Das Juwel der Harpyien - Martin Kern - E-Book

Das Juwel der Harpyien E-Book

Martin Kern

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Beschreibung

Der zum Tode verurteilte Dieb Flynt ist gezwungen aus seiner Heimat zu fliehen. Bei seiner Flucht wird er von dem blinden Magier Ganto unterstützt, der das Potential des jungen Diebes erkennt und sich daher seiner annimmt. Gemeinsam begeben sie sich auf eine Reise, bei der sie den Harpyien auf der Spur sind. Diese bösartigen Kreaturen wollen mithilfe eines einzigartigen Relikts ein Ritual vollziehen, welches unbedingt verhindert werden muss.

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Seitenzahl: 510

Veröffentlichungsjahr: 2023

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DANKSAGUNG

Ein herzliches Dankeschön an meine Familie. Ihr habt mich stets ermutigt, motiviert und unterstützt. Das half mir, niemals das Ziel aus den Augen zu verlieren.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

ABSCHNITT 1: DIEB

DAS ELSTERNNEST

DIE HÄNDLERTOCHTER ELISA

ZURÜCKGESTUFT

GRETAS GEHEIMER SCHATZ

RENDEZVOUS AN DER KÜSTE

DER GEHEIMNISVOLLE GANTO

DER VERRAT

KRALLES URTEIL

DIE FLUCHT AUS DEM KERKER

ABSCHNITT 2: NOVIZE

EIN NEUER LEBENSABSCHNITT

VORBEREITUNGEN

DIE AUSBILDUNG BEGINNT

EINE UNGEDULDIGE GRÄFIN

DIE BLUTANALYSE

DIE HARPYIE ISABELLA

DIE BELOHNUNG

ABSCHNITT 3: ADEPT

GETRENNTE WEGE

DIE VERGANGENHEITSDÄMONEN

DIE MAGIE ERWACHT

EIGENSTUDIUM

DIE FESTUNG ALTUNAS

DER MEISTER DER RUNEN

EIN NEUER RIVALE

ERDE UND LUFT

EIN EBENBÜRTIGER KAMPF

AUFBRUCH ZU ZWEIT

EIN UNERWARTETES WIEDERSEHEN

DIE ZEIT ZU ZWEIT

ARIANS WANDEL

DAS HARPYIEN-TRIO

FLYNTS ABSTAMMUNG

AELLAS OPFER

FREUNDSCHAFT

UMGARNT

LUANAS LEKTION

WIEDER VEREINT

EINE NEUE MITSCHÜLERIN

LUANAS LAUNEN

DER DORNSTEIN-CLAN

KRALLE

LIRONS VISION

ABSCHNITT 4: MEISTERSCHAFT

ZURÜCK IN WIESENHOF

CALAENAS EINFLUSS

LUANAS ENTSCHEIDUNG

ERNEUT IN ALTUNAS

DIE RUNENVERSIEGELUNG

DIE SUMPFLANDE

KAMPF DER VAMPIRE

CALAENAS ERLÖSUNG

DIE ZUKUNFT ALTUNAS

EPILOG

PROLOG

Ein Donnerschlag außerhalb der Hütte ließ Aellas ganzen Körper zusammenzucken. Die junge Mutter huschte schnell zum anderen Ende des Raumes, um die knarrenden Fensterläden zu schließen. Nicht aus Angst, dass der Lärm ihren kleinen Schatz ängstigen würde, nein. Sie selbst war es, die am ganzen Leib zitterte. Dennoch gab sie ihr Bestes, um dies vor ihrem Sohn zu verbergen.

Aellas Hände hatten sich förmlich um die Fenstergriffe gekrallt. Sie rechnete damit, in der Dunkelheit etwas Gefährliches zu erspähen. Erst das sorgenfreie Glucksen hinter sich, ließ sie wieder entspannen.

Der kleine Flynt saß aufrecht auf einem Fell vor dem Kamin und betastete eine merkwürdig geformte Wurzel. Er führte sie sich langsam zum Mund, doch ließ er sie abrupt fallen, nachdem seine Mutter laut aufgeschrien hatte.

»Flynt, nein!« Mit zwei Sätzen war Aella bei ihrem Sohn und brachte die Wurzel in Sicherheit. »Die ist giftig, verstehst du?«

Flynt war ein ungewöhnlich besonnenes Kind. Doch die Panik, die er in den Augen seiner Mutter sah, ließ ihn schluchzen.

Aella setzte sich zu ihm und beruhigte ihn mit einigen Grimassen. Dabei ließ sie ihren Blick in der Hütte umherschweifen und murmelte geistesabwesend: »Wo ist sie denn, wo steckt sie nur ...? Da!«

In der hinteren Ecke des Raumes war etwas aufgeblitzt. Eine Murmel – das Lieblingsspielzeug von Flynt. Aella schnappte sich erleichtert die bläuliche Kugel und rollte sie ihrem Sohn entgegen. Dafür erntete sie ein herzerwärmendes Lächeln.

Eine Weile sah Aella ihm beim Spielen zu, ehe sie sich wieder dem Topf auf der Feuerstelle zuwandte. Dort brodelte eine trübe Flüssigkeit, in die sie jetzt die Wurzel, die sie Flynt abgenommen hatte, am Stück hineinwarf. Im Anschluss rührte sie mit der Kelle, bis sich der Inhalt allmählich moosgrün färbte.

Ein lauter Donnerschlag erhellte erneut den ganzen Nachthimmel. Aella riss ihren Kopf um die eigene Achse, um zum Fenster zu spähen. Dabei bemerkte sie zwischen den kaputten Lamellen die Konturen einer Person, ehe die Dunkelheit wieder einsetzte.

Die junge Mutter ließ die Kelle zurück in den Topf fallen und eilte zur Eingangstüre. Kaum hatte sie diese geöffnet, da peitschten ihr dicke Regentropfen ins Gesicht. Dem folgte ein Taubheitsgefühl, welches sie aber ignorierte. Zu groß war die Erleichterung, denn jetzt erkannte sie die Umrisse des näherkommenden Mannes.

»Hektor!«, rief sie erleichtert, kaum war er in Hörweite. »Was bin ich froh, du bist wohlauf.« Sie schloss ihn in die Arme.

Der durchnässte Mann erwiderte die Umarmung und gab Aella einen Kuss auf die Stirn. Nachdem die junge Mutter ihn aber nicht aus der Umklammerung freigab, da packte er sie an der Hüfte und marschierte gemeinsam mit ihr über die Schwelle. »Na, so anhänglich kenne ich dich ja gar nicht, meine Liebe«, meinte er lachend und streifte sich den Schlamm von den Stiefeln.

Endlich löste sich Aella und stemmte ihre Fäuste in die Hüften. »Du hast mir versprochen nur drei Tage fort zu sein. Ich habe mit dem Schlimmsten gerechnet. Schon vergessen, wir sind auf der Flucht?!«

Hektor kämpfte sich aus dem schweren Mantel, der seine ohnehin breite Statur um ein Vielfaches gewaltiger wirken ließ. Im Anschluss schenkte er seiner Geliebten einen gütigen Blick, der sie etwas milder stimmte. »Verzeih mir, aber ich habe Mutter zuletzt vor vier Jahren gesehen. Da war es nicht leicht sich loszureißen. Zumal es das erste Mal war, dass ich ihr von dir und dem kleinen Flynt erzählen konnte. Wo wir schon dabei sind ...«

Hektor spähte an Aella vorbei und entdeckte seinen Sohn. Er stapfte durch Raum, packte ihn mit beiden Händen und wirbelte ihn wild durch die Luft. Flynt gluckste und lachte vor Entzückung. Der liebliche Klang ließ Aellas Wut verebben. Sie kam nicht drum herum ebenfalls in das Gelächter miteinzustimmen.

Das Brodeln, das von der Feuerstelle kam, erinnerte die junge Mutter an ihre eigentliche Aufgabe. Sie wandte sich wieder dem Kessel zu. Ein Blick ins Innere genügte, um zu erkennen, dass der Trank fertig war. Sie verteilte den Inhalt auf zehn kleinere Fläschchen, die sie auf den Esstisch gestellt hatte.

Hektor bemerkte dies und dabei huschte ihm ein Schatten übers Gesicht. »Du trinkst das Zeug also noch immer, hm?«

Ein stummes Nicken.

Hektor setzte Flynt wieder ab und gesellte sich zu seiner Geliebten. Voller Verachtung starrte er auf den mittlerweile leeren Kessel. »Du weißt, dass dich das Gebräu Jahre deines Lebens kosten wird!«

Die junge Mutter verdrehte ihre Augen. »Und du weißt, was passiert, wenn ich ihn nicht trinke. Meine Vergangenheit – sie würde wieder zum Vorschein kommen.«

Hektor sah sie nur wortlos an.

»Außerdem«, fuhr Aella fort, »würde ich selbst ohne Trank kein hohes Alter erreichen. Zwar verändert er mein Äußeres, aber sie werden mich finden und -«

»So weit lasse ich es nicht kommen«, fuhr er ihr ins Wort. »Ich werde dich und Flynt beschützen, immer!«

Zum ersten Mal zeichnete sich ein aufrichtiges Lächeln auf Aellas Gesicht ab. Dennoch setzte sie eines der Fläschchen an und trank den Inhalt, ohne die Miene zu verziehen. Kurz darauf krächzte sie und ballte schmerzverzerrt ihre Hände zu Fäusten. Aellas Knochen knackten und verformten sich. Ihre Gestalt wurde zierlicher und Haut und Haare glätteten sich – eine Schönheit, wie sie im Buche stand, kauerte jetzt am Boden. Hektor beobachtet diese Verwandlung ausdruckslos.

