Das Kanzler-Komplott - Steve Berry - E-Book

Das Kanzler-Komplott E-Book

Steve Berry

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In seinem 16. Fall ermittelt Cotton Malone in Deutschland! »Die Thematik ist fast schon unheimlich aktuell.« Kirkus Reviews

Die Bundestagswahl steht kurz bevor: die amtierende Kanzlerin vertritt die bürgerliche Mitte, ihr Konkurrent hingegen ist ein politischer Emporkömmling, der für extremen Nationalismus und rechte Ideologien steht. Der Wahlkampf wird mit harten Bandagen geführt und beide Kandidaten haben Geheimnisse, die ihre Pläne durchkreuzen könnten. Als Gerüchte über eine jahrzehntealte Akte mit brisantem Inhalt laut werden, muss die Kanzlerin reagieren. Sie nimmt Kontakt zum ehemaligen Geheimagenten Cotton Malone auf, der die Spur des Dokuments verfolgen soll. Denn dieses enthält angeblich die Wahrheit darüber, was im April 1945 wirklich in einem Bunker tief unter Berlin geschah. Sollte der Inhalt publik werden, könnte er nicht nur die Wahl vorzeitig entscheiden, sondern Europa unwiederbringlich verändern ...

Lesen Sie auch die anderen actiongeladenen Thriller um Ex-Geheimagenten Cotton Malone von Steve Berry! Alle Thriller sind unabhängig voneinander lesbar. (Auswahl)

Die sieben Relikte

Die Vatikan-Intrige

Das Memphis-Dossier

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 641

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die Bundestagswahl steht kurz bevor: Die amtierende Kanzlerin vertritt die bürgerliche Mitte, ihr Konkurrent hingegen ist ein politischer Emporkömmling, der für extremen Nationalismus und rechte Ideologien steht. Der Wahlkampf wird mit harten Bandagen geführt, und beide Kandidaten haben Geheimnisse, die ihre Pläne durchkreuzen könnten. Als Gerüchte über eine jahrzehntealte Akte mit brisantem Inhalt laut werden, muss die Kanzlerin reagieren. Sie nimmt Kontakt zum ehemaligen Geheimagenten Cotton Malone auf, der die Spur des Dokuments verfolgen soll. Denn dieses enthält angeblich die Wahrheit darüber, was im April 1945 wirklich in einem Bunker tief unter Berlin geschah. Sollte der Inhalt publik werden, könnte er nicht nur die Wahl vorzeitig entscheiden, sondern Europa unwiederbringlich verändern …

Der Autor

Steve Berry war viele Jahre als erfolgreicher Anwalt tätig, bevor er seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckte. Mit jedem seiner hoch spannenden Thriller stürmt er in den USA die Spitzenplätze der Bestsellerlisten und begeistert Leser weltweit. Steve Berry lebt mit seiner Frau in St. Augustine, Florida.

Von Steve Berry bereits erschienen (Auswahl)

Die Kolumbus-Verschwörung · Das Königskomplott · Der Lincoln- Pakt · Antarctica · Geheimakte 16 · Plan Zero · Der goldene Zirkel · Das Memphis-Dossier · Die Vatikan-Intrige · Die sieben Relikte

Besuchen Sie uns auch auf www.instagram.com/blanvalet.verlag und www.facebook.com/blanvalet.

STEVE BERRY

DAS

KANZLER-

KOMPLOTT

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Kaiser’s Web (16 Cotton Malone)« bei Minotaur Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © Copyright © 2021 by Steve Berry

Published by Arrangement with MAGELLAN BILLET INC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 by Blanvalet

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Werner Bauer

Covergestaltung: © Johannes Frick

Covermotiv: iStock.com

(kapitaen, franz12, kamisoka, Adam Smigielski, AlexandrMoroz,

STILLFX) und Shutterstock.com (Yaroslaff, Matt Gibson)

KO · Herstellung: sam

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-28123-6V002

www.blanvalet.de

Für Kelley Ragland,

als Lektorin Weltklasse und als Mensch überragend

Die Leute haben heute weniger Zeit zu denken.

Die Bereitschaft des modernen Menschen, zu glauben,

ist unglaublich.

BENITO MUSSOLINI

Prolog

Freistaat Bayern, Deutschland

Samstag, 8. Juni

10.40 Uhr

Danny Daniels genoss die Freiheit, die es mit sich brachte, nicht mehr der Präsident der Vereinigten Staaten zu sein. Keine Frage: Er war gerne Präsident gewesen. Acht Jahre lang hatte er das Amt nach besten Kräften ausgeübt. Dennoch wusste er das Leben sehr zu schätzen, das jetzt zu führen ihm vergönnt war. Er konnte sich frei bewegen. Konnte gehen, wohin er wollte. Wann er wollte.

Den Schutz durch den Secret Service, der ihm als ehemaligem Amtsträger zustand, hatte er ausgeschlagen und es so dargestellt, als wolle er die Steuerzahler nicht belasten. In Wahrheit hatte er keine Lust auf Babysitter. Falls ihm jemand etwas tun wollte, sollte er es versuchen. Er war alles andere als hilflos. Außerdem konnten Ex-Präsidenten für gewöhnlich niemandem mehr gefährlich werden.

Selbstverständlich wurde er erkannt.

Doch dem konnte er durch die Wahl seines Aufenthaltsorts entgehen.

Wenn es doch passierte, blieb er wohlwollend und entgegenkommend, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte. Aber hier, im tiefsten Süden Bayerns an einem regnerischen Samstagmorgen im Spätfrühling, war nicht unbedingt damit zu rechnen. Außerdem war er bereits vor sechs Monaten aus dem Amt geschieden, was in der Politik einer Ewigkeit gleichkam. Jetzt war er Juniorsenator des schönen Staates Tennessee. Er war gekommen, um einer Freundin zu helfen.

Weshalb?

Weil sich das unter Freunden so gehört.

Die Polizeiwache von Partenkirchen hatte er mühelos gefunden. Das Bergstädtchen war so mit Garmisch zusammengewachsen, dass man nur schwer sagen konnte, wo eine Ortschaft endete und die andere begann. Der Granitbau befand sich in Sichtweite des alten Olympia-Eisstadions, das, wie er wusste, 1936 errichtet worden war, als Deutschland zum letzten Mal als Gastgeber der Winterspiele fungierte. In der Ferne sah man grüne Alpenhänge, von Skipisten durchzogen, auf denen kaum noch Schnee lag.

Er war gekommen, um sich mit einer Frau zu unterhalten, die auf direkte Anweisung der deutschen Kanzlerin festgehalten wurde. Ihr Mädchenname lautete Hanna Cress. Gestern war von Europol bestätigt worden, dass es sich bei ihr um eine Staatsangehörige von Belarus ohne Vorstrafen handelte. Online-Recherchen in öffentlichen Registern ergaben, dass ihr eine teure Wohnung in Minsk gehörte, dass sie einen C-Klasse-Mercedes fuhr und im vergangenen Jahr vierzehnmal aus Belarus ausgereist war. Womit sie ihr Geld verdiente, war nicht ganz klar.

Offenbar hatte niemand sie in der Kunst der Geheimhaltung unterwiesen.

Es war etwas Großes im Busch.

Das konnte er spüren.

Die Sache war immerhin so wichtig, dass ihn seine alte Freundin, die deutsche Kanzlerin, persönlich um Unterstützung gebeten hatte.

Was ihm gefiel. Es tat gut, gebraucht zu werden.

Er traf Hanna Cress in einem kleinen, fensterlosen Verhörzimmer mit hellem Neonlicht und dunklen Bodenfliesen. Sie saß an einem Tisch und rauchte eine Zigarette. Der Raum war so verqualmt, dass ihm davon die Augen brannten. Er hatte das Zimmer allein betreten und die Tür hinter sich geschlossen. Vorher hatte er sich weitere Beobachter verbeten und darauf bestanden, dass die Unterhaltung nicht aufgezeichnet wurde – wie es die Kanzlerin verlangt hatte.

»Warum werde ich festgehalten?«, fragte sie sachlich in gutem Englisch.

»Jemand war der Meinung, das hier sei ein hervorragender Ort, damit Sie und ich uns besser kennenlernen können.« Er hatte nicht vor, ihr die Regie zu überlassen.

Sie stieß die nächste Rauchwolke aus. »Weshalb schickt man den amerikanischen Präsidenten, um sich mit mir zu unterhalten? Das betrifft Sie doch gar nicht.«

Er zuckte mit den Schultern, setzte sich und legte einen Manila-Umschlag auf den Tisch.

So viel zum Plan, sich nicht zu erkennen zu geben.

»Ich bin kein Präsident mehr. Nur ein einfacher Bürger.«

Sie lachte. »Das ist, als würde man sagen, Gold sei auch nur ein Metall.«

Ein gutes Argument.

»Ich bin nach Deutschland gekommen, um diesen Umschlag abzugeben«, sagte sie und zeigte darauf. »Nicht, um verhaftet zu werden. Und jetzt will sich ein amerikanischer Präsident mit mir unterhalten?«

»Es sieht aus, als wäre heute Ihr Glückstag. Ich bin hier, um einer Freundin behilflich zu sein. Marie Eisenhuth.«

»Die verehrte deutsche Bundeskanzlerin. Oma persönlich.«

Er lächelte, als er den Spitznamen hörte. Großmutter der Nation. Was sich mit Sicherheit sowohl auf ihr Alter als auch auf die lange Amtszeit Eisenhuths als Kanzlerin bezog. Es gab in Deutschland keine Beschränkung der Amtszeit. Man blieb im Amt, so lange einen die Leute wollten. Er fand das System gar nicht so schlecht.

