Das ist Fußball -  - E-Book

Das ist Fußball E-Book

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Beschreibung

Der Fußball schreibt die besten Geschichten? Stimmt – man muss dem Fußball aber auch die richtigen Fragen stellen. Wie bringt der Trainer Hansi Flick seine Mannschaften zum Leuchten? Warum ist Diego Maradona den Drogen verfallen? Was verbindet den Bestsellerautor Jo Nesbø mit dem Stürmer Erling Haaland? Und was hat Julian Nagelsmann mit der Freiwilligen Feuerwehr Süd-Giesing zu schaffen? Von alledem handelt dieses Buch: von Helden und Schurken, von Genies und Blendern, von Leidenschaft, Hingabe, Trauer. Recherchiert und aufgeschrieben von den Fußball-Autorinnen und Autoren der Süddeutschen Zeitung.

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Süddeutsche Zeitung

DAS IST FUSSBALL

Die besten Reportagen,Porträts und Interviews

Claudio Catuogno und Christof Kneer (Hrsg.)

Vorwort

Vom Leben, Lieben und Scheitern

VON MATTHIAS BRANDT

Ich liebe Fußball. In einem unvernünftigen und unerklärlichen Maß. Und ich glaube nicht, dass die beiden Menschen, die mir die wichtigsten sind, es wirklich verstehen. Aber sie wissen um diese Liebe und achten sie großmütig, das ist mehr, als man verlangen kann.

Ihre Generosität könnte auch damit zu tun haben, dass sie einen Blick in den noch aufgeschlagenen Sportteil der Süddeutschen Zeitung auf unserem Küchentisch geworfen haben.

Ein guter Fußballtext handelt nämlich vom Leben, der Liebe und vom Scheitern all dessen. Und das interessiert eigentlich jeden.

Als ich ein Kind war, in Westdeutschland in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, gab es nach den Fußballweltmeisterschaften immer zwei konkurrierende Buchpublikationen der Sportreporter von ARD und ZDF. Man musste sich entscheiden zwischen dem Ernst-Huberty-Buch und dem Harry-Valérien-Buch. So war es mit fast allem damals, es herrschte eine antagonistische Ordnung: Adidas oder Puma, CDU oder SPD, Pelikan oder Geha, Gladbach oder Bayern, BRD oder DDR, Märklin oder Fleischmann.

Das größte Kompliment, welches ich den Autoren dieser Sammlung machen kann? Dass es für mich so wertvoll ist wie ein Huberty-Buch.

Jeden Morgen kam damals ein Stapel verschiedener Tageszeitungen in unser Haus. Manchmal, erinnere ich mich, saß die komplette Familie am Frühstückstisch und jeder war in seine eigene Zeitung vertieft, lesend und schweigend. Ich immer auf der Suche nach etwas Neuem über Günter Netzer, meinen Helden, von dem ich die wichtigste Lebenslektion lernte, als er sich selbst einwechselte. Und weil es so gut beschrieben war, habe ich heute das Gefühl, ihn viel öfter spielen gesehen zu haben, als es tatsächlich der Fall war.

Wäre die Zeitung ein Land, dann wäre der Sportteil der Süddeutschen jene Stadt, in die ich vor Ewigkeiten gezogen bin, wo ich freiwillig blieb und mich am besten auskenne.

Den Politikteil lese ich konzentriert, stirnrunzelnd, genussfrei. Beim Feuilleton verstehe ich meist nicht, wovon die Rede ist. Alles, was mit Wirtschaft zu tun hat, lege ich sofort ungelesen beiseite. Zuhause fühle ich mich tatsächlich nur im Sport-, genauer, im Fußballteil. Vielleicht deswegen, weil die Sportreporter und ich unsere sehr unterschiedlichen Berufe aus ähnlichem Grund gewählt haben. Wir waren Kinder, die gerne gebolzt und sich dann einen Beruf gesucht haben, in dem sie sich an dieses Gefühl erinnern können.

Wir waren Kinder, die gerne gebolzt und sich dann einen Beruf gesucht haben, in dem sie sich an dieses Gefühl erinnern können

Das Tolle am Fußball ist auch, dass er spielerisch Herkunfts- und Klassengrenzen überwinden und uns mit Menschen verbinden kann, mit denen wir sonst kaum in Kontakt gekommen wären. Wenn unsere Teams spielen, sind wir den anderen Fans, so unterschiedlich wir auch sein mögen, tief verbunden. Wir sind nicht mehr allein, wissend, dass alle in diesem Moment gleich empfinden. Es wäre traurig, wenn die Geschäftemacher das eines Tages endgültig zerstören würden, denn hier sitzt für mich die Seele des Fußballs. Von der es sich lohnt, so zu erzählen, wie es die Autorinnen und Autoren tun.

Die in diesem Buch versammelten Reportagen und Texte sind alle in der Süddeutschen im Rahmen der dort in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Fußballberichterstattung erschienen und ich, der ich sie schon aus der Zeitung kenne, hangele mich an ihnen entlang durch die Erinnerung.

Und beneide dabei ein wenig diejenigen, die sie hier zum ersten Mal lesen werden.

Matthias Brandt, geboren 1961 in West-Berlin, ist einer der beliebtesten deutschen Schauspieler, Buchautor und glühender Werder-Bremen-Fan.

Spielverlauf

Der Blender von Rio

„Der Bomber würde heute noch mehr Tore schießen“

Essen nicht vergessen

HÄNGENDE SPITZE

Nagelsmann löscht einen Brand

Weit über das Spiel hinaus

Flicks Werk

HÄNGENDE SPITZE

Doll stößt den Bock um

Die Insel ist rund

Herzbeben

Es war einmal

„Geht’s eigentlich noch?“

KOMMENTAR

Das Grundgesetz vom Tegernsee

So einfach kann leben sein

„Das ist Killerinstinkt!“

Diesmal nur 0:19

KOMMENTAR

Gleiches Geld? Gleiche Chancen!

Auf den Straßen von Buduburam

Die Milliarden-Intrige

HÄNGENDE SPITZE

Ein Fall für die Schaumpolizei

Die Bestrafer

Schöner leben

„Wegen solcher Typen habe ich einen Scheißruf“

Manés Muse

Mesut, das Medium

Verlockende Frucht

„Mit Jogi ging ein Ruck durchs Land“

Früher war mehr Nähe

KOMMENTAR

Gekommen, um zu verschießen

Seine Exzellenz

Hannes kommt nicht mehr

„Zivilcourage beginnt in der Kabine“

HÄNGENDE SPITZE

Bildungsreise ins Machtvakuum

… ——— …

„Ich bin geprägt von Ernst Huberty“

Das Leck-mich-Prinzip

Über allem

„Die Figur Maradona hat ihn erdrückt“

A weng brudal

Der geheime Helfer des DFB

HÄNGENDE SPITZE

Z4hlen, b1tte! Ein 4bsch13dsgruß

Trotz und Wasser

Nachspielzeit

Der Blender von Rio

Der brasilianische Top-Stürmer Carlos Kaiser konnte vieles – nur nicht Fußball spielen. Trotzdem kickte er viele Jahre und für die größten Vereine. Eine wahre Geschichte

SZ vom 08. Mai 2018

VON BORIS HERRMANN

Carlos Kaiser in Rio. Die „hängende 9“ gab es vor 20 oder 30 Jahren im Fußball noch nicht. Aber die am Spielfeldrand abhängende 9, das war er, der Kaiser, das Gesamtkunstwerk.