Aella atmete schwer auf und betrachtete ihre geglättete Haut. Dann rückte sie näher an ihren Geliebten heran und sagte: »So ist es besser, Liebster. Es wäre mir ansonsten unmöglich, mein normales Spiegelbild zu ertragen.«

Eine Weile saßen die beiden stumm da und beobachteten Flynt beim Spielen. Es war ihnen ein kleiner Trost, dass er all die Probleme nicht begriff, die sie hatten.

»Deine Mutter ...«, murmelte Aella, ohne von ihrem Sohn aufzublicken, »wird sie ihn nehmen?«

Hektor nickte stumm.

Jetzt wandte sie den Blick gänzlich ihrem Geliebten zu. Sie wartete ab, doch er sagte nichts mehr. Daher bohrte sie nach: »Hast du ihr von meiner Vergangenheit ...« Sie brach ab, nachdem Hektor ihren Blick erwiderte.

»Ich habe Mutter nur das erzählt, was notwendig ist. Über deine Herkunft und unseren Verfolgern braucht sie nichts zu wissen.« Er zögerte kurz. »Sie hat mir versprochen, Flynt in zwei Tagen zu holen.«

Aellas Blick sank in ihren Schoß. Sie weinte nie – selbst jetzt nicht, da sie ihren Sohn vermutlich bald nie wieder sehen würde. Dennoch stand ihr die Trauer ins Gesicht geschrieben. Sie ballte erneut ihre Fäuste. »Und der Juwel ... ist er bei ihr sicher?«

Flynts kleine Glasmurmel rollte Hektor vor die Füße. Er nahm sie zwischen Damen und Zeigefinger und betrachtete die verzerrte Spiegelung seines Antlitzes. »Es ist bei ihr auf jeden Fall besser aufgehoben. In unseren Händen wäre das Risiko deutlich größer, dass es ihnen in die Finger fällt.«

»Aber was, wenn sie es doch verkauft?«, wandte Aella verkniffen ein. »Du hast selbst gesagt, dass sie in ärmlichen Verhältnissen lebt.«

»Mutter würde es nie verkaufen«, antwortete er prompt. »Ja, sie ist arm, aber sie ist auch eine genügsame Frau. Sie hat mir versprochen das Juwel zu verwahren und niemandem davon zu erzählen.« Hektor hob die Murmel gegen das Licht und betrachtete die bläuliche Spiegelung. Er rollte sie zurück zu Flynt und wandte sich wieder seiner Geliebten zu. »Hast du ein Duplikat angefertigt?«

Aella nickte und schritt zu einer Truhe. Kurz darauf präsentierte sie ihm eine steinerne Feder, in dessen Mitte ein Saphir eingelassen war.

Hektor prüfte den ungewöhnlichen Gegenstand, wie zuvor die Murmel. »Perfekt, nicht vom Original zu unterscheiden.« Er betastete den blauen Stein in der Mitte. »Schon faszinierend, dass dieses unscheinbare Objekt in den falschen Händen zu etwas Grausamen wird – das Juwel der Harpyien.«

In dem Moment fing der Wind draußen an bestialisch zu heulen und zerrte an den Mauern der Hütte. Aella wurde leichenblass und war kurzzeitig wie erstarrt. »Sie haben uns gefunden!«, formten ihre Lippen fast lautlos.

Hektor brauchte einen Moment, um diese Worte zu verarbeiten, ehe er aufsprang und zum Eingang stürmte. Er stemmte sich gegen die hölzerne Türe – keine Sekunde zu früh. Es gab einen gewaltigen Schlag dagegen, dessen Impuls den massigen Körper Hektors zum Erzittern brachte. »Schnell!«, presste er zwischen den Zähnen hervor. »Bring Flynt nach oben – verstecke ihn!«

Aella zwang sich gewaltsam aus ihrer Paralyse und schnappte sich ihren Sohn. Mit ihm im Arm rannte sie an ihrem Geliebten vorbei und stolperte die Treppe hinauf. Wieder ein Schlag, der Hektor zum Krächzen brachte. Lange würde er nicht durchhalten.

Aella stürmte in die Schlafkammer und riss die Kleiderschranktüre auf. Mit einer Hand tastete sie den Boden nach den losen Dielen ab. Der Hohlraum war groß genug, um darin ein Kleinkind zu verstecken. Vorsichtig legte sie Flynt hinein und schnappte sich ein Fläschchen, das zwei Regalbretter über ihr lagerte. Mit den Zähnen zog sie den Korken. Der kleine Flynt beobachtete dies mit äußerster Neugierde. Seine aufgeweckten grünen Augen zeigten nicht die Spur von Angst.

»Trink das, mein Kleiner.« Aella hob vorsichtig das Köpflein ihres Sohnes und flößte ihm den Inhalt des Fläschchens ein. Mit jedem Schluck wurden ihm die Lider schwerer, bis sie langsam zufielen.

Eine einzige stumme Träne rann Aellas Wange hinab. Sie würde ihn vermutlich nie wieder zu Gesicht bekommen, deshalb prägte sie sich ein letztes Mal diese rosigen Züge ein. »Keine Angst, mein Kleiner«, flüsterte sie ihm besänftigend zu. »Deine Großmutter wird dich in zwei Tagen abholen kommen. Du wirst so lange schlafen und wenn du erwachst, wirst du in Sicherheit sein.«

Ein Schrei drang zur Kammer hinein. Aella gefror das Blut in den Adern. »Hektor!« Sie verschloss die Schranktüre und eilte ihrem Geliebten zur Hilfe. Kaum hatte sie den Treppenabsatz erreicht, da rutschte ihr das Herz in die Hose: Der Vater ihres Sohnes lag bewegungslos in seiner eigenen Blutlache. Aber er war nicht tot – aus seinem Mund kamen krächzende Laute.

Aella stolperte die Stufen hinab und warf sich schützend über den geschändeten Körper ihres Geliebten. Ihr Gesicht vergrub sie in seinem Brustkorb, der sich kaum mehr bewegte.

Hinter sich hörte sie kratzende Schritte und kurz darauf wickelte sich etwas um ihren Hals und sie wurde gegen die Wand geschleudert. Bevor ihr schwarz vor Augen wurde, erspähte sie die Silhouette ihrer Peiniger: Drei Kreaturen mit Flügeln und Klauen – Harpyien!

ABSCHNITT 1: DIEB

(14 Jahre später)

DAS ELSTERNNEST

»Hey Fly, wach endlich auf! Oder hast du vor einen weiteren Tag zu verschlafen?«

Flynt gab ein schlaftrunkenes Stöhnen von sich. Er war es leid, fast täglich von seinem besten Freund Rik aus dem Bett geworfen zu werden. Er drehte sich seitwärts, um sich der Stimme abzuwenden. Dabei fuhr ihm ein stechender Schmerz die Wange entlang.

Vorsichtig tastete er das Gesicht ab. Seine Augen waren komplett zugeschwollen, sodass er lediglich die Silhouette seines Gegenübers erkannte: »Rik, was ist passiert? Und warum zum Geier bist du schon wieder so früh bei mir Zuhause?«

Rik gab ein amüsiertes Glucksen von sich. »Bei dir? Sieh dich doch mal genauer um, Fly. Du bist in meiner Baracke.«

Flynt schwenkte seinen Kopf nach links und rechts. Mit der Zeit gelang es ihm, immer mehr zu erkennen. Er erspähte karge Wände, modrige Möbel und ein verwanztes Bett, welches nicht sein Eigenes war. Letztlich wandte er sich Rik zu. Ein breites Grinsen zog sich über dessen Gesicht. Selbst mit den geschwollenen Augen erkannte Flynt die frettchenähnlichen Züge darin.

»Wenn ich mir deine Visage ansehe, wundert es mich nicht, dass du dich an nichts erinnerst. Hab schon lange nicht mehr erlebt, dass auf jemandem so eingeprügelt wurde. Na ja, selbst den Besten erwischt es früher oder später, nicht war, Fly?«

Dem jungen Flynt trieb es die Röte ins Gesicht. So von seinem besten Freund vorgeführt zu werden, passte ihm nicht. Da spielte es keine Rolle, ob dieser im Recht war.

Rik setzte sich ebenfalls aufs Bett und lehnte sich gegenüber an die Mauer. Dabei bemerkte Flynt, dass dessen Fäuste geschwollen waren. Allmählich gelange es ihm die Puzzleteile zusammenzufügen. Er deutete darauf und meinte: »Sag bloß, du bist mir zur Hilfe gekommen?«

Rik prüfte kurz seine pochenden Hände, ehe er sie lässig hinterm Kopf verschränkte. »Jepp, hab der alten Greta doch versprochen, dass ich auf dich aufpasse, oder?«

Mehr Röte stieg in Flynts Gesicht. Er schämte sich, denn es war das erste Mal, dass er beim Stehlen erwischt wurde. Und ausgerechnet Rik kam ihm zur Hilfe. Sicher, er war sein bester Freund, doch er hasste es, in seiner Schuld zu stehen. Er war ohnehin immer in dessen Schatten, da Rik breit gebaut und muskulös war. So war er, trotz seines schleimigen und eingebildeten Auftretens, bei den Mädchen immer beliebter als er.

Wieder setzte Rik ein breites Grinsen auf. Er kannte Flynt lange genug, um zu wissen, was in dessen Kopf vorging. »Keine Angst, Fly«, keckerte er. »Du bist mir nichts schuldig. Eine kleine Geste anlässlich deines Geburtstages würde ich sagen.«

Flynt runzelte die Stirn. Wenn heute sein Jahrestag war, dann bedeutete dies, dass er anderthalb Tage bewusstlos war. Wenigstens habe ich meinen Fünfzehnten nicht verpennt, sinnierte er im Stillen. Doch das kaufte ihn nicht von Riks Schuld frei.