Sie nahm einen letzten, tiefen Zug von der Zigarette und drückte die Kippe dann in einem Aschenbecher aus. »Sie wollen reden. Reden wir. Vielleicht lassen Sie mich dann laufen.«

Diese Frau war gestern zu einem Treffen in Garmisch erschienen, das nach einer Reihe von E-Mails vereinbart worden war, die ein Mann namens Gerhard Schüb mit dem Büro der Kanzlerin gewechselt hatte. Schüb wollte bei dieser Gelegenheit Dokumente übergeben und Cress als Überbringerin einsetzen. Die Übergabe hatte stattgefunden, daher der Umschlag. Danach war Cress verhaftet worden. Weshalb? Die Frage lag auf der Hand, und seine alte Freundin, die Kanzlerin, hatte sie nicht ganz beantwortet. Doch es stand ihm nicht zu, sich über die Vorgehensweise zu beschweren. Er war einfach froh, eine Rolle übernehmen zu können.

»Wer ist Gerhard Schüb?«, fragte er.

Sie lächelte, wodurch ein Bluterguss an ihrer rechten Gesichtshälfte deutlicher zum Vorschein kam. Der Fleck beeinträchtigte ihr ansonsten blendendes Aussehen. Sie hatte einen milchig weißen Hautton, und der Schnitt ihrer Lippen und ihrer Nase machten sie zu einer markanten Schönheit, obwohl ihre blauen Augen getrübt und distanziert wirkten.

»Er ist ein Mann, der zu helfen versucht«, sagte sie.

Das war keine Antwort. »Ich frage noch einmal: Wer ist Gerhard Schüb?«

»Ein Mann, der eine Menge weiß.« Sie deutete auf den Umschlag. »Und er teilt etwas von dem, was er weiß.«

»Weshalb übernimmt er das nicht selbst?«

»Er möchte nicht gefunden werden. Nicht einmal von Oma.« Sie machte eine Pause. »Oder von Ex-Präsidenten. Er hat mich geschickt.« Sie sah ihm tief in die Augen. »Sie begreifen überhaupt nicht, um was es hier geht, oder?«

Er begriff die Botschaft hinter dieser vordergründigen Beleidigung.

Es steckt mehr dahinter, als Sie ahnen.

»Es gibt Menschen und Vorgänge in der Vergangenheit, die auch heute noch von Bedeutung sind«, sagte sie. »Von großer Bedeutung, genau genommen. Das wird die deutsche Kanzlerin selbst herausfinden – wenn sie sich dahinterklemmt. Sagen Sie Oma, dass sie sich ins Zeug legen soll.«

»Was hätte sie davon?«

»Den Sieg.«

Eine seltsame Antwort, doch er wollte es auf sich beruhen lassen. Er hob den Umschlag hoch. »Hier drin ist ein Zettel mit Ziffernfolgen. Sie sehen wie GPS-Koordinaten aus. Sind sie das?«

Sie nickte. »Das ist eine Ortsangabe, und man hat mir gesagt, dass Sie dort hinfahren müssen.«

»Warum?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Woher soll ich das wissen? Ich bin nur die Botin.«

»Gestern haben Sie kein Wort darüber verloren.«

»Ich bin nicht dazu gekommen. Bevor man mich verhaftet und ins Gesicht geschlagen hat.«

Das erklärte den blauen Fleck.

»Ich habe die anderen Dokumente gelesen, die im Umschlag waren«, sagte er. »Darin ist von Dingen die Rede, die schon lange vorbei sind. Zweiter Weltkrieg. Hitler. Nazis.«

Sie lachte kurz und aufgesetzt. »Ist es nicht aufregend, wenn Geschichte etwas bedeutet? Passen Sie gut auf, Herr Ex-Präsident, vielleicht lernen Sie noch etwas.«

Sie war offenbar eine harte Nuss.

Aber harte Nüsse waren seine Spezialität. »Und von diesem Gerhard Schüb kann ich also lernen?«

»Herr Schüb will nur helfen.«

»Wobei?«

Sie lächelte. »Die Wahrheit herauszufinden. Was sonst?«

Sie griff nach der Zigarettenschachtel. Weil ihr die nächste Zigarette vielleicht die Zunge löste, ließ er sie gewähren. Sie zündete sich schnell eine an; zwei tiefe Züge schienen sie zu entspannen.

Er musste mehr erfahren.

Insbesondere über die Herkunft der Dokumente im Umschlag.

Zuerst veränderte sich ihr Blick. Wirkte er zunächst noch getrieben und nachdenklich, zeigte sich plötzlich Angst, dann Schmerz und schließlich Verzweiflung in ihrem Gesicht. Ihre Miene verkrampfte und verzerrte sich in Todesqualen. Die Zigarette fiel ihr aus den Fingern. Sie griff sich mit den Händen an die Kehle, würgte und versuchte, Luft zu holen. Schaumiger Speichel quoll über ihre Lippen.

Er sprang auf und wollte ihr zu Hilfe zu eilen. Sie packte ihn mit beiden Händen am Jackett, riss panisch die Augen auf.

»Kai…ser.«

Sie rang um einen letzten Atemzug, dann fiel ihr Kopf auf die Seite, weil ihre Nackenmuskeln nachgaben. Ihr Griff lockerte sich, und sie sackte auf dem Stuhl zusammen. Der letzte Atem, den sie ausstieß, roch leicht nach Bittermandel.

Diesen Geruch kannte er.

Blausäure.

Er starrte zur Zigarettenschachtel auf dem Tisch, die angerauchte Zigarette lag auf dem Boden und qualmte noch. Was zum Teufel …?

Und was hatte sie mit Kaiser gemeint?

DREI TAGE DANACH

1

Republik Belarus

Dienstag, 11. Juni

08.50 Uhr

Cotton Malone spürte, wenn Ärger in der Luft lag. Das war auch besser so, denn er hatte ihn oft genug bekommen. Heute zum Beispiel. Dabei hatte der Tag so harmlos mit einem Frühstück im hervorragenden Beijing-Hotel angefangen. Ein Hauch von Orient in einer ehemaligen Sowjetrepublik. Auf ganzer Linie erstklassig, und anders durfte es auch nicht sein, weil er auf dieser Reise Begleitung hatte.

»Ich hasse Flugzeuge«, sagte Cassiopeia Vitt.

Er lächelte. »Was du nicht sagst.«

Sie flogen 5000 Fuß über dem Meeresspiegel und waren auf einem Südwestkurs in Richtung Polen unterwegs. Unter ihnen erstreckten sich meilenweit unbewohnte Waldgebiete, dazwischen wenige und weit auseinanderliegende Städte. Sie waren in den Osten gekommen, um dem Ex-Präsidenten Danny Daniels einen Gefallen zu tun, der vor zwei Tagen mit einem Problem in Kopenhagen aufgetaucht war. Die deutsche Bundeskanzlerin suchte jemanden namens Gerhard Schüb. Eine Belarussin namens Hanna Cress war mit unglaublichen Informationen in Bayern aufgetaucht und dort ermordet worden, hatte aber im Sterben noch stammelnd ein Wort hervorgebracht.

Kaiser.

»Meinen Sie, Sie beide könnten mal eben nach Minsk fliegen und versuchen, mehr über sie und/oder Gerhard Schüb herauszufinden?«, hatte Daniels gefragt.

Also hatten sie ein Flugzeug gechartert, waren gestern Morgen aus Dänemark eingeflogen und hatten den ganzen Tag über Nachforschungen angestellt.

Was nicht unbemerkt geblieben war.

»Meinst du, wir schaffen es, unversehrt aus diesem Land wieder rauszukommen?«, fragte sie.

»Ich würde sagen, die Chancen stehen etwa fünfzig zu fünfzig.«

»Das klingt nicht gerade beruhigend.«

Er grinste. »Wir haben schon ein Stück geschafft.«

Es war ihnen knapp geglückt, aus dem Hotel zu flüchten, nachdem die Militsiya eingetroffen war und nach ihnen zu suchen begonnen hatte. Später erreichten sie knapp vor ihren Verfolgern den Flughafen, mussten dort aber feststellen, dass das Flugzeug, das sie gestern hergeflogen hatten, konfisziert worden war. Deshalb hatte er getan, was jeder andere tüchtige Buchhändler getan hätte, der früher Geheimagent im Dienst des Justizministeriums der Vereinigten Staaten gewesen war, und ganz einfach ein anderes gestohlen.

»Ich hasse Flugzeuge wirklich«, wiederholte sie. »Ganz besonders solche, in denen ich mich kaum bewegen kann.«

Die Auswahl war nicht groß gewesen, und er hatte sich für einen GA8-Airvan entschieden. Australisches Fabrikat, komplett aus Metall, einmotorig. Ein Hochdecker mit strebengestützten Tragflächen und einer gewöhnungsbedürftigen asymmetrischen Form. Etwas eckig und kantig wäre eine passende Beschreibung gewesen; das Flugzeug war für unebene Landebahnen und Landungen in der Wildnis ausgelegt. Er hatte vor einigen Jahren eine Maschine dieses Typs geflogen und war damit zufrieden gewesen. Bei diesem Modell waren die acht hinteren Sitze entfernt worden, was die Kabine insgesamt ziemlich geräumig machte. Auf den Flugzeugrumpf gemalte Werbung bestätigte, dass es sich um ein Flugzeug für Fallschirmspringer handelte; und es war ein Kinderspiel, die Zündung kurzzuschließen und den Motor anzuwerfen.

Er sah, dass sie aus dem Fenster die Landschaft beobachtete, die unter ihnen vorbeizog.

»Es hätte schlimmer kommen können«, sagte er.

»Das ist alles relativ.«

Sie sah hinreißend aus. Der latino-arabische Genmix brachte einige außergewöhnlich schöne Frauen hervor. Wenn man Intelligenz und Lebenstüchtigkeit gepaart mit dem Mut einer Löwin hinzuzählte, konnte man nicht anders, als sie zu lieben. Abgesehen davon, dass sie Kälte hasste, ließ sie sich fast durch nichts aus der Ruhe bringen. Er verabscheute beengte Räumlichkeiten und sie große Höhen. Leider schienen sie beide weder das eine noch das andere vermeiden zu können.

