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Als Ignaz eines Morgens benommen und ohne Kurzzeitgedächtnis in einem Hotelbett neben einer leblosen Frau erwacht, ist das der Anfang einer Odyssee. Er wird verhaftet und beschuldigt, die Frau vergiftet zu haben. Vergeblich versucht er sich ein Bild von dem zu machen, was um ihn herum geschieht. Was ist in der Zeit geschehen, an die er sich nicht erinnert? Wer hat ihn betäubt und weshalb? Als er von einem ehemaligen Studienfreund aus dem Gefängnis geholt wird, fragt sich Ignaz, ob jener ihm helfen will oder ihn nur benutzt. Dass ihn seine Frau kürzlich verlassen hat, belastet Ignaz zusätzlich. Die ganze Welt scheint sich gegen ihn verschworen zu haben. Wem darf er noch trauen? Wer sind seine Widersacher und was wollen sie von ihm? Und welche Rolle spielt das geheimnisvolle Callgirl?
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Seitenzahl: 402
Veröffentlichungsjahr: 2020
Der Autor
Ivan Montibeller, Schweizerisch-Italienischer Doppelbürger, geboren 1951, emigrierte mit seinen Eltern 1959 von Norditalien in die Schweiz. 1974 schloss er sein Chemiestudium ab. Seine Neugier ließ ihn Erfahrungen mit Menschen unterschiedlicher Herkunft, Kultur und Bildung sammeln, Erfahrungen die er teilweise in seine Geschichten einfließen lässt. Er lebt mit seiner Ehefrau in Zürich. "Das Irrgang-Projekt" ist Ivan Montibellers zweiter Roman. Sein erstes Buch, „Die gläserne Echse“, erschien 2017 im Verlag tredition.
Danksagung
Mein aufrichtiger Dank gilt allen, die, auf ihre Weise und in unterschiedlichem Maße dazu beigetragen haben, dass dieses Buch entstehen konnte. Es sind nicht wenige und um zu verhindern, dass ich ungerechterweise jemanden zu erwähnen vergesse, verzichte ich darauf, Namen zu nennen.
Diese Geschichte ist fiktiv. Handlungen und Personen entspringen genauso der Fantasie des Autors, wie Institutionen und nicht namentlich genannte Orte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen, Unternehmen, früheren oder aktuellen Vorfällen sind zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.
Zwei werden nicht satt: Wer Wissen und wer Reichtum sucht.
(Arabisches Sprichwort)
© 2020 Ivan Montibeller
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-16730-8
Hardcover:
978-3-347-16731-5
e-Book:
978-3-347-16732-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ivan Montibeller
Das Irrgang-Projekt
Roman mit kriminellen Elementen
1
Es war nicht, was man sich gemeinhin als Erwachen vorstellt. Es war ein kriechendes und schmerzhaft quälendes Auftauchen aus einem dem Tode verwandten, tiefschwarzen Koma. In meinem Schädel wütete der Beelzebub. Es dauerte eine ganze Weile, bis etwas wie Denkvermögen einsetzte. Meine Augen ließen sich lange nicht öffnen. Mir war, als hätte man Sand darauf gestreut und mir die Lider zugeklebt. Als es mir schließlich gelang, fand ich mich in einem Bett. Neben mir machte ich eine nackte, weibliche Kontur aus. Ich wühlte in meiner Erinnerung. Ich hatte am Vorabend mit einer aufgetakelten Frau auf alle einsamen Herzen dieser Welt angestoßen. Danach Leere, Finsternis. Es konnte kein astreiner Moët & Chandon in jenem Glas gewesen sein. Das prickelnde Getränk war zweifelsfrei mit einem Schuss Radiergummi fürs Gehirn gepimpt worden. Über die darauffolgenden Stunden schweigt sich mein Gedächtnis bis heute aus. Es war Freitag, der Dreizehnte September. Ich nahm den Kampf gegen meine Orientierungslosigkeit auf. Versuche, mich zu erinnern, endeten in einer Intensivierung des Hämmerns in meinem Schädel. Also gab ich sie schnell auf.
Da lag ich also, neben einer Frau, die ich für mich Toskana nannte, da ich ihren wahren Namen nicht kannte und sie mich an jene italienische Region erinnerte. Sie war splitterfasernackt und hatte die Decke im Schlaf abgeworfen. Ein Schimmer des Tageslichts vermochte sich zwischen die zugezogenen Vorhänge zu mogeln. Auf meinem Nachttisch erkannte ich den Schemen meiner Brille. Ich griff danach und suchte nach dem Reinigungstuch, das ich abends stets neben die Brille legte. Dass es nicht an seinem Platz lag, erhöhte meine Unruhe. Ich rieb die Brillengläser mit dem Laken so sauber, ich konnte und setzte die Sehhilfe auf. Das spärliche Licht erlaubte mir, meine Bettgefährtin etwas genauer zu betrachten. Am Vorabend hatte ich mich im diesigen Lokal fast ausschließlich auf ihr Gesicht konzentriert. Jetzt eröffnete sich mir der Blick aufs Ganze, wenngleich spärlich beleuchtet. Ich hätte zu gerne gewusst, was letzte Nacht zwischen uns vorgefallen war. Ein erotisches Abenteuer konnte ich nicht kategorisch ausschließen. Es wäre aber eine Beute meiner Amnesie geworden.
Der Presslufthammer, der in meinem Kopf wummerte, pulsierte und meine Wahrnehmung behinderte, gab mir das Gefühl, gefesselt und geknebelt in Melasse versenkt worden zu sein. Myriaden klebriger Gedankenfetzen drängten gegen meine Stirn wie nasse Wespen gegen eine Glasscheibe. Ich brachte keinen kompletten Gedanken zustande. Der Versuch, die Konfusion in meinem Schädel zu entwirren, gipfelte in einen akuten Schmerz, der mir den letzten Rest Energie aus dem Leib saugte.
Hastig griff ich nach meiner Uhr auf dem Nachttisch, zu hastig, wie sich herausstellte. Ich bekam sie nicht richtig zu fassen, sondern stieß unglücklich dagegen. Der teure Chronometer, den mir Barbara zum Dreißigsten geschenkt hatte, flog knappe zwei Meter weit in einen hochhackigen, kirschroten Pump, der in einer kleinen Lache lag. Ich fürchtete, die Feuchtigkeit würde das feine Leder des Armbands und jenes des Pumps ruinieren. Es mag unfair sein, aber meine Sorge galt eher meiner Uhr als dem Schuh. Ich griff nach dem nächstgelegenen textilen Stück, meiner Unterhose, und rieb Uhr und Band sorgfältig damit ab. Erleichtert stellte ich fest, dass das Leder kaum benetzt worden war und das Werk unbeirrt weitertickte. Barbara hatte mir keinen Tand geschenkt, sondern eine stoßsichere, wasserdichte Automatik von Omega. Der Hersteller warb damit, diese Uhr erfolgreich im Weltraum getestet zu haben.
Mein erster Gedanke, der diesen Namen verdient, war, dass ich einen Termin hatte, den ich unter keinen Umständen verpassen durfte. Ich versuchte, mich zu erinnern, wer mir dringend davon abgeraten hatte, wichtige Termine auf einen Freitag, den Dreizehnten zu legen. Ich wusste bloß noch, dass ich über diese Warnung mitleidig gelächelt hatte. Nun kamen mir Zweifel, ob okkulte Regeln als reiner Aberglaube abgetan werden durften.
Auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, eine leere Champagnerflasche, Gläser und einiges mehr unordentlich verstreut. Das deutete auf ein wildes Treiben hin, das jedoch in meinem Bewusstsein nicht existierte. Trotz der leidlich gereinigten Brillengläser konnte ich die Zeiger auf dem Zifferblatt meiner Uhr nicht klar orten. Ich schob einen der Vorhänge beiseite, worauf sich gleißende Sonnenstrahlen in meine Pupillen fraßen. Mit einem unterdrückten Schmerzensschrei ließ ich meine Lider zuschnappen. Der Lichtblitz hatte mir die Stellung der Zeiger in die Netzhaut gebrannt. Es war zwei oder drei Minuten vor halb acht. Die Zeit wurde knapp, aber sie musste reichen, um den Termin wahrzunehmen. Mir fiel nichts ein, was meine desolate körperliche und geistige Verfassung hätte verbessern können. In diesem Zustand würde ich das Gespräch versauen. Ich suchte das Badezimmer erfolglos nach Alka-Seltzer oder einem valablen Ersatz ab. Im Koffer hatte ich außer Heftpflaster nichts aus der Apotheke dabei. Ein Röhrchen Aspirin lag in meiner Aktentasche, die ich jedoch nirgends finden konnte.
Auf der Ablage stand ein Wasserkocher und daneben lagen einige Briefchen mit löslichem Kaffee. Ich riss ein Tütchen auf und schüttete mir den bitteren Inhalt direkt in den Mund. Als das Wasser kochte, goss ich eine Tasse voll und löste den Inhalt zweier weiterer Portionen darin auf. Eine dreifache Dosis Koffein war nur ein dürftiger Ersatz für das Alka-Seltzer, aber in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen. Etwas Wirksameres konnte ich mir noch unterwegs besorgen. Das siedend heiße und bittere Getränk verbrannte mir den Rachen wie Teufels Glut. Um das Lodern zu lindern, goss ich ein Glas kaltes Wasser hinterher. Dann duschte ich so kalt, dass mein Herz für einen kurzen Moment aussetzte und rieb anschließend meine klamme Haut so lange und intensiv trocken, bis sie granatapfelfarbig leuchtete.
Zurück im Zimmer, wo die unbekannte Schönheit noch genauso dalag wie zuvor, schlüpfte ich in frische Unterwäsche. Meine Hose lag zerknüllt am Boden. Die Knitterfalten ließen sich ohne Bügeleisen nicht glätten, doch das war meine geringste Sorge. Die Leute würden sich auf das Gespräch konzentrieren und nicht auf meine Hose. Ich zog mein weißes Hemd an, das ich zuhause im Rahmen meiner bescheidenen Fähigkeiten gebügelt hatte und band mir die einzige Krawatte um, die ich je besessen hatte. Meines Wissens hatte sie mein Vater bereits zu meiner Taufe getragen. Meine Erfahrung im Umgang mit Schlipsen war gleich null. Ich fummelte so lange vor dem Spiegel an dem Stofffetzen herum, bis etwas entstand, das man mit viel gutem Willen als Knoten bezeichnen konnte. Erstaunlicherweise konnte ich an meinem Jackett keine Knitterfalten entdecken, obwohl es gleich neben der Hose auf dem Boden gelegen hatte. Mein Anzug hatte vor einem Jahrzehnt eine gute Figur gemacht. Inzwischen war sein Schnitt aus der Mode gekommen und meine Silhouette hatte sich weiterentwickelt, um es positiv auszudrücken. Der oberste Knopf am Hosenbund hatte keine Chance sein Knopfloch zu erreichen. Auch das war nicht weiter schlimm, denn ich hatte einen Gürtel, der diesen Makel verdecken konnte. Ansonsten war meine Kleidung dem Anlass angemessen. Sie war sauber und kaum getragen.
Seit ich aufgewacht war, hatte sich Toskana nicht einen Millimeter gerührt. Ich hätte ihr von Herzen gegönnt, auszuschlafen, aber ich stand unter Zeitdruck und war der Meinung, sie schulde mir auf die Schnelle ein paar Erklärungen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als sie zu wecken. Es war ihre heilige Pflicht, meine Gedächtnislücke mit Einzelheiten zu füllen, nachdem sie sie verursacht hatte. Ich brauchte Antworten und zwar noch bevor ich mich auf den Weg machte. Also zog ich die Nachtvorhänge auf und flüsterte ihr ins gepiercte Ohr:
“Na, fühlen Sie sich heute Morgen immer noch einsam? Zeit aufzustehen, meine einsame Seele.“
Vergeblich wartete ich auf eine Reaktion. Selbst als ich ihr an die Schulter fasste, die so kalt wie ein toter Fisch war, gab sie kein Lebenszeichen von sich. Erst schüttelte ich sie sanft, dann immer kräftiger und redete immer lauter auf sie ein, bis das Pochen im meinem Schädel unerträglich wurde. In meinen Eingeweiden machte sich ein banger Vorbote jenes Grauens breit, dem wir uns im Angesicht des Todes stellen müssen. Ein würgender Kloß in meinem Hals, zitternde Knie und das Nageln meines Herzens waren die körperlichen Symptome der nackten Panik, die mich erfasste. Hatte die Frau auf meinem Bett ihr Leben ausgehaucht?
Mein bebender Finger fuhr auf ihrem Hals auf und ab, auf der Suche nach einem Pochen ihrer Halsschlagader. Ihr Hals war so kalt und reglos wie ihre Schulter. Mein Adrenalinspiegel schoss hoch wie eine Rakete und für einen Moment quittierte mein Hirn seinen Dienst. Neben dem Bett kniend, rang ich um Fassung und Luft. Darauf, dass diese Frau noch lebte, hätte ich keinen Pfifferling gewettet. Aber ich bin kein Arzt, nur ein optimistischer Wissenschaftler, der etwas erst dann glaubt, wenn es zweifelsfrei bewiesen ist. Ich hetzte ins Bad, wo mir, bei der Suche nach dem Alka-Seltzer, der kleine Handspiegel aufgefallen war, den meine Begleiterin liegengelassen hatte. Zitternd hielt ich ihr den Spiegel unmittelbar vor Nase und Mund. Wenn der Test mit dem Spiegel so funktionierte, wie ihn die Jugendromane beschrieben, dann musste seine Oberfläche anlaufen, sofern die Frau noch lebte. Leider tat mir der Spiegel diesen Gefallen nicht.
Mir blieb keine Wahl, als mich mit dem Gedanken abzufinden, dass die Dame in meinem Bett von uns gegangen war. Ich musste dringend los und konnte mich nicht länger um sie kümmern. Das Treffen war zu wichtig. Ein Gedanke hielt mich jedoch zurück: „Was, wenn die Frau noch lebt?“ Die Antwort war einfach: „Dann ist es meine heilige Pflicht, alles zu tun, um ihr Leben zu retten.“ Ich beschloss, die Polizei zu alarmieren und mich dann davonzuschleichen. Nach der Sitzung würde ich genügend Zeit haben, um mich auf der Wache zu melden. Ich durfte dieses Treffen einfach nicht verpassen, selbst wenn das Meeting ohne meine Unterlagen und in meinem bemitleidenswerten Zustand schiefzugehen drohte. Ich sagte zu mir: „Schlechte Chancen sind allemal besser als gar keine.“
Ich griff zum Telefon und wählte die Kurznummer der Polizei, die auf der Karte neben dem Apparat stand. Das Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Blutbahnen waren mit Stresshormonen überschwemmt und mir war, als habe das Blut in meinen Adern seine Fließrichtung geändert. Ich musste das Leben der Frau und gleichzeitig meine Karriere retten. Angesichts der momentanen Lage hätte ich nicht gewusst, ob auch nur eines dieser beiden Unterfangen realistische Erfolgschancen hatte. Ich ließ die Beamtin am anderen Ende der Leitung nicht zu Wort kommen und erklärte:
„In meinem Bett liegt eine Frau. Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Falls ja, benötigt sie dringend Hilfe. Bitte kommen Sie schnell mit einer Ambulanz. Hotel Drei Kronen, Zimmer 341.“
Ohne eine Reaktion abzuwarten, legte ich auf. Ich kämmte mich hastig und zog in Rekordzeit Schuhe und Jackett an. Keine Streife der Welt konnte schnell genug sein, um mich aufzuhalten. Ich würde es zur Besprechung schaffen. Die Leute von Müller und Schatt GmbH, besser bekannt als M&S, würde eine leichte Verspätung kaum stören. Was meinen Zustand anbelangte… Es blieb zu hoffen, dass sich mein Kopf bis zu meinem Eintreffen einigermaßen aufklarte.