»Da wir schonmal dabei sind:« Rik erhob sich vom Bett und öffnete die Schublade seines Nachttisches. Er kramte eine hölzerne Maske heraus und warf sie Flynt in den Schoß. »Herzlichen Glückwunsch, alter Taugenichts. Das ist doch das scheußliche Teil, für das du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast, nicht?«

Flynt war es durch seine geschwollenen Augen kaum möglich die feinen Schnitzerein zu erkennen. Erst nachdem er sie mit den Fingern abgetastet hatte, gab es keinen Zweifel daran. Es handelte sich um das Stück, das er aus Lord Harens Anwesen gestohlen hatte. Die Erinnerung an den Einbruch versetzte dem jungen Dieb einen Schlag in die Magengegend. Flynt hatte sich die antike Maske unter den Nagel gerissen, doch lief er einer Wachpatrouille in die Arme. Ein Anfängerfehler, der ihm um ein Haar das Leben gekostet hätte. Jetzt war er Rik doch dankbar, dass er ihn aus der heiklen Situation gerettet hatte.

Flynt wog die Maske eine Weile in den Händen. Das dunkle Holz war fast so schwer wie Eisen und roch absolut scheußlich. Offenbar sah er nicht dasselbe darin wie sein Auftraggeber. »Du kriegst fünfzig Prozent von dem, was mir Kralle dafür versprochen hat«, schlug er seinem Freund vor.

Riks Mundwinkel zogen sich wieder in die Breite. »Das ist doch mal ein Wort. Für so eine Gegenleistung rette ich dir gerne den Arsch. Jetzt aber raus aus den Federn. Lass uns diese Scheußlichkeit ins Elsternnest bringen. Du kennst doch Kralle, er ist nicht bekannt dafür der Geduldigste zu sein. Bei der Gelegenheit würde ich dir empfehlen, die Schwellungen begutachten zu lassen, bevor du Greta unter die Augen trittst.«

»Da sprichst du ein wahres Wort. Die Stimmung zwischen Großmutter und mir ist ohnehin angeschlagen, seit sie erfahren hat, dass ich Aufträge für die Diebesgilde erledige.«

Rik klopfte ihn schadenfroh auf die Schulter. »Der einzige Ort, wo ein Taugenichts wie du an ein paar Kupferstücke kommt.«

Der junge Dieb spuckte ihm vor die Füße, woraufhin Rik gackernd zwei Schritte zurückwich.

Draußen auf den Straßen von Khant schien die Sonne in ihrer vollen Pracht. Doch selbst im Hochsommer drang das Sonnenlicht niemals gänzlich bis in den untersten vierten Ring der Stadt. Dafür sorgten die meterhohen Müllberge, die die Wohlhabenden der oberen Kreise einmal die Woche hier her karren ließen. Es war ein gesetzloser Ort, an dem es fast so viele Diebe und Herumtreiber wie Bewohner gab. Die Armut war groß und an Stelle von Häusern reihten sich schäbige Baracken aneinander. Solche notdürftig zusammengezimmerten Unterkünfte aus Blech und Holz, bewohnten auch die zwei Freunde. Flynts Behausung war etwas größer, da er sie mit seiner Großmutter Greta teilte. Dafür genoss Rik mehr Freiheiten und war keinem Menschen Rechenschaft schuldig.

Die beiden schlenderten zum angrenzenden höheren Ring. Dort lag einer der Eingänge des Elsternnests verborgen – dem Versteck der Diebesgilde. Einem riesigen unterirdischen Tunnelsystem, in dem sich jeder, der sich nicht auskannte, verlaufen würde. Zusätzlich gab es unzählige Fallen, die vor unerwünschten Eindringlingen schützten.

Flynt und Rik bogen in eine menschenleere Seitengasse ein. Dort zwangen sie sich durch einen Bretterverschlag hindurch und tauchten ins Dunkle ein. Die Luft im Elsternnest war modrig und feucht. Was die beiden Freunde nicht weiter störte. Sie waren an den Gestank gewöhnt, da sie oft Aufträge für die Diebesgilde erledigten. Wobei sich ihre Aufgaben voneinander unterschieden. Flynt war auf Einbrüche und Diebstähle spezialisiert. Rik dagegen zählte zum Schlägertrupp. Zweitere waren notwendig, um Diebe aus brenzlichen Situationen zu befreien. Dieser Schutz bedeutete aber, die Beute zu teilen. Ein Grund, warum Flynt es vorzog alleine zu agieren. Eine Eigensinnigkeit, die ihm zum Verhängnis geworden war.

Der junge Dieb hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und kannte jeden Winkel und sämtliche Fallen im Elsternnest. Wobei er gegen diesen Ort eine Abneigung entwickelt hatte. Es war ein notwendiges Übel hier nach Arbeit zu fragen, um sich und seine Großmutter Greta über die Runden zu bringen. Vor Steuern blieben selbst die Armen nicht verschont. Einmal im Monat kamen die Geldeintreiber der oberen Ringe und forderten schier unverschämte Beträge.

Die Tränke tauchte vor den beiden auf. So nannte man im Elsternnest den Ort, an dem sich die Heiler niedergelassen hatten. Viele von ihnen gab es dort nicht und den meisten fehlte die nötige Ausbildung. Aber zum Zusammenflicken reichte deren Qualifikation aus.

Flynt hielt nach Hilda Ausschau, seiner bevorzugten Wahl unter den Heilern. Die kränklich wirkende Frau beherrschte ihr Handwerk wie keine Zweite hier.

»Flynt«, krächzte sie mitleidig. »Was ist denn mit dir passiert? Hat dich etwa ein Schmied mit dem Amboss verwechselt?«

Der junge Dieb schmunzelte. »Du weißt doch, Hilda, mein Gesicht sehnt sich nach kräftigen Hammerschlägen. Nicht umsonst nennt man mich den Stählernen.«

Sein Freund Rik grinste bei dieser Aussage. Denn Flynt war schmächtig und in Schlägereien zog er meist den Kürzeren. Dafür war er ausdauernd, flink und geschickt – perfekt für Einbrüche und Diebstähle.

Hilda packte Flynts Kopf und drehte ihn prüfend umher. »Schade um deine Augen, sie sind vollständig blutunterlaufen. Es wird Tage dauern, bis das alles verheilt ist.« Sie nickte zu Rik rüber. »Du brauchst gar nicht so zu grinsen. Ein frettchenartiges Gesicht wie deines hätte mehr von solchen Schwellungen profitiert.«

Es war allgemein bekannt, dass Hilda jeden im Schlägertrupp verachtete. Da bot Rik keine Ausnahme. Sie behauptete oftmals, dass er etwas Verräterisches an sich hatte.

Rik aber störte sich nicht an ihrer Abneigung ihm gegenüber. Er grinste sie nur hämisch an und meinte: »Tja, alte Frau, Fly hat das Gesicht und ich habe den Körper.« Sein Blick wurde ernster und deutete zur hölzernen Maske in Flynts Hand. »Was hältst du davon, wenn ich sie gleich zu Kralle bringe?« Er nickte zu Hilda. »So, wie ich die alte Schachtel kenne, wird sie eine Ewigkeit für dein vorzeigetaugliches Gesicht brauchen.«

Für diese freche Bemerkung bestrafte ihn Hilda mit einer Grimasse. Diese wurde keckernd erwidert.

Flynt presste die Lippen zusammen. Gewöhnlich erzeugte es einen besseren Eindruck, die Beute persönlich zu überbringen. Vor allem, da der junge Dieb großspurig angekündigt hatte, dass es für ihn ein Kinderspiel sein würde, die Maske zu stehlen. Aber er stand in Riks Schuld und so überreichte er das antike Stück letztlich doch.

»Dann sehen wir uns später, Fly.«

Hilda schüttelte geringschätzig den Kopf und bat Flynt, Platz zu nehmen. Sie schnappte sich ein Messer, welches sie zuvor im Feuer sterilisiert hatte, und fuhr ihm damit sanft über die geschwollene Wange. Die Schwellflüssigkeit wurde ihm aus der Haut gedrückt, was den jungen Dieb zum Stöhnen brachte. Die Wunde wurde gereinigt und abschließend zugenäht. Zum Schluss bestrich sie ihr Werk mit einer selbst gemischten Salbe.

Flynt atmete auf, da das Pochen endlich nachgelassen hatte. »Danke Hilda. Du rettest mir das Leben.«

»Pass das nächste Mal besser auf dich auf, dann ist so ein Eingriff gar nicht erst notwendig.« Sie drehte abermals sein Gesicht prüfend im Schein der Fackel und musterte ihn argwöhnisch. »Du bist ein erstaunlicher Junge. So wie du zugerichtet warst, müsstest du grün und blau sein. Doch deine Wangen sind rosig wie immer.«

»Du bist eben die beste Heilerin hier.« Er bezahlte sie mit einer Kupfermünze und zwinkerte ihr zum Abschied zu.

Ehe er in den Gängen verschwand, rief ihm Hilda hinterher: »Jetzt geh erst mal nach Hause und erhol dich von den Strapazen!«

DIE HÄNDLERTOCHTER ELISA

»Da bin ich wieder, Großmutter!«

Flynt schloss die quietschende Eingangstüre und trat in den dunklen Wohnraum der schäbigen Baracke.