»Weißt du, wo wir sind?«, fragte sie.

»Ich würde nördlich von Brest sagen, ganz in der Nähe der polnischen Grenze. Ich rechne damit, dass die Stadt demnächst weiter südlich auftaucht.«

Er hielt sie mit Koppelnavigation auf Kurs, achtete darauf, dass sie die Morgensonne im Rücken hatten, und folgte dem Strichkompass in südwestliche Richtung. Wenn er zu weit in den Norden abdriftete, würden sie vielleicht in Litauen enden, wo sie aber definitiv nicht hinwollten. Dort hätten sie wohl auch auf den Schutz der EU zählen können, aber ihr Ziel war Polen.

Das Komitee für Staatssicherheit der Republik Belarus stand wie kein anderer Geheimdienst nach wie vor in der Tradition des alten sowjetischen KGB. Es hatte sogar das Kürzel behalten; hinzu kam sein Ruf, wie kaum eine andere Organisation systematisch Menschenrechte zu verletzen. Folter, Exekutionen und Gewaltorgien gehörten bei diesen Burschen einfach zu den Standardmethoden. Deshalb zog er es vor, ihre Arbeitsweise nicht am eigenen Leibe zu erfahren.

Er hielt den Steuerknüppel locker in der Hand, der aus dem Boden und nicht wie üblich aus dem Steuerpult kam. Cotton hatte eine ausgezeichnete Sicht durch die Frontscheibe und die Seitenfenster. Der Himmel vor ihnen war klar, das Gelände unter ihnen ein Meer von Bäumen. In der Dunkelheit wand sich eine Straße hindurch, die dann und wann an einem Bauernhaus vorbeiführte.

Er liebte das Fliegen.

Für ihn hatten Flugzeuge Persönlichkeit. Ursprünglich hatte die Fliegerei sein Beruf werden sollen. Aber die Dinge hatten einen anderen Verlauf genommen – was in Anbetracht seines Lebensweges noch untertrieben war.

Er ließ den Blick kurz über die Kontrolltafeln wandern. Reisegeschwindigkeit achtzig Knoten. Treibstoff fünfundvierzig Gallonen. Elektrik störungsfrei. Sämtliche Ruder reagierten.

Unter sich entdeckte er weit im Süden Brest.

Perfekt.

»Da ist unser Orientierungspunkt«, sagte er. »Bis zur Grenze ist es nicht mehr weit.«

Sie hatten die 120 Meilen von Minsk in einer guten Zeit hinter sich gebracht. Sobald sie in Polen waren, wollte er auf einem kommerziellen Flughafen landen, damit sie von dort aus mit dem ersten verfügbaren Flug das Land verlassen konnten. Es war viel zu riskant, noch länger dieses gestohlene Flugzeug zu benutzen.

Er verringerte den Schub, verlangsamte ihre Geschwindigkeit und justierte das Höhenruder, wodurch der Airvan circa 1000 Fuß an Höhe verlor. Er wollte die Grenze im Tiefflug passieren, um unter dem Radar zu bleiben.

»Es geht los«, sagte er.

Zunächst sorgte er für eine stabile Trimmung. Das Brummen des Zwei-Blatt-Propellers blieb konstant. Die Maschine schnurrte wie ein Uhrwerk. Wegen der geringen Flughöhe wurden die Tragflächen von kleineren Turbulenzen erfasst, aber das war nichts, worüber man sich Sorgen machen musste.

Dann sah er ihn.

Den Blitz.

Zwischen den Bäumen.

Gefolgt von einem Projektil, das durch das Blätterdach stieß und direkt auf sie zukam.

Er riss am Steuerbügel, flog ein heikles und präzises Manöver, bei dem die Tragflächen fast senkrecht zum Boden standen. Glücklicherweise war der Airvan gerade gut gelaunt und verzieh die Kurve, aber ihre langsame Geschwindigkeit arbeitete trotzdem gegen sie. Heißt: Sie fingen an zu fallen.

Das Projektil explodierte über ihnen.

»Eine RPG«, sagte er, bearbeitete den Steuerbügel, vergrößerte den Vortrieb und erhöhte so die Geschwindigkeit. »Eine Panzerabwehr-Granate, toll! Man hat uns offenbar nicht vergessen.«

Dann veränderte er die Trimmung und ging in den Steigflug.

Zum Teufel mit Unter-dem-Radar-Fliegen. Sie wurden angegriffen!

»Da kommen noch mehr«, schrie Cassiopeia, die konzentriert aus dem Fenster sah.

»Wo?«

»Zwei. Von beiden Seiten.«

Großartig.

Er gab Vollgas und winkelte die Höhenruder für einen steilen Steigflug an.

Es folgten zwei Explosionen. Eine war weit weg und verursachte keinen Schaden, aber die andere hinterließ ein qualmendes Loch in einer Tragfläche.

Die Maschine stotterte.

Er griff zur Treibstoffkontrolle und unterbrach die Verbindung zu den Treibstofftanks in der linken Tragfläche, weil er hoffte, auf diese Weise verhindern zu können, dass der Motor Luft zog. Noch gewann sie an Höhe, aber die Maschine klang immer bedenklicher.

»Das ist nicht gut«, sagte Cassiopeia.

»Nein, ist es nicht.«

Er versuchte Turbulenzen und Unregelmäßigkeiten auszugleichen, der Steuerknüppel ruckelte zwischen seinen Beinen.

»Ich weiß, du willst das nicht hören, aber: Wir gehen runter.«

2

Das wollte Cassiopeia nicht hören, richtig.

Ganz und gar nicht.

Das Flugzeug ruckelte unentwegt – was überhaupt keinen guten Eindruck machte. Sie warf einen kurzen Blick auf den Höhenmesser und stellte fest, dass sie fast 1000 Höhenmeter hatten.

»Warum fliegen wir so hoch?«, fragte sie.

Cotton mühte sich mit der Steuerung des Flugzeugs ab, die nicht mehr zu reagieren schien. »Das ist viel besser als runterzugehen. Schnall dich ab und sieh nach, ob du irgendwo Fallschirme findest.«

Sie starrte ihn ungläubig an, hielt es aber für das Beste, ihm nicht zu widersprechen. Er versuchte nach Kräften, sie in der Luft zu halten, und dafür war sie dankbar. Sie löste die Schnalle und streifte die Schultergurte ab.

Das Flugzeug schlingerte heftig.

Sie hielt sich an der Rückenlehne ihres Sitzes fest, dann stolperte sie in den hinteren Kabinenbereich. An beiden Kabinenwänden zogen sich Bänke entlang. Sonst war dort nichts.

»Hier ist nichts«, rief sie.

»Sieh in den Bänken nach«, sagte Cotton.

Sie hechtete auf die rechte Seite des Flugzeugs und ging auf die Knie. Dann klappte sie die lange Sitzfläche der Bank hoch, die mit einem Scharnier befestigt war. Darin lag ein Fallschirm. Sie nahm ihn aus dem Fach, dann versuchte sie es auf der anderen Seite und öffnete die Bank. Leer.

Nur ein Fallschirm?

Das durfte nicht wahr sein!

Cotton kämpfte mit dem Flugzeug.

Höhen- und Seitenruder schienen anzusprechen, aber das Manövrieren war mühsam. Er musste aufpassen, um einen Strömungsabriss zu vermeiden, also fuhr er erst mal die Landeklappen ein, was die Geschwindigkeit erhöhte. Man beurteilte Flugzeuge danach, wie viel sie zuladen konnten, wie weit sie damit kamen und wie viel Zeit sie dafür brauchten. Unter den gegebenen Umständen erwies sich das Flugzeug als großartig.

Die verdammte RPG hatte die Tragfläche und die Seitenruder beschädigt. Wo das Blech beschädigt war, strömte Treibstoff aus und leerte die Tanks, die beim Start noch zur Hälfte gefüllt gewesen waren.

Die Maschine hatte zu kämpfen, und dem Propeller fehlte die Kraft, sich in die Luft zu schrauben. Das Pedal bei seinen Füßen war ganz locker – ein Zeichen dafür, dass beim Steigflug vermutlich die Kühlluftklappen beschädigt worden waren. Aber er schaffte es, bei knapp über 4000 Fuß mit positiver Trimmung auszugleichen.

Die ganze Zeit über flogen sie weiter nach Südwesten.

Sie waren vom Boden aus nicht mehr beschossen worden, und er hoffte, es bedeutete, dass sie inzwischen über Polen waren. Er konnte es jedoch nicht genau bestimmen, da sich unter ihnen nichts als Wälder erstreckten.

Der Steuerbügel wurde ihm aus der Hand gerissen, und das Flugzeug verlor seinen Auftrieb. Die Anzeigen spielten verrückt. Druck- und Ölanzeige fielen auf null. Das Flugzeug bockte wie ein Stier.

»Es gibt nur einen Fallschirm«, rief Cassiopeia.

»Leg ihn an.«

»Wie bitte?«

»Leg das verdammte Ding an!«

Cassiopeia hatte nie zuvor einen Fallschirm angefasst und erst recht keinen angelegt. Sie hätte nie damit gerechnet, jemals im Leben aus einem Flugzeug springen zu müssen.

Der Boden unter ihr vibrierte wie bei einem Erdbeben. Das Flugzeug versuchte, sie in der Luft zu halten, aber die Schwerkraft tat das ihrige, sie nach unten zu ziehen. Cassiopeia schob ihre Arme durch die Schultergurte, führte den verbliebenen Gurt zwischen ihren Beinen durch und ließ die Metallschnallen einrasten.

»Öffne die Seitenluke«, rief er. »Beeil dich. Ich kann die Kiste nicht mehr lange in der Luft halten.«

Sie griff nach dem Riegel und zog die Schiebetür auf ihrer Schiene, bis sie einrastete. Ein Schwall warmer Luft strömte ins Innere. Tief unten raste der Boden vorbei, der wirklich sehr, sehr weit entfernt war.

