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"Manchmal überkommt mich das Gefühl, als wäre ich in jener Zeit jemand anderes gewesen…" Drei Erzählstränge, die hinterfragen, wie absolut eine Wahrheit sein kann, die über das Leben philosophieren, nach einer Definition der Treue suchen und zu einem gemeinsamen Ende zusammenwachsen. Bei einem Spaziergang findet Lars ein verwittertes Tagebuch. Notizzettel in einer anderen Schrift liegen zwischen den gebundenen Seiten. Die Blätter sind größtenteils verklebt und schlecht leserlich. Er nimmt das Buch nach Hause, restauriert es und beginnt es gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Celia zu lesen. Während ihrer Lektüre kommen Zweifel auf, ob es sich tatsächlich um ein Tagebuch handelt, denn die Aufzeichnungen sind mit rätselhaften Ungereimtheiten gespickt. Die Notizen auf den losen Blättern scheinen zwar einen Bezug zu den Tagebucheinträgen aufzuweisen, liefern aber keine Antworten. Die Verwirrung des Paars befeuert ihre Neugier. Die Suche nach plausiblen Erklärungen führt die Beiden in eine Odyssee, die viele Fragen beantwortet, aber auch einige Antworten schuldig bleibt.
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Seitenzahl: 540
Veröffentlichungsjahr: 2017
Ivan Montibeller, Schweizerisch-Italienischer Doppelbürger, geboren 1951 in Norditalien, emigrierte mit seinen Eltern 1959 in die Schweiz, wo er nach einer Lehre als Chemielaborant an der Fachhochschule Winterthur Chemie studierte. Als Chemieingenieur arbeitete er in verschieden, teils leitenden Funktionen in unterschiedlichen global agierenden Unternehmen. Seit seiner Pensionierung findet er Zeit, sich seinen vielfältigen Hobbies, wie Malen, Fotografieren, Lyrik und Prosa schreiben und einiges mehr zu widmen. Er gibt Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund unentgeltlichen Nachhilfeunterricht, denn er weiß aus eigener Erfahrung, dass die Schule nur dann Spaß macht, wenn man dem Unterricht folgen kann, was wiederum die Voraussetzung für eine befriedigende Karriere ist, auf die jeder Mensch ein Anrecht hat.
Seine vielfältigen Erfahrungen mit Menschen und Kulturen prägen seine Werke.
Mit „Die gläserne Echse“ veröffentlicht der pensionierte Chemieingenieur seinen ersten eigenen Roman. Er lebt heute als Vater zweier Töchter und zweifacher Großvater mit seiner Ehefrau in Zürich.
Meinen aufrichtigen Dank verdienen meine Nichte Leila Widmer und Herr Rolf Aeschbacher. Ohne ihre wertvollen kritischen Rückmeldungen und Hinweise wäre dieser Roman nicht derselbe.
Meiner Ehefrau Sonja gebührt ein herzliches Dankeschön für ihr Verständnis, wenn ich mich ihrer Anwesenheit entziehe und in der Schreibkammer verkrieche.
Die Wahrheit hat Kinder, die sie nach einiger Zeit verleugnet: sie heißen Wahrheiten.
(Marie von Ebner-Eschenbach)
Zeit macht aus einem Gerstenkorn eine Kanne Bier.
(Lettisches Sprichwort)
© 2017 Ivan Montibeller
Erste Auflage
Umschlag, Illustration, Coverfoto: Ivan Montibeller
Verlag: tredition GmbH, Halenreie 40–44, 22359 Hamburg
Paperback
ISBN 978-3-7439-8338-0
Hardcover
ISBN 978-3-7439-8339-7
e-Book
ISBN 978-3-7439-8340-3
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Ivan Montibeller
Roman
Wäre ich an jenem schwülen Freitagnachmittag einfach zum Bahnhof gegangen und hätte den sechzehn Uhr siebenunddreißig Zug genommen, wie ich es sonst immer tat, dann wäre mein Leben um einige Erfahrungen ärmer geblieben. Es hätte sich anders entwickelt und niemand kann sagen, ob ich heute so glücklich wäre, wie ich es bin. Am späten Vormittag hatte sich bereits etwas ereignet, was mich veranlasste, von meiner Routine abzuweichen.
Celia, meine Freundin, mit der ich seit gut drei Jahren zusammenlebte, rief mich gegen elf Uhr an und verkündete, sie habe sich unsere Diskussion vom Vorabend nochmals durch den Kopf gehen lassen. Sie fühle sich von mir verarscht. Jawohl, genau so hat sie es formuliert. Dabei existiert das Wort verarscht in ihrem Vokabular überhaupt nicht. Das Telefonat fiel kurz, trocken und einschneidend aus. Es war dieses klare und ungehobelte Wort aus ihrem Mund, das mir eine Wunde in den Magen schnitt. Mein Herz schwoll auf ein Maß, dass ich meinte, es würde platzen. Meine Kehle wurde so eng, dass ich zu ersticken fürchtete. Dieser Zustand hielt den ganzen restlichen Tag über an. Am liebsten hätte ich mich aus meiner Haut geschält. Ich wollte als Neugeborener ein ganz neues Leben antreten, nochmals ganz von vorne angefangen. Es fühlte sich an, als hätte ich während meines ganzen Lebens nichts als Fehler gemacht. An Mittagessen war an jenem Freitag nicht zu denken. Meine Speiseröhre war zu. Obwohl ich bis zum Feierabend fast zwei Liter Wasser trank, änderte das nichts an meiner völlig ausgetrockneten Mundhöhle.
Meine Arbeitsleistung jenes denkwürdigen Freitagnachmittags schwebte knapp über dem Nullpunkt. Kopf und Herz waren ganz woanders und mit ihnen meine ganze Konzentration. Meine für gewöhnlich hohe Motivation einen guten Job zu machen, war restlos verflogen.
Celia hegte den Verdacht, dass ich sie mit Ruth, einer ihrer Freundinnen, betrogen hätte. Ich weiß nicht, wie sie zu dieser Annahme gekommen war. Jedenfalls hatten wir am Vortag den ganzen Abend über dieses Thema gestritten. Ich dachte, ich hätte sie schließlich beruhigen und davon überzeugen können, dass an ihrer Vermutung nichts dran war. Ich liebe sie und das weiß sie. Nie würde ich sie betrügen und das hatte ich ihr auch beteuert. Ich hatte sie nicht angelogen. Nicht wirklich. Aber ich muss zugeben, dass ein Krümelchen Wahrheit an ihrer Vermutung hing. Um ganz ehrlich zu sein, es war ein kleines bisschen mehr als ein Krümelchen. Ich hätte die Existenz intelligenten Lebens auf der Erde geleugnet, um Celia nicht zu verlieren und so spielte ich den Vorfall mit Ruth ein wenig herunter. Ich hatte einige Wochen zuvor ihre Freundin geküsst und auch ein wenig gefummelt, aber mehr nicht. Ich gebe zu, dass ich nicht völlig unschuldig bin, beharre aber auf meiner Version, dass Ruth die Hauptschuld an unserem Techtelmechtel trifft. Sie hat mit Küssen und Fummeln begonnen, ich habe es beendet. Vielleicht trägt zu meiner Entlastung bei, dass ich an jenem Abend nicht ganz nüchtern war. Jedenfalls war ich es, der dem Treiben ein Ende setzte, bevor es eskalierte und das gegen den entschlossenen Widerstand Ruths. Mit meinem Rückzug zog ich mir ihren unverblümten Unmut zu. Dass Frauen ungern abgewiesen werden, versteht sich, aber wenn sie sich so unverschämt aufdrängen, müssen sie eine entsprechende Reaktion in Kauf nehmen. Ich werde ihr nie verzeihen, dass sie mir diese Falle gestellt hat.
Wahrscheinlich hatte Ruth gegenüber Celia aus dem Nähkästchen geplaudert. Diese Femme fatale konnte ihr Maul noch nie halten. Mir war egal, was passiert war und wen mehr und wen weniger Schuld traf. Jetzt ging es nur darum, Ruhe in meine Beziehung mit Celia zu bringen. Klar, würde das nicht einfach werden. Ist bei ihr erst einmal die Flamme der Eifersucht entbrannt, wird es schwierig, sie zu beruhigen. Da geht jeweils ihr spanisches Temperament mit ihr durch.
Deshalb wollte ich an jenem Freitag nicht direkt nach der Arbeit nach Hause gehen. Ich brauchte Ruhe und frische Luft, um mir eine Strategie zurechtzulegen. Die Sache war verzwickt, denn ich war mir nicht sicher, ob Ruth geplaudert hatte. Sollte sie mit Celia gesprochen haben, so wusste ich nicht, was sie erzählt hatte. Unterschiedliche Strategien wären zu bevorzugen, je nachdem, ob und was Celia erfahren hatte.
Vielleicht stützten sich Celias erneute Vorwürfe lediglich auf ihre weibliche Intuition. Kurz gesagt, ich wollte auf jede Eventualität optimal vorbereitet sein. Das erklärte Ziel war, unsere Beziehung zu retten, koste es, was es wolle.
Ich verließ mein Büro zur gewohnten Zeit und spazierte unter den Geleisen hindurch. Dann entfernte ich mich vom besiedelten Gebiet, gelangte zum Waldrand und folgte dem Spazierweg. Je weiter ich mich von den Menschen und ihrer nervösen Feierabendhektik entfernte, umso klarer wurden meine Gedanken. Die Einsicht, dass ich Celia gegenüber aufrichtig sein musste, dass nur Ehrlichkeit unsere Beziehung nachhaltig sichern konnte, erschien mir immer offensichtlicher, je weiter ich dem Waldrand folgte. Was auch immer das Klatschmaul Ruth erzählt haben mochte, oder eben nicht, ich würde meiner Lebensgefährtin die Wahrheit erzählen und meiner Reue Ausdruck verleihen. Ich würde Ruth mächtig bei Celia anschwärzen, für das, was sie mir eingebrockt hatte. Ich begann dieses Weibsbild zu hassen, diese Eva mit dem verbotenen Apfel. Dabei konnte ich mich nicht daran erinnern, jemals jemanden gehasst zu haben.