Greta entfuhr ein Laut der Erleichterung. Sie erhob sich vom Esstisch, schnappte sich ihren Gehstock und hinkte zu ihrem Enkel. Doch eine herzliche Umarmung hatte sie nicht parat. Stattdessen verpasste sie ihm einen Hieb mit dem Stock.

»Hey, wofür war das denn?!«, protestierte Flynt lautstark.

Seine Großmutter ließ nicht locker. Sie warf den Stock beiseite und stemmte ihre Fäuste in die Hüfte. Obwohl sie ohne ihrer Stütze drohte umzukippen, zeigte ihre Miene keine Spur von Gebrechlichkeit. »Wofür das war?«, wiederholte sie zitternd vor Wut. »Du hast mir versprochen bis zum Abendläuten wieder zuhause zu sein. Das war vor zwei Tagen. Ich habe mir schon die schrecklichsten Bilder ausgemalt. Und jetzt marschierst du hier ohne Entschuldigung mit den Einkäufen herein, um die ich dich vor einer Ewigkeit gebeten habe.«

Flynt rieb sich verlegen den Hinterkopf. Es war nicht seine Absicht, ihr solchen Kummer zu bereiten. »Verzeih mir, Großmutter. Aber vergiss nicht, dass ich kein kleines Kind mehr bin.«

Greta gab einen tiefen Seufzer von sich und hakte sich an Flynts Arm ein. »Ach Junge«, sprach sie müde, »Bekomm du erst mal Kinder, dann wirst du verstehen, dass man sich immer sorgt. Vor allem, wenn sie sich mit solchem Gesindel wie diesen Erik herumtreiben.«

Flynt schmunzelte. Rik hasste es, bei seinen richtigen Namen genannt zu werden. Er fand, dass er ähnlich klang wie ›ehrlich‹ – und das passte nicht zu einem harten Kerl wie ihm.

Gretas Wut war begründet: Es war Rik, der Flynt ermutigte für die Diebesgilde zu arbeiten. Und das würde sie ihm nie verzeihen.

Mit einem lauten Stöhnen nahm Greta wieder am Tisch Platz. Flynt packte derweil die Einkäufe aus, die seine Großmutter sofort inspizierte. »Du hast die Zitronen vergessen, Junge.«

Flynt runzelte die Stirn. Er war sich sicher, dass ihm diese exotische Frucht nicht aufgetragen wurde. Zumal sie teuer waren und sie ohnehin Probleme hatten, über die Runden zu kommen. »Wofür brauchst du Zitronen?«

Endlich zeigte sich ein gütiges Lächeln auf Gretas Gesicht ab. »Ohne sie ist es mir nicht möglich, deinen Lieblingskuchen zu backen. Herzlichen Glückwunsch!« Sie legte ihre zittrige Hand auf die seine.

Flynts Inneres hüpfte auf vor Freude. Er hatte seit Jahren keinen Zitronenkuchen gegessen. Jetzt bereute er erst recht, so spät mit den Einkäufen nach Hause gekommen zu sein. Ansonsten hätte er schon mindestens drei Stücke seines Geschenks vertilgt. »Ich mach mich gleich auf dem Weg zum Markt und besorge welche.«

Bevor Flynt verschwand, da rief ihm Greta hinterher: »Aber komm nicht erst wieder in zwei Tagen nach Hause, hörst du?!«

Flynt marschierte nicht zum Marktplatz des vierten Ringes. Dort würde er niemals Zitronen bekommen, da war er sich sicher. So etwas Exotisches fand man nur im Dritten. Da hinzugelangen würde kein Problem darstellen. Flynt war dort schon unzählige Male. Doch um nicht aufzufallen, war es notwendig, seine Kleider zu wechseln. Die Wachen brüsteten sich gerne damit, Herumtreiber zu schikanieren.

So marschierte er erstmals zu Riks Baracke. Sein bester Freund öffnete prompt die Türe und empfing ihn mit einem breiten Grinsen. »Sieh an, hat dich die alte Greta in einem Stück gelassen? Ich hätte gewettet, dass sie dir dafür die Ohren langziehen würde, nachdem du nicht nach Hause gekommen warst.«

Flynt schob ihn beiseite und trat wortlos ein. Drinnen war es genauso unordentlich, wie am Morgen. Nichts Ungewöhnliches, Riks ganzes Hab und Gut war zu jeder Zeit auf dem Boden verteilt. So hatte er, seines Erachtens, den besten Überblick darüber.

Rik schloss hinter sich die Türe und musterte seinen Freund. »Man merkt, dass du Hildas Liebling bist. Bei dir gibt sich die alte Schachtel immer die meiste Mühe. Ich hatte die Hoffnung, dass dich die Schläge mehr entstellt hätten. Dann wäre ich jetzt der Hübscheste im Elsternnest.« Er ließ sich auf sein Bett fallen und stieß ein lautes Gähnen aus. »Welch eine Ehre verschafft mir dein Besuch?«

»Fragst du mich das ernsthaft?«, zischte Flynt und sein Kiefer verkrampfte. »Du schuldest mir zwei Silberstücke, schon vergessen?«

Rik zog eine Augenbraue nach oben. Eine Geste, die sein Gegenüber finster dreinblicken ließ. Endlich zeichnete sich ein breites Grinsen auf dem Gesicht des Schlägers ab. Es war für ihn ein netter Zeitvertreib, seinen besten Freund aus der Fassung zu bringen. Er nickte wortlos zum Nachtisch.

Der junge Dieb öffnete die Schublade und schnappte sich die zwei Silberstücke. »Nächstes Mal verschwindest du nicht gleich, wenn du von Kralle, in meinem Namen, die Belohnung abstaubst, klar?«

Diese Mahnung sorgte dafür, dass Rik seine Hände lässig hinterm Kopf verschränkte. Dabei traten seine dicken Muskeln hervor, mit denen er gerne prahlte.

Da alle Schulden beglichen waren, erzählte Flynt, was er vor hatte.

»Du Glückspilz«, erwiderte Rik daraufhin neidisch. »Für einen Zitronenkuchen würde ich glatt einen Mord begehen. Wie groß stehen die Chancen, dass mir die alte Greta etwas davon abgibt?«

Diese Frage entlockte Flynt einen lauten Gluckser. »Machst du Witze? Großmutter hasst dich. Eher gefriert die Hölle zu, bevor sie dir etwas abgibt. Wobei,«, jetzt nahm Flynts Ausdruck verschwörerische Züge an, »wenn du mir eine deiner Tuniken leihst, bin ich bereit dir ...« Er überlegte kurz. »Sagen wir zwei Stücke abzugeben.«

Rik richtete sich prompt auf und stieß dabei fast den Nachtisch um. »Abgemacht!«

Die beiden schlugen ein.

Ein paar Minuten später marschierten die Freunde gemeinsam durch die schäbigen Gassen und hielten Kurs auf den dritten Ring. Dabei zupfte Flynt ständig an der zu großen Tunika, die ihm sein Kumpel zur Verfügung gestellt hatte. Rik hingegen füllte die seine perfekt aus und gab somit eine bessere Figur ab.

In der Ferne tauchte das Tor auf, welches in den dritten Ring führte. Es war eine Seltenheit, dass die beiden den direkten Weg in das noblere Viertel wählten. Normalerweise schlichen sie, im Schutze der Nacht dorthin, wenn sie Aufträge für die Gilde erledigten. Mitten am Tag aber, sprach nichts dagegen das Tor zu nutzen. Es war kein Verbrechen, solange man sich ordentlich kleidete und vor Einbruch der Dämmerung wieder zurückkehrte.

Der dritte Ring wurde bewohnt von Handwerkern und den Mittelständigen. Niemand lebte in Baracken, wie Flynt und Rik. Doch selbst hier war die Unzufriedenheit groß: Die Menschen beneideten die Bewohner des zweiten Rings, dort wo die Adligen und Reichen wohnten.

»Undankbares Pack«, murmelte Rik, nachdem er eine Unterhaltung zweier Männer aufschnappte, die sich über ihre Situation beschwerten. »Schau dir ihre Bäuche an, Fly. Die wissen gar nicht, was Armut ist.«

Der junge Dieb stimmte ihm nickend zu. Er selbst kannte den Hunger nur zu gut. In der Zeit vor der Diebesgilde war es seiner Großmutter und ihm oft tagelang nicht möglich, sich etwas Essbares zu besorgen. Ein weiterer Grund, weshalb er so schmächtig war. Flynt hatte es sich angewöhnt, auf einen alten Schnürsenkel zu kauen, damit er dieses schreckliche Hungergefühl vergaß.

In der Ferne tauchte der große Markt auf. Schon von weitem hörte man die Rufe der einzelnen Händler, wie sie ihre Waren anpriesen. Eine Notwendigkeit, da es in der Menschenmenge oftmals unmöglich war, die Stände zu finden.

»Immer wieder ein Erlebnis hier, was Rik«, gluckste Flynt, kurz bevor sie in die Menge eintauchten.

Nachdem sich die beiden orientierungslos durch den Markt bewegt hatten, hörten sie endlich den Ruf: »Früchte, exotische Früchte!«

Rik spitzte die Ohren und bahnte sich einen Weg zum Händler. Sein Freund war ihm so dicht auf den Fersen, dass er in ihn hineinrannte, nachdem er abrupt stehenblieb. »Sieh mal, Fly. So wie es scheint, kommen wir beide auf unsere Kosten.« Er drehte sich um und ein gieriges Grinsen war auf seinem Gesicht zu erkennen.