»Wir müssen springen!«, überschrie Cotton den Lärm.

Hatte sie richtig gehört?

»Wir haben keine Wahl. Ich kann das Ding hier nicht landen, es hält sich nicht mehr in der Luft.«

»Ich kann nicht springen.«

»Doch, du kannst es.«

Nein, das konnte sie nicht. Es war schon schlimm genug, dass sie in diesem Flugzeug war. Es hatte sie sehr viel Überwindung gekostet. Aber hinausspringen? In den freien Himmel?

Cotton löste seine Gurte und schwang sich aus dem Sitz. Das Flugzeug, das jetzt keinen Piloten mehr hatte, kippte nach vorn und dann wieder zurück. Er taumelte zu ihr, schlang seine Arme um sie und verschränkte seine Hände zwischen dem Fallschirm und ihrem Rücken.

Sie standen einander gegenüber.

Ganz nah.

Er ruckelte mit ihr zur Tür.

»Cotton …«

»Leg deine Hand auf den D-Ring«, sagte er zu ihr. »Zähl bis fünf und dann zieh.«

In ihrem Blick war die unsägliche Angst zu erkennen, die sie erfasst hatte.

»Weißt du noch, was du mir mal gesagt hast, als ich in Panik geriet?«, sagte er. »Nur wir beide sind jetzt hier, und ich halte dich fest.«

Er küsste sie.

Dann fielen sie aus dem Flugzeug.

Cotton war bereits mit Fallschirmen gesprungen, aber er hatte noch nie einen Tandemsprung absolviert, bei dem er sich ohne Gurte an einer anderen Person festhielt und keine Schutzbrille aufhatte – und das bei so geringer Höhe.

Sie hatten sich kaum aus der Kabine gelöst, da fingen sie auch schon an, sich zu drehen. Ein scharfer Luftstrom raubte ihm die Stimme und für einen kurzen Moment auch das Hörvermögen. Eine unangenehme Trockenheit kratzte in seiner Kehle und brannte in den Augen. Fühlte man sich so in einem Wäschetrockner?, fragte er sich. Aber er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren und darauf hoffen, dass Cassiopeia dasselbe tat und sich daran erinnerte, bis fünf zu zählen und dann an der Reißleine zu ziehen. Das konnte er ihr unmöglich abnehmen, weil er seine ganze Kraft dafür aufwenden musste, seine Arme um ihren Körper zu schlingen und die Hände verschränkt zu halten.

Das Trudeln ließ nach, und jetzt sah er den Airvan abstürzen. Sie mussten so weit wie möglich von der Unglücksstelle entfernt landen, doch das schien kein Problem zu sein.

Plötzlich wurde sein Kopf zurückgerissen, und ein heftiger Ruck erfasste sie beide, weil Cassiopeia offenbar bis zur Fünf gekommen war. Er sah, wie der Fallschirm aus dem Rucksack schnellte und sich die Leinen strafften, als Luft unter seine Kuppel fuhr. Sie wurden beide nach oben gerissen, dann beruhigte es sich, und sie schwebten langsam abwärts, einem inzwischen wieder ruhigen Morgen entgegen.

»Alles klar?«, fragte er nah an ihrem Ohr.

Sie nickte.

»Du musst jetzt nach oben fassen, an den Leinen ziehen und uns lenken«, sagte er.

»Sag mir einfach, was ich tun soll.«

Es beeindruckte ihn, wie wacker sie sich hielt. Für jemanden mit Höhenangst musste das hier der schlimmste Albtraum sein.

»Zieh fest mit dem linken Arm.«

Sie folgte seiner Anweisung, wodurch sie steiler abwärts schwebten. Er wollte eine baumlose Lichtung ansteuern, die er entdeckt hatte. Dort zu landen war mit Sicherheit viel besser, als von den Ästen aufgespießt zu werden.

»Mehr«, sagte er.

Sie gehorchte.

Aber sie kamen nicht nah genug an das Ziel heran.

Und verloren rasch an Höhe.

Er beschloss, es selbst zu versuchen, löste seinen Klammergriff, packte schnell erst einen Satz Leinen, dann den anderen, und setzte sein gesamtes Körpergewicht ein, um den Schirm zu justieren und ihre Flugbahn zu ändern.

Bis zur Landung blieben nur noch wenige Sekunden.

Also klammerte er sich an die Leinen, da ja ganz offensichtlich ihr Leben davon abhing. Sein Körper verdrehte sich bei jeder Bewegung, es waren nur zehn Finger, die ihn vor einem Todessturz in die Tiefe bewahrten. Cassiopeia erkannte die Gefahr, schlang ihre Arme um seine Taille und hielt fest.

Er wusste die Geste zu schätzen.

Und bearbeitete weiter die Leinen.

Sie verpassten die Bäume.

»Wenn wir aufkommen, federe mit den Knien ab«, sagte er. »Versuch nicht, den Aufprall abzufangen. Lass ihn einfach geschehen.«

Der Boden kam verdammt schnell näher.

»Lass mich los«, schrie er.

Sie tat es.

Und sie gingen zu Boden.

Cassiopeia wurde vom Fallschirm mitgeschleift. Cotton fiel ein Stück von ihr entfernt; er landete auf der rechten Seite und rollte über den steinigen Boden ab, bis er liegen blieb.

Dann atmete er erst einmal aus, beruhigte die aufgeputschten Nerven.

Er schien sich nichts gebrochen zu haben.

Erstaunlich, dass sein rund fünfzig Jahre alter Körper noch einen derartigen Stoß vertrug.

Cassiopeia lag auf dem Boden. Der Fallschirm breitete sich über sie aus.

In der Ferne hörte er eine Explosion.

War wohl der Airvan, der aufschlug.

3

Cassiopeia atmete schwer und versuchte, nicht zu hyperventilieren. Sie hatte schon viele gefährliche Situationen mit Feuer, Wasser, Sprengstoffen, Schusswaffen und Messern durchgestanden. Aber nichts – absolut nichts – ließ sich mit dem vergleichen, was gerade geschehen war. Sie hatte schon immer unter Höhenangst gelitten, doch bisher war es ihr gelungen, sie im Griff zu behalten und zu kontrollieren. Aber sie war natürlich noch nie damit konfrontiert gewesen, im freien Fall Tausende von Metern durch die Luft zu stürzen, während sich jemand an ihr festklammerte, mit dem sie sich einen Fallschirm teilen musste.

»Alles klar?«, fragte Cotton, der sofort zu ihr gelaufen war, zum wiederholten Mal.

»Nein. Für mich ist absolut nichts klar.« Ihre Stimme wurde lauter. »Ich bin gerade aus einem verdammten Flugzeug gesprungen. Findest du das etwa normal?« Ihr Atem wollte sich nicht beruhigen. »Das ging weit über alles hinaus, was ich jemals erleben wollte.« Sie konnte kaum fassen, was gerade geschehen war, und ihre Stimme überschlug sich. »Ich bin aus einem Flugzeug gesprungen. Nein. Ich wurde aus einem Flugzeug herausgezogen.«

Er kniete sich vor ihr hin. »Wenigstens habe ich dich geküsst.«

»Wirklich? Macht es das vielleicht besser?«

Er nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. »Ich verstehe dich.«

Drei Worte. Die alles sagten.

Sie starrte in seine grünen Augen.

Und erinnerte sich, was unter der Erde von Washington, D. C. geschehen war. Damals waren die Rollen vertauscht gewesen und er in Panik, weil er mit seiner größten Angst konfrontiert worden war. Was hatte sie damals zu ihm gesagt? Nur wir beide sind jetzt hier, und ich halte dich fest. Genau das, was er ihr gerade gesagt hatte.

Er hatte recht.

Er verstand es.

Sie kämpfte ihre Panik nieder und berührte seine Hand. »Ich weiß, dass du das tust.«

»Da war keine Zeit für Diskussionen. Wir mussten aussteigen, bevor es einen Strömungsabriss gab. Wenn das Flugzeug ins Trudeln geraten wäre, hätten wir nicht mehr springen können.« Er blickte in den Morgenhimmel und dann zu den Feldern und dem angrenzenden Wald. »Ich hoffe nur, wir sind über die Grenze.«

Das hoffte sie auch.

Er half ihr beim Aufstehen und löste die Schnallen. Der leere Rucksack fiel zu Boden; der weiße Schirm lag zusammengesunken ein paar Meter weiter weg.

Sie umarmte ihn und atmete seinen Duft ein.

Er hielt sie fest umschlungen.

Sie hatte eine ganze Reihe von Männern gekannt, manche darunter auch näher, aber keiner reichte an Harold Earl »Cotton« Malone heran. Er war groß und hatte eine breite Brust. Sein kurz und akkurat geschnittenes, welliges Haar schien immer den Farbton alten Steins zu haben. Er war ein aufrechter Mensch mit klaren Vorlieben und noch stärkeren Überzeugungen. Aber seine Lippen umspielte stets ein ironischer Ausdruck, der seine luzide Seite durchblicken ließ, von der sie wusste, dass sie aufregend war. Er kam aus soliden Verhältnissen. Seine Mutter stammte aus dem Süden der Vereinigten Staaten und war in Georgia zur Welt gekommen. Sein Vater hatte bei den Streitkräften Karriere gemacht. Er war ein Absolvent der Annapolis-Militärakademie und bis in den Rang eines Kommandanten aufgestiegen, bevor er auf See verschollen ging, als sein U-Boot sank. Cotton war in die Fußstapfen seines Vaters getreten und hatte die Militärakademie der Marine besucht, war danach zum Flugzeugführer und schließlich zum Kampfpiloten ausgebildet worden.

Er hatte aber nie einen Abschluss gemacht.

Auf halber Strecke ließ er sich plötzlich zur Militärgerichtsbarkeit versetzen. Er wurde zum Studium an der juristischen Fakultät der Georgetown University zugelassen und machte dort einen Abschluss. Danach hatte er als Marineanwalt gedient.

