Plan Zero - Steve Berry - E-Book

Plan Zero E-Book

Steve Berry

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Beschreibung

Was passiert, wenn der zukünftige Präsident und sein Stellvertreter sterben, bevor sie den Amtseid ablegen können?

Nachdem sein Flugzeug über Sibirien abgeschossen wurde, wird Cotton Malone von Aleksandr Zorin, einem immer noch überzeugten Soviet, gefangen genommen. Malone erfährt, dass Zorin plant, den zukünftigen US-Präsidenten und seinen Stellvertreter bei der Vereidigung zu ermorden und so die USA ins Chaos zu stürzen. Seine Waffe ist mächtig, ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg und von vielen bisher für einen Mythos gehalten. Malone muss ihn aufhalten – sein Wettlauf gegen die Zeit führt ihn von den eisigen Weiten Sibiriens direkt ins Weiße Haus.

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Seitenzahl: 713

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Buch

Im eisigen Sibirien trifft Ex-Geheimagent Cotton Malone auf Aleksandr Zorin, einem Mann, der auch Jahre später der ehemaligen Sowjetunion die Treue hält und die USA abgrundtief hasst. Malone kann ihm entkommen – vorher findet er jedoch heraus, dass ein weiterer ehemaliger KGB-Agent in Washington, D.C. auf Zorin wartet. Gemeinsam wollen sie am Tag der Amtseinführung des neuen US-Präsidenten einen Anschlag verüben, der die Vereinigten Staaten und die ganze westliche Welt ins Chaos stürzen könnte. Malone muss eingreifen, doch Zorin und sein Gehilfe sind im Besitz einer Waffe aus dem Kalten Krieg, gegen die es kaum Gegenwehr gibt. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Autor

Steve Berry war viele Jahre als erfolgreicher Anwalt tätig, bevor er seine Leidenschaft für das Schreiben entdeckte. Mit jedem seiner hochspannenden Thriller stürmt er in den USA die Spitzenplätze der Bestsellerlisten und begeistert Leser in über fünfzig Ländern. Steve Berry lebt mit seiner Frau in St. Augustine, Florida.

Von Steve Berry bereits erschienen:

Die Napoleon-Verschwörung, Das verbotene Reich, Die Washington-Akte, Die Kolumbus-Verschwörung, Das Königskomplott, Der Lincoln-Pakt, Antarctica, Geheimakte 16, Plan Zero

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Steve Berry

PLAN ZERO

Thriller

Aus dem Amerikanischen

von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»The 14th Colony« bei Minotaur Books, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Steve Berry

Published by Arrangement with MAGELLAN BILLET INC.

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Blanvalet Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Werner Bauer

Covergestaltung: © Johannes Frick unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (© Orhan Cam, © Durch STILLFX, © patrice6000, © caesart, © Olga Nikonova, © Matt Gibson)

JB · Herstellung: sam

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22821-7V001

www.blanvalet.de

Für die Ducks:

Larry und Sue Begyn, Brad und Kathleen Charon, Glenn und Kris Cox, John und Esther Garver, Peter Hedlund und Leah Barna, Jamie und Colleen Kelly, Marianna McLoughlin, Terry und Lea Morse, Joe Perko, Diane und Alex Sherwood, Fritz und Debi Strobl sowie Warren und Taisley Weston.

Die Amtsperioden des Präsidenten und des Vizepräsidenten enden am Mittag des 20. Tages des Monats Januar.

– US-Verfassung, 20. Zusatzartikel

Prolog

Vatikanstadt

Montag, 7. Juni 1982

Ronald Reagan wusste, dass ihn die Hand Gottes hergeführt hatte. Welche Erklärung sollte es sonst dafür geben? Noch zwei Jahre zuvor hatte er in erbitterten Vorwahlen gegen zehn Mitbewerber zum dritten Mal um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Republikaner gekämpft. Er gewann diese Schlacht und die Wahl, besiegte den amtierenden Demokraten Jimmy Carter und gewann in vierundvierzig Bundesstaaten. Vor vierzehn Monaten versuchte ein Attentäter, ihn umzubringen, doch er wurde der erste amerikanische Präsident, der ein Attentat mit einer Schusswaffe überlebte. Und jetzt war er hier, in der dritten Etage des Apostolischen Palasts, auf dem Weg zum privaten Arbeitszimmer des Papstes, wo das Oberhaupt von nahezu einer Milliarde Katholiken darauf wartete, mit ihm zu reden.

