Das Jahr der gefährlichen Träume - Slavoj Žižek - E-Book

Das Jahr der gefährlichen Träume E-Book

Slavoj Zizek

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Über den Arabischen Frühling, Occupy Wall Street – und den Massenmord von Breivik 2011 – das Jahr des Arabischen Frühlings, der Occupy Wall Street-Bewegung, der Revolte in den Vorstädten Londons. 2011 – das Jahr von Breiviks ideologischer Wahnsinnstat, des aufkommenden Antisemitismus in Ungarn, des zunehmenden Rassismus. Gefährliche Träume in zweierlei Richtung stehen dahinter: emanzipatorische und destruktive. Was bedeuten diese Ereignisse im Kontext des globalen Kapitalismus? Mit Dialektik, analytischer Schärfe und gewohnt pointensicher legt Slavoj Žižek die Widersprüche der gegenwärtigen politischen Lage frei und fragt, wie wir das System bekämpfen können, ohne zu seinem Funktionieren beizutragen. »Theorie muss auch immer sexy sein, sie muss unterhalten, provozieren, bruchstückhaft und leicht zitierbar sein, physisch spürbar wie Rockmusik. All das liefert Žižek.« Der Spiegel

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 253

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Slavoj Žižek

Das Jahr der gefährlichen Träume

Aus dem Englischen von Karen Genschow

Fischer e-books

1. Einleitung: War Nam Nihadan

Im Persischen gibt es einen sehr schönen Ausdruck, war nam nihadan, was »jemanden umbringen, seine Leiche begraben und dann Blumen über dem Grab wachsen lassen, um es zu verbergen« bedeutet.[1] Im Jahr 2011 waren wir Zeugen (und Teilnehmer) einer Reihe erschütternder Ereignisse vom Arabischen Frühling über die Occupy-Wall-Street-Bewegung und die Unruhen in Großbritannien bis hin zu Breiviks ideologischem Wahn. Es war das Jahr der gefährlichen Träume in zweierlei Hinsicht: Emanzipatorische Träume mobilisierten Protestierende in New York, auf dem Tahrir-Platz, in London und Athen – und seltsame destruktive Träume trieben Breivik und rassistische Populisten in ganz Europa an, von den Niederlanden bis Ungarn. Die wichtigste Aufgabe der herrschenden Ideologie bestand darin, die wahre Dimension dieser Ereignisse zu neutralisieren: War die am weitesten verbreitete Reaktion der Medien nicht genau das war nam nihadan? Die Medien löschten das radikale emanzipatorische Potential dieser Ereignisse aus oder verschwiegen die Bedrohung für die Demokratie, die aus ihnen erwächst, und ließen Blumen über den verscharrten Leichnamen wachsen. Deshalb ist es so wichtig, die Missverständnisse zu klären und die Ereignisse von 2011 in der Gesamtheit der globalen Lage zu situieren und zu zeigen, wie sie mit dem zentralen Widerspruch des zeitgenössischen Kapitalismus zusammenhängen.

Nach Fredric Jameson kann in einer bestimmten historischen Situation die Vielfalt künstlerischer Stile oder theoretischer Argumentationsfiguren in Tendenzen unterteilt werden, die gemeinsam ein System bilden. Um ein solches System auszuarbeiten, stützt sich Jameson aus gutem Grund auf das semiotische Viereck nach Greimas: Dieses Viereck ist keine rein formale strukturelle Matrix, da es immer von einer Art grundlegenden Opposition ausgeht (Antagonismen oder »Widersprüche«) und nach Wegen sucht, die zwei entgegengesetzten Pole zu ersetzen und/oder zu vermitteln. Das System möglicher Positionen ist daher ein dynamisches Schema aller möglichen Antworten oder Reaktionen auf einige grundlegende strukturelle Blockierungen oder Widersprüche. Dieses System schränkt nicht einfach den Freiheitsbereich des Subjekts ein, es erschließt gleichzeitig einen Raum, das heißt, es ist »zugleich Freiheit und Beschränkung: Es eröffnet eine Reihe kreativer Möglichkeiten (die nur als Antworten auf die Situation möglich sind, die es artikuliert) und markiert zugleich die äußersten Grenzen der Praxis, die auch die Grenzen des Denkens und der Vorstellungskraft sind«.[2] Jameson stellt ebenfalls die epistemologische Schlüsselfrage: Ein solches System aller denkbaren Positionen

»möchte objektiv sein, kann aber nie etwas anderes als ideologisch sein: Denn es wird [in der Architektur beispielsweise] in der Tat sehr schwer, sich vorzustellen, wie wir die reale Existenz der verschiedenen Arten, in die sich moderne Gebäude unterteilen, von den offenkundigen Erfindungen verschiedener Systeme dieser Art in unseren Köpfen unterscheiden könnten. Hier liegt tatsächlich eine Art falsches Problem vor: Der quälende Zweifel, ob wir unseren Blick wirklich selbst lenken, kann in einem gewissen Grad durch den Gedanken daran beruhigt werden, dass unser Blick Teil genau jenes Systems des Seins ist, das Gegenstand unserer Spekulation ist.«[3]