Flynt verdrehte die Augen. Er kannte Rik lange genug, um zu wissen, dass er eine Frau entdeckt hatte, die ihm gefiel. Was nicht selten vorkam – Flynt hatte unzählige Mädchen aus Riks Baracke schleichen sehen. Und normalerweise ignorierte er die Liebchen seines besten Freundes. Dieses Mal aber, war es etwas anderes:

Flynt spähte zum Stand und sah dort das hübscheste Mädchen, das er je gesehen hatte. Sie war klein und das lange dunkelblonde Haar fiel ihr in sanften Wellen über den Rücken. Sie trug ein luftiges blaues Kleid, dass ihrer liebreizenden Figur schmeichelte. Aber das Schönste waren ihre frechen Gesichtszüge, die von zwei rehbraunen Augen umschmeichelt wurden. Außerdem schien sie in Flynts Alter zu sein.

Zum Glück hatte sich Rik wieder von seinem besten Freund abgewandt, sonst hätte er gesehen, wie rot er angelaufen war. Die beiden quetschten sich zum Stand durch.

Der Händler war schwer mit seiner Kundschaft beschäftigt. Dabei wurde er von dem Mädchen unterstützt, die scheinbar dessen Tochter war. Die beiden Freunde reihten sich in die Menschenschlange der jungen Schönheit ein.

»Einen wunderschönen Tag«, sang Rik in seiner verführerischsten Stimme, nachdem sie an der Reihe waren. Er schnappte sich einen Pfirsich von der Auslage und biss ein großes Stück ab. »Ich kenne die Mädchen der Stadt, doch dich sehe ich hier zum ersten Mal. Wie wär es, wenn wir verschwinden und uns ein zweisames Plätzchen suchen? Du wirst es nicht bereuen.«

Die junge Frau starrte ihren Gegenüber wortlos an. Doch ehe sie imstande war zu antworten, mischte sich ihr Vater ein, der dieses zweideutige Angebot ebenfalls gehört hatte. Er schlug mit einem dicken Stock auf die Auslage, woraufhin Rik zurückwich. »Meine Tochter ist keine Gossenhure, du Dieb!«, fauchte er lauthals und zog dabei die Aufmerksamkeit des halben Marktes auf sich. »Jetzt verschwinde, ehe ich die Wachen auf dich hetze!«

Die Vergangenheit hatte Rik gelehrt, dass es besser war, von verärgerten Vätern Abstand zu nehmen. So schob er Flynt hastig beiseite, flüsterte ihm grinsend ein »das war wohl nichts« zu und tauchte in der Menge unter.

Allmählich verloren die Menschen das Interesse an dem Vorfall und widmeten sich wieder ihren Belangen. Da realisierte Flynt erst, dass ihn die junge Schönheit musternd ansah. Nachdem sich ihre Blicke trafen, setzte sie ein herzerweichendes Lächeln auf. »Na das war ja mal was«, sagte sie munter.

Flynt öffnete den Mund, doch es kam kein Wort heraus – er lief rot an.

Das Mädchen kicherte. Dem Schein nach war es nicht das erste Mal, dass sich Kerle ihr gegenüber merkwürdig verhielten. »War das ein Freund von dir?«

Flynt schielte zum Händler, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht belauschte. Dieser war aber wieder am Feilschen und so zuckte er nur kurz mit den Schultern und sagte knapp: »Sowas in der Art.« Er wandte seinen Blick verlegen zur Auslage. Um die peinliche Situation zu beenden, fragte er: »Hast du Zitronen?«

Das Mädchen nickte. »Ja, die lagern wir hier unten, damit sie so Strolche wie dein Freund nicht klauen.« Dabei zwinkerte sie vielsagend, was Flynts Mundwinkel unweigerlich zucken ließ.

Ihm wurde eine Kiste mit Zitrusfrüchten präsentiert. Nach kurzer Inspektion suchte er sich die fünf schönsten Exemplare aus.

»Das macht dann ein Silberstück für die Zitronen und ein Kupferstück für den angebissenen Pfirsich deines Freundes.«

Flynt hielt beim Kramen des Geldes inne und starrte die Händlertochter mit offenem Munde an.

Dem Mädchen entwich ein herzhaftes Lachen. »War nur ein Scherz. Alleine der Anblick, wie er vor meinem Vater Reißaus genommen hatte, war mir der Spaß wert.«

Endlich schaffte es Flynt, seine Schüchternheit ihr gegenüber etwas abzulegen, und lachte ebenso herzhaft auf. Er überreichte ihr das Silberstück und nahm das Paket mit den Zitronen entgegen.

Obwohl die Menschen hinter ihm schon ungeduldig wurden, blieb er wie angewurzelt stehen. Nach einer Weile fasste er sich ein Herz und fragte sie: »Bist du morgen wieder hier?«

Die Händlertochter lächelte ihn warmherzig an. »Ja und an jeden Tag der kommenden Woche. Dann ziehen wir wieder weiter.«

Flynts Inneres verkrampfte sich. Händler verweilten oftmals nur für kurze Zeit an einem Ort. Aber der junge Dieb hatte die Hoffnung, dass sie nicht so bald verschwinden würde.

Er nickte ihr zu und war drauf und dran sich abzuwenden. Bevor er aber verschwand, da sagte sie: »Ich bin übrigens Elisa. Und wie ist dein Name?«

»Flynt,«, murmelte er so leise, dass er schon fast fürchtete, sie hätte ihn nicht gehört. Doch die Schönheit lächelte. »Na dann hoffentlich bis bald, Flynt.«

ZURÜCKGESTUFT

Flynt verbrachte den Rest des Nachmittags damit, verträumt in seinem Bett zu liegen und an die Decke zu starren. Vor dem Marktbesuch kreisten all seine Gedanken nur um den Kuchen, den Großmutter Greta in diesem Moment für ihn backte. Jetzt aber war Elisa in den Vordergrund gerückt. Flynt sah ihr wallendes Haar, die rehbraunen Augen und das herzerwärmende Lächeln förmlich vor sich. Er ärgerte sich, nicht den Mut aufgebracht zu haben, sie nach einem Treffen zu fragen.

Der junge Dieb setzte sich auf die Bettkante. Auf der schäbigen Kommode vor ihm lag die zusammengelegte Tunika. Er hatte sie Rik nicht zurückgebracht, denn er würde am kommenden Tag wieder den Markt im dritten Ring aufsuchen. Dieses Mal alleine. Es war zu riskant, dass ihm sein Kumpel bei Elisa zuvorkommen würde.

Vom Türschlitz drang der Duft des Kuchens in Flynts Kammer. Das besserte seine Laune und er trat in den Wohnraum.

Greta saß vor dem Ofen und häkelte eine Decke, die sie verkaufen würde. Damit verdiente sie ein paar Kupferstücke. Nur ein kleiner Beitrag, den sie imstande war zu leisten. Ihr körperlicher Zustand erlaubte keine Arbeit, wo sie mehr verdienen würde. Darum sah sich Flynt gezwungen der Diebesgilde beitreten.

Der junge Dieb gesellte sich zu ihr und warf einen erwartungsvollen Blick in den Ofen.

»Geduld, bald ist der Kuchen fertig«, sagte Greta.

Flynt betrachtete seine Großmutter von der Seite. Ihm brannte eine Frage auf der Seele, von der er sich eine Antwort erhoffte. »Sag mal, wie haben sich meine Eltern kennengelernt?«

Greta hielt abrupt inne. Ihre sonst so trockenen Augen füllten sich mit Tränen. Nachdem ein paar Augenblicke verstrichen waren, legte sie endlich die Wolle beiseite. »Du weißt doch, Junge, ich bin deiner Mutter nie begegnet. Und mein Sohn hat sie nur einmal erwähnt ...« Sie verstummte.

Es war nicht in Flynts Absicht, seiner Großmutter Kummer zu bescheren, indem er die Vergangenheit aufwühlte. Aber er erhoffte sich einen Rat, der ihm bei Elisa weiter helfen würde. Seine Wangen erröteten.

Jetzt begriff Greta, was ihren Enkel bedrückte. Sie setzte ein verständnisvolles Lächeln auf und meinte: »Hast du etwa ein Mädchen kennengelernt.«

Flynt öffnete den Mund, schloss ihn aber wieder.

»Sag das doch gleich. Keine Ahnung, wie sich dein Vater verhalten hat, aber du vergisst, dass ich ebenfalls mal jung war. Und eines versichere ich dir; es gab Männer, die sich um mich geprügelt haben.«

Diese Aussage bewirkte, dass Flynt seine Augenbraue skeptisch nach oben schob. In all den Jahren hatte er seine Großmutter nie mit anderen Männern gesehen. Und jetzt behauptetet sie, dass sie bei ihr Schlange gestanden sind?

»Du glaubst mir nicht?« Greta schmunzelte und legte ihren Kopf schwärmerisch in den Nacken. »Damals lebte ich im dritten Ring und wurde von vielen Männern umworben. Doch Mutter hatte mich gelehrt, dass meine Gunst etwas Kostbares sei. Es wäre eine Verschwendung sie irgendeinen dahergelaufenen Wicht zu geben, hatte sie gesagt. Mit der Zeit verstand ich ihre Worte. All die Schmeicheleien, mit denen ich umworben wurde, waren meist leeres Geschwafel. Viele Male wurde ich verletzt, aber das half mir hinter die Fassade zu sehen. Mein Blickfeld öffnete sich und so lernte ich letztlich deinen Großvater Tristan kennen.«

Flynt lauschte aufmerksam der Geschichte. Er fand es aufregend, mehr über seine Ahnen zu erfahren. Dieser Teil seiner Herkunft blieb bis dahin vollkommen unbeleuchtet. »Was hatte Großvater an sich, was dir so gefiel? Mit welchen Worten umwarb er dich?«

»Tristan war der Einzige, der sich nicht wie ein tollwütiger Affe verhielt. Das war genau das, was mich so beeindruckt hatte. Er verstand es wahrlich, mit seinem natürlichen Charme zu überzeugen, und brauchte keine großen Worte. Obwohl er arm war, hat er stets das Beste aus sich herausgeholt. Einen Ratschlag, den ich dir dringend ans Herz legen würde.« Greta zerrte an dem Fetzen, den Flynt anhatte. »Keine Frau wird dir ihre Gunst geben, wenn du solche Lumpen trägst und stinkst – verzeih die Bemerkung«, fügte sie rasch hinzu.

