Das Kalte Haus - Rita Hampp - E-Book
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Das Kalte Haus E-Book

Rita Hampp

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Beschreibung

Rita Hampps "Das kalte Haus" ist ein berührender Liebesroman und eine fesselnde Familiengeschichte vor dem Hintergrund des mondänen Baden-Baden. Zeit ihres Lebens hat Kinderbuchautorin Clara unter ihrer hartherzigen Mutter, der einstigen Rosenkönigin von Baden-Baden, gelitten. Nun liegt die Mutter im Sterben. Clara kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um sich um ihren geliebten Vater zu kümmern. Im Keller ihres Elternhauses entdeckt sie ein handgeschriebenes Buchmanuskript, gewidmet einer gewissen »Carlotta«. Was hat es damit auf sich? Wer ist Carlotta? Und was hat die Rosenleidenschaft ihrer Mutter damit zu tun? Mit Hilfe des attraktiven jungen Antiquars Gregor begibt sie sich auf die Spur des unbekannten Verfassers. Und schließlich muss sie sich nicht nur einem lange gehüteten Familiengeheimnis stellen, sondern auch ihren eigenen Gefühlen für den wesentlich jüngeren Gregor.

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Seitenzahl: 490

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Über das Buch:

Rita Hampps "Das Kalte Haus" ist ein berührender Liebesroman und eine fesselnde Familiengeschichte vor dem Hintergrund des mondänen Baden-Baden.

Zeit ihres Lebens hat Kinderbuchautorin Clara unter ihrer hartherzigen Mutter, der einstigen Rosenkönigin von Baden-Baden, gelitten. Nun liegt die Mutter im Sterben. Clara kehrt in ihre Heimatstadt zurück, um sich um ihren geliebten Vater zu kümmern. Im Keller ihres Elternhauses entdeckt sie ein handgeschriebenes Buchmanuskript, gewidmet einer gewissen »Carlotta«. Was hat es damit auf sich? Wer ist Carlotta? Und was hat die Rosenleidenschaft ihrer Mutter damit zu tun? Mit Hilfe des attraktiven jungen Antiquars Gregor begibt sie sich auf die Spur des unbekannten Verfassers. Und schließlich muss sie sich nicht nur einem lange gehüteten Familiengeheimnis stellen, sondern auch ihren eigenen Gefühlen für den wesentlich jüngeren Gregor.

Rita Hampp

Das Kalte Haus

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2020 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2020 by Rita Hampp

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Meller Literary Agency GmbH, München

Covergestaltung: Anke Koopmann, Designomicon, München

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-356-4

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www.edelelements.de

Inhalt

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Achtundzwanzig

Neunundzwanzig

Dreißig

Einunddreißig

Zweiunddreißig

Dreiunddreißig

Vierunddreißig

Fünfunddreißig

Sechsunddreißig

Siebenunddreißig

Achtunddreißig

Neununddreißig

Vierzig

Einundvierzig

Zweiundvierzig

Dreiundvierzig

Vierundvierzig

Fünfundvierzig

Nachwort und Danksagung

Eins

»Gelosa smania – deluso amore ...« – Clara konnte nicht anders. Wenn Pavarotti seine Arien aus der Traviata schmetterte, musste sie einfach mitsingen. Sie kannte die Worte seit der Kindheit auswendig, auch wenn sie sie nur sinngemäß verstand. So ganz genau musste der Text auch nicht sitzen, denn die Klänge aus Jans Anlage übertönten sowohl das Geräusch der Dunstabzugshaube als auch ihren eigenen Katzengesang.

Aus dem Augenwinkel kontrollierte sie die sanft köchelnde Weißweinsoße und die Schüssel mit dem Rucola-Salat, während sie frische Salbeiblättchen zerzupfte, die sie auf dem ausgerollten Nudelteig verteilte, und sich zwischendurch eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Küchen-Rushhour. So liebte sie das. Sie musste sich beeilen. Gleich war es halb sieben und bis dahin musste sie noch den Wein öffnen, zwei Gläser füllen und versuchen, schnell die gröbste Unordnung zu beseitigen, sonst ...

»Ma é tempo ancora«, schwappte es aus dem Lautsprecher und sie trällerte aus vollem Hals mit, als die Musik plötzlich abbrach.

»Meine Güte, man hört dich bis ins Treppenhaus. Und wie sieht es hier aus!« Hinter ihrem Rücken durchschnitt Jans Stimme die Stille.

In Claras Magen verkrampfte sich etwas, das sie nicht wahrhaben wollte. Nicht heute Abend, nicht schon wieder!

Sie holte tief Luft, drehte sich zu ihm um und hob die Arme. »Hallo Schatz, ich habe dich gar nicht kommen hören. Der Pinot Grigio liegt noch im Kühlschrank«, ergänzte sie und versuchte, entspannt zu lachen, während sie hinter sich etwas von der Arbeitsplatte griff. »Hier, fang! Tartufo Bianco di Alba, frisch eingeflogen!«

Jan legte die kleine Knolle naserümpfend auf den Tresen. »Dieses Chaos! Du weißt, dass ich das nicht mag!«

»He, du bist eine halbe Stunde zu früh!«

»Willst du mir jetzt vorschreiben, wann ich meine Wohnung betreten darf?«

Wieder meldete sich dieses Ziehen in Claras Magen. Wie lange ging das schon mit seinen Launen? Eigentlich hatte es vor ein paar Monaten schon angefangen, kurz nach ihrem Einzug in sein Super-Designerloft nahe der Frauenkirche. Aber sie war doch auf sein Drängen gekommen, hatte alles zurückgelassen, ihre süße kleine Wohnung im Glockenbachviertel, ihre durchgesessenen Möbel, die sie verschenkt hatte, sogar ihre ausgewählten Lieblingsbücher, die seitdem in fünf Umzugskisten im Keller lagerten, weil sie nicht zu der großflächigen zeitgenössischen Kunst an den unverputzten Betonwänden passten.

Jan hatte inzwischen auf dem Barhocker am Küchentresen Platz genommen und fummelte an seinem i-Phone herum. Er sah unwiderstehlich aus, wenn er die dunklen Haare zurückgegelt hatte und sich wie jetzt auf seiner Stirn eine steile Falte bildete. Dank Überstunden und vielen Abenden im Fitnessstudio hatte er in den letzten Wochen abgenommen, so dass er trotz seiner Fünfundfünfzig zehn Jahre jünger wirkte. Seine schwarzen Augen funkelten allerdings zornig, als sie sich mit ihren trafen.

Clara umrundete den Tresen, wischte sich die Hände an dem kurzen, engen Rock ab, nahm sein Gesicht in die Hände und begann, es mit kleinen Küssen zu bedecken, wie er es liebte.

»Einen für den schlechten Tag, einen für das Novemberwetter, einen für den Stau, einen für die böse Clara und einen für all die anderen Gründe, die einem schlechte Laune ...«

Diesmal endete ihr Spiel allerdings nicht wie sonst in Gekicher und wildem Geknutsche oder gar mehr, sondern in einem »Sei nicht so kindisch« und einem zurückgebogenen Kopf.

Clara schluckte und ließ die Hände sinken. »Dann ein Glas Wein?«

Sie ärgerte sich, weil sich ihre Stimme so bettelnd anhörte. Was sie hier veranstaltete, um ihn aufzuheitern, grenzte fast an Demütigung! Vor allem, weil Jan immer öfter als mürrischer Sieger aus diesem Treiben hervorging. Trotzdem versuchte sie es wieder. Sie waren doch keine Kinder mehr und hatten sich vor einem halben Jahr bei vollem Bewusstsein und nach jahrelanger Prüfung endlich zusammengetan. Auf sein Drängen!, sagte Clara sich wieder vor. Was war denn nur los mit ihm?

»Komm, Schatz, erzähl. Du hast Ärger gehabt im Büro, stimmt’s? Aber heute ist Freitag. Wochenende! Entspann dich! Ich habe ...«

Sein i-Phone klickte leise und er starrte auf das Display, als verheiße es ihm ewige Glückseligkeit.

»... Salat vorbereitet, und anschließend gibt es selbst gemachte Salbeipasta alla casa unter einer dicken Schicht von Trüffelspänen ...«

Früher hätte Jan spätestens jetzt seinen Spruch von der »besten Köchin unter der Sonne Münchens« gebracht, doch jetzt rollte er mit den Augen.

»Clara, lass gut sein. Du weißt doch, dass ich gleich wegmuss.«

»Was? Am Freitag? Aber wohin?«

»Tu nicht so, als hättest du es vergessen. Ich habe es dir schon etliche Male gesagt.«

»Aber ...« Clara zwinkerte ratlos.

Kein Wort davon war wahr, sonst hätte sie sich nicht solch eine Mühe mit dem Einkaufen und Kochen gegeben. Es würde allerdings nur wieder neuen Streit geben, wenn sie ihm das vorhalten würde. Allmählich kam auch ihr die gute Laune abhanden.

Jan rumorte bereits hinter der halbhohen schlichten Schrankwand, die den Schlafbereich vom Rest des großen Raums abschirmte.

»Wo ist das Hemd mit den lila Streifen?«

»In der Wäscherei.«

Sein Gesicht kam zum Vorschein, krebsrot. »Sag mal, was tust du eigentlich den ganzen Tag außer kochen?«

Vor Claras Augen begann es zu flimmern, automatisch fuhren ihre Hände in die Hüften und es half nichts, sich innerlich langsam Zahlen aufzusagen.

»Basta«, murmelte sie leise zu sich, um sich zu fangen.