Brasilien im April 2018: In die Kinos kommt ein Film über einen Fußballer, dessen Geschichte fast noch erstaunlicher ist als die von Pelé, Sócrates oder Neymar. Der SZ-Korrespondent hat den Helden in Rio de Janeiro getroffen.

Für einen, der zwei Jahrzehnte lang Profifußballer war, ist die Statistik des Brasilianers Carlos Kaiser dürftig. „Höchstens 20 Spiele.“ Position? „Mittelstürmer.“ Tore? „Kann mich an keins erinnern.“ Kaiser meint: „Scheiß auf die Statistik!“ Wenn er zurückblickt auf die Zeit, in der er den Fußballbetrieb zum Narren hielt, bereut er nichts. Seinen Erfolg macht er weder an Einsatzzeiten noch Torquoten fest. Sondern an so etwas wie Liebe. „Man wird in ganz Brasilien niemanden finden, der schlecht über mich redet.“

Er hat sich in einer von ihm ausgewählten Pizzeria in Rio de Janeiro niedergelassen, „um wirklich einmal die ganze Wahrheit zu erzählen“. Als der Kellner kommt und die Bestellung aufnehmen will, sagt er: „Mir reicht eine Cola light.“ Er legt eine dicke Mappe auf den Tisch. Beweismaterial, dass es seine unfassbare Karriere gegeben hat. Er war 26 Jahre lang Stürmer, ohne ein einziges Mal ins Tor zu treffen, da steht man natürlich unter Erklärungszwang. Aber Carlos Kaiser hat sich gut vorbereitet. Alles ist bestens dokumentiert. Er zeigt Zeitungsausschnitte aus Brasilien, Spielerpässe aus seiner Zeit in Frankreich und ein altes Foto von einem roten Ferrari mit Dellen am Heckspoiler. Neben der Fahrertür steht Romário, ein Mittelstürmer, der wie am Fließband traf und Brasilien 1994 zum WM-Titel schoss. Weiter hinten ist auf dem Foto ein Mann mit langen schwarzen Haaren zu sehen, dicke Uhr am Handgelenk. Kaiser lächelt triumphierend: „Jetzt raten Sie mal, wer das Auto zu Schrott gefahren hat?“

Talent? Pfff, egal. Er begriff früh, was viel wichtiger ist: eine gute Geschichte, überzeugend erzählt

Damit sind aus seiner Sicht alle Zweifel ausgeräumt. Wer nämlich den Ferrari von Romário lenken durfte, der konnte nicht irgendwer sein. Vermutlich stimmt das sogar.

Die Geschichte dieses Kaisers spielt im Rio der Achtziger- und Neunzigerjahre, in einer Stadt, in der der Begriff des „Malandro“, wörtlich übersetzt Gauner oder Ganove, keineswegs negativ besetzt ist. Wer es hier in Rio de Janeiro schafft, sich durchzumogeln und dabei auch noch das Leben zu genießen, wird bewundert. Das muss man wissen, um ansatzweise zu begreifen, wie Carlos Kaiser bei allen vier großen Fußballklubs von Rio unterkam, bei Flamengo, Fluminense, Botafogo und Vasco da Gama, und dazu bei mehreren Vereinen im Ausland – obwohl er nachweislich nicht wirklich Fußball spielen konnte. Schon überhaupt nicht auf Profiniveau.

Kaiser, 54, trägt immer noch lange Haare und eine schwarze Sonnenbrille, wie auf den alten Bildern. Aber die Brille ist nicht mehr zum Angeben da, sondern um seinen leeren Blick zu verbergen. Seit drei Jahren ist er nahezu blind, die Netzhäute. Kaiser glaubt, dass es sich um eine Folgeerscheinung seiner zweiten Karriere als Kickboxer handelt. „Hab’ den schwarzen Gürtel.“ Man weiß bei ihm nie, wo die Beichte endet und wo die nächste Lüge beginnt. Dass er unter dem bürgerlichen Namen Carlos Henrique Raposo zur Welt kam, gilt noch als unumstritten. Und schon enden die Gewissheiten. Den Künstlernamen Kaiser haben sie ihm angeblich als zehnjährigem Straßenfußballer verpasst, „weil ich etwas von Beckenbauer hatte“.

Einer seiner Weggefährten erzählt eine andere Version. Früher habe es in Rio eine Biermarke namens Kaiser gegeben, die dem heranwachsenden Partyfreund Carlos Henrique besonders gut geschmeckt habe. Daher der Name. Wenn man ihn selbst dazu fragt, sagt er: „Ich trinke doch gar keinen Alkohol.“

In Brasilien träumen Millionen junger Männer von einer Profikarriere. Viele von ihnen sind hoch talentiert, und trotzdem wird die Welt nie etwas von ihnen erfahren. Bei Carlos Kaiser war es umgekehrt. Aus seiner Sicht haben all die namenlosen Träumer schlichtweg nicht verstanden, worauf es ankommt. Jedenfalls nicht auf Talent, hartes Training und solche Details. Sondern auf eine gute Geschichte, überzeugend vorgetragen. „Das ganze Leben ist Marketing“, so sieht er das. Gleich zum ersten Treffen hat er einen Vorschlag für eine Artikelüberschrift mitgebracht: „Der größte Malandro der Fußballhistorie“.

Um diesen Titel haben sich schon andere beworben. Maradona mit seiner Gotteshand, Geoff Hurst mit seinem Wembleytor, Andy Möller mit seiner Jahrhundertschwalbe. Der Fußball war immer auch ein Geschäft mit Halbwahrheiten und Täuschungsmanövern, mit kleinen und großen Notlügen. Spanische Vereine haben sich auf die Erfindung von europäischen Großeltern spezialisiert, um mehr Südamerikaner verpflichten zu können, als die Ausländerregel erlaubt. Afrikaner sind Meister der Altersfälschung. In Iran wurden vier Spielerinnen der Frauen-Nationalelf suspendiert, weil sie Männer waren. Der brasilianische Werderaner Ailton hält den Weltrekord für den Fußballer mit den meisten Tanten. Sie hatten immer genau dann Geburtstag, wenn bei Werder Trainingsauftakt war.

In der Kategorie der bizarrsten Falschaussage ist der ehemalige Bayern-Torwart und Schlagersänger Jean-Marie Pfaff unübertroffen. Er behauptet heute, der Welthit „Ein bisschen Frieden“ von Nicole sei ursprünglich als B-Seite der legendären Pfaff-Single „Ich war ein Belgier und jetzt bin ich ein Bayer“ veröffentlicht worden. Ist Pfaff deshalb ein schlechter Mensch? Gewiss nicht. Wahrscheinlich hat er diesen Unsinn einfach so oft erzählt, dass er irgendwann daran glaubte.

Alles aber, was sich die Maradonas, Ailtons und Pfaffs dieser Welt ausgedacht haben, verblasst neben dem, was der Kaiser von Rio erschuf: eine komplette Karriere als Fiktion, eine eigenständige Kunstform. Er kreierte eine Figur, die mit Romanhelden wie Felix Krull oder Tom Ripley mithalten kann. Und diese Figur brachte es in der Realität zum Fußballprofi.

Wie geht so was? Ganz einfach, sagt Kaiser: „Ich war immer dort, wo der Ball gerade nicht war.“

Im Zuge der Verwissenschaftlichung des Fußballs wurde vor einigen Jahren der Begriff der „falschen Neun“ geprägt. Früher hätte man dazu hängende Spitze gesagt. Carlos Kaiser war eher eine abhängende Spitze, und zwar hing sie lässig am Spielfeldrand ab. Er war eine falsche Neun im wörtlichen Sinne. In seiner gesamten Spielerkarriere verfolgte er ein einziges Ziel: Nur nicht spielen.