Flynt errötete von neuem. Zwar trug er bei der Begegnung mit Elisa eine Tunika, aber er zweifelte, dass diese ihn besser gekleidet hatte.

Greta schnappte sich wieder die Wolle und widmete sich ihrer Decke. Zum Abschluss sagte sie: »Gleich, wie viele Ratschläge du bekommst, letztlich ist es dein Weg.«

Pünktlich zur Dämmerung begab sich Flynt ins Elsternnest. Er durchstreifte gedankenverloren das Labyrinth aus Tunneln. Obwohl er diese Wege wie seine Westentasche kannte, wäre er um ein Haar in eine der vielen Fallen getappt. Schuld waren die Worte seiner Großmutter. Der junge Dieb hatte sich nie um sein Äußeres geschert. Jetzt aber vermied er sogar sein Spiegelbild in den Pfützen. Er schämte sich für die Lappen, die er trug und dem ungepflegten Schopf auf seinem Kopf. Doch am meisten störte ihn der Gestank, der in jeder Poore seiner Haut steckte. Er fragte sich die ganze Zeit, ob Elisa das bemerkt hatte. Glücklicherweise war er ihr nicht zu nahe gekommen, so bestand die Chance, dass der Geruch sich in der Menschenmasse verloren hatte.

Aus diesen Gründen beschloss Flynt, seine Ersparnisse für eine Tunika zu opfern. Er besaß zehn Silberstücke und drei Kupferne. Er würde aber mindestens fünfzehn Silberne brauchen, um sein Vorhaben umzusetzen. Er setzte daher seine Hoffnung darauf, von Kralle einen rentablen Auftrag zu erhalten, um sich am kommenden Tag neu einzukleiden.

In der Ferne tauchte die Versammlungshalle auf. Obwohl sich dort Dutzende von Dieben und Schlägern versammelten, war es mucksmäuschenstill. Kralle saß vorne am Altar, umgeben von seinem persönlichen Schlägertrupp. Es wurden schon die Aufträge verteilt, was bedeutete, dass Flynt die Ansprache verpasst hatte. Kralle gab dort Informationen bekannt über Gegenstände, Adlige und Gerüchte, die ihm seine Spione zugetragen hatten. Das erleichterte so manchen Auftrag.

Endlich wurde Flynt eine Pergamentrolle in die Hand gedrückt. Er entrollte sie prompt und las den Inhalt:

Degradiert zum Plundersammler!

Zu beschaffen: Plunder nach eigenem Ermessen.

Lohn: abhängig von den erbeuteten Gegenständen.

Flynt starrte auf das Blatt Pergament. Er fasste es nicht, dass er auf den niedrigsten Rang zurückgestuft wurde. Sein Herz pochte vor Wut. Es würde Monate dauern, bis er sich wieder zu seiner alten Stellung hochgearbeitet hätte. Ihm wurden schon Einbrüche in Adelshäusern zugeteilt. Dort erhielt man, je nach Auftrag, bis zu acht Silberstücke. Als Plundersammler hingegen schaffte man es im besten Fall auf acht Kupferstücke, selbst wenn man einen ganzen Sack Plunder erbeutete.

Allmählich leerte sich die Versammlungshalle, doch Flynt blieb wie angewurzelt stehen. Er würde mit Kralle sprechen – ihm sagen, dass alles ein Missverständnis sei. Nachdem der Letzte verschwunden war, setzte er sich in Bewegung.

Normalerweise waren Flynts Schritte so leise, dass man ihn nicht kommen hörte. Jetzt aber stapfte er laut und energisch auf den Altar zu. Der junge Dieb stoppte erst, nachdem sich die Schläger vor ihm aufbauten.

Kralle hatte dies beobachtet, ohne sich von der Stelle zu bewegen. Er schien zu wissen, was auf ihn zukommen würde, denn er sagte kurz und bündig: »Du hast etwas vorzutragen, Flynt?«

Der junge Dieb hatte großen Respekt vor dem Oberhaupt der Gilde. Aber seine Unzufriedenheit ließ jegliche Vernunft von ihm abfallen. Er streckte das Pergament in die Luft und sagte: »Du degradierst mich zum Plundersammler?«

Kralle verschränkte die Arme vor der Brust. Diese hatte einen gewaltigen Durchmesser, die selbst Rik vor Neid erblassen ließe. »Ja, das tu ich. Du kennst die Regeln, wer scheitert, wird zurückgestuft.«

»Ich bin nicht gescheitert!«, wandte Flynt rasch ein. »Oder hast du diese scheußliche Maske etwa nicht bekommen?«

Mit einem lauten Quietschen rückte Kralle seinen Sessel zurück. Er stieg die fünf Stufen des Altars herab und baute sich vor Flynt auf. Er war an die zwei Meter groß und bullig wie ein Stier. Zudem zeigte sein Gesicht viele Narben. Ein Überbleibsel aus der Zeit, da er selbst ein Schläger war.

Zwischen den beiden entstand knisternde Spannung, in der Flynt die Luft anhielt. Er versuchte verbissen, dem Blick seines Gegenübers standzuhalten. Doch es dauerte nicht lange und er blinzelte.

Auf Kralles Gesicht bildete sich ein überlegener Ausdruck. »Dein Auftrag lautete, die Maske zu erbeuten, ohne erwischt zu werden. Und du wurdest nicht nur entdeckt, sondern fast totgeprügelt. Hättest du ein Schläger miteinbezogen, wäre das nicht passiert. Aber dafür warst du wie immer zu geizig. Sei froh, dass dich Rik aus freien Stücken da herausgeboxt hat. Ihm alleine verdankst du dein Leben.«

Erneut auf sein Versagen hingewiesen zu werden, war für Flynt beschämend. Zumal Kralle die letzte Person war, von der er maßgeregelt werden wollte. So blieb der junge Dieb weiterhin stur: »Ich bin dein bester Mann, das hast du mir vor kurzem selbst gesagt. Deshalb verstehe ich diese Bestrafung nicht. Wieso degradierst du mich auf den untersten Rang?«

Kralle wandte sich ab und schritt zur Tür seiner Privatgemächer. Vor der Schwelle blieb er stehen und drehte sich ein letztes Mal seinem Schützling zu. »Ja, das hatte ich gesagt und dir ist es zu Kopf gestiegen. Der Beste zu sein kann zur größten Schwäche werden. Fang nochmal von vorne an und lerne, deine Fähigkeiten besser zu beurteilen.«

Jetzt wandte sich Flynt wütend ab und schritt davon. Es würde Tage dauern, bis er durch Plunder genügend Geld für eine Tunika zusammenhatte. Denn es stand ihm nicht frei in ein Anwesen einzubrechen und jeden Wertgegenstand an sich zu reißen der kostbar schien. Die Diebesgilde wog die Aufträge sorgfältig ab, die sie verteilten. Es war ein zu großes Risiko den Zorn einer einflussreichen Person auf sie zu ziehen. Er sah seine Chancen bei Elisa schwinden.

Draußen vor der Versammlungshalle wartete Rik auf Flynt. Dieser wurde mit einem vorwurfsvollen Blick empfangen.

»Fly ich -«

»Du hast Kralle erzählt, dass ich erwischt wurde?«, fuhr ihm der junge Dieb ins Wort.

Rik sah ihn schuldbewusst an. Es war ungewohnt, dass er seine Arroganz beiseitegelegt hatte. »Ich ... ja, aber du kennst doch Kralle. Er hat seine Spione überall und wenn er erfahren hätte, dass ich gelogen ... Na ja, ich wäre in seiner Gunst gefallen.«

Flynt setzte sich in Bewegung – mit Rik dicht auf den Fersen. »Tja, so ist mir das passiert. Ich wurde zum Plundersammler degradiert.«

Rik hatte Schwierigkeiten mit den schnellen Schritten seines Freundes mitzuhalten. Er war gezwungen immer wieder kleine Sprints einzulegen, um nicht abgehängt zu werden. »Ich versteh dich ja, Fly«, schnaufte der Schläger. »Aber was solls, in zwei- drei Wochen hast du wieder deinen alten Rang. So lange hältst du schon durch. Du hast ja selbst gesagt, dass du dir etwas angespart hast.«

Flynt blieb abrupt stehen, sodass ihm sein Freund hineinrannte. Er wandte sich ihm schäumend vor Wut zu. »Es ist aber nicht genug. Ich hatte vor ...« Doch er schwieg und setzte sich wieder in Bewegung.

»Was?«, bohrte Rik nach. »Dir etwas zu kaufen?«

Die beiden bogen in einen der Aufenthaltsräume ein. Flynt ließ sich auf einen der schäbigen Sessel fallen und stöhnte auf. »Ich hatte vor mir eine Tunika zu kaufen.«

Rik sah seinen besten Freund eine Weile an und fing an, breit zu grinsen. »Jetzt versteh ich, wie der Hase läuft. Du hast vor ein Mädchen zu beeindrucken, nicht? Ist es das eine vom Markt?«

Flynt hielt abrupt die Luft an. Wie kommt es, dass mich Jeder so leicht durchschaut?, fragte sich der junge Dieb im Stillen. Erst Großmutter, jetzt Rik

Sein Schweigen sprach Bände, wodurch ihm Rik vielsagend gegen die Schulter klopfte. »Na warum sagst du das denn nicht gleich, Kumpel. Denkst, ich wär´ne Konkurrenz für dich, was?« Er zwinkerte ihm zu.