Sobald dieser Entschluss feststand, fiel ein Teil der Last, die mich gepeinigt hatte von mir ab, wie Sandsäcke von einem steigenden Heliumballon. Mein Kopf fühlte sich wieder freier. Ich konnte wieder ungehindert atmen und sagte zu mir selbst, „es mag hart sein, aber da musst du durch“. Ich war überzeugt, dass sich ein Leidensweg nicht umgehen ließ, dass aber nur die Wahrheit zum Ziel führen konnte und ich war zuversichtlich, dass am Ende alles gut würde.
Als mir klar war, was ich tun musste, drehte ich um und marschierte Richtung Bahnhof. Ich wollte mit dem nächsten Zug nach Hause zu fahren. Nach wenigen Metern fiel mein Blick auf ein schwarzes Etwas, das unter einem Busch hervor lugte. Ich bückte mich und fand ein in schwarzes Leder gebundenes Buch. Ich schlug es auf. Die Seiten waren von der Feuchtigkeit aufgeweicht und ließen sich kaum umlegen. Das Buch enthielt zwischen den gebundenen Seiten eine ganze Anzahl loser Blätter mit Notizen. Die Schrift auf den losen Blättern unterschied sich klar von der auf den gebundenen Seiten. Ich hatte zu jenem Zeitpunkt wahrlich andere Sorgen, als zu mutmaßen, was es mit dem verwitterten Buch auf sich hatte. Ich konnte an nichts anderes denken, als daran, meine Beziehung zu retten. Ich hätte Celia sogar die Heirat versprochen, wenn es nötig geworden wäre. Trotzdem brachte mich meine Neugier, oder vielleicht ein momentaner Impuls dazu, das Buch mitzunehmen.
Die Auseinandersetzung mit Celia verlief besser als erwartet. Natürlich war sie sauer und machte mich zur Schnecke. Klar waren Tränen mit im Spiel und unfreundliche, teils verletzende Worte, logisch sträubte sie sich dagegen, von mir angefasst und getröstet zu werden. Verständlich, dass danach während Tagen Eiszeit zwischen uns herrschte und ich mich zum Schlafen im Wohnzimmer einrichten musste. Die Tatsache, dass meine Erzählung sich mit der von Ruth leidlich deckte – das Waschweib hatte also doch geplaudert – war für den doch versöhnlichen Ausgang maßgebend. In einem wesentlichen Punkt wich meine Schilderung deutlich von Ruths‘ Version ab. Während sie behauptete, ich hätte mit der Annäherung begonnen, bestand ich auf der Wahrheit. Dass meine Lebensgefährtin meiner und nicht Ruths Schilderung des Vorfalls Glauben schenkte, war wenig erstaunlich, denn sie kannte ihre Freundin zur Genüge.
Nach einer guten Woche hatten sich die Wogen weitgehend geglättet. Wir versprachen uns gegenseitig, Ruth künftig zu meiden und ich wurde in ihrem Bett wieder geduldet. Einige Abende später kam mir das Buch in den Sinn, das ich am Waldrand gefunden hatte und immer noch in meiner Mappe aufbewahrte. Ich nahm es hervor und fand meinen Befund vom Waldrand bestätigt. Viele Seiten waren völlig verklebt. Ich überlegte wie ich die Seiten trennen könnte. In meiner Jugend, als Briefmarkensammeln aktuell war, pflegte ich die Wertzeichen mit Dampf von den Umschlägen zu lösen. Nun versuchte ich mit der gleichen Methode die Seiten des Tagebuchs voneinander zu trennen. Ich nahm unseren Wasserkocher in Betrieb, hielt die verklebten Seiten darüber und stellte fest, dass sich die einzelnen Seiten auf diese Weise voneinander lösen ließen. Um zu verhindern, dass die frisch getrennten, vom Dampf benetzten Seiten erneut zusammenklebten, legte ich ein trockenes, dickes Löschblatt dazwischen. Zudem beschränkte ich mich darauf, wenige Seiten am selben Abend zu trennen. Am folgenden Tag waren die gelösten Seiten dann getrocknet und ich konnte die nächsten in Angriff nehmen. Die bereits getrennten und getrockneten Seiten schützte ich jeweils mit einem Plastikbeutel vor dem Dampf. Dabei achtete ich darauf, dass die separaten, nachträglich ins Buch eingefügten Seiten an derselben Stelle blieben, an der sie eingeschoben worden waren. Es dauerte Wochen, bis sich sämtliche Seiten des Buchs umblättern ließen.
Es war Celia nicht verborgen geblieben, dass ich mich abends oft mit dem schwarz eingefassten Buch beschäftigte. Nach der leidigen Geschichte mit ihrer Ex-Freundin Ruth, war unser Verhältnis daran, sich wieder einigermaßen zu normalisieren. Eine Prise Misstrauen, eine kleine Unsicherheit war übriggeblieben und diese würde sich wohl nicht so schnell vertreiben lassen. Meine Hoffnung beruhte darauf, dass dieser Schatten längerfristig verblassen und am Ende verschwinden würde. Es könnte, nebst ihrer Neugier, dieser Argwohn gewesen sein, der Celia veranlasste, sich für das schwarze Buch zu interessieren. Sie fragte sich vergeblich, warum ich ein am Waldrand gefundenes Buch mit nach Hause genommen hatte und nun viel Zeit, Geduld und Mühe investierte, um es lesbar zu machen. Es machte sie besonders stutzig, da die feinmotorische Herausforderung des geduldigen Bedampfens und vorsichtigen Lösens der einzelnen Seiten für mich besonders schwierig war. Bereits in meiner frühen Jugend galt ich nicht als besonders geduldig und wich oft Tätigkeiten aus, die diese Tugend erforderten. Das hat sich bis heute kaum geändert. Selbst als Briefmarkensammeln groß in Mode war, machte ich diesen Trend nur kurzzeitig und halbherzig mit. Also fragte sie mich, was es mit dem Buch auf sich hatte.
Ich begründete alles mir meiner Neugier und versprach Celia, das Buch gemeinsam mit ihr zu lesen. Als dann auch die letzte Seite leserlich und trocken war, hatte das Buch auch Celias Neugier entfacht. Wir begannen sie zu stillen, indem wir das Tagebuch gemeinsam zu lesen begannen. Es sollte sich als ein wirksames Mittel erweisen, um unsere Bande zu festigen.
Ich frage mich, warum mir Tante Sandra so viel bedeutet. Ich kenne sie seit meiner Geburt. In meinen Kindertagen hing ich meiner Lieblingstante so sehr an, wie meinen Eltern. Sie schien immer zu erraten, wonach mir war. Mit ihr machte ich die tollsten Ausflüge. Wir streiften durch den Zoo oder die freie Natur, als wären wir auf einer Safari. Sie wusste über die Eigenarten von Tieren und Pflanzen stets Spannendes zu erzählen. Oft suchten wir uns im Sommer am Fluss die besten Plätze zum Picknicken aus. Im Winter half sie mir, Iglus zu bauen, um die mich sämtliche Spielkameraden beneideten. Das Christkind hatte nicht halb so viel Ahnung von meinen sehnlichsten Wünschen, wie meine Tante Sandra. Sie verbrachte so viel Zeit mit mir, dass sie mich genauso lieben musste, wie ich sie. Wenn ich mich über etwas freute, spiegelte sich mein Entzücken in ihren Augen, die mich noch heute an Smaragde erinnern.
Onkel Paul begegnete ich erstmals in Begleitung von Tante Sandra. Bei ihren Besuchen wurde sie öfter von jungen Männern begleitet. Die meisten von ihnen sah ich ein einziges Mal. Als sie uns erstmals in Begleitung von Paul besuchte, mag ich elf oder höchstens zwölf Jahre alt gewesen sein. Ich kann mich noch heute an ihren Wortlaut erinnern als sie mich Paul vorstellte. Er machte mich mächtig stolz. Sie sagte:
„Das ist Lukas, mein absoluter Lieblingsneffe, ein toller Junge, wie du feststellen wirst.“
Mit geschwellter Brust streckte ich Paul meine Hand entgegen. Er begrüßte mich herzlich und war mir auf Anhieb sympathisch. Das konnte ich nur von wenigen ihrer früheren Begleiter behaupten. Etwas in mir signalisierte, dass Tante Sandra den richtigen Freund gefunden hatte. Das muss auch sie gespürt haben. Von da an kam sie nie mehr mit anderen Männern zu Besuch. Sie begann ihm mehr Zeit zu widmen als mir. Wenn wir nun zusammenkamen, dann meist zu dritt, Tante Sandra, Paul und ich. Ich fühlte ein unangenehmes Ziehen in der Magengegend und das Bedürfnis, einfach wegzugehen, wenn sich die beiden in meiner Anwesenheit stritten. Mein kindliches Gemüt wurde das Gefühl nicht los, dass sich Tante Sandra und Paul nicht streiten durften. Ich war froh, dass Zwist zwischen ihnen selten aufkam. Ich spürte, dass es „gutmütige“ Streitereien waren. Gewöhnlich endeten sie damit, dass Paul meiner Tante nachgab und die beiden Frieden schlossen. Trotzdem hasste ich jede Art von Konflikten, insbesondere die zwischen ihnen beiden.