So flink es mein Dämmerzustand zuließ, deckte ich den nackten Körper auf dem Bett zu und steckte mein Handy ein. Bevor ich das Zimmer verließ, verschwendete ich einen letzten Blick an das bunt bemalte Gesicht der Leblosen. Ihren Namen würde ich vielleicht nie erfahren, sodass sie für mich bis in alle Ewigkeit Toskana hieße.
2
„Haben Sie eben die Polizei angerufen?“
Meine Zimmertür war kaum ins Schloss gefallen, da stellten sich mir zwei uniformierte Beamte jäh in den Weg. Wie Palastwachen pflanzten sie sich vor mir auf. Ohne ein Grußwort zu vergeuden, zeigte der kleinere bei seiner Frage in einer Weise auf mich, die meine Mutter als unschicklich bezeichnet hätte. Auf seine einfache Frage fand ich auf die Schnelle keine adäquate Antwort. Die beiden legten mein Schweigen als Bejahung aus. Sie packten mich simultan an den Oberarmen, drehten mich um meine Achse und schleiften mich zur Zimmertür zurück, aus der ich soeben getreten war. Die Art, wie der schwarzhaarige Gesetzeshüter sein Kinn in Richtung meiner Zimmertür vorschießen ließ, hatte ich schon irgendwo gesehen. Mit einer warmen Baritonstimme fragte er:
“Ist das Ihr Zimmer?“
Die kirschroten Furunkel, die sein dichter Bart nicht zu verbergen vermochte, leuchteten wie Polarsterne von seinem Gesicht. Mein Blick blieb an seinen Pusteln kleben und ich nickte. Einige Türen weiter hinten trat ein in Schale geworfener Banker mit seinem ledernen Aktenkoffer auf den Flur. Entschlossenen Schrittes strebte er auf den Fahrstuhl zu. Sein apathischer Blick streifte uns durch eine randlose Brille. Der uniformierte Gnom mit den dunklen, wachen Augen und den Haaren, die ihm an den Schläfen wie Kupferlitzen abstanden, bellte:
„Schließen Sie die Tür auf!“
Seine Feldwebelstimme schnitt mir ins Ohr. Durch den festen Griff der beiden etwas behindert, holte ich meine Karte hervor und führte sie zum Sensor. Das grüne LED-Licht blitzte kurz auf und das Schloss gab ein leises Surren von sich. Der Zwerg stieß die Tür energisch auf und trat ins Zimmer. Das Pickelgesicht schob mich wie einen Schubkarren hinterher. Als ich über die Schwelle stolperte, war mir, als verschwinde ein Schatten aus dem offenen Fenster. Ich schwenkte mein Kinn in Richtung der wehenden Gardinen und rief:
„Da!“
Der kleine Rothaarige musste den Schatten ebenfalls bemerkt haben. Er brachte sich mit einem athletischen Satz im Nullkommanichts ans Fenster. Eine solche Wendigkeit hätte ich ihm nicht zugetraut. Er schaute nach rechts, nach links und in die Tiefe. Dann drehte er sich um und schüttelte den Kopf:
„War wohl ein Lichtreflex.“
Ich verstand nicht, wie die beiden Freunde und Helfer keine drei Minuten nach meinem Anruf auf der Matte stehen konnten. Die knappe Anweisung des Rotschopfs, mich auf die Bettkante zu setzen, duldete keine Widerrede. Er schloss das Fenster und ging auf Zehenspitzen um das Bett herum auf die Frau zu. Obwohl seine Augen argwöhnisch an mir kleben blieben, schaffte er es, den Gegenständen auszuweichen, die auf dem Boden herumlagen. Dann konzentrierte er sich auf den leblosen Körper. Meine Herzfrequenz stieg auf Werte, die meinen Arzt in den Wahnsinn getrieben hätten. In einen Mordfall verwickelt zu werden, stand ganz weit unten auf meiner Wunschliste. Der Kleinwüchsige fühlte der Frau den Puls, befummelte ihren Hals und was weiß ich noch alles. Ich dachte: „Jetzt kann er die Diagnosekniffe, die er hundertfach an Gummipuppen üben musste, am lebenden Objekt anwenden.“ Als er sich sattgetastet hatte, schaute er auf und verkündete:
„Ich kann kein Lebenszeichen feststellen. Hoffentlich trifft die Ambulanz bald ein.“
Mein Puls wäre weiter angestiegen, doch meine Herzmuskeln waren bereits am Anschlag. Zwei Sanitäter in orangefarbener Signalkleidung und mit steinernem Gesicht stießen die angelehnte Tür auf und traten ein. Einer schob eine Bahre auf Rädern vor sich her, der andere trug einen Koffer. Falls sie mit Sirene und Blaulicht angerückt waren, so war es mir entgangen. Schweigend und beinahe geräuschlos machten sie sich an ihre Arbeit. Sie verloren keine Zeit damit, die Uniformierten oder mich eines Blickes zu würdigen. Konzentriert widmeten sie sich dem nackten, reglosen Körper auf dem Bett. Nach einigen routinierten Handgriffen, brummelte einer:
„Sie liegt im Koma. Die Körperfunktionen sind kaum wahrnehmbar. Ich weiß nicht, ob die gute Dame durchkommt. Jedenfalls muss sie Tempo Teufel in die Notaufnahme.“
Mein Herz schaltete zwei Gänge zurück, als ich hörte, dass für Toskana noch Hoffnung bestand. Die Lebensretter luden sie auf ihre Bahre, packten sie in eine goldfarbene Folie und eilten mit ihr wortlos davon. Die zwei Polizeibeamten hatten das Geschehen genauso gebannt verfolgt wie ich. Nun galt ihre Aufmerksamkeit mir allein.
Meine Gedanken waren auf das Meeting bei M&S fokussiert, welches, gelinde gesagt, akut gefährdet war. Mein weiteres Leben hing davon ab. Ich hatte jahrelang an meinem Projekt gearbeitet und mich mit einer nicht zu überbietenden Gewissenhaftigkeit auf das heutige Treffen vorbereitet. Minutiös hatte ich diesen Tag durchgeplant. Weckzeit, Morgentoilette, Anfahrt durch den dichten Berufsverkehr, alles hatte ich mit Marge kalkuliert. Den möglichen Verlauf des Gesprächs war ich so oft im Geiste durchgegangen, dass mich nichts und niemand aus dem Konzept gebracht hätte. Doch nun saß ich im Hotelzimmer, unfähig klar zu denken und von zwei Streifenpolizisten festgenagelt. Toskana hatte mir gehörig ins Leben gepfuscht. Ich fragte mich, wie es kam, dass sie aus den Latschen gekippt war. „Wer andern eine Grube gräbt“, ging mir kurz durch den gemarterten Kopf. Dann suchte ich fiebrig nach einer Strategie, um mich von den Beamten loszueisen und leidlich pünktlich zur Konferenz einzutreffen. Ich war nicht gewillt, mich einem erbarmungslosen Schicksal zu fügen, das dabei war, meine Pläne wie ein Kartenhaus zum Einsturz zu bringen. Mir schossen üble Worte durch den Kopf, Worte, die man besser nicht ausspricht. Aber Flüche und Verwünschungen helfen selten weiter.