Dann der nächste Wechsel.

Zum Justizministerium der Vereinigten Staaten und einer Spezialeinheit, die als Magellan Billet bekannt war und von einer Frau geleitet wurde, vor der er größten Respekt hatte: Stephanie Nelle. Er war dort für ein Dutzend Jahre bis zu seiner vorzeitigen Pensionierung, der Scheidung von seiner Frau und seinem Umzug nach Dänemark geblieben, wo er ein Antiquariat erworben hatte.

Was für ein Wechsel!

Aber dieser Mann wusste, was er wollte.

Und wie er es bekam.

Als sie sich vor ein paar Jahren in Frankreich kennengelernt hatten, waren sie anfangs nicht sonderlich voneinander beeindruckt gewesen. Aber jetzt liebten sie sich. Waren ein Paar. Es hatte Höhen und Tiefen gegeben, aber sie hatten die Krisen überwunden.

Sie vertraute niemandem so sehr wie ihm, was die letzten Minuten bestätigten.

Sie ließen sich wieder los.

»Der Flugzeugabsturz wird eine Menge Aufmerksamkeit erregen«, sagte er. »Ich würde vorschlagen, wir beeilen uns, von hier wegzukommen.«

Sie stimmte ihm zu. »Und du solltest telefonieren.«

Cotton griff in seine Tasche und zückte sein Handy. Magellan-Billet-Modell. Eigens aufgerüstet für verschlüsselte Kommunikation und mit verbesserter GPS-Ortung. Stephanie Nelle hatte ihm erlaubt, es zu behalten, obwohl er nicht mehr im aktiven Dienst war. Wahrscheinlich, um ihn leichter ausfindig machen zu können, wenn sie ihn um eine Gefälligkeit bitten wollte.

Was ziemlich oft geschah.

Aber jetzt vielleicht nicht mehr.

Nach allem, was letzte Woche in Polen geschehen war, konnte er sich nicht vorstellen, in absehbarer Zeit wieder von den Amerikanern angerufen zu werden. Er und der amtierende US-Präsident Warner Fox kamen nicht gut miteinander aus. Es war besser, wenn sie sich nicht begegneten. Was auch nicht zu befürchten war, nachdem ihn Fox zur Persona non grata erklärt hatte. Aus Washington brauchte er keine Aufträge mehr zu erwarten.

Aber wie sang einst Doris Day? Que sera, sera.

Genau. Dumm gelaufen.

Doch mit etwas Glück würden ihn von Zeit zu Zeit auch weiterhin ausländische Nachrichtendienste buchen, deshalb war nicht alles verloren.

Er versuchte es mit dem Handy, bekam aber keine Verbindung. Deshalb hob er die Fallschirmgurte vom Boden auf und machte sich daran, den Schirm einzupacken, damit er ihn im Gebüsch verschwinden lassen konnte. In der Nähe gab es bestimmt eine Schnellstraße oder irgendeine andere Straße. Ein Bauernhaus. Ein Dorf. Irgendwas. Sobald sie dort erst angekommen waren, würde sein Handy wieder eine Verbindung aufbauen. Sonst fände er bei jemand anderem bestimmt ein funktionierendes Telefon. Und wenn es sich schon nicht vermeiden ließ, im Wald zu stranden, war er wenigstens mit dem einen Menschen zusammen, mit dem er am liebsten zusammen war. Die Ehe mit seiner ersten Frau hatte viele Jahre gehalten. Sie hatten gemeinsam viel Freude und Leid erlebt. Es gab sogar ein Kind. Seinen Sohn Gary. Nach ihrer Scheidung glaubte er ernstlich nicht mehr daran, jemals wieder die Liebe zu finden. Und dann war Cassiopeia erschienen. Buchstäblich. Mitten in der Nacht.

Sie hatte auf ihn geschossen.

Er lächelte. Was für ein dramatischer Auftakt!

Eines hatte zum anderen und immer weiter geführt, und jetzt waren sie ein Team.

Auf vielen Gebieten.

Sie packten den Fallschirm zusammen und machten sich auf den Weg zu den Bäumen. In der Ferne hörte er ein leises, tiefes Klopfen in der Morgenstille.

Er kannte das Geräusch.

Hubschrauberrotoren.

Vermutlich aus westlicher Richtung.

»Es wird lauter«, sagte Cassiopeia.

»Er fliegt auf uns zu.«

Sie liefen weiter, versteckten sich zwischen den Bäumen und verstauten den Fallschirm im Unterholz. Das stetige Klopfen der Rotoren hallte, bis schließlich ein NH90 dröhnend über die Baumwipfel flog. Er war mit einer NATO-Kennung versehen.

Jetzt konnten sie sicher sein.

Sie hatten es nach Polen geschafft.

Das schwere, rhythmische Schlagen kroch im Tiefflug über die Baumwipfel, und schließlich landete der Hubschrauber mitten auf der Lichtung. Die Seitenluke wurde aufgezogen, und ein Mann kletterte heraus; er war lässig in Jeans und eine dunkelblaue Jacke gekleidet und trug Stiefel. Er war groß, breitschultrig und hatte einen dichten weißen Haarschopf. Quer über die Lichtung kam er auf sie zumarschiert und hielt sich dabei so aufrecht wie ein Mann, der das Sagen hatte.

So ein Mann war er einmal gewesen.

»Danny Daniels«, murmelte Cassiopeia.

4

Cotton kam mit Cassiopeia zwischen den Bäumen hervor. Es war schön, Danny wiederzusehen, der schon immer für seine glanzvollen Auftritte berühmt gewesen war. Jetzt fehlten nur noch die Klänge von »Hail to the Chief«. Der großgewachsene Mann lief auf sie zu und schloss Cassiopeia in die Arme. Sie erwiderte die Umarmung. Die beiden standen sich von jeher besonders nahe. Da war nichts Romantisches, es war mehr wie eine Vater-Tochter-Beziehung. Sie bewunderte ihn, und es schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Danny. »Euer Morgen war bisher ja wohl ganz schön durchwachsen.«

»Wie haben Sie uns gefunden?«, fragte Cotton.

»Nun, ich habe Ihr Handy geortet. Ich hatte auf unserer Basis in Grafenwöhr gewartet.«

Er wusste von der militärischen Einrichtung in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze. Es war das größte multinationale Übungsgelände in Europa.

»Über euch wurde schon den ganzen Morgen geredet«, sagte Danny. »Horchposten der NATO haben mitbekommen, dass ihr ein Flugzeug gestohlen habt und damit ohne Starterlaubnis abgeflogen seid. Der Funkverkehr wurde überwacht. Die Belarussen lagen auf der Lauer, um euch abzuschießen.«

»Sie hätten uns warnen können«, sagte Cotton.

»Sie wissen doch, wie das läuft. Wir dürfen die nicht wissen lassen, dass wir wissen, was sie tun. Hatte das alles mit dem Gefallen zu tun, um den ich Sie gebeten hatte?«

Cotton nickte. »Auf jeden … Fall.«

Danny lachte. »Offenbar steckt viel mehr dahinter, als es den Anschein hat. Zum Glück haben mir die guten Leute von der Basis einen Flug spendiert, um nachsehen zu können, was aus Ihnen geworden ist.«

»Wir wissen Ihre Aufmerksamkeit zu schätzen.«

Danny blickte sich um. »Wo ist der andere Fallschirm?«

»Es gab keinen«, sagte Cassiopeia. »Wir teilen alles – außer Zahnbürsten und Waffeleis.«

Danny schüttelte den Kopf. »Und wie war das?«

»Furchtbar«, sagte sie. »Aber unter den gegebenen Umständen unvermeidlich.«

Der ältere Mann lächelte. »So positiv kann man es natürlich auch ausdrücken.«

»Hatten Sie schon einmal das Vergnügen?«, fragte sie.

»Einmal. Vor langer Zeit. Bei der Army. Ich habe auf der Stelle beschlossen, nie wieder aus einem Flugzeug zu springen.«

»Ganz Ihrer Meinung.«

Cotton gewährte seinem alten Freund das Vergnügen, zunächst nur Small Talk zu machen. Er spürte, dass das Problem von vor zwei Tagen weiterhin gravierend war.

»Haben Sie wenigstens irgendwas über Hanna Cress herausgefunden?«, fragte Danny.

»Nur ein paar Kleinigkeiten. Wir hätten ein, zwei Tage mehr gebraucht. Ich habe versucht, keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen, was offensichtlich misslungen ist.«

Danny schüttelte den Kopf. »Was für ein Mist. Vor drei Tagen musste ich mit ansehen, wie Cress gestorben ist. Sie wurde im Verhörraum der Polizei mittels einer Zigarette vergiftet, die mit Blausäure versetzt war. Wir wissen jetzt, dass sie die Zigaretten vom diensthabenden Polizisten bekommen hat. Er sagte aus, dass er die Zigaretten von einem angeblich aus Berlin angereisten Inspektor erhielt, als die Frau rauchen wollte. Aber anscheinend weiß niemand etwas über diesen Inspektor. Wer er war, woher er kam, wohin er verschwand? Nichts. Er sah wie ein Beamter aus und benahm sich wie einer. Jetzt ist er abgetaucht.«

»Keine Kameras?«, fragte Cotton.

»Jede Menge. Aber keine einzige Aufnahme vom Gesicht des Kerls.«

»Was auf einen Profi schließen lässt.«

Danny nickte. »Genau.«

Der Helikopter wartete hinten auf der Lichtung, die Rotoren drehten sich langsam, wirbelten aber trotzdem das hohe Gestrüpp auf.