Sobald Kaiser also von einem neuen Klub angeheuert worden war und die übliche Vertragsprovision kassiert hatte, meldete er sich verletzt. Mal zwickte der Oberschenkel, mal der Rücken, mal das Knie. Für alle Fälle hatte er sich auch mit einem Zahnarzt angefreundet, der ihm ein Attest ausstellte, wenn er eines brauchte. Das ließ sich selten länger als ein paar Monate aufrechterhalten, aber nach jedem Rauswurf fand Kaiser wieder einen neuen Verein, der ihn haben wollte.

Er war der größte Fußballer, der nie gespielt hat. Immer, wenn’s drauf ankam, ging’s grad nicht

Warum?

Gute Frage.

Heute würde nur einmal googeln genügen, um ihn zu enttarnen. Passfrequenzen, Laufstatistiken, Laktatwerte sind überall verfügbar. Aber in den Achtzigern wurden die Spieler, zumindest in Brasilien, noch nach anderen Kriterien verpflichtet. Nach Erzählungen, Empfehlungen, Mythen. An einem Mythos, dachte sich Kaiser, kann man feilen. Er machte sich an die Arbeit.

Die Ausgangslage war auch deshalb gut, weil er nach übereinstimmenden Augenzeugenberichten sehr gut aussah. Schwarze Locken, überdimensionale Sonnenbrillen, Waschbrettbauch, knappe Badehöschen. Ein Typ, den die Frauen mochten. Das ist in der Strand- und Machometropole Rio de Janeiro bis heute wichtig. Für Kaiser war es die Eintrittskarte in die Welt des Profifußballs.

Der britische Regisseur Louis Myles hat gerade einen ergreifenden Dokumentarfilm über ihn gedreht: „The Greatest Footballer Never to Play Football“. Darin kommt auch der 2016 verstorbene Carlos Alberto zu Wort, der Kapitän der brasilianischen Weltmeisterelf von 1970. Anfang der Achtziger trainierte Carlos Alberto Rios populärsten Klub Flamengo, genau in der Zeit, als Kaiser dort seine Verletzungen simulierte. Auf die Frage, was dieser Antifußballer in seinem Team machte, sagte Carlos Alberto: „Er war cool in jeder Hinsicht.“

Myles hat mit einigen der größten Spielern der damaligen Zeit gesprochen. Mit Bebeto und Ricardo Rocha, den Weltmeistern von 1994. Mit Renato Gaúcho, der in seiner Heimat hundertmal berühmter ist als in Europa. Sie alle lächeln mild, wenn sie von dem Hochstapler erzählen, der ihr Teamkollege war. Deutlich wird dabei: Sie mochten ihn einfach. Sie wollten ihn gerne um sich haben. Und wenn Leute wie Bebeto oder Renato Gaúcho ihrem entnervten Klubpräsidenten sagten: „Lass ihn da, er stört doch nicht weiter“, dann durfte Kaiser bleiben.

Carlos Alexandre Torres, 51, ist der Sohn von Carlos Alberto und war selbst Fußballprofi. Er kennt Kaiser aus seiner Zeit bei Fluminense und Vasco da Gama. Torres sagt am Telefon: „Ich könnte nichts Schlechtes über ihn erzählen. Er war der Freund von allen. Er wusste immer, wo die besten Nachtklubs sind, hat das ganze Team kostenlos reingebracht und Freigetränke organisiert.“ Für Damengesellschaft sorgte Kaiser auch. Am nächsten Morgen kümmerte er sich darum, dass alle Topspieler pünktlich beim Training auftauchten. Wenn sich einer auf dem Heimweg einen Strafzettel eingehandelt hatte, behauptete Kaiser, er sei gefahren.

Kaiser beschreibt seine Rolle heute so: „Ich habe die Bomben entschärft. Ich war das Idol der Mitspieler, nicht der Fans.“ Torres sagt: „Nur auf dem Platz konnte er nichts.“

Was Carlos Alberto, Bebeto und die anderen berichten, fügt sich zu einer Ode an die Schlitzohrigkeit zusammen. Um so etwas wie einen Marktwert zu simulieren, telefonierte Kaiser demnach möglichst öffentlich mit fiktiven Agenten in fingiertem Englisch. Er kaufte Trikots im Shopping-Center, die er handsigniert verteilte, und schnitt VHS-Kassetten mit den schönsten Toren von Renato Gaúcho zusammen, der ebenfalls lange, schwarze Haare hatte.

Die gravierenden technischen Defizite glich Kaiser mit überragender Rhetorik aus. „Seine Geschichten waren phänomenal, jeder wollte ihm zuhören“, erinnert sich Torres. Meistens ging es dabei um seine internationale Karriere. Wenn er in Rio für eine Weile von der Bildfläche verschwand, dann natürlich nur deshalb, weil sich die halbe Welt für diesen – zugegebenermaßen recht verletzungsanfälligen – brasilianischen Wunderstürmer interessierte. Torres’ Lieblingsgeschichte ist die vom FC Puebla in Mexiko, wo Carlos Kaiser laut amtlicher Statistik zwar nie eingewechselt wurde, wo er die Massen nach eigener Erzählung aber derart begeisterte, dass ihn die Mexikaner für ihre Nationalelf einbürgern wollten. Ähnliches trug sich angeblich beim französischen Klub Gazélec Ajaccio auf Korsika sowie beim argentinischen Weltpokalsieger Independiente zu. Nur bei den El Paso Sixshooters in Texas hat es ihm nicht gefallen. „Zu heiß“, sagt Kaiser.

Zu den vielen Eigenarten dieses Mannes gehört seine selektive Erinnerung. Manche Episoden verblassen mit der Zeit, andere werden kräftiger. Zum Beispiel die von der Nacht, als er Maradona kennenlernte. Das soll im Juli 1989 gewesen sein, nach dem Finale der Copa América. Brasilien, sagt er, habe damals „vor 110 000 Zuschauern“ im Maracanã 1:0 gegen Argentinien gewonnen, „Tor Bebeto“. Danach hätten beide Teams zusammen in Rio gefeiert, und da habe er, Kaiser, sich halt mit Maradona angefreundet. Helden unter sich.

Carlos Kaiser nippt an seiner dritten Cola, kurze Pause, man merkt ihm an, dass er sich schon auf die nächsten Sätze freut, auf die eigentliche Story: „Diego Armando Maradona, ist das wirklich sein Name? Ganz sicher? Nee, er heißt nämlich Franco. Diego Armando Maradona Franco. Fast niemand weiß das. Aber seine Freunde, die ihn anrufen wollen, müssen ‚Hallo Franco‘ sagen, sonst legt er sofort wieder auf.“

An der Art dieses Vortrages ist gut zu erkennen, wie Kaiser die Menschen einwickelt. Die Maradona-Geschichte ist gut, sie hat nur zwei winzige Schönheitsfehler. Das brasilianische Siegtor im Endspiel schoss Romário. Und der Gegner hieß Uruguay.