»Wie bitte? Du sagst basta zu mir? Gute Güte, wenn du wüsstest, wie mir dein Pseudo-Italienisch auf die Nerven geht! Basta, pasta, tartufo ... du kannst die Sprache doch gar nicht. Lass es also sein! Beginn, dich vernünftig zu verhalten. Altersgerecht.«

Clara schnappte nach Luft. »Altersgerecht? Und was ist mit dir? Du bist genauso alt wie ich. Aber seit Wochen lässt du deine schlechte Laune an mir aus wie ein kleines Kind und ich ...«

»Du wirst theatralisch. Das steht dir nicht.«

Jan brachte einen kleinen Louis-Vuitton-Koffer zum Vorschein. »So, und nun bussi, ich muss los. Bin schon zu spät.«

Clara zeigte auf den Koffer. »Wohin gehst du? Wann kommst du? Ich dachte ... ist das denn kein geschäftliches Abendessen?«

»Siehst du, jetzt ist es dir eingefallen – jedenfalls fast. Du weißt, dass ich über Nacht in der Post bleibe. Die Besprechung wird dauern, und ich werde danach wohl um ein, zwei Bier nicht herumkommen. Da fahre ich die Strecke von Sauerlach nicht mehr heim. Das haben wir schon tausendmal durchgekaut.«

»Stimmt doch gar nicht.«

»Schätzchen, es ist zu spät zum Diskutieren. Und entschuldige wegen meiner Bemerkung vorhin, du weißt schon, darüber, wie du den Tag verbringst. Das war gemein von mir. Wir sollten nicht immerzu streiten. Komm her, Süße, gib Onkel Jan einen Kuss. Mmmmh, einen richtigen ... mmmmh ...«

Er hatte seinen Koffer abgestellt und fuhr mit seinen Händen langsam über ihre Brüste, während seine Zunge mit ihrem Ohr spielte. Er wusste, wie empfindlich sie an dieser Stelle war. Ihre Haut begann zu prickeln, erregt sah sie ihm in die Augen, öffnete den Mund ... aber Jans Hände rutschten zu ihrem Po und gaben ihr einen Klaps.

»So, ich muss dann!«

Ein letzter Blick auf die Armbanduhr, dann der Griff zum i-Phone ...

»Du kannst so nicht gehen!«, hörte sie sich rufen. »Verdammt, Jan, bleib hier! Du kannst mich so nicht abfertigen. Was ... was bildest du dir ein, du verdammter ...«

Doch er hörte es nicht mehr, wortlos war er vorbeigegangen, sein Blick hatte sie nur kurz und entsetzlich gleichgültig gestreift, dann war er zur Tür hinaus.

Alles in Clara erkaltete in diesem Augenblick, ihre Erregung, ihr Ärger, ihre Lust, ihre Hoffnung ...

»Basta«, wiederholte sie noch einmal leise. »Basta, du Idiot!«

Sie sollte es wirklich langsam kapieren: Es war alles anders geworden, seitdem sie hier war. Bei ihm einzuziehen und sich in seine Abhängigkeit zu begeben, war der größte Fehler gewesen. Er behandelte sie nur noch wie ein ausgesessenes Möbelstück, ohne Respekt, ohne Freude, ohne Wert.

So ging das nicht weiter. Das durfte sie sich nicht gefallen lassen. Vielleicht sollte sie sich wieder eine eigene Wohnung suchen, demnächst müsste ja der Verlag den Vertrag für das neue Kinderbuch unterschreiben, dann würde sie schon über die Runden kommen. Vielleicht würde eine räumliche Trennung ihre Beziehung wieder entspannen. Vor ihrem Einzug war es ja auch fünf Jahre gutgegangen. Wenn sie ganz ehrlich war, passte sie ebenso wenig in diese nüchterne Umgebung wie ihre Kochbücher oder ihr kleiner verbeulter Aluminiumkocher, der einsam neben der hochmodernen Espressomaschine stand, oder wie ihre abgestoßene Emaillepfanne, die sie nun trockenrieb und in den Schrank aus matt schimmerndem Edelstahl einräumte.

Um Fassung ringend begann sie aufzuräumen. Stück für Stück kämpfte sie sich durch ihr Schlachtfeld, schnitt die Nudeln zu Tagliatelle, die sie vielleicht morgen zubereiten würde, knabberte am Salat und räumte die Zeitungen weg, die Jan entgegen seiner Gewohnheit auf dem Tresen zurückgelassen hatte. Dabei rutschte ein Computerausdruck heraus, den sie zunächst nur kurz überflog, bevor sie ihn noch einmal las, jetzt gründlicher.

Er hatte über Weihnachten ein Doppelzimmer gebucht, im Hotel Dei Dragomanni, Venedig, direkt am Canal Grande, wie auf dem Zettel stand.

Venedig! Clara entfuhr ein leiser Glücksschrei. Sie sah sie schon vor sich, die maroden Paläste an den Kanälen, die Gondeln, die übervollen Marktstände, die fröhlichen Menschen, sie roch förmlich das brackige Meerwasser, den Duft von Espresso und frischem Fisch, von Seetang und Wind, von Basilikum und reifen Zitronen und erdigen Trüffeln ... Als wäre sie schon einmal dort gewesen. Endlich, endlich würde sie es sehen, endlich würde sie bella Italia betreten! Lange genug hatte Jan sich ja wegen ihrer unerfüllten Italiensehnsucht lustig gemacht. Und jetzt, wo sie sich in einer Krise wähnte, genau jetzt würde er ihr ihren größten Wunsch erfüllen.

Sechs Tage, bis zum neunundzwanzigsten Dezember, würden sie dort verbringen, über dreitausend Euro kosteten allein Übernachtung und Frühstück, ganz abgesehen von Flug und Verpflegung. Großzügig war er ja immer gewesen. So durfte sie auch hemmungslos mit seiner Kreditkarte bezahlen, was sie aber – außer für den Kauf von ganz besonderen Delikatessen – niemals ausnutzte, auch wenn er ab und zu an ihrer Frisur und an ihrer bequemen Kleidung herummäkelte und sie zu Gerhard Meir und in die Maximilianstraße schicken wollte.

Fassungslos vor Glück studierte sie noch einmal die Buchungsbestätigung. Italien! Seit ihrer Kindheit hatte sie immer nach Italien fahren wollen, es aber nie geschafft, und das war ein falsches Thema, wie Clara an dem glühenden Punkt merkte, der sich in ihrer Brust zusammenzog. Sie wollte nicht über ihre Vergangenheit nachdenken, schon gar nicht über ihre traurigen Jahre in Baden-Baden im Schatten ihrer kalten Mutter.

Clara legte den Ausdruck zurück auf den Tresen und schämte sich ein bisschen, als sie an die Szene zurückdachte, die sie Jan vorhin hier in der Küche gemacht hatte. Wie hatte sie nur so aufgebracht sein können, so ungerecht! Dabei hatte sie wahrscheinlich nur ihre verletzten Kindheitsgefühle auf Jan übertragen. Vielleicht hatten sie deshalb in letzter Zeit so viele Missverständnisse und Dispute gehabt, weil sie alles an ihm falsch interpretierte. Aber das war jetzt vorbei, hier hielt sie den Beweis in der Hand, dass alles gut werden würde und dass er sie liebte und verstand und immer noch ihre geheimsten Träume erfüllen wollte.

Fast bedauerte sie, dass sie sich nun um ihre Weihnachtsüberraschung gebracht hatte, andererseits war sie aber auch froh zu wissen, dass sie Jan etwas bedeutete, dass er also nicht vollkommen entnervt und enttäuscht von ihr war, wie sie es die letzten Wochen und Monate angenommen hatte.

Sie wollte ihn anrufen und sich mit ihm aussöhnen, doch leider hatte er sein Handy ausgeschaltet.

Also musste ihre beste Freundin sich anhören, was geschehen war beziehungsweise geschehen würde.

»Doppelzimmer in Venedig? Für euch beide?«, wiederholte Simone merkwürdig reserviert.

»Stell dir vor, ja! Das ist so lieb von ihm! Du kennst ja meinen Italienspleen. Und ich dachte schon, Jan würde ... also, ich meine, Jan hätte ...«

Clara stockte, weil ihr das Schweigen am anderen Ende seltsam vorkam. Vielleicht sollte sie sich eine Schilderung des jüngsten Streits verkneifen. Immerhin war es ja Simone gewesen, die ihr von Anfang an zum Zusammenziehen geraten hatte, und in letzter Zeit war sie manchmal richtig komisch, wenn sie von dem ewigen Gezänk hörte.

»Was meintest oder dachtest du?« Immer noch klang Simone sonderbar, fast abwesend, doch dann ging Clara auf, warum dem so war.

»Oh Simone, gib es zu!«

»W... was??«

»Du hast es von Anfang an gewusst. Vielleicht hast du es ihm sogar vorgeschlagen.«

»Äh, wie bitte? Was meinst du jetzt genau?«

»Mensch, hörst du mir überhaupt zu? Wir reden von Jans Weihnachtsüberraschung für mich! V-e-n-e-d-i-g!«

»Ach so, ja das. Toll. Du, sorry, ich krieg gleich Besuch. Kannst du mich morgen wieder anrufen?«

»Natürlich. Kein Problem. Und ich, ich verwöhne mich jetzt! Ich bereite mir ein wunderbares Omelett mit Trüffeln zu. Wenn dein Besuch nicht zu lange bleibt, kannst du gerne ...«

Aber Simone hatte schon aufgelegt, und das trug nicht unbedingt zu Claras Seelenfrieden bei.