Ich litt nicht besonders unter der nachlassenden Aufmerksamkeit Tante Sandras. Ich vermisste sie kaum, auch weil ich zu jener Zeit meine Freizeit lieber selber zu gestalten begann. Mit meinen Freunden trieb ich mich auf dem Fußballplatz herum oder tourte mit dem neuen Fahrrad den endlosen Feldwegen entlang. Gelegentlich fuhren wir über die Wiesen und Felder, was mir einige unerfreuliche Begegnungen mit den Landwirten und ihrem Hornvieh bescherte. Paul und Tante Sandra waren regelmäßige Besucher in unserem Haus und sie unternahmen häufig gemeinsame Ausflüge und Wanderungen mit unserer Familie.
Ich kann mich an Tante Sandras und Pauls Hochzeit erinnern, als hätte sie gestern stattgefunden. Ich war gerade dreizehn geworden. Tante Sandra sah in ihrem Brautkleid und mit der eigens für den schönsten Tag im Leben kunstvoll gestalteten Frisur himmlisch aus. Sie kam mir vor wie ein Engel. Ich hatte noch nie eine so schöne Frau gesehen. Hätte ich sie nicht als viel zu alt für mich empfunden, so hätte ich mich bestimmt in sie verliebt. Sie stand kurz vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag, bereits eine reife Frau aus Sicht eines Jungen, der sich gerade mit der Aufnahmeprüfung für das Gymnasium beschäftigte. Ohnehin war sie meine Tante und die heiratete man einfach nicht. Deshalb mochte ich es Paul gönnen, dass er meine wunderschöne, blonde Tante Sandra zur Frau bekam. Vielleicht wäre es korrekter zu sagen, dass sie ihn zu ihrem Ehemann nahm. So lieb und einfühlsam sie stets zu mir und sicher auch zu Paul war, sie wusste immer genau, was sie wollte und sie wusste auch, wie sie es bekam. Ich fühle, dass Tante Sandra und Paul noch eine bedeutende Rolle in einer Phase meines Lebens spielen werden.
Ich weiß nicht warum mir gerade jetzt all diese Gedanken durch den Kopf gehen, aber ich habe heute beschlossen, ein Tagebuch zu führen. Ich werde täglich alles aufschreiben, was ich erlebe und mir erwähnenswert scheint. Morgen, spätestens übermorgen geht‘s los.
Wie jeden Morgen betrachte ich die gläserne Echse auf meinem Nachttisch, bevor ich aufstehe. Die Farbe in der sie am frühen Morgen schimmert, erachte ich als eine Prophezeiung zum bevorstehenden Tag. Bisher hat meine gläserne Mitbewohnerin immer Recht behalten. Heute strahlt sie in einem Blau mit grünlichen Reflexen. Ein gutes Omen, wie ich meine.
Tante Sandra und Paul wollen heute ihren fünfzehnten Hochzeitstag feiern. Vor der dunkelblauen, hölzernen Eingangstür ihres Reihenhauses stehend, bewundere ich ihren kleinen Garten. Er ist so perfekt gepflegt, wie ich es von Tante Sandra nicht anders erwarte. Ihre Rosen stehen in voller Blüte und verströmen einen angenehmen Duft. Es scheint mir als wäre dies Teil des Konzepts, um die Besucher der heutigen Feier in eine fröhliche Stimmung zu versetzen. Die geschnitzte und geschmackvoll verzierte Hausnummer ist ein Beweis für Pauls Kunstfertigkeit. Wie jedes Mal wenn ich hier stehe, zieht sie meinen Blick auf sich.
Mit einem farbenfrohen Blumenstrauß und einer Flasche Rioja ausgestattet, werfe ich einen letzten Kontrollblick an mir herunter. Es sitzt alles adrett. Die Blumen habe ich mir von der netten Floristin im Laden gegenüber unserer WG zusammenstellen lassen. Den Wein hat mein Mitbewohner Florian ausgesucht. Er behauptet ein Weinkenner zu sein, trinkt aber meines Wissens überhaupt keinen Alkohol.
Ohne zu wissen, was mich erwartet, drücke ich auf den Klingelknopf. Paul öffnet mir die Tür. Er trägt Jeans und ein grünes Poloshirt. Erleichtert schließe ich aus seiner Garderobe auf ein Fest in lockerer Atmosphäre. Für eine Party von Krawattenträgern wäre ich nicht angemessen gekleidet. Seine dunklen, von schmalen Brauen akzentuierten Augen, leuchten. Seine offensichtlich gute Laune und das Geplapper und fröhliche Gelächter, das aus dem Wohnzimmer dringt, locken mich ins Haus. Ich übergebe Paul die Flasche, um meine rechte Hand frei zu bekommen. Nun umarme ich ihn einhändig, klopfe ihm sanft auf den Rücken und gratuliere ihm. Um die Ecke ins Wohnzimmer spähend, prüfe ich gespannt, ob ich die Gäste kenne. Nebst meinen Eltern und Tante Sandras Geschwister Verena und Eugen, sitzen da noch Pauls Jugendfreund Richi, sein Bruder Erich und seine Schwester Vicky sowie eine mir unbekannte Frau, etwa im Alter von Tante Sandra.
Der Terminus „Tante Sandra“ ist für mich ein unteilbarer Begriff. Bis heute habe ich es nie geschafft, das Wort „Tante“ wegzulassen. Eigentlich habe ich es nie gewollt. Man könnte fast sagen, dass sie für mich „Tantesandra“ heißt, in einem Wort, als ein Begriff. Ich begrüße meine Eltern und meine Tanten Vicky und Verena, die ich noch nie mit „Tante“ angesprochen habe. Dann gebe ich meinen Onkeln Erich und Eugen die Hand und stelle mich der unbekannten Dame vor. Während Tante Sandra noch in der Küche beschäftigt ist, erfahre ich, dass die Unbekannte in ihrer Wohltätigkeitsorganisation arbeitet. Ihre rundliche Silhouette strahlt Gemütlichkeit aus und wirkt irgendwie beruhigend. Auch ihr faltenfreies, von dunklen Locken umrahmtes Gesicht, vermittelt ein behagliches Gefühl. Ihr Dauerlächeln und ihr gelassenes Naturell lassen sie nicht etwa einfältig, sondern sympathisch wirken. Mich dünkt sie passe zu Tante Sandra, die dynamisch, schlank und beinahe so groß ist wie ich. Somit überragt sie ihre Freundin um geschätzte zwanzig Zentimeter. Instinktiv sehe ich die Beiden als Puzzleteile, die sich perfekt ergänzen.
Nun versuche ich Tante Sandra auf beide Wangen zu küssen. Ich bemühe mich den Kontakt mit ihren Lippen zu vermeiden. Sie weisen heute einen feuerroten Glanz auf und ihre Oberfläche wirkt feucht und bereit, unübersehbare, rote Abdrücke zu hinterlassen. Das ist ungefähr das Letzte, was ich suche. Mein Vorhaben scheitert kläglich, denn Tante Sandra schafft es wie immer, mich zu küssen, anstatt sich von mir küssen zu lassen. Ich wünsche ihr viele glückliche Tage mit Paul und bedanke mich für die Einladung, während ich ihr den Blumenstrauß überreiche.
Da keine weiteren Gäste erwartet werden, bleibt die Party familiär, fast schon intim. Man hat auf mich gewartet, um den Champagner zu entkorken und auf die Jubilare anzustoßen. Ich koste den edlen Schaumwein, doch eigentlich stehe ich mehr auf einfachere Getränke wie Bier oder Apfelschorle. Aber natürlich gehört zu einem solchen Anlass nichts Geringeres als Champagner.
Paul verlässt den Raum, um kurz darauf mit einem Geschenk für seine Frau zurückzukehren. Das blaue, irisierende Geschenkpapier wird von einer kunstvoll gebundenen, silberfarbenen Schleife umfasst. Pauls strahlendes Gesicht verrät, wie viel Freude es ihm bereitet, Tante Sandra zu beschenken. Sie hat ihr Geschenk für Paul bereits neben sich auf die Sofalehne gelegt. Als Paul sein Glas wie eine Glocke anschlägt, verstummt die Unterhaltung der Gäste und er wendet sich an seine Ehefrau:
„Liebe Sandra, während der vergangenen fünfzehn Jahre habe ich es nie bereut, dich geheiratet zu haben, nicht während einer einzigen Sekunde. Du weißt es, aber vielleicht unsere Freunde nicht. Ich liebe dich noch wie am ersten Tag. Das Element…“
Der frenetische Applaus, die Lacher und die zustimmenden Zwischenrufe unterbrechen Pauls Rede kurz. Sobald er wieder gehört wird, fährt er weiter:
„Kristall ist das Element, das für den fünfzehnten Hochzeitstag steht. Ich hoffe, das richtige Geschenk ausgesucht zu haben. Es sollte Symbolcharakter, aber auch praktischem Nutzen haben.“
Er überreicht ihr das blaue Päckchen, das sie mit einem Lächeln in ihren leuchtenden Augen entgegennimmt und ihm einen Kuss zuhaucht. Sie flüstert Paul etwas ins Ohr, dass offenbar nur für ihn bestimmt ist und küsst ihn leidenschaftlich auf den Mund, was weiteren Applaus zur Folge hat.
Das in rotes Seidenpapier gewickelte Geschenk, das Tante Sandra Paul übergibt, lässt wenig Fantasie über dessen Inhalt zu:
„Ich habe kein Geschenk mit Symbolcharakter, aber ich hoffe, dass es dir trotzdem gefällt.“
Nach diesen Worten wendet sie sich an ihre Gäste:
„Liebe Freunde und Verwandte, Paul und mir ist es eine besondere Freude, diesen Anlass im engen Rahmen mit Euch, unseren engsten Freunden, zu feiern. Danke, dass ihr gekommen seid und danke für eure Geschenke. Paul und ich hoffen, dass ihr den Abend genießt. Wir tun es jedenfalls.“
Tante Sandra schält eine Schachtel aus dem Geschenkpapier. Sie entnimmt ihr zwei kristallene Champagnergläser und eine Karte mit der knappen Botschaft „Für intime Momente. In Liebe, Paul“. Im Augenwinkel Tante Sandras sammelt sich etwas Feuchtigkeit. Sie reflektiert das Licht, als würde sie kleine Sterne emittieren und zeugt davon, wie bewegt Tante Sandra ist. Ihre Vorfreude auf solche intime Augenblicke wird für mich förmlich spürbar.