An diesem Punkt können wir bedenkenlos Hegel folgen: Wenn die Realität nicht mit unseren Begriffen übereinstimmt, dann umso schlimmer für die Realität. Unser Schema – wenn es denn angemessen ist – legt die formale Matrix fest, der die Realität (unvollkommen) folgt. Wie schon Marx erkannt hat, sind die »objektiven« Bedingungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit zugleich »subjektive« Denkbeschränkungen (der Subjekte, die in dieser Wirklichkeit gefangen sind), und an diesem Punkt der Ununterscheidbarkeit (wo die Grenzen unseres Denkens, seine Blockierungen und Widersprüche zugleich die Widersprüche der objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit selbst sind) »ist die Diagnose auch ihr eigenes Symptom«:[4] Unsere Diagnose (unsere »objektive« Wiedergabe des Systems aller möglichen Positionen, das die Reichweite unserer Handlungen festlegt) ist selbst »subjektiv«, sie ist ein Schema subjektiver Reaktionen auf eine Blockierung, in die wir in unserer Praxis geraten und die in diesem Sinn symptomatisch für diese unaufgelöste Blockierung ist. Wo wir Jameson allerdings nicht zustimmen sollten, ist in seiner Bezeichnung dieser Ununterscheidbarkeit von subjektiv und objektiv als »ideologisch«: Sie ist nur dann ideologisch, wenn wir »nicht-ideologisch« ganz naiv als rein »objektive« Beschreibung definieren, in die kein Subjekt involviert ist. Ist es nicht angemessener, einen Blick als »ideologisch« zu bezeichnen, der nicht irgendeine »objektive« Realität, sondern den eigentlichen Grund dieser unvermeidbaren Verzerrung ignoriert, das heißt das Reale dieser Blockierung, auf die wir in unseren Projekten und Kämpfen reagieren?

Das vorliegende Buch möchte einen Beitrag zu einer »kognitiven Karte« (Jameson) unserer Situation leisten. Zunächst beschreibt es knapp die Haupteigenschaften des gegenwärtigen Kapitalismus, um dann seine hegemoniale Ideologie zu umreißen und sich dabei auf die reaktionären Phänomene (vor allem Volksaufstände) zu konzentrieren, die als Reaktion auf gesellschaftliche Widersprüche entstehen. Die folgenden zwei Kapitel behandeln zwei große emanzipatorische Bewegungen des Jahres 2011: den Arabischen Frühling und Occupy Wall Street. Die beiden letzten Kapitel gehen von der Fernsehserie The Wire aus und konfrontieren uns mit der schwierigen Frage, wie wir das System bekämpfen können, ohne sein Funktionieren dabei noch zu verbessern.

Das Handwerkszeug einer solchen Beschreibung ist das, was Immanuel Kant den »öffentlichen Gebrauch der Vernunft« genannt hat. Mehr denn je sollte man heute bedenken, dass Kommunismus mit dem »öffentlichen Gebrauch der Vernunft« beginnt, mit Denken, mit der egalitären Universalität von Gedanken. Für Kant bezeichnet die Öffentlichkeit der »Weltzivilgesellschaft« das Paradox der universellen Singularität, eines einzelnen Subjekts, das in einer Art Kurzschluss die Vermittlung des Partikularen umgeht und direkt am Universalen teilhat. Das meint Kant in der berühmten Stelle von »Was ist Aufklärung?« mit »öffentlich« als Gegensatz zu »privat«: Das Letztere bezieht sich nicht auf die eigenen individuellen Bindungen im Gegensatz zu den gemeinschaftlichen, sondern auf die gemeinschaftlich-institutionelle Ordnung der eigenen partikularen Parteinahme, während »öffentlich« die transnationale Universalität der Ausübung der eigenen Vernunft bezeichnet.

Beruht dieser Dualismus aus privatem und öffentlichem Gebrauch der Vernunft jedoch nicht, zeitgenössischer ausgedrückt, auf dem, was wir die Aufhebung der symbolischen Wirksamkeit (oder der performativen Kraft) des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft nennen könnten? Kant weist die gängige Formel des Gehorsams – »denke nicht, gehorche!« – keineswegs zugunsten ihres direkten »revolutionären« Gegenstücks – »gehorche nicht (folge nicht einfach dem, was andere dir sagen), denke (mit deinem eigenen Kopf)« – zurück. Seine Formel lautet vielmehr: »Denke und gehorche«, das heißt: Denke öffentlich (durch den freien Gebrauch der Vernunft) und gehorche privat (als Teil der hierarchischen Machtmaschine). Kurz, freies Denken gibt mir nicht das Recht, zu tun, was ich will – allenfalls darf ich, wenn mich mein »öffentlicher Gebrauch der Vernunft« die Schwächen und Ungerechtigkeiten der existierenden Ordnung erkennen lässt, mich gegenüber dem Herrscher für Reformen einsetzen … Hier kann man noch einen Schritt weiter gehen und wie Chesterton behaupten, dass die abstrakte Freiheit des Denkens (und Zweifelns) tatsächliche Freiheit aktiv verhindert:

»Generell läßt sich sagen: Freies Denken ist der beste Schutz vor Freiheit. Die Emanzipation des Sklaven verhindert man am ehesten, wenn man sich in moderner Manier der Emanzipation seines Denkens widmet. Man lehre ihn, sich zu fragen, ob er frei sein will oder nicht, und er wird sich nicht befreien.«[5]