Zwei

Eine Nacht kann lang werden, wenn man sich grübelnd im Bett herumwirft, alte Steine umdreht und sein Leben neu plant. Um sechs Uhr hatte Clara genug. Sie wollte mit Jan reden und sich entschuldigen, sofort! Und da Jan Frühaufsteher war und immer noch sein Handy ausgeschaltet hatte, wählte sie, noch im Nachthemd, die Nummer der Sauerlacher Post und ließ sich von der Rezeption mit seinem Zimmer verbinden.

Es klingelte nur ein paar Mal.

»Ja-aaa?«

Die verschlafene Frauenstimme, die sich meldete, kam Clara irgendwie bekannt vor. Aber das konnte nicht sein.

»Oh, da hat man mich falsch verbunden. Entschuldigung«, sagte sie schnell. »Ich wollte das Zimmer von Herrn Bader.«

»Passt schon. Schnuffibär? Für dich!«

»Nein, nein, ich meinte Herrn Jan Bader.«

»M-hm. Moment.«

Clara konnte sich vor Schreck nicht rühren. Ihre Hand krampfte sich um den Hörer des schnurlosen Apparats und sie stand auf, weil sie auf keinen Fall mehr auf der Bettkante sitzen konnte. Sie hörte Wassergeräusch, Schritte, die näher kamen, dann die bekannte Stimme.

»Hallo?«

»Jan?«

»Oh.«

Die Pause dehnte sich auf beiden Seiten wie das Tor zur Hölle. Clara wurde es kalt und heiß zugleich. Benommen ging sie zur großen Glastür, die auf die Dachterrasse hinausführte und die sich lautlos öffnen ließ. Noch lag die Stadt im Dunkeln, die Luft roch nach Schnee, viel zu unschuldig für das, was sich hier gerade abspielte.

»Jan?«, fragte sie noch einmal, weil sie es nicht glauben wollte. »Wer ist die Frau in deinem Zimmer?«

»Ähm, du, das kann ich dir erklären.«

»Ja, bitte!«

»Also, jetzt ist das etwas ... also, es ist spät geworden gestern und ... ach Scheiße. Was rufst du mich überhaupt hier an? Ist was passiert?«

»Jan, fang nicht wieder einen Streit an, nur weil du mir nicht antworten willst! Sag mir, was los ist. Und zwar nicht am Telefon, sondern persönlich. Komm bitte her, oder ...«

»Oder was? Drohst du mir? Womit denn? Wer fängt denn immer mit dem ewigen Genörgel an?«

»Jan, ich möchte eine Erklärung, wer morgens um halb sieben bei dir im Bett liegt. Ist das zu viel verlangt?«

»Du willst wissen, wer? Kannst du dir das nicht denken?«

»Jan, bitte nicht am Telefon.«

»Ich kann es dir gerne sagen, wenn du es unbedingt hören willst. Ja, ich sag es dir, damit das Theater endlich ein Ende hat. Das ist ja alles nicht mehr zum Aushalten.«

»Sei still!«, schrie Clara und stürzte hinaus an die frische Luft, weil sie sonst erstickt wäre.

Unten glänzte der Asphalt, ein Auto versuchte einzuparken, der Besitzer vom Zeitungskiosk gegenüber schob das Gitter vor seiner Ladentür hoch. Banale Alltagsdinge, die ihr jedoch fast surrealistisch vorkamen und die sie nur am Rande wahrnahm.

Jans weiche Stimme mit dem bayerischen Akzent, in der immer ein leises Lächeln mitschwang und die in jeder anderen Situation hinreißend, jetzt jedoch absolut unerträglich war, kroch weiter aus dem Hörer. »Ich hätte es dir längst sagen sollen, ich weiß. Tut mir leid, wenn du das jetzt auf diesem Wege erfährst ...«

»Still! Ich will nicht! Nicht so! Nicht am Telefon! Komm her, du Feigling!«

»Nicht in diesem Ton!«

»Ich diskutiere das nicht am Telefon, basta!«, brachte sie gerade noch mit aller Wurde heraus, dann drückte sie das Gespräch weg.

Ihr war schlecht, sie hatte das Gefühl, als habe ihr jemand Pudding in die Knie gespritzt, aber es wurde ihr keine Sekunde gegönnt, um die Nachricht zu verdauen, denn schon klingelte der Apparat in ihrer Hand wieder.

Er betrog sie und wollte sie am Telefon abspeisen? Das war doch das Aller-, Allerletzte!

»Nein!«, hörte sie sich wie von Ferne schreien. »Neiiiin!«

Dann holte sie aus und warf den Apparat in die Tiefe. Sie konnte weder sehen noch hören, wie und wo das Teil auf der Straße auftraf und in tausend Teile zersplitterte, doch das war egal, es hatte einfach nur gutgetan. Kindisch war das und fast hörte sie Jans Spott hinter sich, doch als sie fröstelnd in die Wohnung zurückkehrte, war niemand da, und das würde auch so bleiben. Unwiederbringlich. Für immer.

Zitternd lehnte sie sich an die Betonwand und betrachtete den kahlen Raum, in dem sie sich nie richtig wohlgefühlt hatte. Den würde sie nicht vermissen, wohl aber die Abende in seiner Gesellschaft, das gemeinsame Kochen, die herzhaften Diskussionen, den herrlich selbstverständlichen, heiteren, unbeschwerten, gleichberechtigten Sex, die faulen, kuscheligen Sonntage, die Spaziergänge im Englischen Garten oder an der Isar, schlicht die alltägliche Zweisamkeit. Damit war jetzt also Schluss.

Wie in Trance bereitete sie sich mit ihrem kleinen Kocher einen Espresso zu, bärenstark und bitter, dann holte sie die Zeitung herein, die der nette Nachbar aus dem Stock unter ihnen immer vor die Tür legte. Sie konnte jetzt nichts lesen, auch nichts denken. Gar nichts.

Langsam sank sie auf die schwarze Ledercouch und fror noch mehr.

Aus. Aus. Aus.

Mehr konnte sie nicht denken.

Stunden saß sie erstarrt und hielt die Stille aus, dann zog sie sich an und wartete weiter, störrisch, gegen jede Vernunft. Er würde nicht kommen. Aber das wollte sie nicht wahrhaben. Nicht jetzt.

Irgendwann schaffte sie es, ihr Handy aus der Handtasche zu holen und Simone anzurufen.

Die reagierte erneut unnatürlich. »Hast du sie am Telefon erkannt?«, fragte sie gepresst.

Und in diesem Augenblick fiel in Claras Kopf das Puzzle zu einem Bild zusammen. Simones Abwehr, die seltsam vertraute Frauenstimme – das war doch nicht möglich?

»Sie ... sie klang wie ... also, so ähnlich wie Britta.«

Stille.

»Simone?«

Stille.

»Simone? Sag, dass das nicht wahr ist. Nicht Britta!«

»Bin ich froh, dass du es jetzt weißt. Dieses Versteckspiel ...«

»Du ... du hast die ganze Zeit gewusst, dass Jan mit deiner Nichte ein Verhältnis hat?«

Stille.

»Oh mein Gott! Simone! Doch nicht Britta!«

Das Bild eines fröhlichen blonden Teenagers stieg in ihr auf. Wann hatte sie das Mädchen zum letzten Mal gesehen?

»Sie ist doch noch ein Kind!«, stammelte sie und ließ sich auf die Couch zurückfallen.

»Sie ist fünfundzwanzig.«

»Dreißig Jahre jünger als er!«

»Ja.«

»Aber warum? Simone, wieso hast du mir nichts davon gesagt? Du hast doch mitbekommen, welche Schwierigkeiten wir in letzter Zeit hatten und wie ich mich geplagt habe. Wie lange geht das überhaupt schon?«

»Seit meiner Silberhochzeit.«

»Seit Mai? Und du rätst mir noch im Juni, zu Jan zu ziehen und alles aufzugeben? Du weißt selbst am besten, wie teuer München ist. So eine Wohnung wie die im Glockenbachviertel zu dem Preis kriege ich nie mehr.«

»Ach, hör auf!«

Clara verschlug es allmählich die Sprache. »Sag mal, ist dir eigentlich klar, was gerade passiert ist? Kannst du mich bitte mal fragen, wie es mir geht?«

»Das gilt genauso für mich. Meinst du vielleicht, es war toll für mich, dich sehenden Auges in dein Unglück rennen zu lassen? Hast du dir mal überlegt, wie es mir ergangen ist, weil ich dir nichts sagen durfte?«

»Das ... das glaub ich jetzt nicht. Du bist das Opferlamm? Oder was willst du mir sagen?«

»Ich will dir sagen, dass ich als deine Freundin eine schwere Zeit durchgemacht habe und dass ich dir jetzt ...«

»Freundin? Schöne Freundin! Vielen Dank aber auch. Auf so jemanden kann ich wirklich verzichten.«

Stille.

Clara wartete verzweifelt auf ein Wort der Entschuldigung; ein einziges, winziges würde reichen!

Im Hintergrund war das Schnappen eines Feuerzeugs zu hören, dann meldete sich Simones kühle Stimme wieder. »Bitte, ich werde dich nicht hindern aufzulegen. Du kannst dich ja wieder melden, wenn du dich beruhigt hast!«

Clara zwinkerte heftig und war versucht, sich in den Arm zu kneifen oder sich nach einer Kamera umzusehen. Das war alles so aberwitzig, so absurd! Das geschah ihr doch nicht wirklich!

Jan, Britta, Simone ...