Am längsten hat der Profi Carlos Kaiser bei Bangu AC durchgehalten, einem Vorstadtklub von Rio, der Mitte der Achtziger fast mal Meister geworden wäre. Das fällt nicht zufällig mit dem Karrierehöhepunkt des falschen Neuners zusammen. Eine große brasilianische Sportzeitung begrüßte ihn damals mit der Schlagzeile: „Bangu hat jetzt einen König: Carlos Kaiser.“ Demnach kam dieser „Stürmer mit Killerblut“ gerade von seinem glorreichen Auslandseinsatz in Korsika zurück. Er wurde auch zu „Mesa Redonda“ eingeladen, in die wichtigste Fußball-Talkshow Brasiliens, und überreichte dem Moderator ein Ajaccio-Trikot mit der Nummer 16. Beim ersten Training sangen die Fans „Ai que bom seria – se Kaiser jogasse todo dia.“ (Ach wie schön wäre es, wenn Kaiser immer spielen würde.)

Als er zu Bangu AC wechselte, einem Klub in Rio, sangen die Fans. Er hatte sie bezahlt

Bangus Besitzer Castor de Andrade war überzeugt davon, einen großen Star verpflichtet zu haben. Er wusste nicht, dass Kaiser die Fans für ihr Lied bezahlt hatte. Erst Jahre später kam das Gerücht auf, er habe das Trikot mit der Nummer 16 von einem Freund geschenkt bekommen, der tatsächlich bei Ajaccio spielte. Kaiser selbst hat diesem Gerücht zufolge nie einen Fuß auf Korsika gesetzt.

Seine Spielerpässe aus der französischen Liga sind vermutlich professionell gefälscht. Jener Carlos Henrique, der angeblich 1984 mit Independiente den Weltpokal gewann, hieß in Wahrheit Carlos Enrique und war Argentinier. Kaiser schweigt einen Moment, wenn man ihn damit konfrontiert. Dann fällt ihm wieder etwas ein: „In den Vereinen wird so viel gelogen. Das war meine Art, mich zu rächen.“

Castor de Andrade, der Patron von Bangu, war der Letzte, mit dem man sich in den Achtzigern in Rio auf einen Rachefeldzug einlassen wollte. Er kontrollierte das illegale Glückspiel Jogo do Bicho und galt als der größte Mafiaboss der Stadt. Kaiser erzählt: „Ich hatte nie Angst zu sterben und habe Castor einfach wie einen alten Kumpel behandelt. Das gefiel ihm.“

Irgendwann war aber auch Andrades Geduld mit dem ständig verletzten Topstürmer aufgebraucht. Kaiser erhielt einen unwiderruflichen Spielbefehl. Überliefert ist dazu, dass er beim Warmlaufen eine Schlägerei mit den eigenen Fans anzettelte und noch vor seiner Einwechslung die rote Karte erhielt. Kaiser: „Castor wollte mich danach in der Kabine erschießen, aber als ich ihm sagte, die Fans hätten ihn als Mafioso beleidigt, deshalb die Prügelei, gab er mir eine Vertragsverlängerung.“ Carlos Kaiser blieb drei Jahre bei Bangu.

Das ganze Leben ist Marketing. Kaiser will den Wirbel rund um den Kinofilm nutzen, um seine aktuelle Karriere zu bewerben. Er arbeitet inzwischen als „Personal Fitness Trainer“ im Zentrum vom Rio. In einem offenbar von ihm selbst gegründeten Wettbewerb wurde er gerade zu „Brasiliens Fitness- und Wellness-Coach des Jahres“ gekürt. Um die Sache abzurunden, behauptet er, er habe sich nur deshalb nie einwechseln lassen, weil ihm Fußball einfach keinen Spaß machte. Sein Traum sei schon immer das Fitnessstudio gewesen. Er sei von seinen Adoptiveltern zum Profifußball gezwungen worden. Sie hätten einen Knebelvertrag mit einem Spielerberater geschlossen, als er elf Jahre alt war. „Im Grunde“, sagt Kaiser, „ist das alles eine sehr traurige Geschichte.“

Dann verschwindet der halb blinde Illusionskünstler im nächtlichen Rio. Zurück bleibt ein Esstisch mit leeren Colaflaschen.Rechnung bitte!

„Nein, nein“, sagt der Kellner, „geht alles aufs Haus.“

„Der Bomber würde heute noch mehr Tore schießen“

Als Spieler Gegner, im Leben Freunde: Zehn Jahre arbeitete Hermann Gerland beim FC Bayern mit einem Assistenten namens Gerd Müller. Über Fachgespräche beim Frühstück, den Fußballer, den Menschen und den Western-Fan

SZ vom 17. August 2021

INTERVIEW: CHRISTOF KNEER

„Wir zwei haben zusammengepasst wie die Faust aufs Auge“: Der ehemalige Bochumer Abwehrhaudegen Hermann Gerland, links, und der einstige Weltklassestürmer Gerd Müller bildeten beim FC Bayern II ein einzigartiges Trainergespann.

Am 15. August 2021 starb Gerd Müller im Alter von 75 Jahren – Jahrhundertstürmer, Weltmeister, Schütze von 365 Bundesliga-Toren. Am Morgen danach: Anruf bei einem, der Müller verehrt und erklärt.

Herr Gerland, woran denken Sie, wenn Sie an Gerd Müller denken?

Ach, ich denke an so vieles. Aber was mir spontan einfällt: Dass ich nie zahlen durfte.

Sie durften nie zahlen?

Gerd war ja bei den Amateuren des FC Bayern viele Jahre mein Co-Trainer, und ich erinnere mich, dass wir in der Anfangszeit mal auf Tour im Westen waren, Duisburg, Bochum, meine Heimat. Wir haben uns Jugendturniere angeschaut, und als ich am Abend im amerikanischen Steakhaus bezahlen wollte, sagte der Chef: Ein Gerd Müller bezahlt bei uns nix. Am nächsten Tag in Bochum im Café, Gerd trinkt Espresso, ich einen Milchkaffee, wieder dasselbe: Gerd Müller zahlt bei uns nicht. Und wenn wir Eis essen waren – Gerd wollte immer Eis essen! –, hat er es immer so eingerichtet, dass er bezahlt hat. Ich hab gesagt, Bomber, du weißt schon, dass ich beim FC Bayern auch Geld verdiene? Da hat er nur gelacht.

Sie haben „Bomber“ zu ihm gesagt?

Immer, ja. Nie Gerd, immer Bomber.

Sie waren ihm sehr nahe. Konnten Sie sich noch verabschieden?

Vor der Pandemie hab ich ihn häufig im Pflegeheim besucht, einmal war auch Jupp Heynckes dabei. Die mochten sich sehr, obwohl sie als Spieler ja auch Konkurrenten waren. Aber so war das beim Gerd: Sie werden mir keinen zeigen können, der ihn nicht gleich mochte. Mir ging das auch so, an unser erstes Treffen in München kann ich mich noch gut erinnern.

Erzählen Sie.

Natürlich kannte ich Gerd als Spieler, wir sind uns in der Bundesliga ja oft begegnet, auch wenn ich beim VfL Bochum zum Glück meistens Rechtsverteidiger gespielt habe …

… das heißt, Sie haben nicht direkt gegen Müller gespielt ….

… nein, ich hab es meistens mit Uli Hoeneß oder Karl-Heinz Rummenigge zu tun bekommen. Ich habe Gerd Müller als Spieler bewundert, ich hatte eine unfassbare Ehrfurcht vor diesem Mann, und dann haben wir uns nach seiner Rückkehr aus Amerika auf dem Trainingsgelände des FC Bayern getroffen. Er, der Weltstar Müller, und ich, Hermann Gerland. Er kam auf mich zu, total herzlich, als wär’ ich ein alter Freund, und ich dachte: Das ist der Müller? Das ist doch nicht wahr! Er war immer freundlich, immer höflich und bescheiden, den Weltstar hat er nie raushängen lassen. Er hat alle gleich behandelt, die Spieler, die Waschfrau, die Kinder, die ein Autogramm wollten. Ich habe oft gedacht: Was ist das für ein Mensch!

