Das ist Waldorfschule! - Wolfgang Held - E-Book

Das ist Waldorfschule! E-Book

Wolfgang Held

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Beschreibung

Was ist die Waldorfschule heute? Im Aufspüren ihrer Grundzüge und Eigenheiten hat Wolfgang Held, selbst Waldorflehrer, deutschlandweit verschiedene Waldorfschulen besucht und mit dem Blick von innen und von außen Kernanliegen, Innovationen, Unterrichtsansätze und pädagogisches Leben beschrieben. Dabei zeigt sich übergreifend: Es geht in der Waldorfschule um den Menschen, also ist und bleibt der Mensch auch die Antwort. Sie ist in dieser Darstellung siebenfach: Es geht um den ganzen Menschen, er ist einzigartig, er kommt vom Himmel, er sucht die Gemeinschaft und findet sie über den Kopf zum Herzen und zur Hand; er schließt Partnerschaft mit der Zeit und sucht uns Ältere, um an unserer Seite ein ganzer Mensch zu werden. Lebens- und unterrichtsnah beschreibt Held, was diese sieben zentralen Anliegen, dieser Pakt mit dem Werdenden für die Waldorfpädagogik bedeuten. Dazu hat er auch zwölf Lehrerinnen und Lehrern – für Physik bis Eurythmie, von der 1. bis zur 12. Klasse – über die Schulter geschaut und sie in ihrem Unterrichtsalltag porträtiert.

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Wolfgang Held

Das istWaldorfschule!

Sieben Kernpunkteeiner lebendigen Pädagogik

Inhalt

Mein Lehrer

Bildung ist die Gefährtin in widersprüchlicher Zeit

Heute ist alles groß und alles klein

Heute ist alles kalt und alles warm

Heute ist alles fern und alles nah

Die sieben Kernpunkte der Waldorfpädagogik

1. Es geht um den ganzen Menschen

2. Er ist einzigartig …

3. … und kommt vom Himmel

4. … und sucht die ganze Gemeinschaft

5. … findet über den Kopf zum Herzen und zur Hand

6. … und schließt Partnerschaft mit der Zeit

7. … und sucht den Menschen, um Mensch zu werden

Reisebericht Waldorfschule

Wie die Seele die Mitte findet.Christiane Hewel

Immer auf Augenhöhe.Till von Grotthuss

«Du schaffst das!»Johanna Altmann

Ordnung braucht Augenzwinkern.Andreas Pelzer

Ich erzähle dir von der Menschheit.Günter Boss

Den lieb ich, der Unmögliches begehrt.Uta Bischof

«Hört ihr das?»Iru Mun

Das ganze Leben hineinwerfen.Franz Glaw

«Bisschen mehr Power da rein».Mona Doosry

«Lernt fragen!»Thomas Neukirchner

Deine Gefühle sind wahr!Jutta Rohde-Röh

Worte suchen statt Vokabeln lernen.Silvia Albert-Jahn

Mein Dank

Elf Bücher, die ich empfehle

Anmerkungen

«Im Unterricht fragte die Lehrerin uns einst,was wir einmal werden wollen.Ich antwortete ‹glücklich›,woraufhin die Lehrerin meinte,ich hätte die Frage nicht verstanden.Ich entgegnete darauf,sie hätte das Leben nicht verstanden.»1

Mein Lehrer

Er hatte diesen tief liegenden Scheitel, der die wenigen Haare auf dem Schädel verteilte. Wenn er sich über unsere Schulhefte beugte, dann reichten die Strähnen hinunter bis aufs Papier. Er war im Unterricht manchmal fahrig, im Umgang mit technischen Geräten ungeschickt, und doch kommt er mir in den Sinn, wenn ich die ersten Zeilen dieses Buches über Waldorfpädagogik schreibe – mein Biologielehrer. Er liebte das Leben, dessen Erfindungsreichtum und Schönheit er uns in immer neuen Facetten erzählte. Er liebte sein Fach. Und er liebte uns Schüler: versuchte in jedem von uns, die wir uns oft mehr für Musik oder Mopeds interessierten, das Herz für die Mendelschen Regeln, für Meiose, Mitose und Mimikry zum Schlagen zu bringen. Wie er sich wand, wenn er eine schlechte Zensur mitteilen musste. Schließlich war er Experte in Bezug auf Richard Wagner, was ihm die Einladung in eine abendliche TV-Quizsendung einbrachte.2