»Ach übrigens«, sagte Danny, »Präsident Czajkowski lässt Sie aus Warschau grüßen. Er war mir einen Gefallen schuldig, deshalb rief ich ihn an, um eine Sondergenehmigung für unser Eindringen in den polnischen Luftraum zu erbitten. Nachdem er erfuhr, dass Sie damit zu tun haben, ließ er mir seltsamerweise freie Hand für alles, was ich wollte, ohne weitere Fragen zu stellen. Haben Sie dafür eine Erklärung?«

Cotton lächelte. »Sie sind nicht der Einzige, dem man was schuldig ist.«

»Darüber müssen Sie mir mehr erzählen. Aber momentan läuft mir die Zeit davon, und ich brauche weiterhin Ihre Hilfe.«

Danny Daniels war einer der intelligentesten Menschen, die Cotton im Leben kennengelernt hatte. Er war zweimal mit überwältigender Mehrheit zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden. Sie konnten auf eine lange Geschichte zurückblicken, die durch Dannys enge Verbindung mit dem Magellan Billet und Stephanie Nelle noch verstärkt wurde. Damals waren es rein geschäftliche Kontakte gewesen. Aber jetzt gehörten Danny und Stephanie zusammen; Danny hatte sich von seiner Frau getrennt und machte kein Geheimnis aus seiner Beziehung mit Stephanie.

Das Magellan Billet war Stephanies alleinige Schöpfung gewesen. Eine Spezialeinheit des Justizministeriums, bestehend aus zwölf Agenten zumeist mit militärischem oder juristischem Hintergrund, die unter ihrer direkten Führung an einigen der heikelsten Fälle des Justizministeriums gearbeitet hatten. Das Magellan Billet war bei akuten Problemen für Daniels stets die erste Adresse gewesen. Unter dem neuen Präsidenten Warner Fox verhielt es sich anders. Die Tage des Billets waren vermutlich gezählt.

»Wie geht es Stephanie?«, fragte er Daniels.

»Ist weiterhin vom Dienst suspendiert, aber noch nicht entlassen. Hat mir überaus deutlich klargemacht, dass ich mich aus ihrem Kampf mit dem Weißen Haus heraushalten soll. Sie will keine Hilfe von mir. Nichts. Nada. Das war weiß Gott schwer. Aber ich halte mich daran.«

Letzte Woche hatte Cotton sich beim Präsidenten Polens einen Vertrauensvorschuss erworben, während Stephanie sich den Zorn des US-Präsidenten zugezogen hatte, der nicht davon abzubringen war, sie feuern zu wollen.

»Fox lässt sie zappeln«, sagte Danny. »Das ist sein Stil. Man muss ihr hoch anrechnen, dass sie gut damit klarkommt. Glücklicherweise ist sie im öffentlichen Dienst, deshalb bekommt sie eine Anhörung. Die wird hinter verschlossenen Türen stattfinden und unterliegt der Verschwiegenheit, aber es ist trotzdem eine Anhörung. Das braucht seine Zeit. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zuzusehen.«

»Und doch sind Sie hier in einem Wald im Osten Polens«, sagte Cassiopeia. »Mit einem NATO-Hubschrauber zu Ihrer Verfügung.«

Daniels lachte. »Bin ich nicht vom Glück verwöhnt?«

»Wir sind in diese Sache hineingestolpert«, sagte Cotton, »weil wir dachten, es wäre nur ein Kurztrip mit dem Ziel, ein paar Informationen einzuholen. Offensichtlich steckt mehr dahinter. Vielleicht sollten Sie uns ins Bild setzen.«

»In Deutschland steht eine Wahl bevor. Wussten Sie das?«

Beide schüttelten die Köpfe.

»Demnächst werden deutschlandweit die Abgeordneten des Bundestages gewählt. Danach wird der neu gewählte Bundestag zusammentreten und einen neuen Bundeskanzler oder eine neue Bundeskanzlerin bestimmen. Der Kandidat muss die Mehrheit aller gewählten Bundestagsabgeordneten für sich gewinnen. Nicht nur die aus seiner beziehungsweise ihrer eigenen Partei. Wahlberechtigt sind alle Abgeordneten. Die Deutschen haben ein Wort dafür: Kanzlermehrheit.«

»Das klingt, als wäre es nicht leicht, sie zu bekommen«, sagte Cotton.

»So ist es. Bedenken Sie nur, wie viele Parteien es in Deutschland gibt. Bei der letzten Zählung waren es um die 40. Noch schwieriger wird es durch die Abstimmung in geheimer Wahl, schließlich weiß keiner, wie die anderen wählen. Dadurch kommt es immer wieder zu neuen Allianzen.«

Anders als im US-Kongress, wo der Sprecher des Repräsentantenhauses in öffentlicher Wahl bestimmt wird und jeder Abgeordnete namentlich abstimmen muss.

»Und jetzt kommt der Haken«, sagte Daniels. »In Deutschland schlägt der Bundespräsident einen Kanzlerkandidaten vor. Normalerweise ist das die Person, die den Vorsitz über die Partei hat, die bei der Wahl die meisten Sitze erringen konnte. Falls diese Person aber keine Kanzlermehrheit zusammenbekommt, wählt der Bundestag einen eigenen Kandidaten. Falls das nicht gelingt, wird die Sache ziemlich unübersichtlich. Glücklicherweise haben seit 1949 alle Bundeskanzler schon beim ersten Wahlgang eine Mehrheit erzielt, weshalb dieser Fall noch nie eingetreten ist.«

»Bis jetzt?«, fragte Cotton.

Danny nickte. »Es zeichnet sich ein Chaos ab. Da ist ein wahrer Zirkus im Anmarsch. Ein virtueller Zirkus mit drei Manegen, und es gibt ziemlich viele Möglichkeiten, wie die Sache schiefgehen könnte. In sechs Monaten wird es noch schlimmer. Dann finden die Wahlen zum Europaparlament statt. Alle fünf Jahre bestimmen die Mitgliedsländer der EU ihre jeweiligen Repräsentanten. Und dort zeichnen sich ebenfalls große Probleme ab. Was jetzt in Deutschland seinen Anfang nimmt, könnte danach auch der Europäischen Union bevorstehen.«

Allmählich begriff Cotton die Tragweite der Situation.

»Der deutsche Bundeskanzler verfügt über eine enorme Macht«, sagte Danny. »Er oder sie bestimmt alle Minister des Regierungskabinetts. Die gesamte deutsche Regierungsmannschaft wird von dem jeweiligen Bundeskanzler aufgestellt. Die gegenwärtige Bundeskanzlerin ist Marie Eisenhuth. Sie ist eine Freundin der Vereinigten Staaten und außerdem eine anständige Person, die ihr Bestes für ihr Land gibt. Aber es gibt einen zweiten Kandidaten, der ihr den Posten streitig machen will.«

»Und er ist das Problem?«, fragte Cassiopeia.

»Absolut.«

»Wie heißt er?«

»Theodor Pohl.«

5

Köln, Deutschland

11.00 Uhr

Theodor Pohl merkte, dass es ein Problem gab. Nicht mit der Kundgebung, die verlief reibungslos. Die Menge schien begeistert zu sein, es war genau die richtige Mischung von Jubel und Applaus. Perfekt für die Kameras, die ihn ständig verfolgten und momentan auf das Podium gerichtet waren, auf dem er stand.

Seine Botschaft war bei jedem Stopp die gleiche.

Deutschland den Deutschen.

Die liberale Einwanderungs- und Einbürgerungspolitik, die der Nation nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten aufgezwungen wurde, musste enden. Keine globale Wiedergutmachung mehr für Ereignisse, die vor fast einem Jahrhundert geschehen waren. Ein von Deutschen regiertes Deutschland sollte nicht mehr Ausländern dienstbar sein. Er hatte seine Kernaussage sorgfältig formuliert: Das neue, vereinte Vaterland ist aus Zwietracht entstanden, mächtig jedoch wird es durch seine Leistungsfähigkeit.

Nicht im militaristischen Sinne, das verstand sich von selbst.

Er achtete stets darauf, seine Rhetorik zu zügeln. Er sagte lediglich aus, dass eine starke Wirtschaft eine starke Nation hervorbrachte. Aber nicht mit dem Euro. Jener war der Nation ebenfalls wegen ihrer eingefahrenen Bereitschaft aufgezwungen worden, den anderen allzu sehr entgegenzukommen. Die Mark war die Währung Deutschlands. Sie war es immer gewesen und würde es immer sein. Das passte zu dem Haupt-Wahlkampfslogan, den seine teuren Berater entwickelt hatten.

Zurück in die Zukunft.

Die Worte waren letztlich nicht ganz neu, schienen aber Anklang zu finden; sie zogen mehr und mehr Menschen zu seinen Kundgebungen. Gerade heute war die Menge sehr inspirierend. Ganz besonders gefiel ihm eins der Banner, das regelmäßig bei seinen Versammlungen zu sehen war.

WIR SIND DAS VOLK.

Er stand im Schatten der gotischen Zwillingstürme des Kölner Doms, dessen hoch aufragende Fassade mit einer überwältigenden Vielzahl filigraner Steinmetzarbeiten überzogen war. Der Dom befand sich, umgeben von Geschäften, gleich beim Hauptbahnhof, und nur die vorbeiströmenden Menschenmassen und das Verkehrsrauschen störten seine Erhabenheit. Mindestens 20.000 Menschen füllten den Platz um die alte Kirche. Puristen nannten den Ort das Herz und die Seele Kölns. Er konnte ihnen nicht widersprechen.

»Hinter mir«, rief er ins Mikrofon, »können Sie an diesem Bauwerk sehen, was der Mensch mit dem Einsatz von Körper und Geist erschaffen kann. Welch ein erhabenes Bauwerk! Seine Größe ist ein Ausdruck reiner Willenskraft.« Er zögerte einen Moment, um eine größere Wirkung zu erzielen. »Das hier ist die Seele Kölns.«

Die Menge jubelte ihre Zustimmung mit dem Enthusiasmus, an den er sich allmählich schon gewöhnt hatte.

Aber da war trotzdem ein Problem.