Uli Hoeneß hat Gerd Müller nach seinem Alkoholentzug den Job als Co-Trainer der Amateure des FC Bayern besorgt. Mit anderen Worten: Sie waren ein Jahrzehnt lang sein Vorgesetzter.

Ich bin einmal krank zum Training gekommen, es war kalt und hat geschneit, ich hatte wahrscheinlich auch Fieber. Ich zeige so was ja keinem, aber Gerd hat das sofort gemerkt und gesagt: Hermann, du bist krank, fahr nach Hause. Ich hab gesagt, Bomber, ich bin Fußballer, ich mach das hier 90 Minuten, und dann geh ich. Da hat er mich ausgeschimpft. Wir waren von derselben Sorte. Er ist auch immer als Erster gekommen und als Letzter gegangen.

„Gerd und Thomas Müller haben sich super verstanden, das war ein Herz und eine Seele.“

Es heißt, Sie hätten morgens immer erst mal miteinander gefrühstückt.

Jeden Morgen! Wir haben uns auf dem Vereinsgelände zusammengesetzt und über Fußball gesprochen. Was hältst du von diesem oder jenem Spieler, wie fandest du das Spiel am Wochenende, lauter solche Sachen. Gerd hatte alles gesehen, wirklich alles, er hat in jeder freien Minute Fußball geschaut. Oder einen Western, die hat er auch geliebt.

Über den Stürmer Müller weiß man alles, über den Menschen Müller einiges. Wie war er als Co-Trainer?

Wir zwei haben zusammengepasst wie die Faust aufs Auge. Ich kann in der Ansprache an die Spieler sehr hart sein, bei mir gibt’s keine Komfortzone, und Gerd hat sich die Spieler, die ich kritisiert habe, hinterher immer geschnappt und in den Arm genommen. Er hat gesagt: Der Gerland meint es gut mit euch, lasst den, der will nur euer Bestes. Und den Stürmern hat er immer Tipps gegeben, er hat ihnen gesagt, wie sie sich im Strafraum am besten bewegen und verhalten sollen. Sie können sich vorstellen, was das für einen Eindruck macht, wenn Gerd Müller mit einem jungen Spieler so ein Gespräch führt. Die haben den Gerd geliebt.

Am Ende hat Gerd Müller bei den Amateuren sogar noch mit dem jungen Thomas Müller gearbeitet.

Die haben sich super verstanden, das war ein Herz und eine Seele. Thomas Müller redet ja auch immer vom „Bomber“.

Haben Sie Gerd Müllers Krankheit kommen sehen?

Im Jahr 2009 waren wir mit den Amateuren im Januar in Indien, da sind mir die ersten Kleinigkeiten aufgefallen. Ich habe das damals für Jetlag gehalten. Er war über Weihnachten mit seiner Frau in Amerika gewesen, ist dann zurück nach München geflogen und von dort direkt nach Indien. Die Reise war total schön für den Gerd, die Leute haben ihn erkannt und gefeiert.

Wissen die jungen Spieler noch, wer Gerd Müller war?

Natürlich ist es nicht mehr wie früher bei mir, in meiner Jugend wollten die Kinder auf dem Bolzplatz entweder Franz Beckenbauer oder Wolfgang Overath oder Gerd Müller sein. Damals gab es noch wenig Fußball im Fernsehen, und wenn abends mal ein Spiel übertragen wurde, hat man sich schon morgens in der Schule drauf gefreut. Und egal, wer dann abends spielte, ob Deutschland oder der FC Bayern, immer hat im Fernsehen dieser Gerd Müller die Tore geschossen. Gerd war unfassbar. Die jungen Fußballer heute haben ihn natürlich nicht mehr spielen sehen, aber sein Name ist so groß, dass jeder Bescheid weiß. Gerd Müller, der Bomber, so einer kommt nicht mehr.

„Ich hör’ noch, wie unser Innenverteidiger Klaus Franke flucht: ‚Mann, nicht schon wieder der!‘“

Die alte Frage: Würde Gerd Müller heute weniger Tore schießen oder mehr?

Man muss immer die Bedingungen berücksichtigen, unter denen der Bomber seine Tore gemacht hat. Die Bälle waren hart, die Böden gefroren, er hatte immer zwei Manndecker im Kreuz, die nach ihm getreten haben. Und wenn du abends in Bochum oder Kaiserslautern oder sonstwo gespielt hast, dann waren da nicht viele Kameras, solche Tritte haben damals keinen interessiert. Die Spieler heute hören das nicht gern, aber sie haben es viel besser als wir damals, Trainingslehre, medizinische Betreuung, Ernährung, alles ist wissenschaftlicher und professioneller als früher. Auch die Stürmer haben von dieser Entwicklung profitiert, gleiche Höhe ist kein Abseits mehr und so weiter … Wenn der Bomber heute an einer Abseitslinie lauern würde, wüsste er genau, wann er wo sein muss, er würde die Lücken im modernen Fußball alle riechen. Ich bin überzeugt: Der Bomber würde heute noch mehr Tore schießen.

Wie war es, ihm auf dem Feld zu begegnen?

Ich kann mich an ein Spiel gegen uns erinnern, eine Flanke kommt von rechts, Gerd Müller ist unsichtbar, aber plötzlich taucht er von irgendwoher auf und grätscht den Ball ins Tor. Ich hör’ noch, wie unser Innenverteidiger Klaus Franke flucht: „Mann, nicht schon wieder der!“

War das seine größte Kunst: plötzlich aus dem Nichts zuzuschlagen?

Es gab schon diese Spiele, wo man sich hinterher gefragt hat: Hat der Müller heute eigentlich mitgespielt? Im Ergebnisteil stand dann aber: FC Bayern, Sieg, 1:0, Tor Gerd Müller. Er hatte einen phänomenalen Riecher und eine wahnsinnige Orientierung auf dem Feld, aber er hatte auch diese wahnsinnige Gier, die ein Mittelstürmer haben muss.

Wenn es 4:0 stand, wollte er auch noch das 5:0 und 6:0 schießen.

Ich hab auf dem Platz erlebt, wie Gerd unbedingt vor Uli Hoeneß an den Ball kommen wollte, um das Tor selber zu erzielen, und er hat den Ball dann samt Uli über die Linie getreten. Er wollte jedes Tor haben, jedes einzelne, er wollte immer gewinnen. Er war ein hervorragender Schafkopfspieler, aber auch da wollte er immer noch besser werden, und im Tennis hat er selbst mit zwei kaputten Hüften noch fast alle bei Bayern besiegt. Wie der sich geärgert hat, wenn er mal einen Ball verschlagen hat!

Es gibt Menschen, die sagen, Gerd Müller sei gar kein richtiger Fußballer, sondern in erster Linie ein Torjäger gewesen.

Die haben keine Ahnung. Mit denen würde ich mich nicht mal unterhalten.

Und wenn doch? Was würden Sie ihnen sagen?

Was meinen Sie, wie gut man kicken können muss, um mit Franz Beckenbauer Doppelpass zu spielen! Gerd war als Fußballer unvorstellbar gut, aber ich sage Ihnen jetzt mal was: Als Mensch war er noch besser! Ich würde das auch nicht glauben, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte. Der Bomber war der Allergrößte.