Aber kann man das Denken tatsächlich so einfach aus dem Handeln herausrechnen, und lässt sich seine Wirkungslosigkeit wirklich so klar und eindeutig behaupten? Kants verborgene Strategie (bewusst oder nicht) ist an diesem Punkt wie der bekannte Trick bei Auseinandersetzungen vor Gericht, wenn der Anwalt ein Plädoyer vor der Jury hält, von dem er weiß, dass der Richter es für unzulässig halten und die Jury anweisen wird, es zu ignorieren – was natürlich unmöglich ist, da der Schaden schon angerichtet ist … Aber eröffnet die Rücknahme der Wirksamkeit im öffentlichen Gebrauch der Vernunft nicht ebenfalls den Raum für neue soziale Praktiken? Es ist allzu einfach, den offenkundigen Widerspruch zwischen Kants öffentlichem Gebrauch der Vernunft und dem marxistischen revolutionären Klassenbewusstsein herauszustellen: Ersteres ist neutral und unbeteiligt, Letzteres ist parteilich und engagiert. Die »proletarische Haltung« kann jedoch genau als der Punkt definiert werden, an dem der öffentliche Gebrauch der Vernunft in sich selbst praktisch und wirksam wird, ohne sich in die »Privatheit« des privaten Gebrauchs der Vernunft zurückzuziehen, da die Position, von der sie ausgeführt wird, die des »Teils von Nicht-Teilen« des sozialen Körpers ist, dessen Überschuss direkt für die Universalität steht. Was im Gegenteil der stalinistischen Reduktion der marxistischen Theorie auf die Dienerfunktion für den Partei-Staat widerfährt, ist genau die Reduktion des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft auf den privaten.

Nur ein Ansatz, der die Universalität des »öffentlichen Gebrauchs der Vernunft« mit der engagierten subjektiven Position verbindet, kann uns mit einer »kognitiven Karte« unserer Lage versorgen – wie Lenin gesagt hat: »Wir müssen aussprechen, was ist, ›die Fakten konstatieren‹, akzeptieren, dass es eine Tendenz gibt …« – welche Tendenz? Welche Fakten müssen im Hinblick auf den globalen Kapitalismus konstatiert werden?

2. Von der Herrschaft zur Ausbeutung und Revolte

Als Marxisten teilen wir die Prämisse, dass Marx’ Kritik der politischen Ökonomie der Ausgangspunkt für das Verständnis unseres sozioökonomischen Dilemmas bleibt. Um das Besondere dieses Dilemmas zu verstehen, müssen wir uns jedoch der letzten Überreste von Marx’ evolutionärem Historizismus entledigen – auch wenn er das eigentliche Fundament der marxistischen Orthodoxie zu sein scheint. Hier zeigt sich der historizistische Marx von seiner schlimmsten Seite:

»In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. […] Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. […] Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet wird sich stets finden, daß die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozeß ihres Werdens begriffen sind.«[6]

Dieses Schema ist in doppelter Hinsicht falsch. Zunächst ist der Kapitalismus als Gesellschaftsformation durch ein strukturelles Ungleichgewicht gekennzeichnet: Der Widerspruch von Kräften und Verhältnissen ist von Anbeginn an vorhanden, und genau dieser Widerspruch treibt den Kapitalismus zur permanenten Selbstumgestaltung und Selbstausdehnung an – der Kapitalismus hat Erfolg, weil er seine Fesseln vermeidet, indem er in die Zukunft ausweicht. Deshalb muss man auch die »weise« optimistische Bemerkung verabschieden, dass »die Menschheit [sich] immer nur Aufgaben ]stellt], die sie lösen kann«. Heutzutage stehen wir Problemen gegenüber, für die es keine klaren Lösungen gibt, die durch die Logik der Entwicklung garantiert würden.

Um darüber hinauszugelangen, sollten wir uns auf drei Eigenschaften des zeitgenössischen Kapitalismus konzentrieren: den langfristigen Trend der Verlagerung von Profit auf Rendite (in ihren zwei Hauptformen, Rendite auf der Grundlage von privatisiertem »kollektivem Wissen« und auf Grundlage natürlicher Ressourcen); die viel stärkere strukturelle Rolle der Arbeitslosigkeit (die Möglichkeit, in einem Langzeitjob »ausgebeutet« zu werden, wird als Privileg wahrgenommen), und schließlich den Aufstieg einer neuen Klasse, die Jean-Claude Milner die »festangestellte Bourgeoisie« nennt.[7]