Er trat ein – und bewunderte sogleich die Gediegenheit des Raums. Schwere Vorhänge schützten vor der Sommersonne. Doch er wusste, dass der Papst jeden Sonntag aus diesen Fenstern hinaus mit Tausenden Besuchern des Petersplatzes betete. Der Raum war spärlich möbliert; das größte Möbelstück war ein einfacher Schreibtisch aus Holz, der mehr an einen Esstisch erinnerte, mit zwei hochlehnigen Polsterstühlen, die sich an den Längsseiten des Schreibtischs gegenüberstanden. Auf der Tischplatte befanden sich nur eine goldene Uhr, ein Kruzifix und eine lederne Schreibtischunterlage. Unter dem Tisch bedeckte ein Orientteppich den Marmorboden.

Johannes Paul II. stand ganz in päpstliches Weiß gekleidet in der Nähe des Schreibtisches. In den vergangenen Monaten hatten sie sich gegenseitig vertraulich über ein Dutzend Briefe geschrieben, von denen jeder einzelne durch einen Boten überbracht worden war. Sie hatten sich darin über die Schrecken der Nuklearwaffen und die Krise Osteuropas ausgelassen. Vor sieben Monaten hatte die polnische Regierung auf Druck der Sowjets das Kriegsrecht ausgerufen und alle Diskussionen über Reformen abgewürgt. Im Gegenzug verhängten die Vereinigten Staaten Sanktionen gegen die UdSSR und die polnische Marionettenregierung. Diese Sanktionen sollten aufrechterhalten werden, bis alle politischen Gefangenen befreit waren, das Kriegsrecht beendet und der unterbrochene Dialog fortgeführt wurde. Um sich besser mit dem Vatikan abzustimmen, hatte er dem Papst über seine Sonderbotschafterin bergeweise Geheimdienstinformationen über Polen zukommen lassen und ihn stets umfassend informiert. Allerdings bezweifelte er, dass er dem Papst viel mitteilte, was diesem nicht längst bekannt gewesen wäre.

Doch eins hatte er in Erfahrung gebracht.

Dieser zurückhaltende Geistliche, der in eine der einflussreichsten Positionen der Welt aufgestiegen war, glaubte wie er, dass die Sowjetunion scheitern musste.

Der Papst und er reichten sich die Hände, tauschten Freundlichkeiten aus und posierten für die Kameras. Dann machte Johannes Paul ein Zeichen, dass sie sich an den Schreibtisch begeben sollten. Sie setzten sich einander gegenüber. An der Wand hing ein Gemälde mit einer Darstellung der Madonna, die sie aufmerksam betrachtete. Die Fotografen zogen sich zurück, ebenso alle Adjutanten. Die Türen wurden geschlossen, und nun begegneten sich zum ersten Mal in der Geschichte ein Papst und ein Präsident der Vereinigten Staaten unter vier Augen. Reagan hatte um diese außergewöhnliche Geste gebeten, und Johannes Paul hatte keine Einwände dagegen erhoben. Bei der Vorbereitung dieses Gesprächs unter vier Augen waren keine offiziellen Mitarbeiter eingebunden gewesen; lediglich seine Sonderbotschafterin hatte hinter den Kulissen alles vorbereitet.

Also wussten beide Männer, warum sie hier waren.

»Ich will gleich auf den Punkt kommen, Eure Heiligkeit. Ich will das Abkommen von Jalta aufkündigen.«

Johannes Paul nickte. »Das will ich auch. Es war ein unanständiges Konzept. Ein großer Fehler. Ich war immer der Meinung, dass die Grenzziehungen von Jalta widerrufen werden sollten.«

In diesem ersten Punkt hatte seine Sonderbotschafterin die Auffassung des Papstes richtig gedeutet. Die Konferenz von Jalta hatte im Februar 1945 stattgefunden. Stalin, Roosevelt und Churchill trafen sich zum letzten Mal und entschieden darüber, wie ein Nachkriegseuropa aussehen und regiert werden sollte. Es wurden Grenzlinien gezogen – manche willkürlich, andere bewusst als Entgegenkommen an die Sowjets. Zu diesen Zugeständnissen gehörte auch die Vereinbarung, dass Polen weiterhin dem Machtbereich der UdSSR zugehören sollte. Stalin hatte versprochen, freie Wahlen abhalten zu lassen. Das war natürlich nie geschehen, und seither herrschten dort die Kommunisten.