Ein halbes Dutzend Kaderleute warteten bei M&S auf mein Erscheinen und ich durfte nicht wegbleiben. Ich musste die beiden Ordnungshüter dazu bringen, dass sie mich umgehend zu M&S fuhren. Danach konnten sie mit mir machen, was immer sie wollten. Durch die ölgetränkte Watte in meinem Kopf warnte mich, was von meinem Verstand übrig war, dass ich dabei war, einen Kampf gegen Windmühlen aufzunehmen. Ihm war klar, dass ich mich aufreiben würde, doch mein unbändiges Kämpferherz schlug alle Warnungen in den Wind. Wer stets seinem rationalen Verstand folgt, wer sich noch nie lächerlich gemacht hat, weil er blind seiner Leidenschaft folgte, der hat nie wirklich gelebt.
Ich setzte dazu an, den beiden Uniformierten meine Situation zu erklären, sie zu überzeugen, mich zu M&S zu fahren. Anstatt mir zuzuhören, leierte der Bärtige seine Miranda-Warnung herunter. Wie seine Kollegen in den amerikanischen Fernsehserien faselte er von wegen Anwalt verlangen, die Aussage verweigern und den ganzen Quatsch. Mir brannte die Zeit unter den Nägeln. Ich unterdrückte meine Erregung, so gut ich konnte, denn ich wollte den Unmut der beiden nicht unnötig provozieren. Ich ließ den Schwarzhaarigen seinen Vers in voller Länge herunterleiern und bestätigte ohne Umschweife, alles verstanden zu haben. Dann suchte ich nach einer Argumentation, die selbst unterbelichteten Idioten meine Lage verständlich machen würde:
„Ich verstehe den Ernst der Situation und Sie tun genau das, was Sie aus Ihrer Sicht tun müssen, aber ich muss dringend zu M&S…“
Meine Rhetorik zerschellte an der geistigen Unzulänglichkeit der beiden. Abrupt beendete der Kleinwüchsige meinen Erklärungsversuch:
„Schnauze! Sie verstehen gar nichts. Halten Sie ihre geschwätzige Fresse, wenn Sie nicht gefragt werden. Sie haben ernstere Probleme als eine verpasste Besprechung, glauben Sie mir. Sie täten gut daran, dies endlich zu begreifen und mit uns zu kooperieren. Also, was haben Sie der Frau verabreicht?“
Sein bohrender Blick und sein rüder Ton irritierten mich. Ein solches Verhalten wollte nicht zur Deeskalationsstrategie passen, mit der die Polizei in letzter Zeit prahlte. Viel eher erinnerte es mich an das Klischee, die deutsche Polizei sei Europas rüdeste. Auf Vorurteile hatte ich noch nie etwas gegeben, aber was ich hier erlebte, ließ mich daran zweifeln, ob es sich in diesem Fall um ein Vorurteil handelte. Der Bärtige blickte den Rothaarigen vorwurfsvoll an und entschuldigte sich prompt bei mir:
„Achten Sie nicht auf ihn. Er ist heute mit dem linken Fuß aufgestanden. Das ist sonst nicht seine Art.“
An seinen Partner gerichtet, zischte er genervt:
„Reiß dich zusammen, Berti.“
Sein Bariton klang beschwichtigend, als er sich wieder mir zuwandte:
„Bitte sagen Sie uns, womit Sie die Dame betäubt haben. Sie könnten dadurch ihr Leben retten. Wenn sie stirbt, läuft es auf Mord hinaus. Wissen Sie, was Sie dann erwartet?“
Ich war schockiert, dass er annahm, ich hätte Toskana vergiftet und wehrte mich vehement gegen diese Anschuldigung. Der Pickelgesichtige hielt sich nun zurück. Er verlangte meinen Personalausweis. Als ich mit meiner Rechten in die Innentasche meines Jacketts griff, schnellte er wie eine Heuschrecke hoch und griff zur Waffe. Instinktiv riss ich meine Arme schützend vors Gesicht. Dann ließ ich sie langsam in die Höhe gleiten, wie man es eben macht, wenn man in den Lauf einer Feuerwaffe blickt. In der rechten Hand hielt ich meinen Pass. Der Dunkelhaarige bedachte seinen Kollegen mit dem Heben seines Kinns und einem genervten Blick. Der Zwerg zuckte mit den Schultern und verstaute seine Pistole wieder im Halfter. Sein Partner nahm meinen Ausweis entgegen, schaute ihn sich Seite für Seite an und notierte etwas in ein kleines Buch. Dann steckte er meinen Ausweis ein und fragte in konziliantem Ton:
„Können Sie uns erzählen, wie Sie zur Dame stehen, die in ihrem Bett lag und vor allem, womit Sie sie betäubt haben?“
„Ich kenne die Frau nicht und ich habe ihr nichts gegeben. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt und wie sie in mein Bett gekommen ist. Ich kann mich an nichts erinnern.“
Ich stützte meinen tonnenschweren, dröhnenden Kopf auf meine Hände. Der quirlige Gesetzeshüter erinnerte mich mit seinem hämischen Grinsen an Rumpelstilzchen. Genauso hatte ihn der Zeichner in einem meiner bebilderten Kinderbücher dargestellt. Er spottete:
„Amnesie? Ich glaube, euch Ganoven fallen keine gescheiteren Ausreden ein. Es fehlt euch einfach an Fantasie, mein Freund.“
Sein Kollege warf ihm den nächsten vorwurfsvollen Blick zu, verstaute sein Notizheft und stand auf:
„Wir fahren am besten ins Präsidium und klären dort alles.“
Er fesselte meine Handgelenke mit Handschellen aneinander. Zwei Männer betraten das Zimmer mit einer Selbstverständlichkeit, als wären sie dort zuhause. Ihre weißen Overalls ließen mich kurz an ansteckende Seuchen, wie COVID-19 oder Ebola denken. Die beiden Gestalten ähnelten sich wie zwei Brüder. Mittlere Statur, Augen wie Kornblumen, kastanienbraune Haare, kurzgeschnitten, Geheimratsecken, alles schien von derselben Mutter zu stammen. Sie schauten kurz in unsere Richtung und hoben ihr Kinn zum Gruß. Simultan zauberten sie ein steriles Grinsen auf ihre Lippen und brummten ein gedehntes „Moan“. Beide trugen Latexhandschuhe. Sie setzten Kapuze und Mundschutz auf und einer öffnete seinen mit bunten Klebern übersäten Koffer. Er holte ein Röhrchen heraus und trat mit einem langen Wattestäbchen auf mich zu:
„Bitte öffnen Sie den Mund. Wir möchten eine Speichelprobe von Ihnen nehmen, wenn Sie nichts dagegen haben.“
Was sollte ich dagegen haben? Beweise konnten nur für und nicht gegen mich sprechen. Ich ließ mir den Speichel vom Gaumen wischen. Das getränkte Wattestäbchen wurde in sein Röhrchen gestopft und die beiden Gestalten in Weiß widmeten sich fortan der Tätigkeit, für die sie bezahlt wurden.
Einzelheiten der Spurensicherung bekam ich nicht mehr mit, denn die beiden Uniformierten klammerten sich an meine Oberarme und schoben mich aus dem Zimmer. Im engen, menschenleeren Treppenhaus wurde es unangenehm eng. Während des Abstiegs fiel mir der schlechte Zustand des Treppenflurs auf. Die Farbe blätterte von der Wand und am Geländer hätte man sich ernsthaft verletzen können. Es roch abgestanden nach altem Staub. Im Sandwich zwischen den beiden Beamten war der Abstieg ungemütlich. Es war mir schleierhaft, warum keiner von meiner Seite wich. Hielten sie mich allen Ernstes für einen gefährlichen Verbrecher, der bei der erstbesten Gelegenheit abhaute? Diese Vorstellung war so absurd, dass ich schallend losgeprustet hätte, wäre meine Lage nicht so tragisch und meine pochenden Kopfschmerzen so dominant gewesen. Ich überlegte, ob ich jemals strafbare Handlungen begangen hatte und mir fiel nur die Sache mit Elisa ein.