Die Folge der Erhöhung der Produktivität, die durch den exponentiell wachsenden Einfluss kollektiven Wissens verursacht wird, ist die veränderte Rolle der Arbeitslosigkeit. Aber bietet diese neue Form des Kapitalismus nicht auch neue Perspektiven für eine Emanzipation? Das ist die These von Hardts und Negris Buch Multitude, in dem sie einen Marx zu radikalisieren versuchen, für den ein hochorganisierter Kapitalismus von Großunternehmen bereits »Sozialismus im Kapitalismus« war (eine Art Sozialisierung des Kapitalismus mit abwesenden Eigentümern, die zunehmend überflüssig werden), so dass man nur noch den nominellen Kopf abschlagen müsse, um echten Sozialismus zu erreichen.[8] Für Hardt und Negri bestand jedoch Marx’ Beschränkung darin, dass er historisch durch die zentralisierte und hierarchisch organisierte Form der Industriearbeit festgelegt war, weshalb seine Vision eines »general intellect« die einer zentral planenden Behörde war. Erst heute, mit dem Aufstieg »immaterieller Arbeit« in eine Vorrangstellung, wird revolutionäre Umkehr »objektiv möglich«. Die immaterielle Arbeit spielt sich zwischen den beiden Polen intellektueller (symbolischer) Arbeit (Produktion von Ideen, Codes, Programmen; Figuren wie Schriftsteller, Programmierer …) und gefühlsbezogener Arbeit ab (diejenigen, die mit unseren körperlichen Affekten umgehen: von Ärzten über Babysitter bis zu Flugbegleiterinnen). Heutzutage ist immaterielle Arbeit »hegemonial« in genau dem Sinn, in dem Marx verkündet hat, dass im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts die umfangreiche Industrieproduktion als spezifische Farbe hegemonial war, indem sie ihren Ton der Gesamtheit verliehen hat – nicht in quantitativen Begriffen, sondern indem sie die zentrale, emblematische und strukturelle Rolle gespielt hat. Dadurch entsteht ein riesiger neuer Bereich der »Commons«: geteiltes Wissen, Formen der Kooperation und der Kommunikation usw., die nicht mehr länger in Form von Privateigentum gefasst werden können. Denn in der immateriellen Produktion sind die Produkte nicht mehr länger materielle Gegenstände, sondern die neuen sozialen (interpersonellen) Beziehungen selbst – kurz, immaterielle Produktion ist direkt biopolitisch, es ist die Produktion von sozialem Leben.

Die Ironie besteht hier darin, dass sich Hardt und Negri genau auf den Prozess beziehen, den die Ideologen des heutigen »postmodernen« Kapitalismus als Übergang von der materiellen zur symbolischen Produktion feiern, von einer zentralistisch-hierarchischen Logik zu einer Logik der autopoietischen Selbstorganisation, der multizentrischen Kooperation usw. Negri bleibt hier tatsächlich Marx treu: Er versucht zu beweisen, dass Marx recht hatte, dass die Entstehung des »general intellect« auf lange Sicht mit dem Kapitalismus nicht vereinbar ist. Die Ideologen des postmodernen Kapitalismus behaupten das genaue Gegenteil: Es ist die marxistische Theorie (und Praxis) selbst, die innerhalb der Beschränkungen einer hierarchischen und zentralistischen Logik staatlicher Kontrolle verbleibt und daher nicht mit den sozialen Auswirkungen der neuen Informationsrevolution zurechtkommen kann. Für diese Behauptung gibt es starke empirische Gründe: Die höchste Ironie der Geschichte, um es noch einmal zu sagen, liegt darin, dass die Auflösung des Kommunismus das überzeugendste Beispiel für die traditionelle marxistische Dialektik von Produktionskräften und -verhältnissen ist, auf die der Marxismus bei seinem Versuch baute, den Kapitalismus zu überwinden. Was die kommunistischen Regimes tatsächlich zugrunde richtete, war ihre Unfähigkeit, sich an die neue soziale Logik anzupassen, die von der »Informationsrevolution« getragen worden ist: Sie haben versucht, sie in ein weiteres überdimensioniertes Projekt der zentralen Staatsplanung zu lenken. Das Paradox besteht daher darin, dass das, was Negri als einzigartige Gelegenheit zur Überwindung des Kapitalismus feiert, von den Ideologen der »Informationsrevolution« als Entstehung eines neuen, »reibungslosen« Kapitalismus gefeiert wird.

Die Analyse von Hardt und Negri hat drei Schwachstellen, die zusammengenommen erklären, wie der Kapitalismus dasjenige überleben kann, was (in klassischen marxistischen Begriffen) eine neue Organisation der Produktion wäre, die ihn obsolet werden ließe. Sie unterschätzen das Ausmaß, bis zu dem der zeitgenössische Kapitalismus das »gemeinsame Wissen« erfolgreich privatisiert (zumindest kurzfristig), wie auch das Ausmaß, bis zu dem die Arbeiter selbst »überflüssig« werden (eine zunehmende Anzahl von ihnen wird nicht nur zeitweise arbeitslos, sondern strukturell nicht mehr vermittelbar). Selbst wenn es darüber hinaus wahr ist, dass die Bourgeoisie schrittweise nutzlos wird, sollten wir diese Behauptung näher bestimmen und fragen: nutzlos für wen? Für den Kapitalismus selbst. Das bedeutet, dass, wenn der alte Kapitalismus idealerweise einen Unternehmer kannte, der (eigenes oder geliehenes) Geld in eine Unternehmung investierte, die er selbst betrieb und dadurch Gewinn einstrich, heute ein neuer Idealtyp entsteht: Es ist nicht mehr länger der Unternehmer, dem ein eigener Betrieb gehört, sondern es ist der Manager-Experte (oder die Geschäftsführer, denen ein Aufsichtsrat vorsteht), der ein Unternehmen führt, das den Banken gehört (die auch von Managern betrieben werden, denen die Bank nicht selbst gehört) oder verstreuten Investoren. In diesem neuen Idealtyp des Kapitalismus ohne Bourgeoisie wird die alte, nutzlos gewordene Bourgeoisie wieder nutzbar gemacht als Klasse lohnabhängiger Manager – die neue Bourgeoisie erhält selbst einen Lohn, und auch wenn ihren Mitgliedern Teile des Unternehmens gehören, verdienen sie ihre Aktien als Bestandteil der Bezahlung ihrer Arbeit (als »Bonus« für ihr »erfolgreiches« Management).