»Jalta hat künstliche Teilungen geschaffen«, fuhr Johannes Paul fort. »Ich und Millionen andere Polen bedauern zutiefst, dass unsere Heimat weggegeben wurde. Unsere Leute kämpften und starben in jenem Krieg, aber das hat niemanden interessiert. Wir mussten vierzig Jahre lang eine Gewaltherrschaft erdulden, die mit den Nazis begann und dann von den Sowjets fortgeführt wurde.«

Reagan gab ihm recht. »Ich glaube auch, dass Solidarność die Möglichkeit bietet, Jalta ein Ende zu bereiten.«

Der Riss im Eisernen Vorhang war vor zwei Jahren entstanden, als sich in den Werften von Danzig die erste Gewerkschaftsbewegung gründete, die nicht von den Kommunisten kontrolliert wurde. Inzwischen waren über neun Millionen Polen in diese Gewerkschaft eingetreten, rund ein Drittel aller Beschäftigten. Ein aufmüpfiger Elektriker namens Lech Walesa war ihr Anführer. Die Bewegung war stärker und einflussreicher geworden und hatte immer mehr Zulauf erfahren – so viel, dass die polnische Regierung im vergangenen Dezember das Kriegsrecht verhängte, um sie zu unterdrücken.

»Es war ein Fehler, dass sie versuchten, Solidarność zu zerschlagen«, sagte er. »Man kann nicht etwas für eine gewisse Zeit erlauben, und wenn es dann Fahrt aufnimmt, den Kurs ändern und es verbieten. Damit hat die Regierung ihren Einfluss überschätzt.«

»Wir sind bei polnischen Regierungsvertretern vorstellig geworden«, erwiderte Johannes Paul. »Wir müssen Gespräche über die Zukunft von Solidarność und die Beendigung des Kriegsrechts aufnehmen.«

»Warum sollten wir dagegen angehen?«

Reagan beobachtete, dass diese neue Betrachtungsweise auf offene Ohren stieß. Seine Sonderbotschafterin hatte ihn gedrängt, das Thema anzusprechen, weil sie davon ausging, damit im Vatikan Gehör zu finden.

Der Papst verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Ich verstehe. Sollen sie weitermachen. Damit entfremden sie sich nur noch mehr von den Menschen. Weshalb sollte man dem Einhalt gebieten?«

Reagan nickte. »Die Ablehnung von Solidarność durch die Regierung ist wie ein Krebsgeschwür. Es soll sich ausbreiten. Jedes Wort der Regierung gegen die Bewegung macht sie nur stärker. Das Einzige, was Solidarność braucht, um am Leben zu bleiben, ist Geld, und die Vereinigten Staaten sind bereit, es beizusteuern.«

Der Papst nickte und dachte offensichtlich über den Vorschlag nach. Dies war erheblich mehr, als die Leute der Reagan-Administration bisher zu tun bereit gewesen waren. Das Außenministerium hatte sich vehement gegen diese Taktik ausgesprochen und behauptet, das polnische Regime sei stabil, solide und populär. Dieselbe Einschätzung hatte es auch für Moskau und die UdSSR geäußert.

Doch es hatte sich geirrt.

»Der innere Druck wächst mit jedem Tag«, fuhr Reagan fort, »und die Sowjets haben keine Ahnung, wie sie damit umgehen sollen. Der Kommunismus ist nicht imstande, auf Widerspruch anders als mit Terror und Gewalt zu reagieren. Moskaus Ethik ist nur einem einzigen Ziel verpflichtet: Es geht darum, die eigene Agenda voranzubringen. Die Kommunisten nehmen für sich das alleinige Recht in Anspruch, Verbrechen jeglicher Art zu begehen. Zu lügen, zu betrügen und alles zu tun, was sie wollen. Solche politischen Systeme haben noch nie überlebt. Es ist unausweichlich, dass ihr System zusammenbrechen wird.« Er machte eine Pause. »Aber wir können es beschleunigen.«