Essen nicht vergessen

Der alte Leidenschaftsverein Rot-Weiss Essen legt ausgerechnet ohne Fans im Stadion einen Höhenflug hin – aber auf Dauer kann von digitalen Bratwürsten kein Mensch leben. Wie Corona der Fußballbasis zusetzt

SZ vom 06. Februar 2021

VON HOLGER GERTZ

Grundtendenz Erdinneres: Bei Rot-Weiss Essen geht es seit den Siebzigern eher abwärts. Aber hey, es gibt ja dann doch auch immer wieder Wunder.

Was bedeutet ein Stadion ohne Menschen für einen Verein, der immer von der Liebe der Menschen gelebt hat? Ortsbesuch in Essen, anlässlich eines Geisterspiels im DFB-Pokal-Achtelfinale im Februar 2021.

Manchmal weiß man schon morgens, wenn man aus dem Fenster guckt, wie das Spiel abends ausgeht. Ob das da draußen Glückswetter oder Pechwetter ist, hat mit Aberglauben zu tun, aber auch mit den Fähigkeiten eines Teams. Besteht die Mannschaft aus Zauberfüßen und Kunstdribblern, muss das Gras schön frisiert sein, auf gekämmtem Rasen kommen feingeistige Kombinationen erst richtig zur Geltung. Besteht die Mannschaft dagegen aus Kloppern und Eisenzehen, kann der Acker ruhig tief und matschig daliegen, und wenn morgens schon der Himmel mausegrau ist, leuchtet er vielleicht abends, nach dem Spiel.

Am Dienstag dieser Woche also schifft es schon morgens in Essen, die Ampellichter spiegeln sich auf der nassen Straße wässrigrot, wässriggelb, wässriggrün. Das ist nicht das schlechteste Vorzeichen für die Viertliga-Kämpfer von Rot-Weiss, die abends gegen die Artisten des Erstligisten Bayer Leverkusen ranmüssen. DFB-Pokal, Achtelfinale. Regen und Essen, das wäre (tindergerecht formuliert) das perfekte Match. In der Gegenwart genauso wie in der Vergangenheit, zu Zeiten des Essener Angreifers und Bergmannssohns Helmut Rahn, der 1954 im WM-Finale aus dem Hintergrund schießen musste und so weiter.

Es schüttete beim deutschen Heldensieg in Bern, es schüttete auch beim sogenannten Schlammspiel in der Saison 1969/1970, als Rot-Weiss, kurz RWE, die Gladbacher Musterschüler versenkte. „Sobald der Platz aufgewühlt war und schlechtes Wetter herrschte, waren wir da“, hat der Essener Abwehrmann Wolfgang Rausch gesagt, der gern unter Menschen war und besonders gern unter den Menschen der Disco Mississippi im alten Hotel Handelshof. Damals in den Siebzigern, als es noch mehr zu lachen gab. Alles vorbei.

Fußball ist immer auch ein Schippern auf dem Meer der Erinnerung. Das aktuelle Spiel auf dem Radar haben und zugleich dem nachhängen, was untergegangen ist. Ein sentimentaler Dreiklang: Alte Rebellen. Alte Tabellen. Alte Kamellen. Nach dem 4. Spieltag der Saison 1970/71 war Rot-Weiss – das Team mit dem nach alter und neuer Rechtschreibung falsch geschriebenen Namen – Tabellenführer in der Bundesliga, danach sind sie immer weiter runtergereicht worden, immer auch mal wieder rauf, aber letztlich alles mit der Grundtendenz Erdinneres.

Zu oft verloren, zu viel Geld verprasst, keinen Plan gehabt, kein Glück gehabt, den falschen Leuten vertraut, die richtigen Leute verprellt, in den falschen Tabellen vorn gewesen. Schlagzeile im Portal Der Westen, 2016: „Platz 1 im deutschen Bier-Ranking – Beim Saufen ist RWE nicht zu schlagen“. Einmal fast Udo Lattek als Trainer auf der Bank gehabt – und einmal tatsächlich Pelé als Ehrenmitglied mit der Nummer 23101940.

Es gibt viele Abgehängte in den Ahnengalerien des Fußballs, Sechzig München, Magdeburg, Lautern, Offenbach, Braunschweig. Aber Rot-Weiss Essen, Meister von 1955, der Klub aus Deutschlands zehntgrößter Stadt, kümmert jetzt schon seit dreizehn Jahren in der vierten Liga aka Schweineliga rum und spielt gegen Rödinghausen, Lotte, Gladbach Zwo. Während nebenan die alten Bratwurstkumpel aus Dortmund, Deutschlands neuntgrößter Stadt, zu Geldscheißern und Champions-League-Finalisten herangewachsen sind.

Als 2020 Corona über die Menschen herfiel, fiel es natürlich auch über den Fußball her, das Lieblingsspielzeug der Menschen, gerade in der Menschenstadt Essen. Dort drängeln sich sogar in der Schweineliga bei Dauerregen 10 000 Zuschauer. Was Rot-Weiss immer am Leben gehalten hat: die Masse. Weil aber Corona die Massen teilt und die Menschen trennt, schien ausgerechnet der Menschenverein Rot-Weiss das ideale Corona-Opfer zu sein. Was sollte aus dem Verein werden ohne die Fans und ihre Energie? Und ohne ihr Eintrittsgeld?

Und dann geschah das Wunder.

Am Dienstag dieser Woche also sitzt Helmut Tautges auf so einer abwaschbaren Sitzgelegenheit im Rhein-Ruhr-Zentrum in Mülheim, um über das Wunder von Essen zu reden. Dass es draußen immer noch regnet wie aus Wannen, ist ein gutes Vorzeichen für das Spiel am Abend, es verunmöglicht allerdings ein Gespräch an der frischen Luft, und so trifft man sich in dieser etwas runtergewohnten Shopping-Mall, Masken überm Mund, aber man sitzt wenigstens trocken. Tautges, geboren 1954 in Essen-Stoppenberg, heißt Helmut wegen Helmut Rahn, wird aber von allen nur „der Happo“ genannt und unterschreibt seine Mails auch so. Happo hat sein erstes Spiel 1966 im Georg-Melches-Stadion gesehen, seitdem ist er dabei, inzwischen als Präsident des Fanclubs „Uralt-Ultras“. Schlank, schwarze Klamotten, Handy-Klingelton „Can’t you hear me knocking“ von den Stones. Denn Happo, bald 67, ist unkaputtbar, wie auch sein Verein unkaputtbar ist. Arterien durchgepustet, zwei Herz-OPs hat er hinter sich, alles gut gegangen: „Bin ja froh, dat ich leb.“

Das Wunder von Essen hat mit einem Feuer zu tun, das bei vielen in Essen trotz allem auch in der vierten Liga nie verloschen ist. Oder gerade da nicht. „Man hat hier in der Gegend Dortmund, Schalke als Konkurrenz“, sagt Happo. „Es reicht schon, wenn man durch die Schrebergärten geht und die Fahnen an den Masten hängen sieht. Da freu ich mich dann, wenn ich mal ne Rot-Weiss-Fahne seh. Man ist manchmal fremd als Fußballfan in der eigenen Stadt. Auch auf dem Schulhof, von zwanzig Leuten tragen zehn Leute Blau-Weiß oder Schwarz-Gelb. Aber auch ein, zwei Rot-Weisse sind dabei. Die gibt’s immer noch, und das ist fantastisch.“