Mit wenigen flinken Handgriffen schält Paul aus dem roten Einband ein Buch. Er lächelt beim Lesen des Titels „Wie erreiche ich mehr – Ein Brevier für Karrierebewusste“. Was er zeigt ist Maske, es ist nicht sein wahres Lächeln. Aus seinen leeren Augen lese ich, dass er sich etwas Persönlicheres erhofft hat. In der Leere seines Blicks verliere ich mich und rutsche in meine eigene Gedankenwelt ab. Die Melancholie in seinen Augen lässt mich daran denken, dass sich Paul seit Jahren Kinder wünscht. Trotz unserer Vertrautheit weiß ich nicht, wie Tante Sandra zu diesem Thema steht. Jedenfalls haben sie und Paul dafür nicht mehr lange Zeit.
Erst jetzt schreckt mich das Blitzlicht von Onkel Erichs Kamera aus meinen abgeschweiften Gedanken. Ich entdecke das riesige neue Bild über dem Kamin und staune, dass es mir nicht früher aufgefallen ist. Die angeregte Unterhaltung und mein kurzer Exkurs in meine eigene Gedankenwelt haben mich wohl davon abgelenkt. Trotz der großflächig aufgebrachten kräftigen Farben, wirkt das Gemälde erstaunlich ruhig. Paul verrät mir, dass er das Gemälde erst vor zwei Wochen fertiggestellt hat.
„Das Beste, das du je gemalt hast. Ich finde es sehr gelungen und es könnte an keinem geeigneteren Platz hängen“, lobe ich sein Werk.
„Deine Tante hat bestimmt, wo es hinkommt. Sie ist die mit dem guten Auge für die Innendekoration.“
Ich beschließe, auch künftig meinen WG-Genossen Florian in Weinangelegenheiten zu konsultieren, da der Tropfen, den ich mitgebracht habe, beim Abendessen von allen gelobt wird.
Nachdem alle Gäste gegangen sind, will Tante Sandra nicht ins Bett, bevor Esszimmer und Küche restlos aufgeräumt sind. Das ist typisch für meine Tante. Sie erträgt keine Unordnung, leidet richtiggehend darunter. Paul hilft ihr beim Abräumen des Geschirrs, den Rest erledigt Tante Sandra lieber selbst.
Paul zieht sich währenddessen ins Büro zurück und fährt seinen Laptop hoch. Ein kurzer Blick auf seine E-Mails verrät ihm, dass nichts Wichtiges hereingekommen ist. Einer spontanen Eingebung folgend, öffnet er das Textprogramm und beginnt planlos einige Sätze zu tippen. Die Sätze reihen sich wie von selbst aneinander und es macht ihm zusehends Spaß. Er tippt ohne Unterbruch. Ein Lächeln flammt periodisch auf seinen Lippen auf, wenn ihm eine besonders gelungene Formulierung gelungen ist. Er schreibt so lange weiter, bis er von seiner Frau abgeholt wird und sie ihren Hochzeitstag nach eigener Vorstellung im intimen Rahmen ihres Schlafzimmers feiern dürfen.
Neuentdeckungen gehören zu unserem Leben. Das sollten sie jedenfalls. Wenn wir etwas Neues entdecken, sei dies bei einem Menschen, einem Tier, einer Pflanze, selbst bei einem leblosen Objekt, so kann diese Erkenntnis dreierlei in uns bewirken. Entsprechend unserem Naturell entwickeln wir eine Liebe dazu, die neue Entdeckung interessiert uns nicht weiter und wir vergessen sie alsbald, oder wir verspüren eine deutliche Abneigung dagegen, sodass wir sie bewusst meiden oder bekämpfen. Ungeachtet des positiven oder negativen Gefühls, das wir für das Neue entwickeln, sollten wir genug Neugierde aufbringen, um uns auf diese Erfahrung einzulassen. Nur wer neugierig bleibt, lernt tiefere Zusammenhänge zu verstehen und verhindert seinen persönlichen Entwicklungsstillstand und damit seine vorzeitige Alterung, was gleichbedeutend mit seiner vorzeitigen Alterung ist.
Ich vertrete die Meinung, dass wir dem Unbekannten stets mit einem gesunden Quantum an Skepsis, vor allem aber mit einem kindlichen Maß an Entdeckergeist begegnen sollten. Je mehr wir über ein Phänomen, eine Theorie, eine Sache oder ein Lebewesen erfahren, umso grösser wird unsere Fähigkeit, uns ein eigenes und begründetes, wenn auch subjektives Urteil darüber zu bilden. Mangelt es uns an Wissen über ein Thema, so besteht die Gefahr, dass wir ins Fahrwasser der Massen geraten und uns von ihrer populistischen Meinung tragen lassen, wie ein Schlauchboot von einem Fluss. Wir würden dann Teil des urteilsunfähigen Pöbels, der blind irgendwelchen manipulierenden Meinungsführern und Demagogen folgt.
Den blauen Farbton von gestern hat meine Echse beibehalten. Violette und rosa Reflexe haben das gestrige Grün abgelöst. Wird der heutige Tag unterschwellige Spannungen und gleichzeitig harmonische Momente bringen?
Paul lehnt sich in seinem Bürostuhl etwas zurück, gähnt und schaut auf seine Uhr. Die Datumsanzeige ist bereits auf die Sechsundzwanzig gesprungen. Dann liest er nochmals die paar letzten Sätze, die er soeben getippt hat. Die Deckenbeleuchtung ist ausgeschaltet. Das kalte Licht seiner gedimmten Halogentischlampe hat er auf die Decke gerichtet, wo es vom weißen Putz ungleichmäßig im Raum verteilt wird. Paul ist mit seinem Text auf dem Bildschirm unzufrieden. Die Freude, die er während des Tippens empfunden hat, ist verflogen. Wieder und wieder liest er die letzten Zeilen konzentriert durch, auf der Suche nach spannenderen Formulierungen. Seine Zähne vertiefen sich sanft in die Unterlippe, als könnten sie seine Konzentrationsfähigkeit durch ihren Druck erhöhen. Er schüttelt immer wieder den Kopf und fährt sich durch sein dunkelbraunes, volles Haar. Er kann nicht mehr nachvollziehen, was ihn an seinem Satzaufbau noch vor wenigen Minuten so fasziniert und belustigt hat. An seinem Wortgefüge stimmt etwas nicht. Er sucht vergeblich nach Änderungen, um die Geschmeidigkeit der Sätze zu verbessern. Er bemüht sich um witzige und blumige Formulierungen. Noch während er schrieb schien es ihm gelungen zu sein. Aber nun, da er das Geschriebene durchliest... Seine sonst verlässlichen analytischen Fähigkeiten scheinen in diesem Fall zu versagen.
In ihrer typisch leichtfüßigen, an Indianer in Hollywoodfilmen erinnernden Art, öffnet Tante Sandra lautlos die Tür zu Pauls Büro einen Spaltbreit und lugt hindurch:
„Was schreibst du da?“
Paul fährt aus seinen Gedanken hoch:
„Ich spiele mit Formulierungen. Vielleicht ist es der Anfang eines Romans.“
„Ein Roman? Was soll das denn?“
„Mich hat plötzlich die Lust gepackt, eine Geschichte zu schreiben. Ich will herausfinden, ob ich das kann.“
„Ach komm jetzt. Legst du dir schon wieder ein neues Hobby zu? Du gehst angeln, fotografierst, malst und versuchst Lieder zu komponieren. Reicht dir das nicht? Mutierst du jetzt auch noch zum Schriftsteller? Wird dir das nicht ein Bisschen viel, mein Universalgenie?“
„Meine Fotos sind nicht schlecht. Das hast du selbst gesagt. Du hast dich auch über das Lied gefreut, das ich zu deinem letzten Geburtstag geschrieben habe. Ich habe zwar nicht die Stimme von Michael Bublé, aber das Lied hat dir sichtlich Freude gemacht. Mein neues Meisterwerk in Acryl schmückt neuerdings unser Wohnzimmer und meine frischen Saiblinge haben dir letzten Sonntag auch geschmeckt. Irgendwie scheinen meine Hobbies nicht nur mir Freude zu machen. Täusche ich mich etwa? Habe nur ich großen Spaß daran?“
Ihr Lächeln hinterlässt ein Grübchen auf ihrer linken Wange. In diese kleine Vertiefung hat sich Paul bereits verliebt als sie ihn das erste Mal anlächelte. Sie streicht ihm über sein kurzes, dichtes Haar:
„Ja, da hast du Recht. Ich möchte nur verhindern, dass es dir zu viel wird neben deiner Arbeit. Du weißt, Stress ist nachweislich ungesund – auch fürs Liebesleben.“
Bei den letzten, gehauchten Worten zieht Paul sie näher zu sich heran und küsst sie sanft auf den Mund und dann auf die Nase:
„Ich gebe schon auf mich Acht. Ich mute dir doch keinen kranken Partner zu. Du bist und bleibst mein wichtigstes und liebstes Hobby. Fühlst du dich etwa vernachlässigt?“
„Nein. Es ist nur…“
„Was Schatz, was stört dich?“
„Ich mache mir einfach Sorgen, Sorgen dass du dich überforderst.“
„Ach komm, Schatz, meine Freizeitbeschäftigungen sind pure Erholung, das genaue Gegenteil von Stress.“
„Wenn du es so empfindest… Darf ich deine Geschichte lesen?“
Sie wendet ihren Blick dem Bildschirm zu.