Ich war damals gerade fünf Jahre alt. Die blondgelockte Tochter unserer Nachbarn, war ein Jahr älter. Sie kannte kein größeres Vergnügen als mich zu piesacken. Eines Tages trieb sie es mit ihren Gemeinheiten zu weit. Sie warf mir ein Schimpfwort an den Kopf, an das ich mich nicht mehr erinnerte, das sich jedoch kein aufgeweckter Fünfjähriger gefallen lässt. Aus dem Mund einer kleinen Prinzessin in einem weißen Spitzenkleid klang es besonders provokant. Die Handvoll Kies, die das verwöhnte Gör dabei nach mir schmiss, überschritt meine Toleranzgrenze. Wutschäumend packte ich ihre blonden Zöpfe und schleifte sie durch eine braune Schlammlache. Ihr Geschrei war bis zum Dorfplatz zu hören. Es galt wohl mehr ihrem ruinierten Sonntagskleidchen als dem physischen Schmerz. Durch das Geheul alarmiert, stürzten unsere Eltern und die gesamte Nachbarschaft in Panik aus ihren Häusern. Ich weiß heute noch nicht, ob meine Mutter den Teppichklopfer aus dem Putzschrank holte, um mich zu bestrafen oder um Elisas aufgebrachte Eltern zu beruhigen.
Hüftknochen an Hüftknochen zwängten wir uns Etage um Etage zwischen Treppengeländer und Wand bis zur Tiefgarage hinunter. Als Schinken im Sandwich zwischen den beiden Uniformierten blieben mir die harten Stöße gegen Wand und Handlauf erspart. Die Szene war so bizarr, dass sie aus einer Folge von Police Academy hätte stammen können. Der kleinere Beamte bugsierte mich auf die Rückbank des Streifenwagens und schnallte mich an. Er stieg auf den Fahrersitz und kurvte auf die Garagenausfahrt zu. Der Geruch nach Schweiß und Erbrochenem im Innenraum des Wagens beleidigte meine Nase und rief ein leichtes Würgen in meinem Hals hervor. Die Reifen quietschten wie bei Verfolgungsjagden in Gangsterfilmen. Ich wollte mir den Weg zur Polizeiwache gut einprägen, um nach der Befragung zum Hotel zurückzufinden. Durch Krausziehen der Nase versuchte ich meine Brille in Position zu bringen. Ich hätte sie gerne geputzt, aber mir waren die Hände gebunden und zwar auf dem Rücken. Bei der Ausfahrt aus der Tiefgarage schoss mir die Morgensonne wie tausend Stecknadeln in die Iriden und mein Kopf drohte zu bersten. Ich unterdrückte einen Schrei und senkte meinen Kopf, während meine Lider dichtmachten. Das Gleißen in den Augen ging langsam in rote Punkte über, ähnlich Rücklichtern auf einer Autobahn. Die Fahrt zum Revier dauerte wenige Minuten und verlief ohne Zwischenfall. Unterwegs erfuhr ich, weshalb die beiden Polizisten so schnell vor Ort gewesen waren. Sie frühstückten während meines Anrufs gerade im Drei Kronen und wurden von der Zentrale per Funk auf mein Zimmer beordert.
Wir parkten vor einem Gebäude mit rhodonitfarbener Klinkerfront. Auf dem Parkplatz stand ein knappes Dutzend Dienstfahrzeuge im Schatten junger Linden. Die dreistöckige Fassade hatte schon bessere Zeiten erlebt. Ein schmutziggrüner Belag von Moos oder Algen hatte sich auf dem Mörtel zwischen den Klinkersteinen festgesetzt. Besonders an den Hausecken schien er prächtig zu gedeihen. Ich hätte nicht einmal meinen nutzlosen Hosenknopf darauf gewettet, dass die schiefen, halboffenen Storen an den Fenstern noch funktionierten. Die kleine Grünfläche, die den Parkplatz in zwei Hälften teilte, war so perfekt gemäht und frei von Unkraut, als würde sie von einem englischen Gärtner gepflegt. Der Haupteingang war breit genug, um uns drei stoßfrei Schulter an Schulter durchzulassen.
Ich überlegte, was man mir vorwerfen würde. „Im schlimmsten Fall Mord“, formten meine Lippen stumm. Man würde Mühe haben, eine solche Anklage zu beweisen, vor allem, weil ich es nicht getan hatte. Allerdings schien es mir ebenso schwierig, das Gegenteil zu beweisen. Das Licht im Inneren des Gebäudes war stumpf und milchig. Der Anstrich der Wände und der Decke sowie das Mobiliar stammten aus dem vorigen Jahrhundert, aus einer Zeit, in der am Arbeitsplatz noch geraucht wurde. Der schwere Geruch jener guten alten Zeit lag noch immer in der Luft. Das Mobiliar konnte als Vintage durchgehen. Meine beiden Begleiter eskortierten mich schnurstracks zum Schreibtisch eines abgekämpft wirkenden Spätfünfzigers. Die beiden obersten Knöpfe seines Uniformhemds standen offen und seine Krawatte war gelockert. Unter seinen Achseln fielen mir üble Flecken auf und auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Sein Mundgeruch ließ mich ans Löwengehege des Zürcher Zoo denken.
Sein Schreibtisch hatte schätzungsweise seinen Jahrgang und der Lack war bei beiden ab. Auf seiner abgewetzten Schreibmatte waren Brosamen verstreut, ein Indiz, dass er nicht zuhause gefrühstückt hatte. Abgesehen von einem Laptop, einem kleinen Drucker und einem Einwegkugelschreiber war sein Pult leer. Der kleine Rothaarige nahm mir die Handschellen ab und setzte mich auf einen Stuhl, der bedenklich knarzte. Ich massierte meine Handgelenke und zog mein Mikrofasertuch hervor, um meine Brille zu reinigen.
Als ich aufgefordert wurde, meinen Reisepass auszuhändigen, fummelte ihn der bärtige Beamte mit der schmalen Nase und dem pickligen Gesicht aus seiner Innentasche und legte ihn auf den Tisch. Mit dem rechten Zeigefinger hämmerte der Mann hinter dem Schreibtisch meine persönlichen Daten in seine Tastatur. Der Drucker summte und spuckte ein Formular aus. Der Beamte griff danach und legte es auf den Tisch. Sein Blick verriet, dass er den schwersten Teil seiner Dienstzeit hinter sich hatte. Seine Welt bestand jetzt aus geregelten Arbeitszeiten an einem Schreibtisch mit Stuhl, Aktenschrank, Laptop und Drucker. Er hatte ein regelmäßiges Einkommen und die Gewissheit, dass ihn in absehbarer Zukunft eine Rente erwartete, von der er leben konnte. An sich wären das beste Voraussetzungen gewesen, um die letzten Dienstjahre entspannt anzugehen, aber dieser Sesselkleber schien sich das Leben selber schwer zu machen. Wäre ich nicht in einer noch misslicheren Situation gewesen, so hätte ich den armen Kerl bemitleidet. Der Frust saß dem guten Mann rittlings auf dem Buckel. Ich konnte aus seinen Augen lesen, dass er nur noch einen Wunsch auf seiner Bucket-List hatte, den Ruhestand im Schaukelstuhl.