Es gehört wohl zu einem glücklichen Leben, dass uns in der Schulzeit solche Persönlichkeiten am Pult gegenüberstehen, uns auch zur Seite stehen und manchmal unbemerkt hinter uns stehen. Es sind Lehrerinnen und Lehrer, die diese drei Dinge in ihrer je eigenen Mischung erfüllen: Sie sind eins mit ihrem Fach, stehen auf der Seite ihrer oft undankbaren Schülerinnen und Schüler, und sie haben irgendeine geheime Leidenschaft, eine eigene, ausgesuchte Liebe zum Leben. Von der ist selten, vielleicht niemals im Unterricht die Rede, aber was sich Rudolf Steiner vom Lehrer wünscht, dass er Interesse für die Welt habe, das hat in diesem Refugium seinen Anker. Bei einer Lehrerin ist es vielleicht die Freude, englische Rosen zu züchten, bei einem anderen ist es die Sammlung römischer Münzen. Das allgemeine Interesse braucht als Widerlager das besondere Interesse. Breite und Tiefe gehören zusammen.

Mir scheint, dass die Energie, sich auf uns Heranwachsende immer wieder neu einlassen zu können, häufig solch einer eigenen Welt entspringt. Der niederländische Arzt und Sozialökonom Bernard Lievegoed griff hier zum Bild der Straßenbahn. Wie die «Tram» müsse man ebenfalls an eine obere Energieleitung anschließen. Aber anders als die Straßenbahn, die an der bestehenden Oberleitung den Strom abnimmt, müsse man diese Leitung selbst bauen, ja, sie bilde sich erst, wenn man sie durch ernste Lebensfragen entstehen lasse. Mir scheint, dass es zu den Eigenheiten der ungefähr vierzigtausend Lehrerinnen und Lehrer an Waldorf- und Rudolf-Steiner-Schulen in sechsundsiebzig Ländern gehört, dass sie alle diese imaginäre Oberleitung haben.

Erinnert man sich an die eigene Erziehung in der Kindheit, an die Schulzeit, so steigen keine Methoden, keine Lerntheorien oder didaktische Systeme vor dem inneren Auge auf. Nein, es sind die Menschen, die vor die Seele rücken. Martin Bubers Credo, dass das Ich am Du zum Ich wird, hat wohl nirgends solche Gültigkeit wie in der Erziehung und Schulzeit. Die Haltung der Lehrerpersönlichkeiten zu sich selbst, zu uns Schülerinnen und Schüler und zur Welt, das bleibt als eine Art Geschmack, als ein Grundton ein Leben lang erhalten. In hundert Gesten und Bewegungen, Regungen und Stimmlagen, in der ganzen Breite des seelischen Lebens nehmen die Schülerohren und -augen ihre Lehrer in sich auf. Und es gehört zu den schwerwiegenden Einsichten eines Pädagogen, dass die Art, wie man fühlt und handelt, weitaus stärker und nachhaltiger auf die Kinder wirkt als all das Wissen.

Georg Glöckler, ein Dozent in meiner Waldorfausbildung, erzählte aus seiner Schulzeit, dass dem Waldorfphysiklehrer Ernst Bindel bei optischen Versuchen am gefüllten Glasbecken etwas ins Wasser fiel. Ohne sein Jackett abzulegen, tauchte er kurzentschlossen mit dem ganzen Arm ein, um den Gegenstand zu retten. Für die Wissenschaft müsse man Opfer bringen, habe er mit triefendem Arm sein Manöver kommentiert.