„Bitte nicht – noch nicht. Es ist furchtbar schlecht. Wenn es überarbeitet ist, gebe ich es dir gerne.“
„Versprochen?“
„Hoch und heilig.“
„Und deine Arbeit kommt nicht zu kurz?“
„Bestimmt nicht.“
„Also, dann lasse ich dich weiterschreiben und lese noch ein wenig.“
„Was liest du denn gerade?“
„Jenseits von Eden – Steinbeck. Bin noch nicht sehr weit gekommen.“
„Tolles Buch. Hoffentlich nimmst du es nicht als Maßstab für mein Geschreibsel.“
„Tue ich nicht. Steinbeck musste schließlich mit Schreiben seine Brötchen verdienen. Also, bis später.“
Tante Sandra will die Tür schließen, doch Paul unterbricht sie:
„Schatz, es ist unser Hochzeitstag“, und mit einem Blick auf seine Armbanduhr fügt er hinzu „oder war es bis vor einer guten Stunde und ich hatte eigentlich eine andere Vorstellung davon, wie wir den Tag ausklingen lassen würden.“
Sie hält mitten in ihrer Bewegung inne und ihr schelmisches Lächeln erhellt Pauls Gesicht. Er speichert die neue Datei unter „Roman“ ab, und fährt seinen Laptop herunter, während Tante Sandra ihr Buch auf dem Wohnzimmertisch liegen lässt und sich ins Bad zurückzieht.
Celia und ich lasen gewisse Passagen aus dem schwarzen Buch mehrmals durch. Sie ließen uns ratlos zurück. Im Gegensatz zu Celia hatte ich noch nie Tagebuch geführt und fragte mich, wie der Verfasser Szenen beschreiben konnte, die er nicht erlebt hatte. Celia war Tagebuchschreiberin, doch auch sie konnte es mir nicht erklären. Selbst ein Voyeur hätte nicht beschreiben können, wie sein Onkel dachte oder fühlte. Wir diskutierten ausgiebig, suchten nach einer plausiblen Erklärung und stritten uns darüber, ob dies ein echtes Tagebuch, oder ein Produkt der Fantasie eines Träumers sei.
Diese Frage beschäftigte uns einen ganzen Abend und befeuerte unsere kontroverse Diskussion. Wir wollten die Frage klären, bevor wir am folgenden Abend weiter lesen würden. Als wir jedoch schlafen gingen, hatten wir das Rätsel nicht ansatzweise gelöst. Welche Rolle kam der Echse mit ihrem Farbenspiel zu? Bot sie eine Spur zur Auflösung des Rätsels? Schließlich waren wir beide müde und vertagten die Fortsetzung unserer Diskussion auf den folgenden Abend.
Am nächsten Abend hatten Celia und ich das schwarze Buch wieder hervorgeholt. Noch bevor wir es aufschlagen konnten, klingelte es an unserer Wohnungstür. Celia öffnete und vor ihr stand Ruth in ihrer aufgeräumtesten Stimmung, ein breites Grinsen im Gesicht. Ich war wie vom Blitz erschlagen und vermutete, dass es Celia nicht anders erging. Meine Nerven vibrierten. Was hatte diese Schlange in unserer Wohnung zu suchen? Wollte sie schlafende Hunde wecken, die Krise zwischen Celia und mir wieder beleben? Ich wünschte dieses Weibsbild zum Teufel, kochte innerlich, verhielt mich aber ruhig. Verblüfft sah ich, wie Celia ihre Freundin, oder eher Ex-Freundin eintreten ließ. Verwirrt blieb ich wie festgefroren auf dem Sofa sitzen. Wie eine Marmorstatue saß ich da und sah zu, wie Celia den Gast in unser Wohnzimmer führte und ihr direkt mir gegenüber einen Sessel anbot. Ruth bedachte mich mit einem stummen, kaum wahrnehmbaren Nicken. Ich rührte mich nicht.
Meine Konsternation darüber, dass Celia Ruth hereingebeten hatte wich erst, als ich Celias Plan zu durchschauen begann. Nachdem sie ihrer früheren Freundin schweigend einen Kaffee serviert und sich ihr gegenüber hingesetzt hatte, deckte Celia die Unwillkommene mit heftigen und derben Beschimpfungen ein. Es fielen Worte, die ich noch nie aus ihrem Munde gehört hatte, Ausdrücke, die ich ihr nie zugetraut hätte. Ich liebe Celia, aber ich bedaure jedes Geschöpf, das ihrem spanischen Urzorn ausgesetzt ist. Obgleich Ruth der einzige Mensch war, der jemals Hass in mir geschürt hatte und Celias Entladung zweifellos verdiente, fühlte ich ein gewisses Mitleid mit ihr. Mit jedem Wort von Celias Kaskade wurde Ruth kleiner, sank regelrecht in sich zusammen. Bestimmt hätte sie am liebsten unsere Wohnung gleich wieder verlassen. Sie wäre aber durch die Wirkung eines Tasers nicht bewegungsunfähiger gewesen, als durch Celias Ausbruch. Celias Worte verloren weder an Härte noch an Offensivpotential, nur ihre Stimme wurde allmählich leiser und ihr Tonfall weniger schneidend.
Als meine Lebensgefährtin schließlich ihre Tirade unterbrach, glich Ruth einem Häufchen Elend. Sie verharrte in einer Starre, die selbst ihre Tränendrüsen verstopfte. Trotzdem fand sie nach einigen Sekunden ihre Stimme wieder. Doch sie klang nicht nach ihrer Stimme, sondern sehr oberflächlich und volumenlos. In Satzfragmenten versuchte sie mir die Schuld an dem Vorfall zu geben. Sie behauptete, dass ich seit geraumer Zeit fremden Frauen nachstelle und es auch bei ihr versucht hätte. Celia schwieg und ließ Ruth ausreden. Obwohl ich nicht als ausgesprochen geduldig gelte, kennt man mich auch nicht als unkontrolliert, impulsiv oder aufbrausend. Es dürfte sich schwerlich jemand finden, der mich jemals die Fassung verlieren sah. Nun trieben mir diese Verleumdungen aber die Zornesröte ins Gesicht. Dass dieses unverschämte Biest sich so aus der Sache herauszureden und mich anzuschwärzen versuchte, konnte ich nicht zulassen. Ich tat etwas, was mich selbst überraschte. Ich stellte mich breitbeinig vor Ruth hin, packte sie fest an ihren Oberarmen und zog sie aus ihrem Sessel hoch. Sie zuckte erschreckt zusammen, während ihre Füße kaum noch den Boden berührten. Ich weiß nicht, wen von uns dreien ich damit am meisten überraschte und schockierte. Noch nie hatte ich mich grob und handgreiflich gegenüber einer Frau benommen. Ruths geweitete, graue Augen starrten mich an und aus ihnen sprach Entsetzen. Dann sagte ich so hässliche Worte, dass sie in meinem Hals beim Aufsteigen kratzten. Ich fauchte, sie solle mir geradewegs in die Augen schauen und die letzten Sätze wiederholen. Nichts geschah. Ich wiederholte meine Forderung in einem verschärften Ton, um klar zu stellen, dass ich keine Weigerung dulde. Ohne sich einzumischen beobachtete Celia, wie ich meinen Druck auf Ruths Oberarme derart erhöhte, dass ihr der Schmerz das Gesicht verzog. Die Gepeinigte sah keinen anderen Ausweg, als ihre Aussage zu dementieren, worauf ich meinen Griff wieder lockerte und sie derb in den Sessel zurück stieß.
Ruth meinte mit kraftloser Fistelstimme, sie gehe wohl besser, doch Celia widersprach resolut. Ihr Ton verbot jede Widerrede:
„Bleib gefälligst sitzen, trink deinen Kaffee aus und hör mir aufmerksam zu!“
Celia erinnerte mich nun an die Steintafel mit den zehn Geboten. Sie zählte Regeln und Verbote auf, nummerierte sie beim Aufzählen durch und ließ sich von Ruth die Einhaltung jeder einzelnen bestätigen. Alle Kontakte zu uns beiden wurden Ruth untersagt. Sämtliche ausgeliehenen Gegenstände mussten zurückgegeben werden. Das Buch, das Ruth Celia geliehen hatte, wurde in Ruths Tasche gestopft und Ruth wurde verpflichtet, innerhalb des folgenden Tages alles zurückbringen, was Celia gehörte. Das war Celias und meine endgültige und unwiderrufliche Trennung von Ruth. Sie verließ unsere Wohnung wie ein getretener Hund. Später sah ich sie nur noch einmal, als sie im Einkaufszentrum rasch hinter ein Regal flüchtete, um mir nicht zu begegnen.
Noch lange nachdem Ruth gegangen war, vibrierte mein ganzer Körper. Ich war wohl aufgewühlter als Celia. In solchen Situationen ist sie wie ein sommerliches Gewitter. Sie ist extrem erregt und explosiv, aber nach dem Ausbruch kehrt die Sonne in ihr Gemüt zurück und ihr Puls normalisiert sich rasch. Ich bin da eher wie ein grauer, herbstlicher Regentag, bar von Blitz und Donner, an dem der Niederschlag aber nur langsam nachlässt und den Himmel für die Sonne frei macht. Weder Celia noch ich konnten verstehen, dass es Ruth gewagt hatte, uns zu besuchen, nach dem, was vorgefallen war. Wir fragten uns, ob ihr Schamgefühl und Anstand fremd seien. Celia hatte ihr bereits einige Wochen zuvor ihre Freundschaft telefonisch gekündigt. Sie hatte sich klar und deutlich ausgedrückt, wie sie mir versicherte. Vermutlich war sie für Ruth doch zu wenig explizit gewesen. Ihre Ex-Freundin dachte wohl, dass sie den Bruch mit ihrem unbeschwerten, gewinnenden Auftreten und ein paar lustigen Sprüchen wieder würde kitten können. Vielleicht dachte sie, dass Celia ihr eher glauben würde als mir. Rechnete sie etwa damit, dass Celia ihr Fehlverhalten als Kavaliersdelikt (kann man das bei Frauen auch so sagen?) abtun würde? Wenn sie ihre Hoffnungen darauf gesetzt hatte, kannte sie ihre Freundin Celia aber sehr schlecht. Wenn es um Treue geht, kennt meine Freundin kein Pardon.