Er strich sich mit einem Taschentuch über die Stirn und den üppigen, grauen Schnurrbart. Trotz roter Wangen sah er krank aus. Bedrückt starrten mich seine matten, wässrigen Augen an, als er von mir alle persönlichen Gegenstände verlangte. Ich legte Schlüssel, Brieftasche, Handy und den Badge des Hotels vor ihn auf die Tischplatte. Er war so großzügig, mir mein Taschentuch und meine Brille zu lassen, verlangte aber meinen Gürtel, der den obersten offenen Knopf an der zu engen Hose verdeckte. Er listete meine Habseligkeiten handschriftlich auf dem ausgedruckten Formular auf und verstaute sie in einem Beutel, den er vorgängig beschriftet hatte. Er wirkte unsicher. Seine Zunge benetzte die Oberlippe, die sich unter seinem Schnurrbart verbarg. Seine Finger trommelten auf der Tischplatte, während er einen letzten Kontrollblick über seine Liste warf. Dann ließ er mich das Blatt unterschreiben und in einen nach Ozon riechenden Raum führen. Dort vertraute ich meine Fingerabdrücke einem Scanner und meine Gesichtszüge einer Kamera an.
Ein junger, pausbäckiger Beamter mit einem festgefrorenen Lächeln auf den Lippen führte mich in einen Raum von etwa zwanzig Quadratmetern. Das gesamte Mobiliar bestand aus einem rechteckigen Holztisch und vier schwarzen Le Corbusier-Stühlen. Die grelle Neonlampe war direkt über dem Tisch montiert und tauchte den kahlen Raum in ein kaltes Licht. Die Wände waren in kitschigem Flamingo gestrichenen worden. Das musste ein Psychologe veranlasst haben und er musste sich etwas dabei gedacht haben. Eine Innenarchitektin hätte dieses Sakrileg niemals begangen und wenn doch, so hätte sie danach ihrem Leben mit Harakiri ein Ende bereitet. Immerhin kompensierte der liebliche Farbton der Wände teilweise die Kälte des Neonlichts. Drei Stühle standen um den länglichen Tisch aus lackiertem Buchenholz, der vierte lehnte an einer Wand. Auf dem Tisch standen eine Kanne Kaffee und ein Stapel Kartonbecher. Ein Muffin lag auf einer weißen Papierserviette. Der Beamte, der mich hineingeführt hatte, forderte mich auf, mich zu bedienen und verschwand durch die Tür, die er hinter sich abschloss.
3
Eben hatte ich mir den letzten Bissen des Gebäcks in den Mund geschoben, als die Tür fast lautlos aufging. Eine Dame um die fünfzig trat ein und dicht hinter ihr ein weißhaariger Mann in Zivil mit einem Zahnstocher im Mund. Die vollschlanke Frau reichte dem etwa zehn Jahre älteren Mann knapp bis ans Kinn. Ihr azurblaues Deux-Pièces, mit großen, marineblauen Knöpfen und Bordüren, saß wie angegossen. Die admiralsblauen Seidenstrümpfe bildeten den harmonischen Übergang vom Rock zu den graublau schimmernden Slippers. Ihre graumelierte Löwenmähne hatte einen Stich ins Eisblaue und fügte sich harmonisch ins Gesamtbild. Ihr Haar war so perfekt in Form, als käme sie direkt von einem dieser Friseure, die sich Hair-Stylist oder Fashion Designer nennen. Die Frau schaute ernst, aber nicht unfreundlich drein und steuerte auf mich zu.
Der Mann, den man für den Zwillingsbruder Inspektor Columbos aus der gleichnamigen Fernsehserie hätte halten können, blieb in der Tür stehen. Seine ungekämmten Haare, der schielende Blick und die locker gebundene, schmale Krawatte des Zivilbeamten betonten die Ähnlichkeit mit dem Fernsehhelden. Ein beiger, zerknitterter Regenmantel wäre das Tüpfelchen auf dem I gewesen. Vielleicht war es unfair, den Mann mit Peter Falk zu vergleichen, aber kein Mensch vermag seine Assoziationen zu steuern.
Das rundliche Gesicht der Frau hatte ich schon irgendwo gesehen. Die schokoladenbraunen Augen unter den schmalen, dunklen Augenbrauen und die dezent gewölbte Nase verliehen ihr eine Autorität, der man sich kaum entziehen konnte. Es dauerte, bis mir endlich dämmerte, woher ich sie kannte. Ich hatte während meines dritten Semesters an der Universität Zürich einige ihrer Gastvorlesungen besucht und ihre Toxikologievorträge hatten mich nachhaltig beeindruckt. Vergeblich suchte ich in meiner havarierten Erinnerung nach ihrem Namen. Sie musste den meinen von der Polizei erfahren haben, aber das Lächeln auf ihrem Gesicht verriet mir, dass sie sich auch an mein Gesicht erinnerte:
„Wie fühlen Sie sich, Dr. Irrgang?“
„Als wäre ich in einem Fass die Niagarafälle runtergekullert. Eigentlich eher so, als wäre ich noch nicht unten angekommen.“
Ihr Gesicht nahm mitfühlende Züge an:
“Ich verstehe. Das tut mir leid. Gestatten Sie mir, Ihnen Blut abzunehmen, um nach den Gründen für Ihren Zustand zu suchen?“
Ich war unsicher, ob das Lächeln, das ich zustande brachte, als solches zu erkennen war. Nickend knöpfte ich einen Hemdsärmel auf, schob ihn zurück und hielt ihr den Arm hin:
„Ich bin selbst gespannt, was mir dermaßen zu schaffen macht.“
Ohne meine Bemerkung zu kommentieren, schnürte sie meinen Oberarm mit einem Gummiband ab, desinfizierte meine Armbeuge und schob die Nadel in meine Vene. Während sich das Röhrchen mit roter Flüssigkeit füllte, meinte sie:
„Schön, Sie nach so langer Zeit zu treffen, Dr. Irrgang. Es wäre mir lieber gewesen, wir wären uns unter anderen Umständen begegnet, aber das Schicksal allein bestimmt, ob. wann und wo man sich ein zweites Mal trifft. Ist das nicht so? Ich würde Sie gerne nach Einstichen absuchen.“
„Hab ich schon. Ich habe nichts gefunden, aber machen Sie ruhig. Sie können Stellen einsehen, die meinen Blicken verborgen bleiben.“
Sie wandte sich dem Mann zu, der immer noch in der Tür stand und streckte ihm die Blutprobe entgegen:
„Bitte lass die Probe unverzüglich ins Labor bringen. Jürgen weiß,was zu tun ist. Er soll sich gleich an die Arbeit machen. Danke, Stefan.“
Irritiert nahm der Mann seinen Zahnstocher aus dem Mund und setzte zur Widerrede an, doch die Frau hatte ihm ihre Aufmerksamkeit bereits entzogen und sich erneut mir zugewandt. Als ich mich auszuziehen begann, weigerte sich der betupfte Mann, uns allein zu lassen. Er wandte sich missmutig ab und blieb in der Tür stehen. Ich weiß nicht warum, aber es war mir nicht peinlich, mich vor dieser Frau zu entblößen. Vielleicht sahen wir beide in ihr eine Art Ärztin, denn auch sie zeigte keinerlei Berührungsängste.
„Frau Professor, wie kommt es, dass Sie sich an mich erinnern? Sie müssen tausende Studenten in ihren Vorlesungen gehabt haben.“
Das fragte ich sie, während sie jeden Zentimeter meiner Haut unter die Lupe nahm, die sie aus ihrem Täschchen geholt hatte.