So wie von einem Eisberg nur ein Siebtel über die Wasseroberfläche ragt, sind solche Augenblicke gleichfalls nur dieses eine Siebtel einer sprichwörtlich tieferliegenden Haltung zu sich, zur Welt und zu den Schülern, und es ist diese Haltung, aus der sich die Fähigkeiten, aus der sich das Fundament des Schicksals der Kinder und Jugendlichen bildet. Das Einfühlungsvermögen und die Sicherheit, mit der man ein Vierteljahrhundert später berufliche oder familiäre Entscheidungen trifft, hat in der beschriebenen dreifachen Haltung der Lehrerinnen und Lehrer ihre wichtige, vielleicht die wichtigste Quelle.

2009 ging ein Beben durch die Erziehungswissenschaften: Der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie bildete aus 800 pädagogischen Metastudien, selbst schon gesammelte Zahlenwerke, eine weitere übergeordnete Metaanalyse.3 Seine Meta-Metastudie trägt den Namen «Visible Learning», und das ist Programm: Von Hausaufgaben über Klassengröße und Erlebnispädagogik bis zu zweisprachigem Unterricht ermittelte er bei 138 einzelnen Faktoren, ob sie für ein erfolgreiches Lernen förderlich, unwichtig oder sogar hinderlich seien. Häufig bestätigen solche Studien mit enormem akademischem Aufwand das, was mit etwas Lebens- oder Schulerfahrung unmittelbar einleuchtet. Überraschend war an Hatties Studie, wie deutlich dessen Ergebnisse zeigten, dass nicht die eine Schulmethode, nicht die besondere Ausstattung des Klassenzimmers, die Klassengröße oder sonst etwas Äußeres das Lernen fördert, sondern es auf den Lehrer, die Lehrerin ankommt.* Genauer: wie es dem Lehrer gelingt, seine Schülerinnen und Schüler so zu beobachten und zu verstehen, dass er mit seiner Art zu unterrichten sie dann erreichen kann.

«Formative Evaluation des Unterrichts» nennt es Hattie, so auf das Können der Schüler einzugehen. Die latenten, noch nicht ins Bewusstsein vorgedrungenen Fragen der Schüler wahrzunehmen, so fordert es Rudolf Steiner. Interessant: Die staatlichen Schulbehörden und Aufsichtsstellen fragen gerne nach der Fachkompetenz der Lehrer an freien Schulen und lassen sich diese mit Papieren und Examina bestätigen. Aber genau diese reine Fachkompetenz spielt nach Hattie praktisch keine Rolle für den Lernerfolg. Umgekehrt ist das sogenannte Mikroteaching sehr wirkungsvoll. Damit ist die Hinwendung des Lehrers zu einem Schüler gemeint, wenn er all seine Aufmerksamkeit ihm und nur ihm schenkt.

Hier schlägt das Herz der Waldorfpädagogik: sich für die einzelne Schülerin, den einzelnen Schüler so zu interessieren, dass man sie oder ihn abends noch einmal vor die Seele rückt. Am Vormittag gab es den Unterricht, nachmittags ist man über Schulhefte gebeugt, und abends hat man vielleicht noch Konferenzen oder Elterngespräche – und doch gibt es nun den kurzen Moment, wo die Lehrerin, der Lehrer sich die Schüler noch einmal vor das innere Auge stellt. Ob es der Moment war, in dem morgens die Schüler einem die Hand gegeben haben, oder der Augenblick, in dem man sie auf dem Pausenhof stehen sah oder eben gebeugt oder tuschelnd im Unterricht: der Lehrer, die Lehrerin grüßt jeden Schüler noch einmal. Was so das Ende des pädagogischen Tages bedeutet, ist zugleich ein Anfang.