Diese neue Bourgeoisie eignet sich immer noch Mehrwert an, allerdings in der (mystifizierten) Form dessen, was Milner »Überschuss-Lohn« nennt: Im Allgemeinen wird ihnen mehr als der proletarische »Mindestlohn« gezahlt (dieser imaginäre und oft mythische Bezugspunkt, dessen einziges Beispiel in der heutigen globalen Wirtschaft der Lohn eines Arbeiters in einem ausbeuterischen Betrieb in China oder Indonesien ist), und es ist diese Differenz zum gewöhnlichen Proletarier, diese Unterscheidung, die ihren Status festlegt. Die Bourgeoisie im klassischen Sinn ist daher im Verschwinden begriffen: Kapitalisten kehren als Teilmenge von Lohnarbeitern wieder – als Manager, die durch ihre Kompetenz berechtigt sind, mehr zu verdienen (daher ist die pseudowissenschaftliche »Evaluierung« heutzutage so wichtig, die ihr höheres Einkommen legitimiert). Die Kategorie von Arbeitern, die einen Überschuss-Lohn erhalten, ist natürlich nicht auf Manager beschränkt: Sie wird auf alle Arten von Experten, Verwaltern, öffentlichen Bediensteten, Ärzten, Rechtsanwälten, Journalisten, Intellektuellen, Künstlern ausgedehnt. Der Überschuss, den sie erhalten, weist zwei Formen auf: mehr Geld (für Manager usw.), aber auch weniger Arbeit, das heißt mehr Freizeit (für – einige – Intellektuelle, aber auch für einige Angestellte der staatlichen Verwaltung usw.). Das Evaluierungsverfahren, das einige Arbeiter als Empfänger eines Überschuss-Lohns auszeichnet, ist natürlich ein zufälliger Machtmechanismus und eine Ideologie ohne ernsthaften Zusammenhang mit tatsächlicher Kompetenz – oder, wie Milner es ausdrückt, ist die Notwendigkeit des Überschuss-Lohns nicht ökonomisch, sondern politisch: um eine »Mittelklasse« für die Zwecke sozialer Stabilität aufrechtzuerhalten. Die Zufälligkeit der sozialen Hierarchie ist kein Fehler, sondern die ganze Pointe, denn die Zufälligkeit der Evaluierung spielt eine der Zufälligkeit des Markterfolgs vergleichbare Rolle. Mit anderen Worten droht die Gewalt nicht zu explodieren, wenn es zu viel Kontingenz im sozialen Bereich gibt, sondern wenn man versucht, diese Kontingenz zu beseitigen.

Das ist eine der Pattsituationen, mit denen China heute konfrontiert ist: Das Ziel von Dengs Reformen war die Einführung eines Kapitalismus ohne Bourgeoisie (als neue herrschende Klasse); heute jedoch wird den chinesischen Führern schmerzhaft bewusst, dass Kapitalismus ohne stabile Hierarchie (die durch die Bourgeoisie als neue Klasse herbeigeführt würde) permanente Instabilität erzeugt. Welchen Weg wird China daher einschlagen? Ganz allgemein ist das vermutlich der Grund, warum (Ex-)Kommunisten als die effizientesten Manager des Kapitalismus wiederkehren: Ihre historische Feindschaft gegenüber der Bourgeoisie als Klasse passt perfekt zur Fortentwicklung des gegenwärtigen Kapitalismus in Richtung eines Managersystems ohne Bourgeoisie – in beiden Fällen »entscheiden die Kader alles«, wie es Stalin vor langer Zeit ausgedrückt hat.[9]

Der Begriff des »Überschuss-Lohns« erlaubt es uns ebenfalls, die anhaltenden »antikapitalistischen« Proteste in neuem Licht zu betrachten. In Krisenzeiten sind die Kandidaten für ein »Engerschnallen des Gürtels« die unteren Ebenen der lohnabhängigen Bourgeoisie: Da ihre Überschuss-Löhne keine immanente ökonomische Rolle spielen, steht ihrem Anschluss an das Proletariat lediglich ihre Macht zu politischem Protest entgegen. Auch wenn diese Proteste nominell gegen die brutale Logik des Marktes gerichtet sind, wenden sie sich gegen die allmähliche Erosion ihrer (politisch) privilegierten ökonomischen Position. Man denke an Ayn Rands ideologische Lieblingsphantasie (aus Atlas Shrugged), an streikende Kapitalisten – findet diese Phantasie nicht ihre perverse Verwirklichung in vielen heutigen Streiks, die oft solche der privilegierten »lohnabhängigen« Bourgeoisie sind und von der Angst getrieben werden, dass sie ihre Privilegien verlieren (den Überschuss gegenüber dem Mindestlohn)? Das sind keine proletarischen Proteste, sondern Proteste gegen die Bedrohung, auf den Status eines Proletariers reduziert zu werden. Wer wagt es, in anderen Worten, heutzutage zu streiken, wenn die Sicherheit eines dauerhaften Arbeitsplatzes selbst zu einem Privileg geworden ist? Es sind nicht die schlechtbezahlten Arbeiter der Textilindustrie (oder was von ihr übrig geblieben ist), sondern die Schicht privilegierter Arbeiter mit sicheren Jobs (hauptsächlich aus dem Staatsdienst: Polizei und andere Gesetzesvollstrecker, Lehrer, Arbeiter im öffentlichen Transportwesen usw.). Das gilt auch für die neue Welle von Studentenprotesten: Ihre Hauptmotivation liegt vermutlich in der Angst, dass eine höhere Bildung ihnen in ihrem späteren Leben nicht mehr länger einen »Überschuss-Lohn« garantieren wird.