„Vergessen Sie den Professor. Die Professur habe ich an den Nagel gehängt. In meiner Zeit als Dozentin sind mir zwei Studenten begegnet, die ich nie vergessen werde, echte Wunderknaben mit dem Potenzial zum Jahrhundertgenie. Nur wenigen Lehrpersonen ist es vergönnt, Schüler zu unterrichten, von denen sie wissen, dass sie sie schon bald überflügeln werden. Ich hatte dieses Privileg zwei Mal. Der andere Wunderknabe hieß Sandvik. Interessant, wie besondere Leute häufig besondere Namen haben, finden Sie nicht? Sandvik und Irrgang – nicht etwa Schulze und Müller. Sandvik studierte in Freiburg. Er war älter als die meisten seiner Kommilitonen und hatte bereits in Skandinavien einen Abschluss gemacht, Volkswirtschaft oder etwas in der Art. Er ist der ehrgeizigste und neugierigste Mensch, dem ich je begegnet bin.“
Ich sträubte mich innerlich dagegen, als Wunderknabe bezeichnet zu werden, war aber nicht in der Verfassung, mit ihr darüber zu streiten. Nachdem sie keine verdächtigen Einstiche gefunden und ihre Lupe wieder verstaut hatte, fragte ich:
„Und wie kommt es, dass Sie jetzt für die Polizei arbeiten?“
„Ich war früher nicht der sesshafte Typ. Zwei Semester als Privatdozentin an der Harvard haben mir gereicht. Ich musste weiterziehen. Zu viel Administration, zu viele Direktiven, zu viele arrogante Kollegen. Also wurde ich zu einer Art Wanderpredigerin, wenn ich das so salopp formulieren darf. Ich erhielt genügend Einladungen für Gastvorlesungen, um davon zu leben. Ich zog von Hochschule zu Hochschule. Ich war so gut auf meinem Gebiet, dass mir niemand etwas vormachen konnte und das brachte mir Respekt und Bewunderung ein, wo immer ich auftrat. Ich gebe ungeniert zu, dass mir das schmeichelte. Ich bin nicht besonders stolz auf meine Eitelkeit, aber ich stehe dazu, wie Sie sehen. Ja, das liebe Ego, aber was soll ich dagegen tun? Niemand schlüpft aus seiner Haut.“
Ihre letzten Worte unterstrich sie mit einem hellen Lachen. Der falsche Columbo stand schmollend vor der geschlossenen Tür. Sie warf ihm einen Blick zu, der sowohl als herablassend wie auch als mitleidig durchgehen konnte. Dann wandte sie sich wieder mir zu:
„Irgendwann war ich zu alt für ein Nomadendasein. Ich hatte genug vom Leben aus dem Koffer. Und so wurde die Polizei zu meinem neuen Zuhause. Hier bin ich der unumstrittene Guru, wenn es um Fragen der Life-Science geht, wie es neudeutsch heißt und die lieben Kollegen hegen und pflegen mein Ego, dass es die reinste Freude ist, nicht wahr, Stefan?“
Ihr ironisches Lachen wirkte auf stoßende Weise überheblich. Ich brauchte keine Kristallkugel, um zu erkennen, dass die beiden ein Tom-und-Jerry-Verhältnis hatten. Der Mann, der sich bisher fast demütig zurückgehalten hatte, zog seinen Zahnstocher aus dem Mund und unterbrach unsere Unterhaltung:
„Bitte, Frau Kielstein. Ich muss mich dringend mit Dr. Irrgang unterhalten.“
Sie konterte mit einem sarkastisch-wohlwollenden Feixen:
„Ist ja gut, Stefan. Bin ja schon weg.“
Sie verabschiedete sich von mir und bedachte ihren Kollegen mit einem langen Blick. Er trat vor, reichte mir die Hand und stellte sich als Kommissar Stefan von Wenzenhausen vor. Er behielt selbst auf kurze Distanz das wohlwollende, arglose Gesicht von Columbo. Er setzte sich auf einen der beiden Stühle mir gegenüber und fragte, ob ich ein Glas Wasser wünsche, was ich verneinte. Es war noch Kaffee in der Kanne und ich wollte alles rasch hinter mich bringen. Wie aus dem Nichts verhärtete sich von Wenzenhausens milde Columbo-Miene. Verwirrt und beunruhigt versuchte ich zu ergründen, wodurch ich seinen Unmut hervorgerufen hatte. Er erhob sich, riss die Tür auf und blaffte erzürnt hinaus:
„Wo zur Hölle bleibt Basler?“
Ich konnte die Antwort nicht verstehen, aber sie war nicht schwer zu erraten. In einer von Flüchen durchwirkten Tirade, verlangte der Kommissar lauthals nach Unterstützung, um mich zu vernehmen. Er setzte sich wieder hin und erklärte, so unaufgeregt, als wäre er auf Valium, er dürfe die Befragung nicht alleine durchführen. Ein junger, hagerer Mann in Jeans und einem zu engen blaurot karierten Hemd trat durch die Tür, stellte sich mir als Inspektor Koch vor, nahm neben dem Kommissar Platz und raunte ihm zu:
„Basler ist noch nicht zurück. Der Herrmann-Fall…“
Von Wenzenhausen nahm seinen zerbissenen Zahnstocher aus dem Mund, knickte ihn in der Mitte entzwei und warf ihn gekonnt in hohem Bogen in den Papierkorb. Ich bestätigte ihm, dass ich nichts dagegen hatte, wenn er unser Gespräch aufzeichnete. Er schaltete das Aufnahmegerät ein, sprach Datum, Zeit und Ort ins Mikrofon und erwähnte die Namen der Anwesenden. Er betete seinen Miranda-Spruch so brav herunter, wie es sein uniformierter Kollege in meinem Hotelzimmer getan hatte. Ich dürfe schweigen, einen Anwalt verlangen und den ganzen Rattenschwanz. Dann fragte er mich:
„Möchten Sie von Ihrem Recht Gebrauch machen, einen Anwalt beizuziehen?“
Ich unterstrich meinen Verzicht mit einem schmerzenden Kopfschütteln und von Wenzenhausen fuhr fort:
„Bitte geben Sie für das Protokoll Name, Geburtsdatum, Wohnadresse und Beruf an.“
Ich folgte seiner Aufforderung und er nickte. Seine Stimme wurde staubtrocken:
„Also gut, Doktor. Wie mir berichtet wurde, liegt die Dame, die Sie in Ihr Hotelzimmer mitgenommen haben, in kritischem Zustand auf der Intensivstation. Beten Sie, dass sie durchkommt, denn auf Mord steht lebenslänglich. Sie können helfen, sie zu retten, indem Sie uns verraten, womit Sie sie betäubt haben.“
Das Pochen in meinem Kopf wurde schlimmer. Ich konnte es nicht fassen, dass auch der Kommissar annahm, ich sei für Toskanas Zustand verantwortlich. Einen Moment lang machte es mich sprachlos. Der Kommissar holte einen frischen Zahnstocher hervor, befreite ihn von der Cellophanumhüllung und steckte ihn in den Mund. Das Heben seines Kinns deutete ich als Aufforderung zu antworten:
„Ich habe ihr nichts gegeben. Ich wurde ja selbst betäubt.“
„Zu ihrer Information, Doktor, wenn ich etwas auf den Tod nicht ausstehen kann, dann zum Narren gehalten zu werden. Faule, durchschaubare Ausreden verderben mir die Laune. Also bleiben Sie bitte bei der Wahrheit, dann kommen wir beide ganz gut miteinander zurecht. Sie haben die Frau betäubt und sich dann selbst eine geringe Dosis verabreicht, um den Verdacht von sich abzulenken. War das nicht so?“
„Hören Sie, Herr Kommissar, ich will Sie bestimmt nicht an derNase herumführen. Ich bin selbst daran interessiert, zu erfahren, was geschehen ist. Verstehen Sie? Ich bin Opfer, nicht Täter. Die Frau hat mich außer Gefecht gesetzt. Ich weiß nicht, warum sie das getan hat und wie es dazu kam, dass sie selbst die Besinnung verlor. Ich verstehe überhaupt nichts.“