Wer mit diesem Mittel umgeht, das zur Innenseite der Waldorfpädagogik gehört, stellt bald fest, dass die Nacht eine verborgene soziale Dimension bereithält. Wenn man abends an einen Menschen denkt, wird man am nächsten Tag nicht selten entdecken, dass das nicht folgenlos ist. Was in der Religion das Gebet zu einer höheren Macht, zu einem Gott ist, das ist hier die Hinwendung an den Genius des Schülers, an sein inneres Feuer, die Gewissenskraft oder wie immer man den Kern der Persönlichkeit nennen möchte. Zur Pädagogik gehört diese Nachtseite dazu, und es ist erforderlich, dass auch die Gehirnforschung Licht in diese verborgene Seite des Lebens bringt. Neurophysiologen beschreiben, dass der schlafende Organismus nachts nicht passiv ist, sondern die Aktivität sich verlagert. Wer am nächsten Morgen unbefangen schaut, wie sich die Schülerinnen und Schüler verhalten, die man so des Abends bedacht hat, bemerkt die feine Verbindung, die sich zwischen Lehrer und Schüler spannt. Manche Verabredung kann man auf diese Weise stillschweigend mit den Schülern treffen, ja mancher Konflikt kann so über Nacht gelöst werden.

*Hattie ordnet den einzelnen Lernbedingungen Kennzahlen zu. Dabei zeigte TV-Konsum einen stark negativen Wert (–1,8), aber Feedback über die Entwicklung einen hohen positiven Wert. Dabei sollte das Feedback Vergangenheit (Aufgabe), Gegenwart (Prozess) und Zukunft (Perspektive) betreffen. Bei Hattie sind es die drei Fragen 1. Wohin gehst du? (feed up); 2. Wie kommst du voran? (feed back); 3. Wie geht’s weiter? (feed forward).

Bildung ist die Gefährtin in widersprüchlicher Zeit

Es steht in allen politischen Programmen und gehört zu jeder Festtagsrede oder jedem Kulturappell: die Forderung, der Wunsch nach mehr, nach besserer Bildung. Wie Schule und Kindergarten anders und kindgemäßer sein könnten, wird mittlerweile auf den Titelseiten der Zeitungen und in den Abendnachrichten behandelt. Die großen Wochenmagazine haben Sonderreihen über Pädagogik ins Leben gerufen. «Bildung» ist heute nichts Fremdes mehr, denn es betrifft nicht mehr nur die eigenen Kinder, erinnert nicht mehr nur an die fernliegende eigene Schulzeit, sondern gehört wohl zu jedem heutigen Lebensentwurf. Lebenslanges Lernen ist zum Grundton geworden, sodass die Frage, wie Unterricht sein sollte, sich jetzt lebensnah stellt.

Heute weiß jeder, wovon beim Lernen die Rede ist, denn heute sitzt die ganze Gesellschaft auf der Schulbank. 2009 fasste Peter Sloterdijk diesen schulischen Wind, der durch alle Lebensfelder zieht, mit seiner Darstellung Du musst dein Leben ändern zusammen. Der Buchtitel ist angelehnt an Rilkes Gedicht «Archaïscher Torso Apollos», in dem der Dichter gerade hundert Jahre zuvor beschreibt, wie beim Anblick großer Kunst sich im Betrachter das Feuer entzündet, sich selbst zu entwickeln und zu verwandeln. Schon bei Rilke ist es der Hymnus, dass es zum Menschsein gehöre, ein Leben lang zu üben und zu lernen.

Es ist bemerkenswert, dass nach hundert Jahren dieses Bild des Menschen – dass wir Menschen immer «werdende Menschen» sind – zur allgemeinen Vorstellung wurde. «Wie das 19. Jahrhundert kognitiv im Zeichen der Produktion stand, das 20. im Zeichen der Reflexivität, sollte die Zukunft sich unter dem Zeichen des Exerzitiums präsentieren.»4 So beschreibt es Peter Sloterdijk als einen Dreischritt, der nun in ein allgemeines Üben als Grundton der Kultur mündet. Es sei, so Sloterdijk, eine anthropologische Wende.