Warum nur? Warum?

Langsam rutschte sie von der kalten, glatten Couch auf den ebenso kalten, glatten Parkettboden und blieb dort stocksteif sitzen, während sie versuchte, das Geschehen zu begreifen.

Hatten Jan und sie nicht immer und immer wieder darüber diskutiert, wie lächerlich es war, wenn Männer ihre altgedienten Partnerinnen gegen blutjunge Freundinnen austauschten? Sie hatte seine Worte noch gut im Ohr: »Bei dir muss ich mich nicht verstellen. Wir haben die gleiche Wellenlänge, die gleichen Ansichten. Das ist eben der Vorteil, wenn man gleich alt ist. Was haben die alten Säcke nur mit diesen jungen, dürren Trophäenfrauen? Wenn ich ›1968‹ sage, wissen wir beide aufs Stichwort, was ich meine. 1968 – da waren diese Küken noch nicht mal geboren. Über was unterhalten die sich überhaupt?«

So hatte Jan noch im Juni geredet. Und jetzt? Jetzt war er selber solch ein »alter Sack« und sie das Auslaufmodell, eingetauscht gegen ein blutjunges Ding.

Ausgerechnet Britta! Ihre ersten drei Kinderbücher hatte sie dem einstigen süßen Fratz gewidmet, und Britta hatte die Geschichten geliebt. Früher. Tja. Jetzt liebte sie Jan.

Claras Blick fiel auf die Glasvitrine, in der sie sich spiegelte, und biss sich auf die Lippen. Was für eine alte, schwarze Unglückskrähe sie geworden war! Ihre schwarzen Kräusellocken standen ihr störrisch wie Draht vom Kopf ab, der Lippenstift auf ihrem Clownmund war verschmiert, unter den schwarzen Augen klebten verwischte Klümpchen von Wimperntusche und in ihrem schwarzen kurzen Wollrock, dem schwarzen Rollkragenpullover und der schwarzen Strumpfhose war sie ein Trauerbild zum Davonlaufen. Kein Wunder, dass Zucker-Britta mit ihren Bonbonfarben und ihrer Unkompliziertheit leichtes Spiel bei Jan gehabt hatte.

»Schluss damit«, murmelte sie und stand ächzend auf. Auf dem blanken Fußboden zu sitzen war wirklich nicht altersgerecht! Alles tat ihr weh!

Sie stemmte die Hände in die Hüften und zwang sich, ihre Lage nüchtern zu betrachten. Sie sollte froh sein, dass endlich Klarheit bestand. Jetzt wusste sie, dass all diese sinnlosen Streitereien gar nichts mit ihr zu tun gehabt hatten. Das half. So war die Lage, sie konnte sie nicht ändern und dass Jan auf Tauchstation blieb, bedeutete, dass auch er nichts tun wollte, um sie zu halten. Es wurde also Zeit, den Tatsachen ins Auge zu sehen und sich Gedanken über die Zukunft zu machen.

Am besten, er würde bleiben, wo der Pfeffer wuchs, zumindest bis sie eine neue Unterkunft hatte. Er hatte mehr Geld als sie. Sollte er sich doch ein Zimmer nehmen oder gleich bei seiner Britta unterkriechen. Hoffentlich hatte sie nur eine kleine, vollgestellte Einzimmerwohnung! Da würde ihn schon bald das Grausen einholen und ihn hierher zurücktreiben. Tja, aber wohl nicht in ihre Arme. Wenn er kam, würde er diese kühle, aufgeräumte Offenheit für sich allein haben – im besten Fall. Clara Funke, seine abgelegte Lebensabschnittsgefährtin, würde da nur stören.

Als Erstes brauchte sie also eine neue Bleibe, und zwar schnell. Am besten schon morgen. Aber wo? Oder bei wem? Simone schied aus, andere Freunde oder Bekannte waren nicht so eng, dass sie bei ihnen wohnen wollte, und ein Hotel war zu teuer. Beim Stichwort Hotel fiel ihr die Buchung in Venedig ein. Wahrscheinlich war die gar nicht für sie, sondern für Britta gedacht gewesen. Mistkerl! Wann hatte er es ihr gestehen wollen? Am Tag vor Heiligabend mit gepackten Koffern?

Ach, es brachte doch nichts, wenn sie sich mit solchen Gedanken zerfleischte. Wahrscheinlich wartete unten im Briefkasten schon eine Nachricht ihres Verlags samt sattem Vorschuss, dann war sie zumindest finanziell erst einmal unabhängig. Schon bereute sie, dass sie Jans Werben dermaßen nachgegeben hatte, dass sie sogar ihren Beruf vernachlässigt hatte.

»Wenn du bei mir lebst, brauchst du dir nie mehr Sorgen um Geld zu machen. Hör auf, Bücher zu schreiben, davon wirst du nie reich – und das bei der Zeit, die du dafür investierst, das lohnt sich nicht«, hatte Jan ihr gepredigt, und irgendwann hatte sie ihren Laptop zugeklappt und sich die Freiheit eines Jahrs unbezahlten Nichtstuns gegönnt. Wenigstens hatte sie, als es ihr langweilig wurde, im Sommer den vor Monaten beendeten »Troll mit den grünen Haaren« weggeschickt, und an und für sich hätte der Verlag längst antworten müssen.

Clara musste sich zusammenreißen, um hinunter zum Briefkasten zu gehen. Sie hoffte inständig, im Treppenhaus oder im Lift nicht dem fröhlichen Volker aus dem zweiten Stock zu begegnen, über den sie sich die ganze Zeit lustig gemacht hatten, weil er seit Kurzem eine Freundin hatte, die zweiundzwanzig Jahre jünger war als er, die ihn in enge Jeans und spitze Schuhe zwängte und in ohrenbetäubende Konzerte mitschleppte, von denen er Kopfschmerzen bekam. Volker war Psychologe von Beruf und hatte in letzter Zeit öfter zweideutige Anspielungen über untreue Partner fallen gelassen, die plötzlich Sinn machten. Ausdiskutieren wollte sie das ausgerechnet heute aber nicht mit ihm.

Aber wer schlich schon erst in der Nachmittagsdämmerung zum Briefkasten! Sie war allein, als sie den großen Umschlag herausfischte, ihn ahnungsvoll hin- und herdrehte. Dicke Umschläge – die kannte sie noch aus der Zeit vor vielen Jahren als Anfängerin, als sie ihre unverlangt eingesandten Manuskripte zurückbekam. Aber seitdem sie Clara Freudenreich war, die erfolgreiche Münchner Kinderbuchautorin, war ihr das nicht mehr passiert. Ihr Verlag hatte den »grünen Troll« im Gegenteil sogar explizit haben wollen.

Jetzt bedauerte sie, dass sie am Morgen die Zeitung ungelesen auf den Küchentresen gelegt hatte. Wenigstens das Horoskop hätte sie ansehen sollen, dann wüsste sie, ob ihre Hände nun zu Recht zitterten oder ob es nur die seit Stunden strapazierten Nerven waren, die gerade mit ihr durchgingen.

Im Aufzug hielt sie es nicht mehr aus und riss den Umschlag auf. Tatsächlich! Man hatte das Manuskript abgelehnt. Die Verkaufszahlen seien in letzter Zeit zurückgegangen, man wolle ihre Serie daher einstellen, wünsche ihr aber auf dem weiteren Weg alles Gute, bla, bla, bla ...

Wie viel Geld hatte sie noch? Sie hatte meistens mit ihrem eigenen gezahlt, weil sie sich geniert hatte, Jans Kreditkarte zu benutzen, was natürlich im Nachhinein dumm gewesen war. Hinzu waren all die Geschenke für ihn gekommen, die sich natürlich an seine Maßstäbe angepasst hatten, Designerkrawatten für hundertfünfzig Euro, eine teure Glasskulptur, die ihm gefallen hatte, und natürlich die Einkäufe fürs tägliche Leben. Irgendwann hätten sie schon ihre Bestände zusammengelegt und geteilt, davon war sie ausgegangen, so hatte Jan es ihr versprochen, erst recht, nachdem sie auf sein Zuraten vor drei Monaten Gerhard gegenüber auf jeglichen Unterhalt auch in Zeiten der Not verzichtet hatte, vierzehn Jahre nach der Scheidung. Als Rechtsanwalt hatte Gerhard das natürlich gleich notariell beglaubigen lassen, typisch. Wenn nun die Einnahmen für die Bücher ausblieben, dann war sie schlicht und ergreifend pleite.

Irgendwie schaffte sie es in die Wohnung, an den kalten Küchentresen, dann schloss sie die Augen und holte tief Luft. Ein bisschen viel für einen Tag! Das konnte doch den stärksten Gaul umhauen. Wohnung weg, Mann weg, Freundin weg, Job weg, Geld weg. Und jetzt?

Sie wusste es nicht, aber ihr war klar, dass sie irgendetwas tun musste, sonst würde sie durchdrehen. Scheinbar wie von selbst zog sie die Zeitung zu sich und schlug die gewohnte Rubrik auf, obwohl sie ja ahnte, was ihr blühte: Eine überraschende Mitteilung macht Sie betroffen, nicht alles läuft bei Ihnen nach Plan. Es könnten finanzielle Einbußen drohen.

Volltreffer!

Drei

»Verrat mir, was ich tun soll! Gib mir einen Wink!«, rief sie halb verzweifelt, halb ironisch dem unbekannten Astrologen zu, der immer alles besser wusste als das Leben. Dann schob sie frustriert die Zeitung beiseite.