Das Hämmern in meinem Kopf wurde heftiger, weil ich mich so ereifert hatte. Ich nahm mir vor, ruhiger zu bleiben. Die Augen des Kommissars verengten sich. Er ließ den Zahnstocher in seinem Mund einen Looping drehen:
„Dann erklären Sie mir, weshalb die Frau im Sterben liegt, während wir uns hier gemütlich unterhalten. So kommen wir nicht weiter, Doktor. Ihre Fingerabdrücke sind auf der Champagnerflasche und auf beiden Gläsern und unsere Spezialisten werden weitere Beweise gegen Sie finden.“
Wenn der Kommissar dies als gemütliche Unterhaltung bezeichnete, wollte ich nicht wissen, was er unter einem Verhör verstand. Er seufzte und fuhr weiter:
„Da Sie nicht von hier sind, sagen Sie uns doch, was Sie in unsere schöne Stadt geführt hat.“
Das Kinn des Kommissars flog mir wieder entgegen. Ich hielt es für eine gute Wendung, dass ich erzählen durfte, anstatt mir weiterhin ungerechtfertigte Beschuldigungen anhören zu müssen:
„Ich habe eine Einladung der Firma M&S. Ich hätte dort vor einer Stunde eine bahnbrechende Idee vorstellen sollen. Dieses Treffen ist von eminenter Bedeutung – für mich, für M&S und für die gesamte Menschheit. Ich bitte Sie, fahren Sie mich umgehend zu M&S und geben Sie mir eine bis zwei Stunden Zeit. Anschließend stehe ich Ihnen unumschränkt zur Verfügung.“
Von Wenzenhausen lehnte sich zurück, schüttelte den Kopf und ließ ein Lachen hören, das mit Belustigung nichts zu tun hatte. Der Inspektor an seiner Seite schmunzelte zurückhaltend, während sich der Kommissar wieder nach vorne lehnte und in gemessenem Ton meinte:
„Ihr Humor ist bewundernswert, Doktor, aber wir haben jetzt keine Zeit für Jux und Tollerei. Sie geben Ihre Versuche wohl nie auf, mich zu verarschen. Ich rate Ihnen jetzt zum letzten Mal, lassen Sie das bleiben.“
Zwischen unseren Nasen hätte keine Männerfaust gepasst und seine Augen stachen in die meinen wie Hornissen. Seine Stimme sank um eine Terz:
„Sie tun sich nichts Gutes, wenn Sie mich provozieren, glauben Sie mir, Doktor. Bleiben wir doch bei den Fakten. Dass Sie eine Einladung von M&S haben, kaufe ich Ihnen ab. Nun erzählen Sie einfach chronologisch von da an, als Sie hier ankamen.“
„Herr Kommissar, Sie scheinen nicht zu verstehen. Es geht um ein Projekt, das Millionen von Menschen das Leben retten könnte. Mit der Unterstützung von M&S könnte ich …“
„Jetzt reicht‘s aber endgültig, Doktor. Jetzt verliere ich wirklich die Geduld!“
Sein Zahnstocher flog mir entgegen und landete neben meinem Kaffeebecher. Seine Faust knallte auf die Holzplatte, dass der durchgekaute Zahnstocher hochsprang und der halbvolle Becher des Inspektors umkippte. Dieser zuckte zusammen, zog einige Papiertücher aus der Box, die auf dem Tisch stand und beeilte sich, den verschütteten Kaffee von der Tischplatte zu wischen, während von Wenzenhausen polterte:
„Mir gehen Ihre Pläne mit M&S total am Arsch vorbei, Doktor. Sie stehen im Verdacht der schweren Körperverletzung, möglicherweise mit Todesfolge und da faseln Sie etwas von einem Projekt, das die Menschheit retten soll? Zum letzten Mal, Doktor, zum allerletzten Mal, packen Sie aus! Wann sind Sie angekommen und was geschah dann?“
Seine Stimme war zu einem Grollen angeschwollen und seine Augen hatten Funken gesprüht, doch von einem Augenblick zum nächsten war er wieder der gelassene Columbo. Ich gab einen tiefen Seufzer von mir. Während bei M&S bedeutende Leute ungeduldig um einen großen Tisch saßen und Däumchen drehend auf mich warteten, nagelte mich dieses zweitklassige Columbo-Double hier fest. Wahrscheinlich waren die Konferenzteilnehmer bereits enttäuscht und verärgert wieder an ihre Arbeit gegangen. Die derzeit einzige realistische Chance, mein Projekt zu realisieren, löste sich gerade in der stickigen Luft des Vernehmungszimmers auf. Gegen die Verbocktheit dieser Ordnungshüter schien kein Kraut gewachsen. Mein Kopf war wie das uralte Fernsehgerät meiner Großeltern, das mich vor Jahrzehnten mit Woody Woodpecker bekanntgemacht hatte. Undeutliche Bilder in Schwarz und Weiß wechselten sich mit schwarzen Ameisen ab, die ziellos auf einer weißen Fläche umherirrten. Meiner Ohnmacht bewusst, ließ ich meinem Frust freien Lauf:
„Sie werden es noch bereuen, dass Sie mir das Treffen verwehren.“
„Wagen Sie ja nicht, mir zu drohen, Doktor, nicht in Ihrer Lage. Das bekommt Ihnen gar nicht gut.“
Ich beteuerte, dass ich es nicht als Drohung gemeint hatte und gab meinen Widerstand auf:
„Ich kam gestern mit der Nachmittagsmaschine aus Zürich an. Am Flughafen nahm ich ein Taxi zum Hotel Drei Kronen, wo ich gegen halb sieben Uhr eintraf. Ich stellte mein Gepäck im Zimmer ab, verließ das Hotel zu Fuß und bummelte in Richtung Innenstadt.“
Inspektor Koch kaute auf seiner Unterlippe herum und kritzelte konzentriert wie ein Drittklässler in ein kleines Notizbuch. Sein Hemd spannte an Schultern und Oberarmen und Schweißflecken zierten seine Achseln. Der Kommissar fixierte mich mit einem abschätzenden Blick, bereit, mich wieder als Lügner zu betiteln. Ich sah keinen Grund, zu flunkern. Ich hatte ja nichts Unerlaubtes getan. Von Wenzenhausens vorpreschendes Kinn hinderte mich nicht daran, den letzten Schluck Kaffee zu trinken, um der Blase in meinem Hirn Gelegenheit zu geben, in sich zusammenzufallen, bevor ich fortfuhr:
„Bei einem Imbissstand machte ich halt, um eine Kleinigkeit zu essen.“
Der Kommissar wollte wissen, wie die Bude hieß oder wo sie sich befand, aber ich konnte keine Auskunft geben:
„Den Namen habe ich mir nicht gemerkt und ich kenne die Straßennamen nicht. Aber warten Sie, ich habe hier…“
Ich griff in die leere Innentasche meines Jacketts und zog meine Hand zurück:
„Der Beleg steckt in meiner Brieftasche, die mir abgenommen wurde.“
Der Inspektor verließ den Raum und kam kurz darauf mit einer Fotokopie des Belegs zurück. Er hielt sie dem Kommissar hin, um dann einiges in sein Notizheft zu kritzeln. Der Kaffeeduft schien an Intensität zu gewinnen. Ich schenkte mir einen halben Becher nach und erzählte weiter, ohne dass mich jemand dazu auffordern musste:
„Ich aß eine Currywurst und ging weiter in Richtung Altstadt. Ich habe intensive Wochen hinter mir, war überarbeitet und wegen des heutigen Treffens nervlich angespannt. Also wollte ich mich bei einem Drink entspannen. Ich betrat die erste Bar, aus der Musik klang. Es war die reinste Räuberhöhle. Lärmig, rauchgeschwängert, ungepflegt, dreckig, mit miesen Getränken und zwielichtigen Gästen.“
Der Kommissar krauste seine Stirn:
„Erzählen Sie etwas detaillierter.“
Ich tauchte mental in die düstere Schenke des Vorabends ein:
„Die Bar hieß Barracuda. Ich stellte mich an die Theke. Auf der