Flynt lief rot an und ballte die Fäuste. Am liebsten hätte er ihm eine verpasst. Doch gegen Rik standen seine Chancen gleich bei null und fürs Erste hatte er genügend Schläge kassiert.

Rik gab ein Glucksen von sich. »Keine Angst, mein Freund, ich steh dir nicht im Wege. Sie ist mir ohnehin etwas zu jung. Mir sind die Erfahrenen lieber, das weißt du doch.« Er überlegte einen Moment. »Was hältst du davon; ich verkaufe dir die alte Tunika meines Vaters für ... sagen wir drei Silberstücke? Dann bleibt dir genug Geld übrig, um sie bei einem Schneider anpassen zu lassen. Na was sagst du?«

Mit dieser großzügigen Geste hätte Flynt wahrlich nicht gerechnet. Somit blieb ihm sogar genügend Geld übrig, um die Zeit zu überbrücken, bis er sich seinen alten Rang wieder zurück erarbeiten würde. »Abgemacht!«

GRETAS GEHEIMER SCHATZ

Früh am Morgen war Flynt zum Schneider geeilt, um sich die Tunika abstecken zu lassen. Für einen Aufpreis gab er ebenfalls einige kleine Änderungen in Auftrag, damit das Stück so modern wie möglich aussehen würde. Das alles für einen Preis von sechs Silberstücke, die er im Voraus bezahlte. Abzüglich des Geldes, das er Rik für die Tunika gab, blieben ihm ein Silbernes und drei Kupferne übrig. Weniger als erwartet, aber mit dem Verdienst, dass er durch Plundersammeln bekommen würde, wäre es ihm möglich seine Großmutter und sich selbst über Wasser zu halten.

Jetzt saß Flynt am Esstisch und genoss das erste Stück Kuchen seit Jahren. Sein Magen schien bei dem Geschmack vor Freude zu hüpfen. Er führte sich geistig vor Augen, dass Elisa jede Zitrone, die in diesem Kuchen verarbeitet war, berührt hatte. Eine Tatsache, die ihn zusätzlich schmackhafter machte.

Obwohl die Versuchung groß war, den gesamten Kuchen zu verschlingen, verkrampfte sich sein Magen beim dritten Stück. So ließ er sich wieder zurück ins Bett fallen, um das Völlegefühl zu genießen. Dabei legte er sich einige Worte zurecht, mit denen er Elisa umwerben würde. Seine Hände fingen an zu zittern. Flynt wünschte sich, es schon hinter sich gebracht zu haben. Doch er würde sein Vorhaben erst umsetzen, wenn er seine neue Tunika am Leibe trüge.

Die Zeit verstrich so langsam, dass der junge Dieb fürchtete, sie würde jede Sekunde stehen bleiben. Doch endlich läutete die Glocke drei Uhr. Flynt sprang aus dem Bett und eilte nach draußen. Erst vor der Schneiderei drosselte er allmählich das Tempo. Er betrat den heruntergekommenen Laden und der Geruch von Leinen und gegerbten Leder wehte ihm entgegen.

»Du kommst gerade rechtzeitig«, empfing ihn der Schneider. »Ich habe soeben die letzten Stiche gesetzt.« Er führte den Jungen in den Hinterraum und präsentierte ihm seine neue Robe.

Flynts Gemüht erhellte sich, denn was da vor ihm lag, hatte kaum Ähnlichkeiten mit dem Fetzen, den er Rik abgekauft hatte. Die Tunika sah aus wie neu und schien zu fein für ihn. Er streifte sich seine eigenen Lumpen ab, und griff nach dem neuen Kleidungsstück.

»Warte, Junge«, kam es vom Schneider. »Ich würde dir empfehlen, dich vorher zu waschen. Ansonsten sieht die Tunika bald so aus wie ...« Er nickte auf den Stoffhaufen zu seinen Füßen.

Flynt sah ihn nachdenklich an. Er hatte das Kleidungsstück schon am Vortag mit seinem Gestank markiert, weshalb es für ihn keinen Unterschied machte sich jetzt zu waschen. Aber der zitronige Geruch der Tunika verriet, dass der Schneider sie behandelt hatte.

»Für ein Kupferstück fülle ich dir einen Eimer mit heißem Wasser auf und du bekommst ein Stück Seife obendrauf.«

Sie schlugen ein.

Der junge Dieb begann sich den Schmutz von der Haut zu schrubben und allmählich färbte sich das Wasser im Eimer bräunlich.

Endlich war der Zeitpunkt gekommen, sich in seiner Montur zu betrachten. Er trat an den vergilbten Spiegel und begutachtete sich von allen Seiten. Flynt erkannte sich kaum wieder. Jetzt verrieten ihn nur seine zerzausten Haare, ein Bewohner des vierten Ringes zu sein.

Der junge Dieb seufzte. Wenn er einen Barbier aufsuchen würde, hätte er kein Geld mehr übrig. Da fiel sein Blick auf eine Schere, die auf den Tisch neben den Stoffbahnen lag. Ihm kam eine Idee:

»Entschuldigung!?«, rief er vom Nebenraum und der Ladenbesitzer kam hereingetreten. »Ich gebe dir zwei Kupferstücke, wenn du mir die Haare schneidest.«

Der Schneider sah ihn ungläubig an und fing an zu lachen. »Lass mal gut sein, Junge. Ich bin kein Barbier.«

»Aber du bist geübt mit der Schere nicht? Wo ist der Unterschied?«

Der Schneider zögerte einen Moment und zuckte dann mit den Schultern. »Von mir aus, aber wenn dir das Ergebnis nicht gefällt, ist das nicht mein Problem, ja?« Er schnappte sich die Schere vom Tisch.

Es folgten einige unbehagliche Minuten. Der Schneider murmelte ständig unverständlich vor sich hin. Die Haarbüschel häuften sich allmählich auf dem Boden und Flynt fürchtete, einen Fehler begangen zu haben. Doch der endgültige Blick in den Spiegel stimmte ihn positiv. Der Schneider hatte keine Meisterleistung vollbracht, aber der junge Dieb sah durchaus vorzeigetauglich aus. So bezahlte er seine Schulden und verabschiedete sich.

Bevor er letztlich zum dritten Ring aufbrach, war ihm die Idee gekommen Elisa ein Stück Kuchen mitzubringen. Er empfand diese Geste passend, da es ihre Zitronen waren, die darin steckten. Der kleine Umweg zu seiner Baracke kostete ihm nur wenige Minuten.

Jetzt eilte er im Laufschritt zum Tor, das in den dritten Ring mündete. Durch die Tunika, dem neuen Haarschnitt und der Tatsache, dass er gewaschen war, wurde er das erste Mal von den Wachen freundlich Willkommen geheißen. Das gab dem jungen Dieb mehr Zuversicht bei Elisa ebenfalls eine gute Figur abzugeben.

Der Marktplatz tauchte vor ihm auf und er war deutlich spärlicher besucht, als am Tag zuvor. Das lag aber daran, dass es schon spät am Nachmittag war.

Flynt hielt Kurs auf Elisas Stand. Von weiten hörte er ihren Vater die Waren laut anpreisen, wodurch seine Nervosität anstieg. Und nachdem er endlich sein Ziel erreicht hatte, da rutschte ihm das Herz in die Hose:

Ein junger Mann hielt Elisa fest im Arm und gab ihr einen langen Kuss auf die Stirn. Dieses Schauspiel raubte Flynt sämtliche Hoffnung. Ihm war nie in den Sinn gekommen, dass das Mädchen vergeben sein würde.

Der Fremde wandte sich ab von Elisa und kam Flynt entgegen. Aus Angst ertappt zu werden, verschwand dieser hinter der nächsten Biegung.

Völlig geknickt, schlenderte er blindlings den Marktplatz entlang. Nie zuvor hatte er solch einen Schmerz in sich getragen. Zu seiner Trauer empfand er eine schier ungeheure Wut auf dem Fremden, der es gewagt hatte, sie zu küssen.

In seiner Traurigkeit war Flynt gar nicht aufgefallen, dass er in die falsche Richtung gelaufen war. Er überlegte kehrtzumachen, da fiel ihm ein etwas heruntergekommener Händler auf. Dessen Waren bestanden aus Plunder. Ein weiterer Stich, denn das erinnerte ihn zusätzlich an sein Versagen in der Diebesgilde. Dennoch ließ er den Blick über den Schrott schweifen, obwohl er zweifelte etwas Wertvolles zu entdecken.

Zu Flynts Überraschung entdeckte er einen Gegenstand, der ihm persönlich gefiel: Eine schlichte, klare Glasmurmel. Er beschloss sie zu klauen. Nicht um sie in der Gilde zu verramschen, sondern um seine Trauer zu verdrängen.

Der junge Dieb prüfte die Umgebung. Der Händler schien blind zu sein – eine leichte Beute. Dennoch wartete er ab, bis sich zwei weitere Personen um den Stand postierten. Einer feilschte um eine scheußliche Teekanne. Das genügte für die Ablenkung. Flynts Hand schlug zu wie eine Viper und seine Finger umklammerten die Murmel.