Ein Zettel kam darunter zum Vorschein. Da war es wieder, dieses verdammte Schreiben, über das sie sich gestern noch so gefreut hatte! Hotel Dei Dragomanni. Venedig. Der Preis war laut Anhang bereits von Jans Kreditkarte abgebucht.

Nachdenklich starrte Clara auf das Papier. Venedig! Man musste ja nicht fliegen. Sie kannte die Strecke auswendig, so oft war sie sie als Kind mit dem Finger auf der Landkarte nachgefahren. Von München über Innsbruck über den Brenner, und dann: Bolzano! Verona! Padova! Und schließlich Venézia! Rialtobrücke, Piazza San Marco, Palazzo Ducale, Academia di belle Arti, Lido, Murano ...

Britta würde gelangweilt sein, so oft hatte Simone sie in den Ferien dorthin mitgeschleppt, von Clara aus der Ferne glühend beneidet.

Das war nicht gerecht.

Und hier war die Buchungsnummer. Ob sie ...?

Clara wurde es heiß. Was ihr da durch den Kopf schoss, war nicht legal. Oder nur halb. Denn bis vor wenigen Stunden war sie ja davon ausgegangen, dass sie die Hälfte des Zimmers belegen würde. Im Prinzip gehörte es ihr fast.

Und gerechter wäre es auch.

Sie könnte sich für den Weg Zeit lassen. Sie könnte ein paar nette Weingüter im Veneto ansteuern. Sie konnte sich erkundigen, ob sie irgendwo günstig in einem rustico über den Winter unterkommen könnte, um ein neues Buch zu schreiben, eines für einen neuen Verlag, eines, das die Bestsellerlisten stürmen würde, für das sie einen saftigen Vorschuss kassieren würde ...

Ja! Ja, ja, ja!

Venedig! Das Schicksal wollte es so!

Die Umbuchung war mit wenigen Klicks und Eingaben geändert, die Bestätigung trudelte binnen zehn Minuten ein, kein Mensch wunderte sich, dass die Änderung an einen anderen E-Mail-Account ging als die Buchung selbst. Mit der richtigen Reservierungsnummer war das offenbar kein Problem.

Clara klopfte das Herz bis in den Hals, wie früher, wenn sie etwas Verbotenes im Keller der elterlichen Villa angestellt hatte. Egal. Betrug verdiente Halbbetrug! Es würde Jan nicht umbringen, und er würde schön blamiert sein, wenn er vor Ort erfuhr, dass das Zimmer umgebucht worden war und er ausgerechnet am Tag vor Weihnachten ein neues Quartier für sich und die sicher quengelnde Britta suchen musste.

Allerdings wollte sie ihm eine Chance geben. Sie würde auf ihn warten, bis dieser Tag zu Ende war, bis Mitternacht, Glockenschlag! Wenn er bis dahin nicht kam, war die Sache beendet und sie würde fahren. Das Hotel erwartete ihre Ankunft Mitte der nächsten Woche.

Sie würde Laptop und warme Sachen mitnehmen, der Rest hatte Zeit. Oder nicht? Wenn sie sich ihren Traum erfüllen konnte und ein abgeschiedenes Landhaus fand, das – zur Not mit einem Vorschuss von Jans Kreditkarte, als Wiedergutmachung für seelische Grausamkeit – bezahlbar war, dann würde sie nicht mehr in diese Betonwände zurückkehren. Ihr alter Volvo Kombi war groß genug, da würden die paar Habseligkeiten, die sie hierhergebracht hatte, hineinpassen. Beim Umzug hatte der Laderaum auch für eine einzige Fuhre ausgereicht. Fünf Bücherkisten, zwei Koffer, ein Karton Küchenutensilien, ein paar Aktenordner und ihr Laptop – erstaunlich, wie wenig man wirklich brauchte.

Das Wichtigste war natürlich Jans Kreditkarte, oh ja. Er hatte sie ihr ja monatelang regelrecht aufgedrängt. Sie würde nicht mit Geld um sich werfen, lieber würde sie jeden Euro fünfmal herumdrehen, ehe sie einen von ihm nahm, aber für die nächsten Monate würde sie davon leben können, wenigstens so lange, wie sie die Unterstützung dringend brauchte. Eine Beruhigung, mehr nicht. Sie konnte in Italien arbeiten. In einem Restaurant vielleicht. Spontan!, sagte sie sich vor. Sei einmal im Leben spontan!

Sie hatte fast alles im Auto, als der Zeiger an der Frauenkirche sich langsam der Zwölf näherte. Ein paar Minuten noch, dann würde der schwärzeste Tag ihres Lebens vorbei sein. Mehr Unglück war nicht in einen einzigen Tag hineinzupacken.

Vier Minuten noch.

Ihr Handy begann zu klingeln.

Sie ignorierte es. Wie konnte Jan es wagen. Er wusste, dass sie nicht abnehmen würde! Er sollte herkommen, verdammt, und ihr seine Verlogenheit ins Gesicht sagen!

»Feigling!«, schrie sie das Telefon an, aber irgendwie klang es wirklich etwas theatralisch.

Ihre Wut war bereits zu einem guten Teil verraucht, sie musste sich mit der Situation abfinden, ändern konnte sie sie ja nicht. Und die Aussicht auf Italien half über den Schmerz hinweg. Ihr ganzes Leben hatte sie davon geträumt, jetzt endlich wurde es wahr!

Eigentlich wäre es bedauerlich, wenn Jan ihr im letzten Moment noch einen Strich durch die Rechnung machen würde.

Sie hatte die Mailbox ausgeschaltet, deshalb klingelte das Handy und klingelte ... Beim achten Ton warf sie einen Blick aufs Display. Eine unterdrückte Nummer. Anonyme Telefonate konnte Jan nicht ausstehen. Also war es nicht er.

Wer dann? Ein Callcenter etwa?

Um Mitternacht anzurufen war absolut ungehörig. Damit versetzte man seine Mitmenschen in Angst und Schrecken. Damit machte man keine Scherze!

Energisch drückte sie auf die Empfangstaste. »Hören Sie gut zu«, wollte sie losfauchen, doch ihre Stimme machte nicht mit.

Es kam nur ein rostiges Krächzen aus ihrem Hals und sie musste sich mehrfach räuspern, um die Kehle freizubekommen.

Der Anrufer nutzte die Pause. »Spreche ich mit Clara Funke? Der Tochter von Katharina und Friedrich Funke aus Baden-Baden?«

Kein bayerischer Akzent, kein einschmeichelndes leises Lachen. Diese Stimme klang jung, sympathisch und sehr ernst.

Clara griff sich an den Hals und wanderte durch die Wohnung, um sich zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Ihr Herz begann zu rasen. Die letzte Katastrophe des Tages kündigte sich an, das spürte sie.

»Worum geht es?«, fragte sie mit trockenem Mund und setzte sich vorsichtig aufs Bett, auf Jans Seite, die sie vor Stunden abgezogen hatte.

Warum eigentlich? Es war doch sein Bett und seine Wohnung. Sie hatte hier nichts mehr verloren.

Ihre Gedanken wussten nicht, wohin sie laufen sollten. Es strengte sie zu sehr an, dem zu folgen, was der Fremde am anderen Ende ihr mitteilte.

»Das, das glaub ich nicht«, stotterte sie schließlich. »Wiederholen Sie das bitte.«

Unbeirrt redete der Unbekannte weiter, wie aus weiter Ferne. Träumte sie? Ja, das konnte nur ein Alptraum sein.

»Meine Mutter liegt im Krankenhaus und will mir dringend etwas Wichtiges sagen? Meine Mutter? Mir? Ausgerechnet mir? Hören Sie, Sie müssen sich irren. Von wem sprechen Sie? Das kann nicht meine Mutter sein. Sie verwechseln mich.«

»Es tut mir sehr leid, Frau Funke. Es ist wirklich ernst. Entschuldigen Sie die späte Störung, es war schwierig, Ihre Handynummer herauszufinden, und nun wollte ich nicht länger warten.«

Zerstreut betrachtete sie sich im Schlafzimmerspiegel. Sie war nicht schön im klassischen Sinn, für ein Model war sie zu klein und zu – naja – drall, und ihre schwarzen Haare waren nicht glatt und cool genug, sondern waren einfach nur ein gekräuselter Schrecken. Engelshaar hatte ihr Vater es immer genannt – »eigenwillig wie dein Charakter«. Und Jan? Merkwürdig. Er hatte sich fast nie über ihr Aussehen geäußert. Für ihn war sie immer die »klügste und schlagfertigste Frau, die ich kenne« oder er betete sein bekanntes Sprüchlein von der »talentiertesten Kinderbuchautorin und besten Köchin unter der Sonne Münchens« herunter. Pah!

Für eine schier unendliche Zeit konnte sie nichts anderes tun als die Frau im Spiegel anzustarren. Bis zu dieser Sekunde hatte sie sich eingebildet, niemand würde ihr ihr Alter ansehen. Erst letzte Woche hatte jemand sie auf Anfang vierzig geschätzt und sie hatte ihn nicht verbessert, sondern sich diebisch gefreut. Aber nun? Waren die weißen Fäden in ihren Locken letzte Woche auch schon da gewesen? Ihr Hals zeigte Knitterfalten, ihre sonst glänzenden Kohleaugen steckten matt in ihrem Gesicht und ihr Mund hatte sein Lächeln verloren. Ein schwarzes Häufchen Unglück. Ja, das war sie.