Interessant: Bis zur Jahrhundertwende oder ein paar Jahre früher dominierten auf dem Sachbuchmarkt Titel wie Andrew Carnegies Buch Sorge dich nicht, lebe oder Joseph Kirschners Darstellung Manipulieren, aber richtig. Die amerikanischen Wirtschaftsstrategien wurden ins Private exportiert, denn, so der kalte Gedanke, auch im persönlichen Leben herrschen die Gesetze des Marktes, die Gesetze von Kaufen und Verkaufen, von Fressen und Gefressenwerden. Das hat sich, welch ein Glück, vollständig geändert. Was heute die Bestsellerlisten der Sachbücher anführt, sind all die Ratgeber und Lebenshilfen, die zeigen, wie man zu Partner und Kind, zu Katze oder Hund eine Beziehung aufbaut und pflegt – eine Beziehung auf Augenhöhe. Es wächst eine Generation heran, die sich von dem Nützlichkeitsdenken emanzipiert.

Die 17. Shell-Jugendstudie von 2015 zeichnet ein Bild davon. Über 2500 Jugendliche von 12 bis 25 wurden danach befragt, was ihnen wertvoll ist und was weniger. Dabei zeigte sich, dass die drei zentralen Felder des Beziehungslebens – Freundschaft, Familie und Partnerschaft – an erster Stelle rangieren. Karriere und Reichtum fallen als Ziel der Lebensplanung weiter zurück und sind eindeutig zweitrangig.5 Diese Generation erkennt, was Frank Schirrmacher in seinem Buch Ego. Das Spiel des Lebens6 beschreibt, dass der auf das Nützliche und Ökonomische reduzierte Mensch ein Soziopath wird. Den Menschen auf Nützlichkeitsdenken zu reduzieren bedeute, so Schirrmacher, dass dies als Theorie nicht nur ein Handeln beschreibe, sondern ein Handeln erzwinge; solch ein Denken sei nicht nur deskriptiv, sondern normativ. Schirrmacher unterstreicht damit den dramatischen Gedanken, dass die Welt und natürlich ihre Geschöpfe so werden, wie man über sie denkt. Beim fünften Kernpunkt der Waldorfpädagogik greife ich diesen Aspekt auf (siehe S. 80ff.).

Umso mehr hängt von dem Wandel ab, der sich abzeichnet. Ihn inspirieren die Lebenswissenschaften, wenn sie aufzeigen, dass nicht Wettstreit, sondern vielmehr Zusammenarbeit der Kunstgriff des Lebens ist. «Kooperation statt Kompetition», unter dieser Formel fasst der Biologe Johannes Wirz7 die neue Art, die Natur zu verstehen, zusammen. «Survival of the fittest» oder «struggle of live», das war die Ansage, die im 19. und 20. Jahrhundert, ausgehend von der Biologie, zum allgemeinen Maßstab des Denkens und Fühlens wurde. Es gehe, so die Botschaft der Biologie, nicht darum zu leben, sondern zu überleben. Doch es mehren sich in den Lebenswissenschaften die Stimmen, die Zusammenarbeit und Beziehungsfähigkeit viel mehr als Kompetenzen des Lebens beschreiben als die darwinistischen Attitüden von Verdrängung und Durchsetzungskraft. Kein Wunder, dass das Buch von Peter Wohlleben über das geheime Miteinander der Bäume zum Bestseller wurde.8

Der italienische Philosoph Emanuele Coccia beschreibt es so: «Wir haben alle viel zu lange geglaubt, Natur sei Krieg. Nein, es gibt viele neuere Erkenntnisse, die dem widersprechen. […] Jeder frisst jeden, das Bild stammt von Linné, Darwin hat es korrigiert und behauptet, durch Krieg könne sich die Natur ständig verbessern. Hundert Jahre lang haben wir die Natur auf diese Weise gesehen. Seit den Siebzigerjahren entdecken wir, dass es nicht nur Krieg, sondern auch Symbiose und Solidarität gibt, die sogar viel entscheidender sind als der Faktor Krieg aller gegen alle. Ohne Symbiose und Verbindung kann Natur nicht existieren. In Peters Buch [gemeint: Peter Wohllebens Buch] betreten wir einen Wald und erleben Solidarität, nicht Krieg.»9