Dieser kleine Nervenkitzel war genau das, was der junge Dieb brauchte. Für eine Sekunde hatte er Elisa vergessen. Er war längst in eine Seitengasse eingebogen und inspizierte sein Diebesgut. Ihm war bewusst, dass die Murmel nichts Besonderes war – vermutlich der wertloseste Gegenstand, den dieser blinde Händler anbot. Dennoch faszinierte sie ihn. Die glatte Oberfläche schmeichelte seinen Fingern und die tiefstehende Sonne ließ sie leuchten.

Am Abend lag Flynt gedankenverloren im Bett. Das kleine Erfolgserlebnis seines Diebstahles war längst wieder der Trauer gewichen. Die Vorstellung, wie der Fremde gemeinsam mit Elisa durch die Gassen des dritten Rings spazierte, ließ ihn laut seufzen.

Er hob die kleine Glasmurmel zwischen Daumen und Zeigefinger und betrachtete sie eine Weile. Je länger er sie ansah, umso mehr verlor sie ihren Zauber – sie war wahrlich nutzlos.

Flynt trat zum Fenster und warf sie nach draußen. Eine Weile verharrte er auf der Stelle, bis ihn ein Klopfen an der Türe aus den Gedanken riss.

Greta trat in seine kleine Kammer. Das tat sie selten. Genau genommen erinnerte sich Flynt gar nicht mehr, wann sie zuletzt hier drinnen war.

Sie stand an der Türschwelle und musterte ihren Enkel. »Flynt, du siehst verändert aus. So sauber und gepflegt.« Sie lächelte ihn warmherzig an. »Hast scheinbar meinen Ratschlag befolgt und dem Mädchen -«

»Was willst du, Großmutter?«, fuhr ihr Flynt ins Wort. Ihm war nicht zumute über Elisa zu sprechen. Wenn man es genau betrachtete, gab es gar nichts zu erzählen. Er hatte sie ja nicht einmal angesprochen, sondern war wie ein Feigling abgehauen.

Greta sah betrübt aus. Sie humpelte in die Kammer und setzte sich krächzend aufs Bett. »Enttäuschungen in der Liebe gehören leider zum Leben.«

Wie sie da so saß, bereute Flynt, seine Großmutter so angeschnauzt zu haben. Er setzte sich neben sie und ließ sich die Schulter tätscheln.

»Es gibt da etwas, was ich dir über deine Eltern erzählen will.«

Flynt sah seiner Großmutter in die Augen. Er hatte sie selten so nervös erlebt.

»Weißt du, ein paar Tage, bevor deine Eltern verschwanden, hat mich Hektor, dein Vater, aufgesucht. Ich hatte ihn zuvor schon viele Jahre nicht mehr gesehen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie glücklich ich war ihn wieder zu sehen. Doch dein Vater war zu dieser Zeit sehr aufgewühlt. Er erzählte mir, dass er einen Sohn habe, und er bat mich, ihn aufzunehmen.«

Flynts Herz hämmerte wie verrückt. Großmutter hatte nie über seinen Vater gesprochen.

»Ich war sprachlos, nachdem er mir diese Bitte vorgetragen hatte. Bevor ich ihn nach dem Grund fragte, da erzählte er von deiner Mutter Aella.«

Bei ihrem Klang verkrampften sich Flynts Eingeweide.

»Ich weiß, ein merkwürdiger Name«, ergänzte Greta seine Miene falsch deutend. »Hektor sagte, dass er und Aella auf der Flucht seien und dass sie dir solch ein gefährliches Leben nicht zumuten könnten. Er verschwand erst wieder, nachdem ich ihm mehrmals versprochen hatte, dich in den nächsten zwei Tagen abzuholen. Er teilte mir ihr Versteck mit, eine kleine Hütte abseits von Khant, und kurz darauf, war er verschwunden. Das war das letzte Mal, dass ich ihn lebend sah.« Tränen kullerten aus Gretas Augen.

Flynt nahm sie in den Arm und tätschelte ihr den Rücken. Er selbst empfand bei dieser Erzählung ein merkwürdiges Gefühl in der Magengegend. Seine Eltern waren auf der Flucht?

Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, sah er sie mit offenem Munde an. »Großmutter, warum erzählst du mir das ausgerechnet jetzt?«

Greta richtete ihren Blick zum Fenster. »Ich werde nicht jünger und mein Gedächtnis lässt mich immer mehr im Stich. Ich glaube, jetzt ist der beste Zeitpunkt es dir zu erzählen. Außerdem ...« Sie kramte in ihrer Schürze und holte den ungewöhnlichsten Gegenstand hervor, den Flynt je gesehen hatte. Eine versteinerte Feder, indessen Mitte ein makelloser Saphir eingearbeitet war. »Dein Vater gab mir, bevor er verschwand.«

Flynt starrte auf den Edelstein, der in der zittrigen Hand von Greta lag. Dafür hätte er locker vierzig Goldstücke bekommen. »Großmutter,«, stöhnte er leise, »ist dir bewusst, was das für ein Schatz ist? Wenn du ihn verkauft hättest, würden wir jetzt ein besseres Leben ohne Hunger führen. Womöglich im dritten Ring – in einem richtigen Haus!«, ergänzte er verzweifelt. »Trotzdem hast du diesen Schatz für dich behalten?«

Greta schluchzte laut auf. Diese Vorwürfe aus dem Munde ihres Enkels zu hören, waren wie Messerstiche in ihr Herz. Ihre Augen wurden glasig. »Verzeih mir, mein Junge. Du hast ja so recht. Ich hätte den Stein verkaufen sollen, um dir ein besseres Leben zu schenken. Aber es war deinem Vater so wichtig, verstehst du? Er sagte mir, egal wie groß die Versuchung sei, dieser Saphir dürfe niemals verkauft werden. Ansonsten würde er in den falschen Händen landen.«

Flynt starrte seine Großmutter wie eine Fremde an. »Von wem sprichst du? Wer würde ihn in die Hände bekommen?«

Doch sie schüttelte den Kopf. »Dein Vater hat mir nur gesagt, dass dieses Objekt der Grund war, warum sie verfolgt wurden.« Sie zögerte einen Moment. »Außerdem meinte er, dass ich ihn dir erst übergeben dürfe, wenn du alt genug bist.« Sie hielt ihm den ungewöhnlichen Gegenstand entgegen.

Flynt saß da wie versteinert. Ihm war bewusst, dass er den Saphir verkaufen würde, sobald er ihn in den Händen halten würde. Es war ihm egal, was sein Vater davon gehalten hätte. Dieser lebte nicht in Armut wie er selbst. Dennoch zögerte er. »Ich ... kann nicht.«

Greta sah ihren Jungen flehend an. Es schien ihr das Herz zu brechen, ihn so enttäuscht zu haben. Sie nickte und steckte den Saphir wieder ein. Wortlos verließ sie die Kammer.

Der junge Dieb zitterte am ganzen Leib. Wenn er eine Sekunde länger in diesem engen Raum sitzen würde, würde er durchdrehen. So öffnete er das Fenster, kletterte hinaus und rannte der Abenddämmerung entgegen.

RENDEZVOUS AN DER KÜSTE

Flynt war bis an die Küste gelaufen. Normalerweise verließ er selten die Stadt, doch etwas trieb ihn dort hin. Er sehnte sich nach dem Blick in die Ferne und hoffte, hier zur Ruhe zu kommen.

Der junge Dieb setzte sich auf einen Felsvorsprung und ließ die Beine baumeln. Wellen schlugen gegen die Küste, sodass die Gischt seine Füße berührte. Er hieß die Kälte willkommen, die sie ihm bot, denn Flynts Beine brannten vom langen, anstrengenden Lauf. Die salzige Luft beruhigte seine Lungenflügel. Jeder Atemzug löste etwas mehr die innere Anspannung. Flynt fragte sich, warum er nicht öfters hierher kam. Hier schienen seine Probleme so fern. Am liebsten hätte er sich ein Boot geschnappt und wäre davon gerudert. Aber das würde er seiner Großmutter niemals antun, egal wie wütend er war.

Bei dem Gedanken an Greta kamen all seine Sorgen zurück. Er wünschte sich, sie hätte ihm nie vom Saphir erzählt. Denn jetzt dachte er ständig an seine elende Vergangenheit. All die Jahre der Armut und den Momenten, in denen Flynt fast umkam vor Hunger. Zudem hätte er sich niemals der Diebesgilde verschrieben.

Er schnappte sich einen Stein und warf ihn ins Meer.

»Guter Wurf!«, erklang von hinten eine Stimme.

Flynt wäre um ein Haar vom Felsvorsprung gefallen. Er wandte sich hastig um und sah in zwei rehbraune Augen. »Elisa?!«

Die junge Frau kicherte. »Hast du jemand anderes erwartet?« Sie ließ sich neben Flynt nieder, wobei sie mit ihrem wallenden Haar sein Gesicht streifte. »Wo hast du denn heute gesteckt? Wolltest du mich nicht besuchen kommen?«

Ihr plötzliches Auftreten brachte den jungen Dieb so aus dem Konzept, dass er nicht auf diese Fragen einging, sondern sie nur anstarrte. Erst als ihm die Gischt ins Gesicht klatschte, besann er sich wieder. »Ich äh ... wurde aufgehalten. Verzeih mir.« Er lief rot an.

Elisa betrachtete ihn ebenso intensiv. Sein Verhalten ließ sie verstohlen kichern. »Dann hab ich ja Glück, dass ich dir wenigstens hier begegne, wo du doch so beschäftigt bist.« Sie zwinkerte ihm zu. »Wobei ich dich fast nicht wiedererkannt hätte mit der neuen Frisur und der schicken Tunika.«

Allmählich fiel die Nervosität von Flynt ab. Findet sie mich etwa gutaussehend?, fragte er sich selbst. Den Gossenjungen aus dem vierten Ring?