»Wie erreiche ich Sie? Wer sind Sie überhaupt? Morlock, sagten Sie? Aus Baden-Baden? Sind Sie verwandt mit ... Hallo?...«

Die Leitung war tot.

Sie war allein.

Mutterseelenallein.

Das war doch alles grauenhaft! Konnte sie nicht bitte aufwachen und nichts war geschehen? Vielleicht hatte sich jemand nur einen schlechten Scherz erlaubt. Das sollte sie als Erstes klären.

Mit zitternden Fingern ließ sie sich über die Auskunft mit der Klinik in Baden-Baden verbinden. Dort bestätigte man ihr, dass eine Katharina Funke tatsächlich Patientin war. Näheres ließ sich allerdings nicht herausfinden. Sie möge bitte tagsüber anrufen, beschied man ihr kurz angebunden.

Wie erschlagen blieb sie auf der Bettkante sitzen. Warum verband man sie nicht mit ihrer Mutter? Wie ernst war es? Weshalb hatte man sie in die Klinik gebracht? Sie war doch immer gesund gewesen. Es konnte nichts Schlimmes sein. Es durfte nichts Schlimmes sein. Alles in ihr drängte sie, sofort loszufahren, nach dem Rechten zu sehen und ihrer Mutter beizustehen. Dann jedoch gewann ganz langsam ihr Verstand die Oberhand. Wie Sodbrennen stieg altbekannter Groll in ihr hoch. Was hatte ihre Mutter jemals für sie getan? Nichts! Liebe, Sorge, Geborgenheit, Verständnis, Vertrauen, Zärtlichkeit – all das, was einem landläufig zum Begriff Mutterliebe einfiel, hatte sie sich in Märchen erfinden müssen, niemals aber am eigenen Leib gespürt. Warum also hinfahren? Es würde keinen Sinn machen. Ihre Mutter würde den Kopf wegdrehen und sie fortschicken, kühl und verächtlich.

Doch da tauchte das Bild ihres Vaters auf und damit einher unendliche Zärtlichkeit. Er war einundneunzig, geistig zwar außerordentlich rege, aber körperlich ein Wrack. Ihm musste sie helfen. Er kam ohne ihre Mutter gar nicht zurecht in dem großen Haus.

»Ach Paps«, entfuhr es ihr, und die Frau im Spiegel zeigte ein kleines, wehmütiges Lächeln. Sie liebte ihn, wie sie es schon als kleines Mädchen getan hatte: vorbehaltlos, schrecklich, inniglich. Wie hatte er sich bemüht, die Gefühlskälte ihrer Mutter auszugleichen, hatte Zeit für sie gehabt, hatte versucht zu vermitteln und ihr eingeredet, ihre Mutter habe sie sehr lieb, könne es nur nicht zeigen. Das hatte sie schon als Kind nicht glauben können, und auch jetzt zog sich ihr Magen zusammen, wenn sie an ihre Mutter dachte. Diese Frau brauchte ihre Hilfe nicht. Diese Frau konnte unmöglich nach ihr gerufen haben, ausgerechnet nach ihr, der ungeliebten, missratenen Tochter, die in ihren Augen alles falsch machte, seit ihrer Geburt.

Es war ja typisch, dass sie die Nachricht ihrer Mutter ausgerechnet in dem Augenblick erreichte, in dem sie sich endlich, endlich ihren Kindheitstraum Italien erfüllen wollte!

Ein glühender Ball knotete sich in ihrer Brust zusammen, explodierte und jagte wie ein gewaltiges Feuer durch ihre Blutbahnen und trieb ihr im gleichen Augenblick den Schweiß aus allen Poren. Liebe Güte, was war das? Jetzt wurde sie auch noch krank! Das ging nicht. Sie konnte und wollte sich nicht in Jans Wohnung hinlegen und auskurieren müssen. Wenn Jan wider Erwarten nach Hause käme und sie im Bett vorfände, ausgerechnet – nein, das war undenkbar! Fieber hin oder her.

Verwirrt hechelte sie und fächelte sich mit den Händen Luft zu. Dann öffnete sie die Tür zur Dachterrasse und ließ einen Schwall Winterluft herein. Es roch immer noch nach Schnee, dicke Wolken hingen über der Stadt. Unten in den Schaufenstern erlosch eine vorzeitige Adventsbeleuchtung nach der anderen. Erst vorgestern hatten Jan und sie noch eine herrlich hitzige Debatte darüber geführt, wie die Adventszeit aus lauter Geschäftemacherei immer weiter vorgezogen wurde. So einig waren sie sich gewesen – und wie unbedeutend war das jetzt.

Angstvoll lehnte Clara die Stirn an das kalte Fensterglas und zwang sich, noch einmal tief durchzuatmen. So ging es ihr besser, merkwürdig, wie schnell das gekommen war und wie rasch es wieder verflog. Wenn ihre Wäsche nicht klitschnass und eiskalt auf der Haut kleben würde, könnte sie denken, sie habe sich diesen Fieberanfall nur eingebildet.

Was blieb, war die Sorge um ihren hilflosen Vater. Sie konnte nicht nach Italien. Arrivederci, Venedig! Ihre Mutter hatte ihr mal wieder alles verdorben.

Ein letzter Blick in die Runde, während sie etwas wehmütig die geänderte Buchungsbestätigung und Jans Kreditkarte auf den Tresen legte. Beides würde sie nun nicht mehr brauchen.

Der kleine Espressokocher sprang ihr ins Auge, der Messerblock und natürlich ihre Pfanne. Diese Stücke hatten sie durch die Studentenjahre, ihre Ehe, ihre Scheidungszeit und nun als Beinahe-Lebensabschnittsgefährtin von Jan begleitet. Undenkbar, sie in München zurückzulassen. Alles andere aber war ersetzbar.

Vier

Müde wie sie selbst hing der Mond als blasser Halbkreis am Himmel, dessen tiefes Schwarz sich allmählich in Anthrazit und dann in bleischweres Grau auflöste. Seit Karlsruhe führte die Autobahn fast schnurgerade durch das flache Rheintal und durchschnitt tief verschneite Felder. Links konnte man die Hügelketten des Schwarzwalds mehr erahnen als erkennen, doch ein erster schmaler, orangeroter Hauch in den Wolken kündigte an, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Sonne sich über die Gipfel gekämpft hatte.

Clara gähnte herzhaft und kurbelte das Fenster ihres betagten Volvos herunter. Der Fahrtwind strömte wie eine kalte Dusche in das überheizte Wageninnere. Die zweite Nacht ohne Schlaf, wenn man das Nickerchen bei Kirchheim/Teck nach dem stundenlangen Stau wegen querstehender Lastwagen am Albabstieg nicht mitzählte. Bei Pforzheim war die Autobahn wegen mehrerer Glätteunfälle gesperrt gewesen. Jetzt war es bereits nach sieben und sie kam ihrem Ziel endlich näher.

Krampfhaft riss sie die Augen weit auf und versuchte sich zu konzentrieren, so schwer ihr das auch fiel. Nicht mehr lange und sie würde sich hinlegen und ausruhen können. Hier war schon die Autobahnkirche, gleich danach kam die Rastanlage und dann hatte sie den längsten Teil ihrer Reise geschafft. Vorn konnte sie das Schild zur Ausfahrt »Baden-Baden/Paris« erkennen, das sie immer wieder aufs Neue amüsierte, weil es suggerierte, Frankreichs Hauptstadt sei nur einen Katzensprung entfernt.

Doch schon entglitt ihr die Konzentration wieder, sie betätigte Bremse, Blinker und Gaspedal wie eine Schlafwandlerin, während ihre Gedanken anderen Wegen folgten.

Merkwürdig, sie hatte ihre Mutter noch nie krank erlebt. Schmerzen, Schwäche, Trauer – das existierte einfach nicht für diese harte Frau, auch keine Freude. Nichts. Nur Disziplin, Strenge, Kälte, manchmal Zorn.

Liebe? Ein Fremdwort, das sie allerhöchstens im Zusammenhang mit ihren blöden Rosen benutzte. Ach, Clara wollte nicht weiter darüber nachdenken. Das waren unnütze, uralte Erinnerungen. Sie war längst erwachsen, da brauchte man die Kindheit nicht mehr, um Schuldzuweisung für alles zu betreiben, was im Leben schiefgelaufen war.

Wieder versuchte sie, ihre Kräfte zur Konzentration zu mobilisieren, damit sie nicht vollends vom eintönigen Motorengeräusch und der unendlichen Müdigkeit eingelullt wurde. Sie musste wach bleiben! Am besten war es, den Rest des Weges wie eine Fremde zu betrachten. Links auf dem Berg tauchten im Morgendunst die grauen eckigen Ruinen des Alten Schlosses der Markgrafen zu Baden auf, dann passierte sie die gewöhnungsbedürftigen ufoähnlichen Gebilde des neuen Einkaufszentrums. Weiter vorn stieg neben dem zerzausten Merkurberg die Sonne als von Dunstwolken verschleierte weiße Scheibe auf.

Clara seufzte leise. Sie war beileibe keine Fremde hier. Das Band zur Vergangenheit, diese blinde Vertrautheit, die war über die Zeit erhalten geblieben, und das war doch wohl, was den Begriff Heimat ausmachte, auch wenn sie es jähre-, jahrzehntelang geleugnet hatte.