Wegen Corona konnte im Frühjahr 2020 nicht gespielt werden, da erfand die Vereinsführung mit dem Klubchef Marcus Uhlig ein virtuelles Duell mit dem FC Corona. Fast 10 000 Tickets wurden verkauft für ein Spiel, das es nicht gab, sogar Verpflegung gab es nicht auf die Hand, nur in Gedanken. „Essen verkauft 2283 digitale Bratwürste“, titelte anerkennend die Bild, die normalerweise rohes Fleisch will. Obwohl die vergangene Saison schließlich abgebrochen wurde, haben 94 Prozent der Essener Dauerkartenbesitzer kein Geld zurückgefordert. Als im Sommer die Saison startete, legte der Verein eine Saisonkarte auf, die nicht nur fürs Stadion gilt, sondern mit der man sich auch in eine Online-Live-Übertragung einklinken kann, wenn die Spiele, wie jetzt, ohne Publikum stattfinden müssen. Auf diesem Livestream verfolgt auch Happo die Spiele, er sagt: „Wenn wir jetzt den Rücken kehren oder nicht verzichten oder nicht investieren, dann würde der Verein vielleicht pleitegehen. Corona hat den Zusammenhalt befeuert.“ Tatsächlich – das Wunder! – hat Rot-Weiss Essen seit Corona kein Spiel mehr verloren, der Verein ist Herbst/Winter-Meister geworden, schwebt mit einer zugegeben starken Mannschaft durch die Liga, obwohl er von Menschen gerade nicht live und vor Ort getragen wird, die sitzen ja alle zu Hause.

Happo überlegt, woran es liegen könnte, vielleicht ist es auch eine Psychonummer: „Da ist ja Rot-Weiss auch manchmal dran gescheitert, dass einige Spieler mit der Energie im Stadion nicht klarkamen. Sacht man.“ Die einigermaßen irrsinnig klingende Frage ist also, inwieweit Spiele vor Zuschauern Punkte gekostet hätten. Die Frage ist aber müßig, weil: Niemand kann sie beantworten.

Sie konnten hier schon immer gnadenlos lieben, aber auch gnadenlos hassen

In dem schönen Band „Rot-Weiss Essen – Die 70er“ steht jedenfalls, dass das Publikum in Essen gnadenlos lieben und gnadenlos verachten kann. Früher kletterte der Vorsänger auf die Stange und hängte die Fragen aller Fragen an den Mast: „Wer ist der Schreck vom Niederrhein?“ Aber die Drohkulisse konnte zur Drehbühne werden, wenn es nicht lief, dann richtete sich alles gegen die eigene Mannschaft. Sagte der alte Vereinspräsident und Bergwerksdirektor Hans Schwerdtfeger 1979 nach einem Remis gegen Hannover 96: „Wie sollen unsere Spieler denn Selbstvertrauen zeigen, wenn das Publikum den gegnerischen Torwart anfeuert? Man sollte den ganzen Kram hinschmeißen.“

Ewig her, aber der Happo war damals auch schon dabei, und vielleicht hat er damals auch schon so ausgesehen wie heute, mit seinen Ohrringen und mit dieser angedeuteten Horstschimanskihaftigkeit.

Früher gab es solche wie ihn in den Stadien öfter, man sieht das auf den alten Fotos von den alten Kurven in den alten Stadien. Und wenn man jetzt mit Happo über die Bedeutung von Fans redet, merkt man, was der Bundesliga auch verloren gegangen ist, seit sie zu einem Feelgoodevent im Bezahlfernsehen für die ganze Familie hochgejazzt worden ist. Und, andererseits, zum Debattierfeld für Nerds, die eine Art Raketenwissenschaft aus dem Spiel gemacht haben, mit Fachbegriffen von Packing Rate bis Polyvalenz.

In der vierten Liga klingt das Reden über Fußball noch anders, mehr nach Straße und immer noch ein bisschen so wie bei diesem Essen-Fan aus den Siebzigern, der in der historischen Doku „Immer diese Westkurve“ eine weitere große Frage stellte und auch gleich beantwortete: „Wat ham wa in Bochum gekriecht? Dicke Augen!“

Die Erinnerung an früher ist nur zweidrittelromantisch, weil sie auch in Essen mit den harten Jungs und auch den rechten Hools irgendwie klarkommen mussten – und weiterhin müssen. Die ganze Welt kann leider nicht wie Freiburg sein. Und auch nicht wie Hoffenheim. Happo hat mit seinen Leuten einen Weg gefunden, um zu zeigen, „dass der Rot-Weiss-Fan eben nicht nur krakeelt, sondern mehr ist als das Image. Wobei das Image natürlich auch manchmal positiv sein kann. So’n bisschen anrüchig hat ja auch einen gewissen Reiz.“

Er hat gerade auf seiner Homepage getrommelt und gesammelt für ein Suppenfahrrad, mit dem die Initiative „Essen packt an“ warme Mahlzeiten an die Obdachlosen in der Stadt verteilt. Das alte Suppenfahrrad war kaputt, man konnte es nur noch schieben, für ein neues wollte er 3500 Euro zusammenkriegen. „Euronen“, sagt Happo. Es wurden 5555 Euronen, das reichte noch für jede Menge Pfannen und Töpfe. „Ich empfinde Stolz und Dankbarkeit für solches Handeln“, hat er ins Netz geschrieben. Ein paar Preise, die unter allen Spendern verlost wurden, hatte er organisiert: signiertes RWE-Trikot, formschönes RWE-Emblem aus Stahlblech, original Feuerkorb der Brauerei Stauder. Essener wissen, was das ist.

Essen, der „schlafende Riese“? Unsinn, sagt der Blogger: So lange schläft kein Riese

Das Handy klingelt, „Can’t you hear me knocking“. Happo drückt weg. Er weiß nicht, wie es weitergeht in der Saison. Er sagt es so: „Mein innerstes Ich sträubt sich, gegen Rot-Weiss zu tippen.“ Er sieht nach Rock ’n’ Roll aus, aber er ist ein freundlicher, selbstironischer Rocker, da ist so gar nichts Kaltes an ihm.

Noch ein paar Fotos. Na, Happo, was ist jetzt deine Schokoladenseite?

Sagt er: „Na ja, ich seh natürlich von allen Seiten erotisch aus.“

Keine Ahnung, was nach Corona vom unterklassigen Sport übrig bleiben wird. Die Regionalliga West hat noch Glück, sie gilt als Profiveranstaltung und darf im Lockdown weitermachen, anderswo liegt von der vierten Liga abwärts an alles brach. In anderen Sportarten sowieso. Es sind im Moment noch keine drängenden Fragen, ob es den Sport noch so geben wird, wie es ihn bisher gegeben hat, aber irgendwann werden sich diese Fragen natürlich stellen. Wird das Publikum Spiele überhaupt noch sehen wollen, oder werden die Leute sich daran gewöhnt haben, dass es auch ohne geht? Die Pandemie gibt seit bald einem Jahr die Spielpläne vor, und wie die Menschen in den Theatern und Kinos haben auch die Vereinschefs Angst, dass das noch länger so gehen könnte. Am Ende denken alle an das Undenkbare: dass es nie mehr richtig wird wie früher.