Er spürte es an dem Blick eines Mannes, der allein und abseits stand, beim Eingang zu einem der Läden, die den Domplatz umgaben. Der Blick war ihm aufgefallen, sobald er das Podium bestiegen hatte, weil er wusste, dass Josef Engle nicht zu den Leuten gehörte, die dazu neigten, sich unnötig Sorgen zu machen. Aber etwas sagte ihm, dass sein Parteigenosse besorgt war. Vielleicht lag es an der Art, wie er dastand, vielleicht an dem Umstand, dass er der Kundgebung besonders wenig Beachtung schenkte.

Schwer zu sagen.

Aber da musste etwas sein.

Jetzt war allerdings nicht der geeignete Moment, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, und er richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Leute, die sich die Zeit genommen hatten, herzukommen und sich anzuhören, was er zu sagen hatte.

»Ich will deutscher Bundeskanzler werden, und meine Partei ringt um die Mehrheit im Bundestag, weil wir eine Vision für Deutschland haben, die Sie mit mir teilen. Davon bin ich überzeugt. Keiner von uns braucht sich mehr für die Dummheiten einer anderen Generation zu schämen. Wir haben die Sünden des letzten Reiches abgebüßt. Jene Männer sind längst Geschichte, sie sind gestorben und in ihren Gräbern zu Staub zerfallen. Ein viertes Reich wird es nicht geben. Solche Vorstellungen sind Hirngespinste.« Er machte eine kurze Pause, um die Spannung zu erhöhen. »Seit einem Dreivierteljahrhundert ist diese Nation gezwungen, jeden aufzunehmen, den die Staaten dieser Welt loswerden wollen. Mit dieser Demütigung muss Schluss sein.«

Er wusste, dass er mit dieser Aussage einen Nerv treffen würde. Allein im Großraum Köln lebten 100.000 türkische Einwanderer, und ihrer Anwesenheit wurde durchaus nicht überall mit Wohlwollen begegnet. Sein persönlicher, geradezu radikaler Standpunkt dazu war schlicht und einfach: Multikulti bedroht die deutsche Identität. Er schrie die Worte, die er im ganzen Land verbreitete.

»Ausländer raus.«

Die Zuhörer brüllten vor Begeisterung.

Sein Auge fiel wieder auf Engle, der immer noch in der Nähe des Ladeneingangs stand. Sein Gefolgsmann kam aus dem alten Ostdeutschland und hatte viel von der Kaltschnäuzigkeit, die unter den ehemaligen Kommunisten sehr verbreitet gewesen war. Sein Nachname leitete sich von dem Wort »Engel« ab, aber ein Engel war der Mann ganz und gar nicht. Engle hatte sich außerdem über die sozialen Einschränkungen hinweggesetzt, die die Wiedervereinigung den ehemaligen Bürgern Ostdeutschlands im Stillen auferlegt hatte. Er hatte den Elan eines Mittfünfzigers und akzentuierte es mit Dauerbräune und einem Knebelbart, der mit silbergrauen Haaren durchsetzt war. So gab er das Bild eines harmlosen, jovialen Gutsbesitzers ab.

Pohl konzentrierte sich wieder auf die Menschenmenge.

»Außerdem zerstört der amerikanische Einfluss unser reiches deutsches Erbe. Wir haben amerikanisches Essen, Fernsehen, Filme, Bücher und so weiter und so fort. Unsere Jugend schwelgt in diesen ausländischen Einflüssen und erinnert sich nicht an die Zeiten, als man deutsche Werte ernst nahm. Sie weiß nur, dass es einen Krieg gegeben hat, dass schreckliche Dinge geschehen sind und dass wir für alle diese Fehler zur Kasse gebeten werden.«

Die Leute applaudierten wieder.

»Aber damit keine Irrtümer aufkommen: Ich propagiere hier nichts, was etwas mit dem ehemaligen Tausendjährigen Reich zu tun hat. Ich verabscheue jede einzelne seiner politischen Ideen. Was in jener Zeit geschehen ist, war böse. Ich bin gegen jede Form von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele. Weder jetzt noch in der Zukunft. Ich verlange nur, dass Deutschland zugestanden wird, in einer Form fortzubestehen, die von der Mehrheit der Deutschen gewollt ist.«

Sein Blick wanderte über die Gesichter; er beobachtete die Erwartung, die seine Worte zu erzeugen schienen. Es war an der Zeit, zum Ende zu kommen. Er machte eine Geste, die das ganze Publikum einschloss, und zeigte zuletzt auf sich. »Zurück in die Zukunft, meine Freunde. Das ist mein Ziel. Und ich bitte Sie, es auch zu Ihrem zu machen.«

Erneut brandete Applaus auf.

Die Fernsehkameras dokumentierten alles. Er hob die Arme, um sich bejubeln zu lassen. Er suchte mit den Blicken nach Engle, bis er ihn entdeckte. Dann starrte er ihn unverwandt an, um ihm mit seinem Blick mitzuteilen, dass sie reden mussten. Sein Gehilfe ging zur Limousine, die am Rand des Platzes parkte.

Er verließ das Podium, steuerte auf denselben Wagen zu und stieg ein.

Engle lächelte. »Hanna Cress ist tot.«

Niemand hatte die Frau einkalkuliert, die plötzlich in Erscheinung getreten war. Das hatte nicht zum Plan gehört. Deshalb war entschlossenes Handeln erforderlich gewesen.

»Haben Sie sich darum gekümmert?«

Engle nickte.

»Und wo ist das Problem?«

»Die Amerikaner sind jetzt involviert.«

Das war beunruhigend. »Weiter?«

Engle berichtete ihm, dass der Ex-Präsident und jetzige US-Senator Danny Daniels in Partenkirchen aufgetaucht war, dort Hanna Cress vernommen hatte und Zeuge ihres Todes geworden war.

Für diese Komplikation konnte es nur einen einzigen Grund geben.

Marie Eisenhuth.

6

Südliches Mitteldeutschland

13.00 Uhr

Bundeskanzlerin Marie Eisenhuth starrte aus dem Helikopterfenster. Sie hatte darum gebeten, vor der Landung die Gegend zu überfliegen, die sich etwa 65 Kilometer nördlich von Bayreuth befand, um die Abscheulichkeit mit eigenen Augen sehen zu können.

Unter ihr erhoben sich die gedrungenen Gipfel der Harzer Berge. Das deutsche Mittelgebirge war dicht mit Blautannen bewachsen und von Tälern durchzogen, in denen sich Dörfer an tiefe Seen und gemächlich dahinfließende Flüsse schmiegten. Sie kannte die Werbesprüche. Das Land der Feen, ein Königreich der Magie, wo Kinder von Hexen in Prinzen und Prinzessinnen verzaubert werden konnten, ein Ort, der von Mythen bestimmt wurde. Ihr klang noch in den Ohren, was ihr Vater von dem Brunnen in Goslar erzählt hatte. Wenn man um Mitternacht dreimal an das unterste Becken klopfe, erscheine der Teufel.

Sie lächelte immer, wenn sie an ihren Vater dachte. Sein Tod, der fast 50 Jahre zurücklag, schmerzte immer noch.

Der Hubschrauber flog eine Rechtskurve.

Die Stelle lag direkt vor ihnen.

In einem Fichtenwald an den Hängen eines der älteren Berge war im letzten Herbst etwas Merkwürdiges beobachtet worden. Vor langer Zeit waren etwa 50 Lärchen bewusst so gepflanzt worden, dass die Schösslinge ein riesiges Hakenkreuz bildeten. Im Herbst färbten sich die Lärchen leuchtend gelb und orange und bildeten einen deutlichen Kontrast zu den immergrünen Fichten, sodass das grässliche Symbol in der Landschaft prangte. Ein Pilot hatte das Symbol entdeckt und den Behörden gemeldet, was allgemeines Erstaunen darüber auslöste, dass die Bäume nicht schon früher bemerkt worden waren. Die beste Erklärung dafür war, dass noch nie jemand hoch genug in der Luft gewesen war, um es sehen zu können, wenn alle gleichzeitig verfärbt waren. Schließlich wurde entschieden, die Bäume zu fällen, und Marie hatte einen guten Fototermin gewittert, als sie davon erfuhr. Deshalb hatte man für sie einen Wahlkampftermin arrangiert, der bundesweit in sämtlichen Medien Beachtung finden würde.

Sie starrte auf die Bäume hinunter, von denen die meisten bereits entfernt worden waren, aber die Umrisse des Hakenkreuzes waren in dem freien Platz auch weiterhin erkennbar. Es mussten auch einige der anderen Bäume gefällt werden, um das Zeichen dauerhaft auszulöschen. Seit dem Untergang des Nationalsozialismus war viel Zeit vergangen, aber manche Überbleibsel der Nazizeit blieben einfach hartnäckig haften. Das Schauspiel, das sich unter ihr zutrug, war aber noch harmlos, verglichen mit dem Rassenhass und der pauschalen Gewalt gegen Ausländer, die bedauerlicherweise wieder zunahmen.

Sie gab das Zeichen zur Landung, und der Hubschrauber setzte auf.

Sie stieg aus.

Ein Pulk von Referenten, der sich gleich an ihre Fersen heftete, blieb ihr erspart, denn sie war allein gekommen, um sich der Vergangenheit zu stellen. Sie wurde von einer Reporterschar umringt und erkannte in vielen der Gesichter häufige Gäste ihrer Pressekonferenzen.

»Wirklich ein merkwürdiger Ort«, sagte eine Korrespondentin aus Frankfurt.

»Eine vergessene Erinnerung an einen furchtbaren Irrweg.« Wenn es um die Vergangenheit ging, wählte sie ihre Worte stets mit Bedacht. »Aber wir dürfen nicht vergessen, dass Hitlers Aufstieg nicht durch eine überwältigende Mehrheit von Nationalsozialisten ermöglicht wurde, sondern vielmehr, weil es einfach zu wenige Demokraten gab.«

Ihr Standardthema.

Das Volk war für die Regierung verantwortlich.