Der große Aufschwung von Protesten – vom Arabischen Frühling bis Westeuropa, von Occupy Wall Street bis nach China, von Spanien bis Griechenland – sollte natürlich nicht als eine bloße Revolte der lohnabhängigen Bourgeoisie abgetan werden. Es verbirgt sich ein viel radikaleres Potential dahinter, eines, das eine konkrete Analyse Fall für Fall erfordert. Die Studentenproteste gegen die Universitätsreform in England zum Beispiel unterscheiden sich ganz eindeutig von den Unruhen vom August 2011 in England – dem konsumistischen Karneval der Zerstörung, dem authentischen Ausbruch der aus dem System Ausgeschlossenen. Was die Aufstände in Ägypten betrifft, so könnte man sagen, dass sie als Revolte der lohnabhängigen Bourgeoisie begonnen haben (die Jungen und Gutausgebildeten protestieren gegen die mangelnde Perspektive), rasch aber Teil eines größeren Protestes gegen ein unterdrückerisches Regime wurden. Aber in welchem Ausmaß hat der Protest arme Arbeiter und Bauern mobilisiert? Ist nicht der Wahlsieg der Islamisten ein Hinweis auf die schmale soziale Basis des ursprünglich säkularen Protests? Griechenland ist ein besonderer Fall: In den letzten Jahrzehnten wurde eine neue lohnabhängige Bourgeoisie (besonders in der ausufernden staatlichen Verwaltung) mit der finanziellen Hilfe der EU geschaffen, und vieles der anhaltenden Proteste ist eine Antwort auf den drohenden Verlust dieser Privilegien.

Die Proletarisierung der unteren lohnabhängigen Bourgeoisie wird von einem Exzess in entgegengesetzter Richtung begleitet: der irrational hohen Entlohnung von Spitzenmanagern und Bankern (sie sind ökonomisch gesehen irrational, da – wie Untersuchungen aus den USA gezeigt haben – sie dazu tendieren, umgekehrt proportional zum Erfolg der Unternehmen zu sein).[10] Anstatt diese Trends einer moralischen Kritik zu unterziehen, sollten wir sie eher als Anzeichen dafür verstehen, dass das kapitalistische System selbst nicht mehr länger in der Lage ist, eine immanente Ebene selbstregulierter Stabilität zu finden; das heißt, dass seine Schaltungen außer Kontrolle zu geraten drohen.

Der gute alte marxistisch-hegelianische Begriff der Totalität kommt hier zu sich selbst: Es ist ganz wesentlich, die anhaltende Wirtschaftskrise in ihrer Totalität zu begreifen und nicht von ihren Teilaspekten geblendet zu werden. Der erste Schritt zu diesem Verständnis der Totalität beinhaltet die Konzentration auf diejenigen singulären Momente, die als Symptome des gegenwärtigen ökonomischen Dilemmas herausstechen – zum Beispiel weiß jeder, dass die »Rettungspakete« für Griechenland nicht funktionieren werden, doch trotzdem werden den Griechen immer wieder neue Rettungspakete auferlegt nach der verrückten Logik des »Ich weiß zwar, aber dennoch …«. In den Massenmedien zirkulieren zwei Hauptversionen der griechischen Krise: die deutsch-europäische (die unverantwortlichen, faulen, ausgabefreudigen, steuerhinterziehenden Griechen müssen unter Kontrolle gebracht und ihnen muss Finanzdisziplin beigebracht werden) und die griechische (ihre nationale Souveränität wird von den neoliberalen Technokraten in Brüssel bedroht).[11] Als es unmöglich geworden war, die Notlage der gewöhnlichen Griechen zu ignorieren, entstand eine dritte Version: Letztere werden zunehmend als menschliche Opfer präsentiert, die Hilfe brauchen, als ob irgendeine Naturkatastrophe oder ein Krieg das Land heimgesucht hätte. Während alle drei Versionen falsch sind, ist die dritte vermutlich die scheußlichste: Sie verschweigt die Tatsache, dass die Griechen keine passiven Opfer sind, sondern zurückschlagen, sich mit dem europäischen Wirtschaftsestablishment in einem Krieg befinden und dass sie Solidarität in ihrem Kampf brauchen, da es nicht nur ihr Kampf ist, sondern unser aller. Griechenland stellt keine Ausnahme dar, es ist ein großer Testfall für das Aufzwingen eines neuen sozioökonomischen Modells mit universellem Anspruch: dem entpolitisierten technokratischen Modell, in dem Bankern und anderen Experten erlaubt wird, die Demokratie zum Schweigen zu bringen.