Weiterfahrt in den Süden der Stadt, am Hauptbahnhof kommt man am Hotel Handelshof vorbei, wo früher das Mississippi drin war und von dessen Dach später, 2010, das Essener Stadtwappen aus seiner Verankerung fiel und zu Boden krachte, ein drei mal sechs Meter großer Plexiglas-Brummer. Verletzt wurde niemand. Was wäre das für eine Geschichte gewesen, wenn’s einen Ortsfremden getroffen hätte: Schalker fast von Essener Stadtwappen begraben. Manchmal macht man sich einfach keine Vorstellung davon, warum dieses passiert und jenes nun gerade nicht.

In Essen-Werden, gleich bei der S-Bahn unten am Flussufer, sitzt André Schubert auf einer Bank bei einer Rasenfläche und schaut zur Ruhr rüber. Schubert bloggt unter dem Namen Catenaccio 07 über Rot-Weiss: oft ironisch, sarkastisch, guter, kraftvoller Klang. Auf seiner Seite steht ein Zitat von Éric Cantona, dem Idol aller Gegen-den-Strich-Gebürsteten: „Man braucht ein gewisses Talent, um allen zu gefallen. Ich habe dieses Talent nicht.“

Schubert sagt, ihm steht zu viel Abgegriffenes in Essen-Texten: Oppa mit der Stauder-Pulle, Rahndenkmal vor Westtribüne. „Oder da gibt es diesen Begriff des schlafenden Riesen. Wird von jedem benutzt, und das seit zehn, zwanzig Jahren. So lange schläft aber kein Riese. Den Terminus bitte nicht verwenden, sonst krieg ich das Kotzen.“ Die Lage ist grandios gerade, für Rot-Weiss, sie ist aber auch ernst, mit Klischees jedenfalls ist sie nicht abbildbar. Es geht um mehr als sonst, und sonst geht es ja auch immer schon um alles. „Ein Verein wie Borussia Dortmund wird jetzt nicht pleitegehen. Sky zahlt fröhlich weiter, ob Zuschauer im Stadion sind oder nicht. In der vierten Liga, wo es kein Fernsehgeld gibt, und in der dritten Liga, wo es fast kein Fernsehgeld gibt, da geht es um die Existenz. In der Bundesliga nicht.“

Schubert ist, als Blogger, auch immer wieder im praktisch leeren Stadion, „da sitzen Sie mit 40 anderen Menschen, und wenn Sie mal laut husten, hört man das sechzig Meter weiter. Das ist vom Fußball meilenweit entfernt. Unten rennen 22 Mann rum, von denen brüllen elf permanent. Skurril, absurd. Wie gesagt, als temporärer Zustand ist das vonnöten. Aber wenn das so weitergeht, schwant mir nichts Gutes.“ Mit digitalen Bratwürsten kommt keiner auf Dauer durchs Leben.

Später das große Spiel, gegen Leverkusen im DFB-Pokal. Null Zuschauer. Schubert schaut auf die zerklüftete Grünfläche vor ihm, überall bricht die Erde durch den Rasen, wenn’s nicht so kalt wäre, würde sich genau jetzt ein Maulwurf aus dem Boden buddeln, er trüge einen Schutzhelm mit dem Emblem von RWE. Schubert sagt: „Wissen Sie, wie der Rasen aussieht im Stadion Essen? Hier, ohne Scheiß: So sieht der gerade aus. Die Leverkusener, die ja über die Technik kommen, werden kotzen.“

Also Sieg für Essen in der Verlängerung?

Schubert sagt: „Ich glaube nicht, dass wir’s gewinnen werden. Ich hoffe auf ein Elferschießen.“

Wie wahrhaft leer sich Geisterspiele anfühlen, kann man schließlich an der Hafenstraße spüren, es regnet, es ist schon dunkel. Das Spiel! Das Stadion liegt da hinten, man kann von der Straße die leeren Tribünen sehen. Bei Youtube schnell das Kontrastprogramm angeworfen, auch ein Pokal-Reißer, auch gegen Leverkusen, 1995 noch im alten Stadion, Rolf Töpperwien, der Weitgereiste, war schon vor dem Spiel heiser: „Eine Begrüßung, wie ich sie in 23 Berufsjahren, außer in Mexico-City, Aztekenstadion, noch nie erlebt habe.“

Jetzt brütet die Bude wie schockgefrostet vor sich hin. Auf der anderen Seite der Straße: die Containerlandschaft von Fiege Logistik, ein WDR-Wagen, Einsatzfahrzeuge der Polizei. Der Bus – Linie 196 – summt leise durch den Abend. Punkt 18.30 Uhr schneidet der Anpfiff durch die Stille.

Vor dieser Kulisse begeht Rot-Weiss Essen, viel geliebt und viel geprüft, sein allergrößtes Spiel seit ein paar Jahrzehnten. Es ist zum Heulen, aber es hilft ja nichts.

Natürlich gewinnen sie, es war ja zu spüren gewesen schon am Morgen, beim ersten Blick aus dem Fenster. „Can’t you hear me knocking“ hatten nicht nur die Stones in Happos Klingelton gefragt, sondern auch die Regentropfen an den Fensterscheiben des Leverkusener Mannschaftsbusses. Und wenn der Himmel morgens mausegrau ist, dann leuchtet er tatsächlich abends. Ein paar übrig gebliebene Raketen steigen nach dem Spiel in den Himmel über Essen auf, und beim WDR schreiben sie „Rahnsinn“ auf die Homepage, was in dem Sinne auch eine Floskel ist, aber noch nicht so abgegriffen, kann man also mal bringen.

Das Stadion brütet wie schockgefrostet vor sich hin, bis es passiert, das Wunder

Die Essener haben mehr als eine Million verdient im DFB-Pokal, sie haben sich selbst gerettet erst mal, am Sonntag wird das Viertelfinale ausgelost, aber sie müssen aus der Schweineliga raus, da sind sie gerade vernetzt mit allen, denn im Prinzip will ja die ganze Welt wegen Corona aus der Schweineliga raus, nur wie?

Helmut „Happo“ Tautges hatte es so gesagt, im Einkaufszentrum draußen in Mülheim. Mit Blick auf lauter Läden, die dicht sind, war er ganz kurz zum Träumer geworden und hatte für sich gesprochen und nicht nur für sich. Also: „In der Corona-Zeit fühlt sich alles unwirklich an. Aber wenn ich wach werde und dat Leben wieder anfängt, dann sind wir in der dritten Liga.“

HÄNGENDE SPITZE

Nagelsmann löscht einen Brand

SZ vom 25. April 2022

VON CLAUDIO CATUOGNO

Das war ja klar, dass die Bayern gegen Dortmund mit höchster Wachsamkeit zu Werke gehen würden, schließlich handelt es sich hier um die hochbezahlten Profis des deutschen Fußballmeisters und nicht um die Bademeister im Hallenbad Hinter-Schwabing! Und über die Präzision, mit der die Bayern vor allem in der ersten Halbzeit ihre Schnitte setzten, muss sich auch niemand wundern. Sie werden dafür ja fürstlich vergütet, sie sind ja nicht die Stationschirurgen im Krankenhaus Jenseits der Isar, nicht wahr?

Ach, im rhetorischen Vorübergehen lassen sich wunderbar ganze Berufsgruppen beleidigen, insofern ist es fast zu bedauern, dass der Bayern-Trainer Julian Nagelsmann bloß die Löschbranche gegen sich aufgebracht hat mit der im Eifer des Meistergefechts hingeworfenen Feststellung, man bekomme „viel Geld dafür, dass wir ordentlich performen. Wir sind hier nicht bei der Freiwilligen Feuerwehr Süd-Giesing, sondern beim FC Bayern.“