Eine kluge Taktik, wenn man bedachte, dass ihr Gegner versuchte, sie in eine Moraldebatte über die Verantwortlichkeit der Nation zu verwickeln. Aber sie wäre nicht 16 Jahre lang Bundeskanzlerin geblieben, wenn sie auf solche Köder hereingefallen wäre.

Sie ging weiter, und die Pressevertreter folgten ihr.

Die umliegenden Wälder gehörten einer Reihe bundesweit operierender Konzerne. Ein Teil des Gebietes wurde als Nutzwald bewirtschaftet; überwiegend handelte es sich um Land, das vor langer Zeit für Pfennigbeträge erworben worden war. Das Hakenkreuz war offenbar von einem Trupp der Hitlerjugend gepflanzt worden, die früher Ferienlager im Harz unterhalten hatte. Eines der vielen Ferienlager, in denen junge Männer mittels einer hypnotischen Kombination von Sport, Musik und Kameradschaft mit dem Nationalsozialismus indoktriniert worden waren.

Dann ging es weiter in den Forst der immergrünen Fichten.

Vor ihr befand sich eine mächtige Lärche – der letzte der beanstandeten Bäume.

Es kam ihr fast schändlich vor, seine Schönheit zu zerstören. Aber wie der Nationalsozialismus, der die Herzen und den Verstand so vieler Deutscher befleckt hatte, waren die Bäume ein Schandfleck inmitten der Schönheit, die sie umgab.

Und das betraf keinen einzelnen Baum.

Sondern vielmehr das, was sie in ihrer Gesamtheit repräsentierten. Ihr kam wieder in den Sinn, was sie einmal gehört hatte: Ein Nazi bedeutete gar nichts, 40 waren lästig, 40.000 hätten fast Europa beherrscht.

Sie blickte auf den Waldboden. Dort war keine Spur von Unterholz nachgewachsen. Die Symbolik lag auf der Hand: Im Schatten Hitlers hatte auch nichts anderes wachsen können.

Sie sah in die Kameras. »Ich habe etwas zu sagen.«

Reporter drängten sich um sie.

»Mein Gegner propagiert Zurück in die Zukunft. Es stimmt, dass er die Vergangenheit mit ihrer dazugehörigen politischen Ideologie nicht aktiv vertritt. Er erinnert uns nur bei jeder Gelegenheit daran – das ist alles, was er tut. Es gefällt ihm, immer wieder den deutschen Nationalismus zu beschwören. Er behauptet, dass unsere Identität ausschließlich innerhalb unserer Grenzen verwurzelt sei. Dem widerspreche ich mit Entschiedenheit.«

Sie ging mit diesem Seitenhieb ein kalkuliertes Risiko ein, aber ihre politischen Berater hatten sie wiederholt darauf hingewiesen, dass Pohls Wahlkampf von der überalterten deutschen Bevölkerung abhängig war. Viele seiner Unterstützer waren 60 und älter. Pohl ging auf die 70 zu, und sie selbst war fast 75. Die Presse hatte ihren Wettstreit um die Regierungsmacht höflich als eine Schlacht der Erfahrungen übertitelt. Es war nur eine freundliche Art, zum Ausdruck zu bringen, dass sie alt waren. Interessanterweise erfuhr die Kanzlerin den größten Zuspruch jedoch von jungen Frauen und Universitätsabsolventen. Und es gab noch einen weiteren grundlegenden Unterschied zwischen ihnen beiden: Sie war katholisch, er war Protestant – und die Konfession war für deutsche Wähler nicht unerheblich.

»Wollen Sie damit sagen, dass Pohl zu weit rechts ist?«, fragte ein Reporter.

»Ich will damit sagen, dass er sich bei der Diagnose dieses Landes zu sicher ist. Er glaubt, Einwanderung sei die Wurzel unseres Problems und dass die Wiedervereinigung die Wirtschaft ruiniert habe.« Sie lächelte die Pressevertreter an. »Vielfalt ist gut. Für uns alle.«

Dann fiel ihr Blick auf die Waldarbeiter, die mit Kettensägen in den Händen Richtung Lärche gingen.

Sie richtete die Aufmerksamkeit wieder auf die Pressevertreter. »Wir haben Probleme. Das steht außer Frage. Unsere politischen Parteien verlieren an Kraft. Die Gewerkschaften schwächeln. Die Mitgliederzahl der Kirchen schrumpft. Wir sind die zweitgrößte Exportwirtschaft der Welt, haben aber die höchsten Arbeitskosten unter allen Industrienationen. Pessimismus ist zur Volkskrankheit geworden und lässt unseren Unternehmungsgeist verkümmern. Mein Gegner tut nichts dafür, um diese Probleme anzugehen und sie zu lindern. Stattdessen nutzt er sie, um damit den Volkszorn zu schüren und die Menschen zu verwirren.«

Sie sah, dass die Holzfäller vor dem Baum in Position gingen. Die Männer schauten in ihre Richtung und warteten offenbar darauf, dass sie zum Ende kam.

»Keine Experimente. Das ist mein Wahlkampfslogan. Zurück in die Zukunft ist nichts weiter als eine Blaupause für weitere Probleme. Meine Vision ist in die Zukunft gerichtet.«

Sie gab den Holzfällern ein Zeichen.

Die Kettensägen röhrten und fraßen sich in die Stämme.

Sie stellte sich vor, wie es hier vor 80 Jahren zugegangen sein mochte, als eifrige Jugendliche mit geradezu religiöser Inbrunst die Setzlinge eingruben, um damit einen Mann zu ehren, der für sie wie ein Gott war und ein Ideal verkörperte, das keiner von ihnen hinterfragte.

Kameras zeichneten auf, wie die Attacke auf den alten Baum begann.

Eine Säge rüttelte, als die Kette im Holz stecken blieb. Der Holzfäller riss sie heraus und setzte erneut an. Sie lächelte über den zähen Baum, dachte wieder an Theodor Pohls unterschwellige Hassbotschaften.

Und hoffte, dass die Deutschen ebenso widerstandsfähig sein würden.

7

Cotton saß mit Cassiopeia und Danny Daniels in der Passagierkabine des Hubschraubers. Sie flogen über Polen in Richtung Deutschland. Jeder von ihnen hatte sich mit einem Headset ausgerüstet. Ihre Headsets waren in einem geschlossenen System miteinander verbunden, sodass ihr Gespräch von niemand anderem mitgehört werden konnte.

»Theodor Pohl ist seit sechs Wahlperioden Mitglied des Bundestages«, sagte Danny. »Er kommt aus dem Bundesland Hessen. Dort gehört ihm ein großes Anwesen namens Löwenberg.«

Cotton übersetzte sich den deutschen Namen ins Englische. Der Berg des Löwen.

»Er ist angeblich ein strammer Antikommunist, aber das bezweifle ich. Man nahm ihn als Kanzlerkandidaten nicht ernst, bis seine Partei vor drei Jahren Zulauf bekam und schließlich fast ein Viertel aller Bundestagsabgeordneten stellte.«

»Und mit einem Mann, der im Bundestag so viele Stimmen hinter sich bringen kann, muss man rechnen«, fügte Cotton hinzu.

Danny nickte. »Seine Rhetorik ist die eines Demagogen, er sieht aus wie ein Prophet, und seine Worte finden Anklang. Er ist ein Populist, der schlicht und einfach die Angst vor dem Fremden bedient. Damit gewinnt er die Stimmen der Neuen Rechten und bleibt zugleich auf Abstand zu den extremistischen Kräften. Einwanderung ist in Deutschland ein sensibles Thema, und er stochert nur zu gern in dieser offenen Wunde herum. Dabei verkündet er keine Naziparolen oder Ähnliches. Er schlägt lediglich nationalistische Töne an.«

Das leuchtete ein.

Cotton wusste, dass politische Parteien, die Gewalt propagierten, nach deutschem Recht verboten waren. Keine Hitlergrüße, keine Hakenkreuze. Nichts, was auf das ehemalige Dritte Reich auch nur Bezug nahm. Das bedeutete allerdings nicht, dass diese Ideologie nicht doch unterschwellig mitschwang.

Ihm kam ein alter Spruch in den Sinn:

Ein geschickter Redner kann vieles sagen, ohne es auszusprechen.

»Die Neue Rechte hat überall in Europa Zulauf«, sagte Danny. »Sogar in Ihrer Wahlheimat.«

Cotton war mit der dänischen Politik vertraut. Die Regierung hatte Gesetze gegen die Einwanderung erlassen, die zu den härtesten in ganz Europa gehörten. Der dänische Sozialstaat, der die Bürger von der Wiege bis zur Bahre absichert, gehörte zu den besten, deshalb war es den Konservativen leichtgefallen, Isolationismus zu predigen. Es war inzwischen so gut wie unmöglich, Asyl zu erbitten, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen oder Sozialhilfe zu beantragen. Auch Cottons Aufenthaltsgenehmigung war befristet und konnte jederzeit widerrufen werden.

»Wie schon gesagt«, fuhr Danny fort, »nach den deutschen Bundestagswahlen folgen die Wahlen zum EU-Parlament. Diese Wahlen erstrecken sich über die gesamte Europäische Union. Es gibt die begründete Sorge, dass die Neue Rechte die Mehrheit im EU-Parlament erlangen könnte. Sie arbeitet jedenfalls seit mehreren Jahren auf dieses Ziel hin. Die haben begriffen, dass sie die EU nicht loswerden können, obwohl sie es am liebsten würden. Dafür ist alles zu eng miteinander verflochten. Ebenso wenig können sie individuell und Land für Land aussteigen. Großbritannien hat weiß Gott bewiesen, wie dumm dieser Schritt wäre. Deshalb haben sie beschlossen, die Dinge von innen heraus grundlegend zu ändern. Um das zu erreichen, benötigen sie aber Stimmen im EU-Parlament. Und sie arbeiten daran, sich diese zu verschaffen.«