Stellen wir uns eine Szene aus einem dystopischen Film vor, der unsere Gesellschaft in naher Zukunft zeigt: Normale Menschen laufen durch die Straßen und haben eine besondere Trillerpfeife dabei. Wann immer sie etwas Verdächtiges sehen – sagen wir einen Einwanderer oder einen Obdachlosen –, dann pfeifen sie, und eine Spezialeinheit kommt angerannt und behandelt die Eindringlinge auf brutalste Weise … Was wie eine billige Hollywood-Fiktion erscheint, ist im heutigen Griechenland Wirklichkeit. Mitglieder der faschistischen Bewegung »Chrysí Avgí« (»Goldene Morgendämmerung«) verteilen in den Straßen von Athen Trillerpfeifen; wenn jemand einen verdächtigen Fremden sieht, wird er aufgefordert, in seine Pfeife zu blasen, und die Spezialeinheit der »Goldenen Morgendämmerung«, die in den Straßen patrouilliert, kommt, um den Verdächtigen zu überprüfen. So verteidigt man Europa im Frühjahr 2012. Diese Anti-Einwanderer-Wächter sind allerdings nicht die Hauptgefahr; sie sind lediglich ein Kollateralschaden, der mit der wahren Bedrohung einhergeht – der Sparpolitik, die Griechenland in diese Zwangslage gebracht hat.

Kritiker unserer institutionellen Demokratie beklagen sich oft darüber, dass Wahlen in der Regel keine echte Wahlmöglichkeit bieten: Wir bekommen größtenteils die Wahl zwischen einer Partei mitte-rechts und einer mitte-links, deren Programme so gut wie ununterscheidbar sind. Zur Zeit der Abfassung dieses Buchs boten die Wahlen vom 17. Juni 2012 eine echte Wahlmöglichkeit: zwischen dem Establishment (Neue Demokratie und PASOK) auf der einen und Syriza auf der anderen Seite. Und wie üblich in diesen Fällen, stürzen solche Momente einer echten Wahl das Establishment in Panik und treiben sie dazu, Bilder von sozialem Chaos, Armut und Gewalt heraufzubeschwören, im Falle, dass die Wähler die falsche Wahl treffen. Die schiere Möglichkeit eines Wahlsiegs von Syriza hat Wellen der Angst in den Märkten auf der ganzen Welt erzeugt, und immer noch wie üblich in solchen Fällen, hatten die ideologischen Personifizierungen ihre Blütezeit: Die Märkte begannen wie lebendige Personen zu sprechen und drückten ihre »Sorge« aus, was passieren würde, sollten die Wahlen nicht zu einer Regierung führen, die das Sparprogramm und die Strukturreform der EU und des IWF weiterführt. Doch das gewöhnliche Volk der Griechen hat keine Zeit, sich über diese Aussichten Sorgen zu machen, es hat genug damit zu tun, mit der Gegenwart zurechtzukommen, in der sein Leben in einem solchen Ausmaß elend geworden ist, wie es in den letzten Jahrzehnten in Europa nicht mehr für möglich gehalten worden ist. Solche Prognosen werden natürlich oft zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen, die Panik verursachen und damit genau den Zustand hervorbringen, vor dem sie uns warnen.

In seinen Beiträgen zum Begriff der Kultur bemerkte der große Konservative T. S. Eliot, dass es Momente gibt, in denen die einzige Wahl die zwischen Häresie und Unglauben ist – dass der einzige Weg, um eine Religion am Leben zu erhalten, darin besteht, eine sektiererische Abspaltung von ihrem Hauptkörper vorzunehmen. Das ist unsere Lage heute im Hinblick auf Europa: Nur eine neue »Häresie« (die zu diesem Zeitpunkt von Syriza verkörpert wird) kann retten, was am europäischen Erbe der Rettung wert ist: Demokratie, Vertrauen auf das Volk, egalitäre Solidarität … Das Europa, das gewinnen wird, falls Syriza ausmanövriert wird, ist ein »Europa mit asiatischen Werten« (was natürlich nichts mit Asien zu tun hat, sondern alles mit der eindeutigen und präsenten Gefahr der Tendenz des zeitgenössischen Kapitalismus, die Demokratie außer Kraft zu setzen).