Wenn Beziehung und Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert das Miteinander bestimmten, was bedeutet es für die Bildung? Die Antwort liefert beispielsweise der französische Philosoph Edgar Morin. Die UNESCO beauftragte Morin am Ende des vergangenen Jahrhunderts aufzuzeigen, worauf es in der Bildung im 21. Jahrhundert ankomme.10 Wie hier im Buch listet auch Morin sieben Punkte auf, und es mag nicht überraschen, dass sie mit den hier genannten verwandt sind, ja mit anderen Worten auf das Gleiche zielen. Es lohnt sich, seinen sechsten Punkt hier zu zitieren: «Sich zu verstehen ist entscheidend für die Menschheit geworden. Und deshalb muss es eines der Ziele der Erziehung der Zukunft sein. … Verstehen kann nicht digitalisiert werden. Erziehen, um Mathematik zu verstehen, ist die eine Sache. Erziehen zum menschlichen Verständnis ist eine andere. Hier finden wir die eigentliche geistige Aufgabe der Erziehung wieder: das Verständnis zwischen den Menschen lehren als Bedingung und Garant für die intellektuelle und moralische Solidarität der Menschheit.»

Es ist eindrucksvoll, dass Morin diesen Gedanken mehr als zehn Jahre vor der weltweiten Migration entwickelt. Wenn heute 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind und mit jedem Menschen wohl dreißig weitere in engem Kontakt stehen, dann hat an diesem sechzigmillionenfachen Trauma ein Viertel der Menschheit Anteil, nicht für zehn Jahre, nein für eine Generation. Das ist vermutlich nicht anders, als für die sogenannte Nachkriegsgeneration zu deren Lebensgefühl Tod und Vertreibung dazugehören. Morin unterscheidet nun noch zwei Formen des menschlichen Verstehens: die planetarische Dimension, also das Verstehen anderer Völker und deren Kulturen, und das Verstehen der Nahestehenden, das nicht weniger herausfordernd zu sein scheint.

Drei Gründe will ich hier anführen, warum gegenwärtig so viel von Bildung und Erziehung abhängt. Im Grunde sind es drei Aspekte, die unterstreichen, dass Waldorfpädagogik heute nicht primär eine originelle Alternative oder ein Rettungsring für herausfordernde Schüler ist, sondern dass sie die nächste Generation befähigen kann und will, sich in der neuen Welt des 21. Jahrhunderts nicht nur zurechtzufinden, sondern sie auch nach ihren Wünschen zu gestalten.

Es geht um drei Widersprüche, denen man heute überall und fortwährend begegnet. Es sind drei Widersprüche, mit denen man sich nicht bloß arrangieren sollte, sondern die zum Stoff, zur Ressource für den eigenen Lebensentwurf werden können. Dafür ist Bildung, Erziehung zu einer selbstbewussten Persönlichkeit, wie es die Waldorfpädagogik anstrebt, unersetzbar.

Heute ist alles groß und alles klein

Oder anders: Die Welt ist heute komplex und einfach zugleich.