Celia entging nicht, dass ich immer noch sehr aufgewühlt war. Sie tat ihr Bestes, um meinen Metabolismus in die richtigen Bahnen zu lenken. An diesem Abend beschäftigten wir uns nicht mehr mit dem schwarzen Buch, sondern nur noch mit uns selbst.
Am folgenden Abend hatte auch ich den Vorfall des Vorabends verdaut. So konnten wir uns in gewohnter Weise dem schwarzen Buch widmen. Wir waren immer noch auf der Suche nach plausiblen Erklärungen. Wir begannen darüber zu rätseln, warum alles in der Gegenwartsform verfasst war. Es schien als würde der Verfasser ständig in Echtzeit notieren, was gerade geschah. Wir beschlossen weiter zu lesen und hofften, auf den folgenden Seiten Antworten zu finden. Vielleicht würde auch die Frage beantwortet, woher die losen Blätter stammten und ob sie überhaupt im Zusammenhang mit dem schwarzen Buch standen. Allmählich hatte es uns den Ärmel reingezogen, wie man so schön sagt. Langsam war unsere Neugierde endgültig entflammt.
Jeder von uns ist mit einigen Mitmenschen verkettet. Es sind Verwandte, Arbeitskollegen, Nachbarn oder Mitglieder unseres Vereins. Diesen Menschen können wir im Alltag kaum ausweichen, ohne größere Einschnitte in unser Leben in Kauf zu nehmen. Meist pflegen wir zu diesen Menschen ein freundschaftliches oder zumindest respektvolles Verhältnis. Trotzdem suchen wir nicht mit ihnen allen einen intensiven Kontakt. Bei den einen streben wir ihn an, bei anderen, überlassen wir ein Treffen lieber dem Zufall. Es gibt leider im Umfeld der meisten von uns auch Leute, denen wir versuchen aus dem Weg zu gehen. Am liebsten tun wir das möglichst elegant und unauffällig. Wir schützen Zufälle vor, die unseren Weg an dem ihren vorbeiführen. Es wäre uns peinlich, dabei ertappt zu werden, wie wir eine Begegnung meiden und wir freuen uns, wenn uns der Zufall in die Hände spielt und wir „zufällig“ nicht bemerkt werden. Das soll auch so sein, denn warum sollten wir unsere kostbare Zeit mit Leuten oder Tätigkeiten verbringen, die uns mehr Unbehagen oder Langeweile als Freude bereiten?
Die meisten unserer Stärken kennen wir nicht, solange wir nicht gezwungen werden, sie anzuwenden. Wir alle verfügen über wesentlich mehr Talente und Fertigkeiten als wir annehmen. Viele davon schlummern unentdeckt bis an unser Lebensende. Gerade diejenigen Fähigkeiten, die nicht zu unserem Naturell und unserer Lebensweise passen, liegen meist brach, weil wir kein Interesse an ihnen haben. Werden wir gezwungen, uns solcher Begabungen zu bedienen und stellen dann fest, dass wir damit gut umzugehen wissen, so ist unser eigenes Staunen oft grösser als das aller anderen. Leider werden viele Talente dadurch vergeudet, dass wir ihrer nicht bewusst sind und uns nichts und niemand zwingt, sie anzuwenden.
Meine Echse ist ein echtes Chamäleon. Sie wechselt täglich ihre Farbe und trifft dabei stets den Nerv des bevorstehenden Tages. Ihr rötlicher Schein mit dunklen Facetten verheißt einen etwas spannungsgeladenen Tag. Hoffen wir das Beste.
Tante Sandra sitzt links neben mir im Kino. Wir schauen uns gerade einen Streifen an, der von den Kritikern als anspruchsvoll und sehenswert eingestuft wurde. Im Anschluss an Filme mit komplexer Handlung diskutieren Tante Sandra und ich gerne darüber. Tante Sandra und ich haben einen ähnlichen Geschmack, was Filme anbelangt. Wenn sie einen Film sehen möchte, den Paul nicht interessiert, bittet sie mich, sie zu begleiten. Es gelingt ihr fast immer, beide Eintrittskarten zu bezahlen. Darüber streiten wir uns bei jedem Kinobesuch. Es ist kein Streit im eigentlichen Sinn, sondern eher eine rituelle Inszenierung. In seltenen Fällen setze ich mich durch, doch muss ich gestehen, dass ich nicht ungern unterliege, um meine limitierten finanziellen Ressourcen zu schonen.
Heute strecke ich die Waffen ohne großen Widerstand. Ich bin wieder einmal besonders knapp bei Kasse. Tante Sandra freut sich über ihren leichten Sieg. Die häufigen gemeinsamen Kinobesuche verdeutlichen, dass wir eng verbunden sind. Das Band zwischen uns besteht bereits seit meiner Kindheit. Es mag sonderbar anmuten, dass ein bald dreißigjähriger Mann seine zehn Jahre ältere Tante mit großem Spaß ins Kino begleitet, aber es ist mir egal, was die Leute denken.
Entgegen unseren Erwartungen entpuppt sich der Film als langatmige Biographie. Ich finde den Streifen langweilig, ohne Tiefgang und Höhepunkte. In der lang ersehnten Pause halte ich mit meiner Kritik nicht zurück. Tante Sandra muss lachen:
„Ich wollte gerade vorschlagen, die zweite Halbzeit ausfallen zu lassen. Wir sollten die Zeit viel eher bei einem Teller Spaghetti totschlagen. Der Film wird wohl nichts mehr.“
Erleichtert, dass mir der Kampf mit dem Schlaf im zweiten Teil der Filmvorführung erspart bleibt, hake ich mich bei Tante Sandra ein und spaziere mit ihr zu unserem „Stammlokal“. Beim Eintreten in die Spaghetteria empfängt uns ein einladender Geruch, eine Mischung aus gedünstetem Knoblauch und diversen Küchenkräutern.
Manchmal albern Tante Sandra und ich herum, als wäre ich zwanzig Jahre jünger. Ich liebe es, mich kindischer zu geben als mir zukommt und mit ihr Spielchen zu treiben. Sie macht jedes Mal mit offenkundigem Vergnügen mit. Also fordere ich sie auf:
„Rate mal was ich bestellen werde, dann versuche ich zu erraten, was du bestellst.“
„Neues Spiel, neue Regeln! Du bestellst für mich und ich bestelle für dich. Wer mit seinem Essen zufriedener ist, übernimmt heute die Rechnung.“
Ich weiß, dass es mich in den finanziellen Ruin treiben würde, wenn ich für uns beide bezahlen müsste. Dennoch mache ich mir keine Sorgen, denn Tante Sandra würde mir das Geld bestimmt vorschießen und dann willentlich vergessen, es getan zu haben. Wahrscheinlich kommt es gar nicht dazu, denn erfahrungsgemäß findet sie einen Weg, mich gewinnen zu lassen. Das hat sie immer getan, als ich noch ein Kind war und sie hat es sich nicht abgewöhnt. Diese Erkenntnis lässt mich unserem Wettbewerb entspannt entgegensehen. Es stimmt schon, dass ich ein Schmarotzer bin. Nach meinem Studium werde ich hoffentlich genug verdienen, um mich für Tante Sandras langjährige Großzügigkeit zu revanchieren. Jetzt löst sie ihren Blick von der Menükarte und fragt:
„Übrigens, meinst du nicht, du könntest die „Tante“ endlich weglassen und mich Sandra nennen, wie alle anderen? Du bist bald dreißig und mir wird es langsam peinlich.“
Ich bleibe äußerlich ruhig und ernst, aber innerlich verspüre ich ein teuflisches Vergnügen:
„Ich nenne dich seit sechsundzwanzig Jahren so und du wärst für mich nicht du, wenn ich dich anders nennen müsste. Ob du es magst oder nicht, du bist und bleibst meine Tante. Meine one and only Tante Sandra. Oder etwa nicht?“
Sie quittiert meinen Kommentar mit einem Seufzer und einer Kopfbewegung, die ich weder als Nicken noch als Kopfschütteln klassieren kann.