Selten hatte sie es bei ihren spärlichen Pflichtbesuchen zuhause auch hinunter in die City geschafft, das letzte Mal vor zwölf Jahren, und das hätte sie sich besser ersparen sollen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich dort seitdem viel verändert hatte, denn das Pfund, mit dem Baden-Baden wucherte, war doch gerade das historische Stadtbild mit seinem altmodisch-romantischen Flair. Allein der Gedanke an die vertraute Innenstadt machte ihr – trotz des negativen Erlebnisses von damals – Lust, durch die alten Straßen zu schlendern und vielleicht jemanden zu treffen, den sie von früher kannte. Aber wen denn? Alte Freunde? Helmut, der sie verlassen und verraten hatte, war seit Jahren tot. Andere Menschen, die ihr nahestanden, Schulfreunde zum Beispiel, gab es in dieser Stadt nicht. Ihre Mutter hatte nie zugelassen, dass fremde Kinder durch ihren heiligen Garten turnten, aber zu anderen Klassenkameraden hatte sie ihre kleine Tochter ebenso ungern gehen lassen.

Herrje. Was war nur mit ihr los! Diese graue Stimmung kam bestimmt nur hoch, weil ihr gestern Liebhaber, Job und Wohnung auf einen Schlag abhandengekommen waren. Außerdem: Baden-Baden genoss man im Frühling, wenn die Krokusse blühten, bis in den Herbst, wenn die Gingko-Bäume ihr goldenes Laub verloren, nicht aber im trostlosen November.

Der Besucherparkplatz der Klinik war weitgehend leer und noch nicht geräumt. Clara stellte ihren Wagen im vorderen Bereich ab. Ihre Reifen waren so neu nicht, dass sie als geländetauglich durchgehen konnten. In München hatte sie den Wagen nur selten bewegt, zum Glück hatte sie ihn noch nicht abgemeldet, auch wenn sie bereits mit dem Gedanken gespielt hatte. Ein dürrer, mit spärlichen Kerzen beleuchteter Tannenbaum hielt vor dem Eingangsbereich Wache, auch hier bereits eine Woche vor dem ersten Advent.

Wie eine Faust schlug die Einsamkeit ihr in den Magen. Kälte kroch durch das Blech des Autos ins Innere, fraß sich durch ihre Wollstrümpfe, ihren Strickpullover, hinein in ihr Innerstes. Nein, sie würde nicht weinen. Nicht jetzt! Und erst recht nicht wegen Jan. Das war selbstsüchtig und dumm. Ihre Mutter lag in dem Gebäude vor ihr und hatte bestimmt Schmerzen oder es war ihr etwas Fürchterliches zugestoßen, etwas Unbegreifliches, das sie dazu gebracht hatte, nach ihr zu schicken. Nur das war wichtig! Nicht ihr eigener Seelenschmerz.

Was es wohl zu bereden gab? Freundlich unterhalten oder sich eventuell aussöhnen wollte ihre Mutter sich bestimmt nicht mit ihr. Dazu hätte sie ihr ganzes Leben lang Zeit und Gelegenheit gehabt. Schon als Kind war Clara wie ein hungriges Hündchen hinter ihr hergelaufen und hatte auf ein nettes Wort gewartet oder gehofft, dass sie sie in den Arm nehmen oder streicheln würde, wie andere Mütter es mit ihren Kindern taten. Irgendwann hatte sie die Hoffnung aufgegeben und sich an die Lieblosigkeit von dieser Seite zu gewöhnen versucht, zumal ihr Vater alles getan hatte, um es auszugleichen.

Sie musste sich schwer beherrschen, um nicht umzudrehen und zuerst nach ihm zu sehen. Er würde bestimmt wissen wollen, wie es seiner Frau ging. Also musste sie zuerst zu ihr. Es gab keinen Ausweg und keine Ausrede.

»Sie ist deine Mutter und sie liebt dich« – wie oft hatte er ihr das eingebläut? Und wenn er es ihr noch eine Million Mal sagen würde, würde es trotzdem an ihr abprallen. Aber ein Schuldgefühl hatte er doch in ihrem Innern aufgebaut. Und das meldete sich jetzt und klopfte und pochte in ihren Schläfen. Viel zu lange hatte sie nicht mehr zuhause angerufen.

Clara begann sich über sich selbst zu ärgern. Da saß sie hier in der Kälte, sah zu, wie der Morgen heraufschlich, traute sich weder ans Krankenbett ihrer Mutter noch nach Hause und fühlte sich schlecht, weil sie sich seit Ostern nicht mehr um ihre Eltern gekümmert hatte. Wer hatte denn daran Schuld gehabt? Wer hatte sie denn damals wieder einmal aus dem Haus getrieben?

Gerade mal zwei Stunden hatte es gedauert, bis die mühsame Höflichkeit zwischen ihnen explodiert war. Sie hatte ihre Vorsicht vergessen und ihrem Vater voller Euphorie über ihr neues Buchprojekt berichtet.

»Der Troll mit den grünen Haaren«, hatte Mutter angeekelt wiederholt und mit einer kleinen Silbergabel trockene Kuchenkrümel über den Teller gejagt. »Ein großartiges Projekt für eine kinderlose Kinderbuchautorin.«

Clara war erstaunt gewesen, wie sehr sie diese Verachtung trotz all ihrer Vernarbungen immer noch treffen konnte, und sie hatte sich geärgert, das Thema überhaupt angeschnitten zu haben. Sie hatte doch gewusst, wie ihre Mutter über die Schriftstellern dachte! Aber nein, wie eine Süchtige hatte sie mal wieder um Anerkennung gebettelt und Verletzung geerntet. Es hörte nie auf, es riss immer wieder dieselben Wunden auf und ließ sie schmerzen und bluten. An Lieblosigkeit konnte man sich nie gewöhnen.

Am liebsten hätte sie auch jetzt kehrtgemacht und wäre geflohen – wenn sie nur gewusst hätte, wohin.

Vor dem Eingang zur Intensivstation musste sie nicht allzu lange warten, ehe man sie hereinließ. Man bestand darauf, dass sie sich Kittel und Mundschutz anlegte, dann durfte sie das Zimmer betreten. Es glich einem blinkenden, piepsenden Maschinenraum. Die Schwester hielt ihr die Tür auf und machte eine Kopf bewegung, aber Clara blieb verunsichert stehen. In den beiden Betten lagen fremde Frauen, die eine mit dunklen Haaren, die andere mit weißen. Mehr konnte sie nicht erkennen, denn die Patientinnen waren bis zum Kinn zugedeckt. Sie rührten sich nicht.

Clara sah noch einmal hin. Sie kannte weder die eine noch die andere. Bestimmt war sie im falschen Zimmer gelandet. Hinter ihr schloss sich leise die Tür, ehe sie sich umdrehen und den Irrtum aufdecken konnte. Langsam trat sie näher an das erste Bett. Die weißhaarige Kranke hatte zumindest eine ähnliche Frisur wie ihre Mutter. Braune Flecken entstellten jedoch ihr Gesicht, die Wangen waren eingefallen und faltig, außerdem war die Frau viel zu klein, um ihre Mutter zu sein. Wie eine vertrocknete Blume, leicht und zerbrechlich und viel zu alt.

Als habe sie ihre Gedanken wie einen Lufthauch gespürt, schlug die Greisin in diesem Moment die Augen auf, blinzelte kurz und hob dann den Arm ein paar Zentimeter, fast unmerklich.

Mit klopfendem Herzen machte Clara einen Schritt vorwärts. War dies ihre Mutter? Wie konnte das möglich sein? Was war mit ihr geschehen? Sie sah entsetzlich aus. Nein, das war nicht ihre Mutter!

»Hierher«, befahl die Frau heiser.

Doch, sie war es.

Clara zog einen Stuhl heran und setzte sich vorsichtig auf die Kante. Sie wusste nicht, ob sie ihre Mutter berühren sollte oder durfte. Waren die Flecken ansteckend? Oh Gott, warum hatte sie niemand auf diesen Anblick vorbereitet?

Ihre Mutter fasste das Seitengitter ihres Bettes mit beiden Händen und zog sich ein kleines Stück hoch. Ihre Arme zitterten, dann ergriff das Beben ihren ausgemergelten Körper. Trotz der unübersehbaren Anstrengung flammte ein allzu bekanntes, boshaftes Funkeln in ihren Augen auf.

»Ich weiß selber, dass ich scheußlich aussehe«, zischte sie. »Du musst mir deinen Ekel nicht so deutlich zeigen! Mach ein anderes Gesicht!«

»Entschuldige bitte. Ich ...«

»Und hör auf, dich zu entschuldigen. Warum kommst du erst jetzt?«

»Ich ...«

»Gib es zu: Dieser Jan war dir wichtiger! Typisch!«

»Oh bitte, nicht jetzt. Lass uns doch einmal, nur ein einziges Mal ...« Clara merkte selbst, dass sie zu laut wurde, und verstummte.

Ihre Mutter schnappte nach Luft, ließ sich zurückfallen, suchte mit ihren dünnen Vogelhänden nach dem Notrufknopf, öffnete den Mund weit und röchelte, als bekäme sie keine Luft. Eine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel, tropfte aufs Kissen und bildete einen Flecken, der sich dunkel ausbreitete wie Blut.

Clara sprang hoch. »Um Gottes willen, was ist denn ...«

Der Mund ihrer Mutter formte ein Wort, das sie nicht verstand.

»Was sagst du?«

»Ma ...nnnn ...« Die Augen der Kranken quollen über, als würden sie von einer unsichtbaren Gewalt von innen nach außen gedrückt. Immer noch stand ihr Mund weit auf. Auf ihren Lippen zersprangen eingetrocknete Hautschichten wie dünnes Eis. Gurgelndes Würgen kam heraus, mehr nicht.