Ein Teilnehmer an meinen Studienreisen ist mit einer Japanerin verheiratet und spricht deshalb fließend diese so fremde Sprache. Er erzählte mir, dass ihn immer wieder Japaner verständnislos anschauten, wenn er sie in ihrer Muttersprache anspreche. Sie verstünden ihn nicht. Sobald seine Kinder mit ihren leicht asiatischen Gesichtszügen dann sprechen würden, plötzlich verständiges Nicken. Was geschieht hier? Hör- und Gesichtseindruck fallen auseinander, und das ist symptomatisch für die heutige Zeit: Die Dinge, die Erscheinungen verlieren ihre Eindeutigkeit, ihre unmittelbare Zuschreibung. Die Dinge sind nicht nur schwieriger zu lesen, ihre gegenseitige Beziehung ist in einer kommunikativen Welt vielschichtig und mehrdimensional. Die Arbeit im Büro und zu Hause die Familie oder Partnerschaft, Freundeskreise – denn hier gilt meist der Plural – und ein oder zwei Hobbys, Garten, Bücher und ein ganz eigener Medienkonsum und dann das innerseelische Leben: heute ist man nicht in einer, sondern in vielen Welten unterwegs. Und zu all diesen Welten gehören jeweils eigene Menschengemeinschaften, die besondere Seiten in der eigenen Seele hervorbringen. Doch nicht nur in der Seele sitzen diese einzelnen Welten gemeinsam am Tisch, sie spielen auch äußerlich ineinander. Was ich als Vater entscheide, wirkt auf meinen Beruf, welche Weichen man im Berufsleben stellt, spiegelt sich im inneren Leben. Das Leben ist keine Linie, kein Lebenslauf, sondern es ist ein Feld geworden.

Der Philosoph Byul Chul Han beschreibt es in seinem Buch Der Duft der Zeit.11 Der klassische Pfeil als Bild des Fortgangs gelte nicht mehr, weil er immer ein bekanntes Ziel voraussetze. Solch ein Ziel, diese klare Perspektive könne heute aber kaum noch jemand nennen. Han erläutert das so: «Das Beschleunigungsdrama ist ein Phänomen des letzten Jahrhunderts. Es handelt sich insofern um ein Drama, als Beschleunigung von Narration begleitet ist.» Also von einer Erzählung. Der Zeitstrom ist immer ein Prozess, er wird von einer Entwicklung vorangetrieben. Allen Ideologien und Zukunftsversprechen liegt dieser gerichtete Zeitpfeil zugrunde. Es geht immer irgendwo hin. Byung-Chul Han weiter: «Die Entnarrativizierung entdramatisiert den beschleunigten Fortgang zu einem richtungslosen Schwirren.» Der Satz klingt kompliziert, aber er vermag viel zu erklären.

Die Beschleunigung ist, so Han, das Zeitproblem des 20. Jahrhunderts, das Schwirren ist die zeitliche Herausforderung im 21. Jahrhundert. Anstelle eines kontinuierlichen Erzählstroms dominieren heute Momente, Episoden, Projekte und einzelne Begebenheiten – ein Schwirren der Zeit. Das Leben erscheint nicht als geschichtlicher Verlauf, sondern vielmehr als eine Abfolge von Gegenwarten. Es wird kaum mehr als Kontinuum, als fortlaufende Erzählung erfahren, sondern als ein Nebeneinander.

Der Zeitforscher und Schriftsteller Marcel Proust schrieb, dass wir nicht mehr Reisende, sondern Vagabunden sind. Wir wandern nicht von A nach B, sondern sind – mal hier, mal dort – ziellos unterwegs. «Navigieren nach beweglichen Zielen», so heißt das in der Managementsprache. Mit dem Verlust eines klaren Ziels wird das Leben komplex, denn die Orientierung ergibt sich nicht aus einem festen Punkt, vergleichbar einem Leuchtturm am Horizont, sondern vielmehr aus all den aktuellen Ereignissen, in denen man steht. Das Leben wird damit komplexer, weil die Ziele des Handelns nicht vorgegeben sind, sondern sich jeweils neu ergeben. Die gute Nachricht: Mit dem Verlust des Fixpunkts rückt die Gegenwart, das Jetzt, in die Aufmerksamkeit. Es ist die Geistesgegenwart, die Orientierung schenkt und zu neuen Zielen führt. Konkreter: Wer kein Ziel mehr hat, der beginnt sich für die Gegenwart neu und breiter zu interessieren. Das Jetzt zu lieben setzt voraus, dass da kein Ziel mehr den Blick bannt und imaginäre Scheuklappen installiert. Sich so fortwährend von Neuem einzunorden, das macht das Leben natürlich kompliziert.