Ich winke den Kellner heran und bestelle für Tante Sandra Spaghetti alle Vongole und ein Glas Weißwein. Sie bestellt für mich Spaghetti Napoli und ein Bier. Während der Kellner mit unseren Bestellungen abzieht, versuche ich erfolglos in ihren smaragdfarbenen Augen zu lesen, ob ich eine gute Wahl für sie getroffen habe. Mir bleibt nur übrig zu hoffen, dass mein Pokerface so unergründlich ist, wie das ihre. Nach einer Minute des Schweigens, finde ich als Erster einen Wiedereinstieg in unsere Unterhaltung:
„Sag mal, Tante Sandra, was macht ihr eigentlich in eurem Verein?“
„Ich habe mich in letzter Zeit vorwiegend um Flüchtlinge, speziell um Kinder und Jugendliche gekümmert. Bei ihnen besteht eine reelle Chance, dass wir sie in unsere Gesellschaft integrieren können, denn junge Leute sind offen für Neues. Wenn es uns nicht gelingt, diese junge Generation zu einem Teil unserer Gesellschaft zu machen, kann uns das später unsere traditionellen Werte kosten. Je mehr ich ihnen beibringe, desto einfacher wird es später für sie und für unsere Gesellschaft werden. Leider fallen viele im Kreise der Familie wieder in ihre angestammten Muster zurück, was ihre Integration hemmt.“
„Es macht mir richtig Freude, dich so begeistert zu erleben und ich kann deine Euphorie verstehen. Ah, da kommen auch schon unsere Getränke. Was hättest du denn für dich bestellt?“
Tante Sandra lacht und ihr Grübchen zeigt sich auf ihrer Wange: „Weißwein, natürlich.“
Ich stimme in ihr Lachen ein: „Und ich ein Bier. Es steht unentschieden.“
Sie wird rasch wieder ernst: „Wie läuft es mit deinem Studium?“
„Gut. Geschichte und Politikwissenschaften sind ja nicht gerade die anspruchsvollsten Fächer und in zwei Jahren bin ich durch. Ich achte darauf, dass nebst meinen verschiedenen Jobs genügend Zeit bleibt, um mich adäquat auf die Prüfungen vorzubereiten.“
„Was für Jobs machst du denn noch, nebst der Aushilfe im Quartierladen?“
„Ach, alles Mögliche. Am liebsten gebe ich Nachhilfestunden, jedoch sind diese Gelegenheiten rar. Ich helfe Nachbarn im Garten, arbeite an Samstagen in der Autowaschstraße oder an der Tankstelle. Ich bin nicht besonders wählerisch. Abgesehen von den Nachhilfestunden habe ich keinen besonderen Spaß an den Jobs. Es geht mir nur ums finanzielle Überleben. Ich hoffe, nach dem Studium rasch eine Stelle zu finden. Einfach wird es nicht werden. Historiker und Politikwissenschaftler sind nicht die Fachleute, nach denen der Arbeitsmarkt schreit. Vielleicht hätte ich doch Wirtschaft studieren sollen.“
„Wohl wahr, mein lieber Neffe aber du wirst es bestimmt schaffen.“
„Dein Wort in Gottes Ohr. Wie geht‘s Paul? Hat er bereits ein neues Bild in Arbeit? Dasjenige über eurem Kamin finde ich phänomenal.“
„Jede verdammte freie Minute schreibt er jetzt, als hätte ihn ein Virus infiziert. Stell dir vor, er hat sich neuerdings in den Kopf gesetzt, einen Roman zu schreiben. Alles andere ist zweitrangig geworden. Jetzt zählt nur noch das Schreiben. So ist er. Du kennst ihn ja auch.“
Der Kellner stellt Tante Sandra die Spaghetti Napoli hin, die sie bestellt hat. Wir bedeuten ihm per Handzeichen, die Teller zu vertauschen. Einen Augenblick lang hebt er seine dunklen Augenbrauen, folgt dann aber kommentarlos unserem Wink.
Nachdem ich die erste Gabel Spaghetti gekaut und geschluckt habe, schaue ich gespannt in Tante Sandras Augen:
„Na, wie schmeckt dir meine Wahl?“
„Ausgezeichnet. Perfekt. Ich hätte nichts anderes bestellt. Und deine Spaghetti?“
Mit vollem Mund nicke ich und forme mit Daumen und Zeigefinger meiner Linken einen Kreis, die übrigen drei Finger gestreckt. Sobald ich wieder sprechen kann, präzisiere ich:
„Fein. Gehört eindeutig zu meinen Favoriten.“
Diese Aussage bringt mir ein kostenloses Abendessen ein. Tante Sandra besteht darauf, dass ihre Aussage auf größere Zufriedenheit schließen lässt. In meiner heiklen finanziellen Lage kommt mir diese Niederlage gelegen. Dann denke ich kurz darüber nach, worüber wir diskutiert hatten, bevor das Essen kam. Als es mir einfällt, frage ich:
„Was schreibt Paul denn?“
„Er sagt, er will einen Krimi schreiben. Das ist sein neuer Spleen.“
„Er ist eben ein kreativer Mensch. Er braucht das. Lass ihn doch einfach schreiben. Es macht ihm Spaß und jeder Mensch braucht Tätigkeiten, die ihm Freude machen und einen Ausgleich zur Arbeit darstellen. Andere treiben sich allabendlich in Kneipen oder zwielichtigen Lokalen herum Du weißt schon, was ich sagen will.“
„Ok, da hast du Recht. Ich lasse ihn ja schreiben, auch wenn es mir lieber wäre, wenn er seine Energie in seine Karriere investieren würde. Er hat ja das nötige Potential, aber seit Jahren steckt er auf seinem Posten fest und bemüht sich nicht, weiterzukommen.“
„Hast du das Gefühl, dass er seinen Job nicht gut macht?“
„Nein, natürlich nicht. Das ist es ja. Er macht brav und vorbildlich seinen Job und versteckt sich dahinter. Andere machen ihre Arbeit sichtbar und fördern so ihre Karriere. Es fehlt ihm einfach an Ehrgeiz“
„Wurmt dich das?“
„Irgendwie schon, wenn ich ehrlich bin. Wenn ich sehe, was andere mit geringeren Fähigkeiten erreicht haben, dann denke ich, er müsste es wesentlich weiter bringen.“
Um dem Verkehr und Gedränge auszuweichen und uns auf dem Heimweg weiter ungestört unterhalten zu können, wählen wir menschenleere Nebenwege. Ganz unverhofft stehen in einer dunklen Gasse zwei Typen breitbeinig, wie Militärkommandanten vor uns. Der eine ist gute zehn Zentimeter kleiner als ich und von gedungenem Körperbau. Der zweite hat in etwa meine Statur. Er ist dünn und schlaksig. Im Zwielicht kann ich weder ihre Haarfarben noch ihre Gesichter erkennen. Unbeweglich stehen sie da und versperren uns den Weg. Der Kleinere richtet sein Wort an mich:
„Na, Bruder, so spät noch unterwegs und das mit einer hübschen Dame?“
Das kann nichts Gutes bedeuten und ich überlege fieberhaft, wie ich mich am geschicktesten verhalte. Schnell wird mir klar, dass ich die besten Chancen habe, wenn ich die Initiative ergreife. Also gebe ich dem Mann gar nicht erst die Chance weiter zu reden:
„Was willst du?“
„Spielen, Bruder, nur spielen.“
Sein dreckiges Lächeln kann ich zwar nicht sehen, aber ich spüre es:
„Was soll das?“
„Überlass uns deine Dame für eine Weile und gib uns deine Barschaft und wir werden gute Freunde.“
Wenn ich nicht sofort reagiere, wird es zu spät sein. Ich bin kein Kämpfer. Tätlichen Auseinandersetzungen bin ich immer aus dem Weg gegangen. Oft konnte ich sie durch Worte beilegen. Diesmal wird es nicht möglich sein. Es wird körperlich werden. Ich gehe meine Stärken im Kopf durch: rasche Reaktionsfähigkeit und leidliches Fußballertalent. Daraus muss ich jetzt das Beste machen. Ich versuche, einen friedfertigen Eindruck zu machen, deute Tante Sandra stehen zu bleiben und gehe auf die gedungene Gestalt zu. Mein Adrenalinspiegel erreicht Rekordwerte. Meine rechte Hand bewegt sich langsam auf meine rechte Gesäßtasche zu. Es muss so aussehen als würde ich zu meinem Portemonnaie greifen um es dem Mann zu übergeben, der es gefordert hat. Als ich nah genug bei ihm bin, kann ich ein selbstzufriedenes Lächeln auf seinem etwa zwanzigjährigen Gesicht erkennen. Seine Haarfarbe erschließt sich mir nicht, da sein Schädel kahl rasiert ist. Dann erkenne ich den Schlagring an seiner Linken. Nahtlos fließend geht mein letzter Schritt in einen überraschenden Tritt über, der mein Gegenüber voll zwischen die Beine trifft. Der Junge bückt sich mit einem Schmerzensschrei vornüber und ich behandle seinen Kopf wie eine geniale Flanke vors Tor, nämlich mit einer Direktabnahme. Wie ein tödlich getroffener Infanterist sackt er in sich zusammen und bleibt reglos liegen. Meine Augen erfassen den zweiten Wegelagerer. Jener bleibt für den Bruchteil einer Sekunde unbeweglich und ungläubig stehen, reißt dann entsetzt seine Augen auf, dreht sich um und macht sich in die nächste Quergasse davon. Ich wende mich Tante Sandra zu. Sie scheint vom Schauspiel gelähmt. Ich ergreife wortlos ihren Ellbogen und führe sie in die Richtung, aus der wir gekommen sind.
Wir können jetzt beide etwas Stärkeres als einen Weißwein vertragen. Sobald wir in einer etwas belebteren Gegend sind, steuere ich uns beide in eine Bar. Die ganze Anspannung bricht erst jetzt aus mir heraus. Ich zittere am ganzen Körper und mein Sprachzentrum scheint blockiert, sobald ich mich auf eine Eckbank niedergelassen habe. Dafür erwacht Tante Sandra jetzt aus ihrer Starre und bestellt zwei Schnäpse. Dann wendet sie sich an mich:
„Mein lieber Mann, Lukas, was war denn das? Das hätte ich dir nie zugetraut. Da sind wir glimpflich davon gekommen. Sollen wir den Vorfall melden?“
Ich schüttle nur den Kopf. Meine Kehle lässt keine Worte durch. Ich bin froh, dass der Schnaps meine Blockade löst:
„Lass nur. Ich glaube nicht, dass sie uns nochmals belästigen. Ich könnte sie ohnehin nicht beschreiben. Überhaupt habe ich jetzt keine Lust auf Polizei. Lass gut sein, Tante Sandra.“
Mir ist flau im Magen. Ich fühle mich ziemlich elend. Wir diskutieren noch eine Weile über den Vorfall aber die Diskussion ist mir zuwider. Mich erstaunt es vermutlich mehr als Tante Sandra, dass ich mit den beiden fertig geworden bin. Die Erklärung ist, dass ich einfach funktioniert habe. Das Denken war ausgeschaltet und alles geschah intuitiv. Sicher hatte ich zu Beginn eine Strategie, aber das Überraschungsmoment und pures Glück waren die Schlüssel zum Erfolg. Nachdem ich den Anführer gebodigt hatte, war es nur logisch, dass der Mitläufer sich aus dem Staub machte. Der Schreck steckt uns beiden noch lange in den Knochen. Ich begleite Tante Sandra auf stark frequentierten Wegen bis vor ihre Haustür. Auf dem Weg reden wir nicht miteinander. Jeder verarbeitet das Geschehene für sich allein. In dieser Nacht ist an Schlaf gar nicht zu denken. Ich spüre, dass ich mich jedes Mal schlecht fühlen werde, wenn ich über diese Episode spreche. Ich nehme mir vor, Tante Sandra gleich morgen früh zu bitten, nicht mehr über dieses Thema zu reden.