»Mutter, bitte, nun sag schon!«

Die Tür flog auf, ein Arzt drückte Clara beiseite. »Wer sind Sie? Wer hat Sie hereingelassen?«

»Ich bin die Tochter.«

»Gehen Sie nach draußen und warten Sie. Ich muss sie behandeln.«

»Aber sie wollte mir etwas Wichtiges ...«

Ihre Mutter griff nach ihrer Hand, erreichte sie aber nicht, weil der Arzt sie wegzog. Die Lippen formten sich erneut zu »M...a ...nnnnn ...«

»Sie sehen doch, was los ist. Raus jetzt, bitte!«

»Ich bleibe hier. Sie will mir etwas sagen, sehen Sie das nicht?«

»Später. Schwester Ursel, schnell, hierher!«

Immer mehr Menschen in blauen und weißen Kitteln drängten sich um das Bett. Clara stand abseits und bemühte sich, unsichtbar zu sein, doch es half nichts. Jemand entdeckte sie und schob sie unsanft nach draußen, dann bugsierte jemand anderes sie ganz hinaus, zurück auf den Flur vor die Tür zur Station.

Clara ließ sich auf die Holzbank fallen und lehnte den Kopf an die Wand. Was geschah dort drinnen? Starb ihre Mutter, bevor sie sich ausgesprochen hatten? Sollten tatsächlich Vorwürfe das Letzte gewesen sein, was sie von ihrer Mutter gehört haben sollte? Das wäre doch schrecklich! Niemand sollte so unversöhnt sterben müssen.

Wie hatte nur alles wieder so eskalieren können? Hatte sie sich selbst am Totenbett nicht beherrschen können und ihre Mutter provoziert? Aber nein, so war es nicht gewesen. Ihre Mutter hatte allein bei ihrem Anblick rot gesehen. Hörte das denn niemals auf?

»Ich bin ganz ruhig«, murmelte sie, wie es ihr einmal ein Therapeut beigebracht hatte.

Allmählich verlangsamte sich ihr Puls, und sie konnte wieder klarer denken.

»Ma ...nnn ...« Was konnte ihre Mutter damit gemeint haben?

Kalter Schweiß ließ Clara das Unterhemd wie eine eisige Umklammerung an Rücken und Bauch kleben, und sie begann zu frieren wie noch nie in ihrem Leben.

Die Minuten tropften dahin. Ob sie klingeln sollte? Vielleicht hatte der Arzt sie vergessen? Sanitäter und weitere Personen in Weiß kamen im Eilschritt heran und verschwanden hinter der Tür, durch die kein Laut drang. Irgendwo in den fernen Gängen der Klinik hörte sie das Quietschen von Gummirädern, das Tacken von Krücken, leises Gemurmel, das sanfte Piepsen von Apparaten, einen lang gezogenen Alarmton. Dann wieder Gummisohlen, auf denen Menschen herbeihasteten. Jemand blieb kurz stehen und musterte sie mitleidig, ehe er die Tür mit einem Code öffnete.

Eingeschüchtert stand sie auf, als sich erneut eine Person näherte.

»Ich bin Frau Funkes Tochter«, begann sie.

Zu spät. Die Ärztin oder Schwester verschwand hinter der Tür.

Angst stieg in ihr hoch. Irgendwann sah sie zur Uhr. Schon nach elf. Sie müsste längst bei ihrem Vater sein. Wie lange hatte er nichts mehr zu essen bekommen? Ob noch die alten Nachbarn nebenan wohnten? Ob jemand von ihnen nach dem Rechten sah? Aber warum sollten sie? Hatte Mutter sie nicht ebenso gleichgültig behandelt und vergrault wie die eigene Familie? Warum also sollte nun jemand zur Hilfe kommen? Oder überhaupt ahnen, dass Hilfe benötigt wurde? Paps würde von sich aus niemanden darum bitten. Er wollte ja nie Umstände machen.

Je länger sie es sich überlegte, umso dringender wollte sie weg von hier, heim zum Vater. Sie konnte ihn nicht einmal anrufen. Das alte Telefon befand sich unten in der Diele, unerreichbar für ihn, wenn er im Schlafzimmer lag.

Unruhig stand Clara auf und begann, den Gang auf und ab zu laufen. Fünfunddreißig Schritte waren es von der Bank bis zur Ecke, zwanzig bis zum Fenster. Weiter wollte sie nicht gehen, sie traute sich noch nicht einmal in den Waschraum aus Angst, den Arzt zu verpassen.

Szenen von früher stiegen in ihr hoch. So lange sie zurückdenken konnte, hatte sich alles im Haus um die Rosenleidenschaft ihrer Mutter gedreht. Im Sommer war sie bei jedem Wetter draußen gewesen, band hoch, schnitt ab, zupfte Unkraut, pflanzte Begleitstauden, wässerte, düngte, spritzte. Im Winter wurden Pläne gezeichnet, Kataloge gewälzt, gab es endlose Gespräche mit Handwerkern. Oft fuhr ihre Mutter für Wochen nach England, um Gärten zu besichtigen und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Die Tochter, »das Kind«, hatte ruhig zu sein, sich wohl zu verhalten, Gartenfreundinnen Tee einzuschenken, sich brav an langweiligen Gesprächen zu beteiligen, oder – besser noch – nicht aufzufallen.

Der Garten war stets Winterbaustelle gewesen, und schnell wurde er zu klein. Daraufhin begann Mutter, umliegenden Nachbarn Land abzukaufen, die froh waren, ihre unzugänglichen, wertlosen Steilhänge loszuwerden. Terrassen mit Trockenmauern und Teichen, Rosenbögen, Laubengängen, Pavillons, Obelisken, Gewächshäusern entstanden.

Zeitschriften berichteten über die »Rosenkönigin von Baden-Baden«, Fernsehsender schlossen sich an. Die schönsten Momente mit ihrer Mutter waren für Clara gewesen, wenn Fotografen oder Fernsehleute ihre Kameras aufbauten. Dann strich Mutter ihr übers Haar, setzte sich neben sie auf eine Bank, drückte sie für einen kurzen Moment an sich, bis der Auslöser klickte oder die Szene »im Kasten« war. Manchmal wurde sie auch gezwungen, das kratzige Kleid mit den gestickten Rosen anzuziehen und sich an den Flügel zu setzen, als »liebreizendes Fotomotiv«, wie die Erwachsenen entzückt ausriefen. Von den Kämpfen hinter den Kulissen hatte ja niemand auch nur die geringste Ahnung, und Clara widersprach nie, sondern lehnte sich lächelnd an ihre Mutter und genoss es, wenigstens für kurze Zeit deren Duft nach Honig und frischem Grün einzuatmen und eine erstaunlich warme, aber knöcherne Hand auf ihrem Haar zu spüren.

Kaum waren die Fremden weg, wurde auch sie weggeschickt. »Wasch dich, kämm dich, mach deine Hausaufgaben, sei ruhig, deck den Tisch.«

Aber da waren ja noch die Bibliothek und ihr Vater. Ihre kleinen Fluchten, die sie davor bewahrten, seelisch zu erfrieren.

»Frau Funke?«

Clara zuckte zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, wie der Arzt aus der Intensivstation gekommen war.

»Kann ich zu ihr?«

»Heute nicht mehr. Sie hat einen Erstickungsanfall gehabt. Sie ist nicht ansprechbar.«

»Aber vorhin wollte sie mir etwas sagen.«

»Das will sie seit Wochen.«

»Seit Wochen? Wie meinen Sie das?«

»Sie liegt seit Anfang Oktober hier. Die Tochter sind Sie? Ja?«

»Seit Oktober? Das ist doch unmöglich!«

»Wollen Sie damit sagen, Sie hätten es nicht gewusst?«

»Ich bin heute Nacht informiert worden und sofort hergekommen.«

»Oh. Nun. Wir haben uns schon gewundert. Sie hat uns keine weiteren Angehörigen angegeben, außer ihrem Ehemann. Er lässt ab und zu auf der Station anrufen. Aber niemand hat sie besucht, keine Menschenseele. Sie war bis heute allein.«

Fröstelnd schlang Clara die Arme um sich und versuchte, ruhig zu bleiben. Das war bestimmt kein Vorwurf. Sie konnte nichts dafür. Sie hatte von nichts gewusst. Wirklich nicht? Hätte sie sich nicht öfter bei ihren Eltern melden müssen, gerade auch wegen ihres Vaters? Er hätte sich über ihren Anruf gefreut, falls Mutter es ihm ausgerichtet hätte. Falls!

»Was hat sie denn?«

»Wenn wir das wüssten. Wir haben Experten aus Heidelberg hinzugezogen, doch wir brauchen mehr Zeit. Es scheint so, als ob in ihrem Körper immer wieder Blutgefäße platzen. Deshalb auch die Flecken im Gesicht. Wir können es nicht stoppen. Dazu kommen diese Erstickungsanfälle.«

»Wird sie wieder gesund?«

»Wir hoffen es. Manchmal geht es etwas besser, und wir können sie zurück auf die normale Krankenstation verlegen, aber dann verschlechtert sich ihr Zustand wieder gravierend. Ein Auf und Ab. Eigentlich eher ein Ab.«

Der Arzt presste seine Handflächen zusammen, während er krampfhaft zu Boden blickte. »Dr. Hoffmann« stand auf seinem Namensschild. Er war relativ jung, aber neben seinem schmalen Mund hatten sich bereits scharfe Falten eingegraben. Trotz seiner hilflosen Aussage wirkte er kompetent, sah jedoch heillos übernächtigt aus.