So richtig es ist, die heutige Zeit als komplex und kompliziert zu benennen, so richtig ist auch das Gegenteil. Was vor zehn Jahren Büro, Werkstatt und Wohnzimmer füllte – Taschenlampe, Fotoalbum, Lupe, Kamera, Diktiergerät, Planetarium, Lexikon, Sprachtrainer, Musikanlage, Fernseher und Telefon –, das versammelt sich heute in dem einen kleinen Smartphone in der Hosentasche, und jeden Tag nimmt der Alleskönner mit jeder neuen App neue Eigenschaften in sich auf. Solche Omnipotenz besitzen sonst nur wir Menschen. Wir bezahlen weltweit mit einer einzigen Karte auf weltweit ähnlich aussehenden Flugplätzen und können online uns jedes Ziel schon aus der Nähe betrachten. Thomas Friedman beschreibt in seinem Buch Die Welt ist flach, wie im Informationszeitalter alles mit allem verbunden ist und damit die Welt klein und überschaubar wird.12

Zum Heute gehört also, dass es komplex und einfach zugleich ist. Mit diesem Widerspruch zu leben bedeutet, vor der Komplexität nicht zu fliehen. Es bedeutet, trotzdem all die verschlungenen Verhältnisse wie eine interessante Landschaft lieben zu lernen. Wer die Widersprüche aufhebt, der hebt das Leben auf, schrieb Friedrich Hegel in seiner Wissenschaft der Logik.13 Widersprüche seien keine Betriebsunfälle, sondern vielmehr der Stoff der Natur. Sie auflösen zu wollen beseitige die Natur. Die Welt zugleich als groß und als klein verstehen zu können, zugleich als komplex und als einfach, verlangt ein Denken, das sich mit solch einem Widerspruch nicht nur arrangiert, sondern ihn bejaht und nutzbar macht. Wenn also zum Leben die Widersprüchlichkeit gehört, dann muss – im Sinne von Goethes Ausspruch «Gleiches erkennt Gleiches»* – auch das Denken selbst lebendig sein.

Doch wie lernt man, lebendig zu denken? Jedes Rätsel ist dafür die beste Übung, denn es ruft dazu auf, sich von vertrauten Vorstellungen und Denkmustern zu lösen, will man die Lösung finden. «Trägst du mich, so trag ich dich.» Was ist das? «Tragen» bedeutet hier einmal sprichwörtliches Tragen und einmal das Tragen im Sinne von Anziehen: Es sind die Schuhe. Oder ein wenig schwerer: «Er steht auf einem Bein, was mag das sein? Er ist ein grüner Tropf und hat das Herz im Kopf.» Hier gilt es, Bein, Kopf und Herz botanisch zu denken: der Kopfsalat. Oder schließlich ein Rätsel, dessen Lösung vor 2500 Jahren den Lauf der Geschichte prägte. «Baut hölzerne Mauern!», rät das Orakel in Delphi den Athenern, als die übermächtige Streitmacht aus Persien anrollt. Hölzerne Mauern? Die brennen doch, widersprechen die Athener. Aber der Feldherr Themistokles versteht den Orakelspruch anders: eine Mauer aus Schiffen, schnellen, kleinen Schiffen! Alles Weitere ist dann Geschichte – es ließ die Demokratie gegen die Despotie siegen.

Das Denken wird lebendig, indem dessen Werkzeuge, also die Begriffe, beweglich werden (eine Mauer kann ein Heer griechischer Trieren sein und ein Herz der Stock im Salat). Das Was und das Wie kommen in Bewegung. Während Definitionen einen Begriff festzurren, vermag die Vielfalt an Zugängen ihm Leben einzuhauchen. «Begriffe, die mitwachsen können, sollte man den Kindern nahebringen», rät Rudolf Steiner. «Aber alles wächst am Menschen, auch das, was wir einmal begreifen; daher müssen die Begriffe mit uns weiter wachsen. Wir müssen also durchaus sehen, dass wir lebendige Begriffe in das Kind hineinbringen.»14