Griechenland ist daher Europas singuläre Allgemeinheit: der Knotenpunkt, an dem die historische Tendenz, die seine gegenwärtige formt, am reinsten erscheint. Deshalb, um das Finale von Wagners Parsifal zu paraphrasieren, sollten wir den Erlöser erlösen: Wir sollten nicht nur Griechenland vor seinen Rettern retten – dem europäischen Konsortium, das »Sparmaßnahmen« in Dr.-Mengele-Manier ausprobiert –, sondern auch Europa selbst vor seinen Rettern: den Neoliberalen, die die bittere Medizin des Sparens befürworten, und den Populisten, die gegen Immigration sind. Dennoch stimmt etwas nicht mit dieser Idee: die Tatsache, dass sie exakt die Antwort des archetypischen europäischen linksliberalen Trottels – vorzugsweise ein sozial bewusster, kultivierter Intellektueller – auf die heutige Frage nach Europa ist. Als politisch korrekter Antirassist wird er darauf bestehen, dass er natürlich den emigrantenfeindlichen Populismus zurückweist: Die Gefahr komme von innen, nicht vom Islam. Die zwei Hauptbedrohungen für Europa, wird er sagen, sind genau dieser Populismus und die neoliberale Ökonomie. Gegen diese doppelte Bedrohung müssen wir gesellschaftliche Solidarität, multikulturelle Toleranz, die materiellen Bedingungen für kulturelle Entwicklung usw. wieder reanimieren. Doch wie soll man das bewerkstelligen? Die zentrale Idee der Trottel beinhaltet eine Rückkehr zum authentischen Wohlfahrtsstaat: Wir bräuchten eine neue Partei, die zu den guten alten Prinzipien zurückkehrt, die unter dem neoliberalen Druck aufgegeben worden seien: Regulierung der Banken und Kontrolle der finanziellen Exzesse, Garantie auf freie universale Gesundheitsfürsorge und Bildung usw. usw. Was ist daran falsch? Alles: Ein solcher Zugang ist stricto sensu idealistisch, das heißt, er stellt seine eigene idealisierte ideologische Ergänzung dem existierenden Stillstand entgegen. Erinnern wir uns daran, was Marx über Platons Staat geschrieben hat: Das Problem besteht nicht darin, dass er »zu utopisch« ist, sondern im Gegenteil darin, dass er das Idealbild der existierenden politisch-wirtschaftlichen Ordnung bleibt. Mutatis mutandis sollten wir daher den anhaltenden Abbau des Sozialstaats nicht als »Verrat« an einer noblen Idee verstehen, sondern als ein Scheitern, das uns rückwirkend in die Lage versetzt, einen fatalen Fehler im Begriff des Wohlfahrtsstaats zu erkennen. Die Lektion lautet, dass wenn wir den emanzipatorischen Kern des Begriffs retten wollen, wir das Feld wechseln und die meisten seiner grundlegendsten Implikationen neu durchdenken müssen (wie die Realisierbarkeit einer »sozialen Marktwirtschaft« auf lange Sicht, das heißt eines sozial verantwortlichen Kapitalismus).

Heutzutage werden wir mit einer Vielzahl von Versuchen bombardiert, den Kapitalismus zu »humanisieren«, vom Öko-Kapitalismus bis zum Kapitalismus eines bedingungslosen Grundeinkommens. Die Argumentation hinter diesen Versuchen lautet folgendermaßen: Die historische Erfahrung hat erwiesen, dass der Kapitalismus die bei weitem beste Methode ist, Wohlstand zu erzeugen; gleichzeitig muss man aber zugeben, dass der Prozess der kapitalistischen Reproduktion – wenn er sich selbst überlassen bleibt – Ausbeutung, die Zerstörung der natürlichen Ressourcen, massenhaftes Leiden, Ungerechtigkeit, Kriege usw. beinhaltet. Unser Ziel sollte es daher sein, das grundlegende kapitalistische Gefüge der profitorientierten Reproduktion aufrechtzuerhalten, es aber zu steuern und zu regulieren, damit es den größeren Zielen der globalen Wohlfahrt und Gerechtigkeit dient. Folgerichtig sollten wir die kapitalistische Bestie ihrem eigenen Funktionieren überlassen und akzeptieren, dass Märkte ihre eigenen Bedürfnisse haben, die wir respektieren sollten, dass jede direkte Beeinträchtigung der Marktmechanismen in die Katastrophe führen wird – wir können nur hoffen, die Bestie zu zähmen … Alle diese Versuche jedoch, so wohlmeinend sie oft in ihrem Bemühen sind, einen pragmatischen Realismus mit einer prinzipiellen Verpflichtung auf Gerechtigkeit zu verbinden, treffen früher oder später auf das Reale des Widerspruchs dieser zwei Dimensionen: Die kapitalistische Bestie entkommt immer wieder der wohlmeinenden sozialen Regulierung. An einem gewissen Punkt sind wir daher gezwungen, die fatale Frage zu stellen: Ist das Spielen mit der kapitalistischen Bestie wirklich das einzig vorstellbare Spiel in town? Was, wenn der Preis, produktiv, wie der Kapitalismus ist, einfach zu hoch wird? Wenn wir dieser Frage ausweichen und damit fortfahren, den Kapitalismus zu »humanisieren«, werden wir nur zu dem Prozess beitragen, den wir umzukehren versuchen. Die Zeichen für diesen Prozess sind überall zu erkennen, inklusive der Entwicklung von Wal-Mart als Vertreter einer neuen Form von Konsumismus, der auf die Unterschicht zielt:

»Anders als die ersten großen Unternehmen, die völlig neue Bereiche mit Hilfe von einigen Erfindungen geschaffen haben (z.B. Edison mit der Glühbirne, Microsoft mit seiner Windows-Software, Sony mit dem Walkman oder Apple mit seinem Paket aus iPod/iPhone/iTunes), oder andere Unternehmen, die sich auf den Ausbau einer bestimmten Marke konzentriert haben (z.B. Coca-Cola oder Marlboro), hat Wal-Mart etwas getan, an das vorher niemand gedacht hat. Sie verpackten eine neue Ideologie des Billigen in einer Marke, die den finanziell angeschlagenen amerikanischen Arbeiter der unteren Mittelklasse ansprechen sollte. In Verbindung mit ihrem scharfen Verbot von Gewerkschaften wurden sie zu einem Bollwerk im Niedrighalten von Preisen und verschafften ihren Kunden aus der schon lange leidenden Arbeiterklasse eine Art Befriedigung, an der Ausbeutung der (meist ausländischen) Produzenten ihrer Waren im Einkaufskorb teilzuhaben.«[12]