in ihm wirken. Er lernt, stimmige Grenzen zu erkennen und aus Einsicht einzuhalten, und nicht, weil sie uns von einer Autorität – sei es die Autorität der Tradition, des Tabus, des Gesetzes oder einer Person – vorgeschrieben werden. Und er lernt, wieder wahrzunehmen und dort, wo es keine Grenze und Zurückweisung braucht, keine aus Angst gemachten Grenzen zu ziehen.

Erst wenn sich zwei völlig mündige, erwachsene und über sich selbst bewusst gewordene Menschen begegnen, könnte ein bewusst gewählter, verantworteter Inzest stattfinden, der nichts Übergriffiges hätte. Es würde sich um eine Verbindung zwischen zwei Menschen handeln, die ursprünglich z. B. als Bruder und Schwester in dieses Leben gekommen sind. Und obwohl so etwas vermutlich die grosse Ausnahme ist und in der Regel nicht vorkommt, könnte es sein, dass die beiden als reife, mündige, verantwortungsvolle Menschen darauf stossen, dass die Wirklichkeit zwischen ihnen noch eine andere ist als die von Bruder und Schwester.

Vom Inzesttabu abzugrenzen ist das Inzestverbot. Zur Erinnerung: Das Inzesttabu meint unsere innere Schranke gegenüber der Wahrnehmung, insbesondere der Beziehungswirklichkeit zwischen uns und anderen, die auf einem moralischen Verhaltenskodex und unserer Konditionierung beruht. Das Inzesttabu ist also ein Verbot der Wahrnehmung. Unter dem Inzestverbot hingegen verstehen wir das gesetzlich verankerte Verbot der Handlung, das heisst von sexuellem Kontakt zwischen direkten Blutsverwandten. Das Inzestverbot ist in fast allen Gesetzgebungen der Welt verankert. In der Schweiz z. B. wird der Beischlaf zwischen Blutsverwandten in gerader Linie sowie zwischen voll- oder halbblütigen Geschwistern mit Freiheits- oder Geldstrafe gebüsst. 2010 schlug der Schweizer Bundesrat vor, den Tatbestand Inzest abzuschaffen. Die Mehrheit hatte aus moralischen Gründen jedoch gegen die Abschaffung des Inzestverbotes gestimmt, weshalb dieser Tatbestand letztes Jahr dann verworfen wurde.

Diese verschiedenen Aspekte der Inzestproblematik werden uns durch die nächsten Tage hindurch immer wieder begleiten und ich würde Sie gerne einladen, dabei nicht bei einer fachlichen Auseinandersetzung im Kopf zu bleiben, sondern die Gelegenheit zu nutzen und die Wahrnehmung zu schulen, wie es bei Ihnen ganz persönlich steht um dieses Tabu, jetzt zum Beispiel gerade: Wie fühlt es sich in Ihnen an, hier im Raum mit all diesen Menschen? Wie geht es Ihnen mit mir hier vorne? Und mit Ihrem direkten Nachbarn? Dürfen Sie die Wahrnehmung zu diesem frei fliessen lassen?

Zum Abschluss meines Kurzinputs zum Inzesttabu und den verschiedenen Begriffen, die in seinem Zusammenhang benutzt werden, noch ein paar Worte zur menschheitsgeschichtlichen Bewusstwerdung über die Inzestproblematik: In unserer Geschichte waren bereits verschiedene Menschen und Strömungen da – z. B. James Cook, Sigmund Freud, Wilhelm Reich oder Osho – die sich mit Tabus und speziell dem Tabu um die Wahrheit in Beziehung befasst haben. Der Begriff Inzesttabu selbst stammt aus dieser Geschichte. Das Forschen von Avanti verstehe ich als eine Fortführung davon. Eine differenziertere und tieferführendere wahrscheinlich, als sie bisher stattgefunden hat. Erst Samuel Widmer hat das Phänomen des ehrbaren Inzests neu beschrieben und wie es auch aktuell im Zusammenhang mit diesem Kongress spürbar ist: Das Inzesttabu ist noch immer tabu. Die Beschäftigung mit Tabus macht einen unweigerlich verdächtig. Das ist es ja, was ein Tabu ausdrückt: Man soll sich nicht damit beschäftigen – sonst wird man bestraft. Wir haben uns entschieden, es dennoch zu tun.