Es gibt verblüffende Männerfreundschaften. Bei erstaunlich vielen wundert man sich darüber, dass sie zustande kommen und die Zeit überdauern. Freundschaftliche Bindungen beruhen nicht notwendigerweise auf gemeinsamen Interessen oder Tätigkeiten, häufigen Begegnungen oder einem gemeinsamen Bekanntenkreis. Sie ergeben sich nicht zwingend daraus, dass beide in der gleichen Mannschaft spielen, oder dass sie zur gleichen sozialen Schicht gehören. Gelegentlich gibt es sogar Freunde, bei denen man gemeinsame Interessen vergeblich sucht und die deshalb wenig miteinander reden. Ihr Verhältnis kann also als stille Freundschaft bezeichnet werden, als eine Form, die bei Frauen undenkbar ist. Häufig sucht man vergeblich nach dem Kitt, der eine solche Freundschaft zusammenhält. Echte Freundschaft gründet nie auf Logik und oft sind es gerade diese engen, aber schwer nachvollziehbaren Freundschaften, die sich als besonders unerschütterlich erweisen. Sie trotzen selbst politischen, religiösen oder anderen Grundwerte betreffenden Differenzen.
Ein reines leuchtendes Grün ist die Farbe in der sich heute meine Echse kleidet. Ich denke, die Natur wird am heutigen Tag eine bedeutende Rolle spielen. Wiesen, Wälder oder vielleicht Gewässer? Ich lasse mich überraschen.
Paul saugt die frische Morgenluft tief ein und nimmt den typischen Geruch des sommerlichen Sees in sich auf. Er schaut über die seichten Wellen, welche die kühle, morgendliche Brise erzeugt und zieht den Kragen seiner Jacke etwas enger um seinen Hals. Dann wendet er seinen Blick seinem ehemaligen Schulkameraden Richi zu, der gerade Anstalten macht, sich eine Zigarette anzuzünden:
„Richi! Wie kannst du bloß morgens um vier an einem solchen Ort rauchen? Wir sind hier zum See herausgefahren, um die frische, reine Morgenluft zu genießen und dem Lärm und Dreck der Zivilisation zu entfliehen. Wir werfen unsere Angeln nicht aus, um Fische zu fangen. Verstehst du das? Wir werfen sie aus, um unserem Körper und unserem Geist Ruhe und Erholung vom Alltag zu gönnen. Wir sind hier um unsere Lungen mit reiner Luft zu spülen, um sie zu reinigen, und da rauchst du?“
„Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Die einen saufen oder kiffen oder nehmen noch schlimmere Drogen. Andere huren oder rasen mit ihren dröhnenden, getunten Boliden durch die Gegend und gefährden ihre Mitmenschen. Mein Laster ist halt das Rauchen. Das schadet niemandem sonst und ich genieße es, wenn du weißt, was ich meine.“
Nach kurzer Denkpause fügt Richi schmunzelnd hinzu:
„Meine Lungen vertragen keine saubere Luft.“
Richi findet seine Bemerkung witzig und hofft, Paul durch seine Bemerkung aufzuheitern, doch die Hoffnung verpufft. Sein Freund bleibt ernst und zeigt eine angewiderte Miene:
„Mein Gott, Richi. Das ist nicht witzig! Was ich mir von euch Nikotinjunkies anhören muss! Für solche Sprüche habt ihr eine ausgeprägte Kreativität. Das muss man euch lassen. Wenn du nicht anders kannst, dann rauche, aber bitte komm mir nicht zu nah und blase den Rauch nicht in meine Richtung. Du weißt, dass ich keinen Rauch vertrage, um diese Zeit schon gar nicht. Ich bin nur hier, um frische Luft zu atmen. Ich bin an diesem hochheiligen Sonntag nicht auf Grund seniler Bettflucht schon um drei aufgestanden.“
„Schlecht gelaunt, so früh am Morgen? Hier, nimm einen Schluck Kaffee, das heitert auf.“
Richi hat eine Thermosflasche aus seiner Tasche gefischt und hält sie Paul hin. Pauls versteinertes Antlitz büßt langsam etwas an Härte ein. Nickend nimmt er die dargebotene Thermosflasche und schenkt sich einen halben Becher voll ein:
„Tut mir leid, Richi. Ich wollte nicht unfreundlich sein, aber Rauch um diese Zeit macht mich aggressiv.“
Dann trinkt Paul den Becher rasch in zwei Schlucken leer:
„Soll ich dir auch einschenken?“
„Klar, sicher. Kaffee passt ausgezeichnet zur morgendlichen Zigarette, wenn du weißt, was ich meine.“
Nun prusten beide los und das Lachen, das Pauls Körper durchschüttelt, erschwert ihm das Einschenken. Zwischen einzelnen Schlucken murmelt Richi:
„Nie ist der Kaffee so gut, wie zu dieser frühen Stunde… und zu einer Zigarette“, fügt er dann noch hinzu.
Während Richi die Thermosflasche in seine Tasche zurückstellt, holt Paul seine Angel ein und wirft sie erneut aus. Er meint:
„Sie scheinen heute nicht zu beißen. Vielleicht haben
wir den falschen Köder.“
„Wieso den falschen Köder? Der falsche ist schon richtig. Du hast ja selber gesagt, dass wir nicht wegen der Fische, sondern wegen der Luft hier sind. Also sollten wir im Grunde froh sein, wenn wir später keine Fische ausnehmen oder zubereiten müssen. Stimmt‘s?“
„Ja und nein. Klar sind wir da, um frische Luft zu tanken und Zeit mit einem Freund zu verbringen, aber was ist mit unserer Ehre als Angler? Wenn wir ohne Fang nach Hause kommen, machen wir uns lächerlich. Und hey, ich würde heute ganz gerne ein Fischfilet essen.“
Richi meint Pauls Blick zu entnehmen, dass dieser es nicht bitter ernst meint und erwidert:
„Du und Anglerehre, dass ich nicht lache! Du musst doch nur deiner Frau glaubhaft machen, dass wir tatsächlich angeln waren und uns nicht mit anderen Weibern herumgetrieben haben. Wenn deine Sandra einen Eifersuchtsanfall bekäme, Mannomann, da würden aber die Funken sprühen, wenn du weißt, was ich meine. Also, ich wechsle auf Würmer.“
Richi kurbelt seine Angel ein, während eine Ente im Schilf nach ihrem Partner ruft. Er holt aus seiner Anglertasche eine runde, rote Dose, die ursprünglich Hustenbonbons vor Umwelteinflüssen schützte. Als die Tabletten ausgelutscht waren, hatte Richi Löcher in den Deckel gestochen und etwas Erde eingefüllt, um seine Würmer darin aufzubewahren. Er entnimmt ihr einen sich windenden Wurm und spießt ihn auf den Haken. Er wirft den Köder aus, setzt sich auf seinen Klappstuhl und holt gedankenverloren seine Zigarettenschachtel aus der Brusttasche. Mitten in der Bewegung hält er inne und verharrt, als würde er für einen Maler oder Bildhauer Modell stehen. Dann pendelt sein Blick theatralisch zwischen Paul und seinen Glimmstängeln. Sein Gesicht verzieht sich und mit einem kurzen Schnauben lässt er das Päckchen zurück in seine Brusttasche gleiten:
„Siehst du, Paul, deshalb habe ich nie geheiratet. Ständige Predigten wegen des Rauchens oder Biertrinkens anhören, pünktlich zuhause sein müssen, das würde mir mächtig auf du-weißt-schon-was gehen. Auf Einkaufstouren wie ein Schatten seiner besseren Hälfte folgen, in der Wohnung pingelige Ordnung halten, Streit um das Fernsehprogramm, ich könnte endlos aufzählen, was mich verrückt machen würde. Da bleibe ich doch lieber Junggeselle, jedenfalls so lange es bei den Weibern gut läuft, wenn du weißt, was ich meine. Apropos gut laufen, wie läuft es dir auf der Arbeit so? Hast du immer noch den Job, wo du eure Verkaufspreise selbst festlegen darfst?“
„So ungefähr. Ich bin zwar nicht völlig frei, die Preise festzulegen, aber etwas Spielraum habe ich schon. Die Schwierigkeit ist, dass unsere Lieferanten ungern hohe Rabatte oder Preisnachlässe gewähren. Wenn ich gut einkaufe, kann ich die Bedingungen für den Verkauf und Aktionsverkäufe festlegen. Dauer, Preis, Werbung, all das eben.“
„Ich würde die Rabatte nach meinem Einkaufszettel festlegen. Was ich kaufe, ist reduziert. Machst du das nicht so? Das wäre ja blöd, wenn nicht“, kichert Richi.