Tabuisierung: ein (unreifer) psychosozialer Regulationsmechanismus – von Jörg

Als Einstieg in das Thema möchte ich zwei Zitate voranstellen; das erste stammt von Joyce McDougall, einer bekannten französischen Psychoanalytikerin: „Nur eine Handvoll Künstler, Musiker, Schriftsteller und Wissenschaftler entgehen der eisigen Dusche der Normalisierung, die die Welt über sie ergiesst. Jedes Kind muss in der Tat diesen Weg einschlagen und seinen Platz in der Ordnung der Dinge einnehmen. Aber muss dies um den Preis des Verlusts jener magischen Zeiten geschehen, in denen alle Gedanken, Phantasien und Gefühle zumindest denkbar oder vorstellbar waren?“3

Damit sind wir bereits mitten im Thema «Tabuisierung», auch wenn ich mir nicht ganz sicher bin, ob sie wirklich zwingend ist, die «eisige Dusche der Normalisierung». Quasi als Konterpart möchte ich daher noch ein Zitat von Paul Parin, dem Zürcher Ethnopsychoanalytiker nennen: „Die Machthaber sagen: Wir schützen euch vor der Vogelseuche oder den Rauchern. Aber sie sagen nie: Wir schützen euch vor uns!“ Die Frage, die Parin hier aufwirft, berührt unser Thema: Tabuisierung hat einen engen Bezug zu den Herrschaftsverhältnissen, was ich für eine wesentliche Funktion in der Gesellschaft halte.

Ich möchte einen Überblick über Tabus und das Phänomen der Tabuisierung bieten: Was bedeutet Tabuisierung? Was ist Geschichte und Ursprung des Tabus? Was ist die Funktion des Tabus? Was bedeutet Tabuisierung für eine Gesellschaft? Wer sind die Protagonisten der Tabuisierung? Am Schluss möchte ich noch Beispiele über Tabuisierung im Alltag geben.

Zunächst beginne ich mit der Ausgangslage der 68er: Wilhelm Reich hatte in seinem Buch „Die sexuelle Revolution“ die These vertreten, dass der Mensch – ist er erst befreit vom Körperpanzer und hat er seine „orgastische Kapazität“ wiedererlangt – den Kapitalismus quasi wie von selbst abschüttelt, da er sich dann nicht mehr in seiner Freiheit beschränken lassen würde. Es ging ihm um die Enttabuisierung der genitalen Sexualität. Der Kapitalismus galt und gilt als Synonym für die Herrschaft des Menschen über den Menschen. Die bittere Erkenntnis der Intellektuellen der 68er (z. B. Marcuse, Adorno, Reiche, Sigusch, Fromm) war aber: sexuelle Libertinage führt nicht automatisch zu Liebe und Gemeinschaft. Der Kapitalismus war und ist viel anpassungsfähiger als erwartet: Revolutionäre Rockmusik, unangepasste Kleidung etc. führten zu einem ungeahnten neuen ökonomischen Schub mit neuen Absatzmärkten und neuen Moden. Das eine Tabu der sexuellen Kontrolle fällt und an seine Stelle treten andere, die genauso relevant sind, aber davon später.

Tabuisierung: Begriffsgeschichtliches

Freud hat sich als erster 1913 in seinem Buch „Totem und Tabu“ mit den psychologischen Aspekten des Tabus beschäftigt. Er schrieb: „Die Tabuverbote entbehren jeder Begründung, sie sind unbekannter Herkunft; für uns unverständlich erscheinen sie jenen selbstverständlich, die unter ihrer Herrschaft leben.“ Freud führte den Ursprung, sozusagen das Ur-Tabu, auf den Ödipuskomplex und den tabuisierten Vatermord in der (patriarchalischen) Urhorde in der Urzeit der Menschwerdung zurück. Diese These ist unter Anthropologen obsolet. Sie ging auf Darwins Spekulationen von einem patriarchal verstandenen, sich am «Gorilla-Modell» orientierenden Konzept der Urhorde zurück.