Johannes Paul nickte. »Der Baum ist verfault. Jetzt muss man ihn nur noch fest genug schütteln, dann fallen die faulen Äpfel herunter. Der Kommunismus nimmt den Menschen ihre Freiheit.«

Dies war eine andere Einschätzung, von der seine Sonderbotschafterin bereits berichtet und auf die er gehofft hatte. Noch nie hatten sich ein Papst und ein Präsident auf eine solche Weise miteinander verschworen, und keiner von ihnen würde jemals eingestehen können, dass es geschehen war. Die Kirche hatte offiziell jeglicher Einmischung in die Politik entsagt. Das war der Welt erst kürzlich vor Augen geführt worden, als Johannes Paul einen Priester rügte, der sich dem päpstlichen Befehl widersetzte, von einem Regierungsamt zurückzutreten. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Kirche Unterdrückung nicht registrierte; schon gar nicht, wenn sie sich den Unterdrückten so verbunden fühlte. Was ein weiterer Beweis für ein göttliches Wirken war. In diesem exakten Augenblick der Weltgeschichte schien sich alles auf Polen zu konzentrieren. Zum ersten Mal seit vierhundertfünfzig Jahren saß ein Nicht-Italiener – ein Pole – auf dem Papstthron in St. Peter. Und fast neunzig Prozent aller Polen waren katholisch.

Kein Drehbuchautor hätte sich das besser ausdenken können.

Die Sowjetunion stand vor einer gewaltigen Umwälzung. Er spürte, wie sie näher rückte. Dieses Land war keineswegs gegen Revolten gefeit, und Polen war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringen konnte. Das war zwar ein Klischee, traf die Sache aber auf den Punkt. Es war wie mit den Dominosteinen – wenn das erste Land fiel, fielen sie alle. Die Tschechoslowakei, Bulgarien, Ungarn, Rumänien und alle anderen Satellitenstaaten der Sowjetunion. Der gesamte Ostblock. Ein Land nach dem anderen würde abfallen.

Warum sollte man nicht mit einem kleinen Stoß nachhelfen?

»Wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf …«, meldete Reagan sich wieder zu Wort. »… Man hat mich einmal gefragt, woran man einen Kommunisten erkennt. Die Antwort ist leicht. Das ist jemand, der Marx und Lenin liest. Aber woran erkennt man einen Anti-Kommunisten?« Er machte eine Pause. »Das ist jemand, der Marx und Lenin versteht.«

Der Papst lächelte.

Doch es entsprach der Wahrheit.

»Ich habe meine Zustimmung zu diesem Gespräch unter vier Augen gegeben«, sagte der Papst, »weil ich uns die Gelegenheit verschaffen wollte, einen aufrichtigen Dialog zu führen. Es schien mir überfällig zu sein. Deshalb muss ich Sie fragen: Was ist mit den Cruise Missiles, die Sie in Europa stationieren wollen? Gegenwärtig findet unter Ihrer Führung eine beispiellose Wiederbewaffnung Amerikas statt, und die Ausgaben betragen viele Milliarden Dollar. Das bereitet mir Sorgen.«

Seine Sonderbotschafterin hatte ihn vor diesen Vorbehalten gewarnt, deshalb hatte er eine Antwort parat. »Es gibt niemanden auf dieser Welt, der den Krieg und Nuklearwaffen mehr hasst als ich. Wir müssen den Planeten von diesen beiden Geißeln befreien. Mein Ziel ist Frieden und Abrüstung. Doch um es zu erreichen, muss ich mich der Mittel bedienen, die mir zur Verfügung stehen. Ja, wir haben die Ausgaben für Waffen erhöht. Doch ich tue das nicht nur, um Amerika stark zu machen, sondern auch, um die UdSSR in den Ruin zu treiben.«

Johannes Paul hörte aufmerksam zu.

»Sie haben recht. Wir geben Milliarden aus. Den Sowjets bleibt keine Wahl, als es uns gleichzutun und ebenso viel und mehr auszugeben. Der Unterschied ist, dass wir uns diese Ausgaben leisten können, sie jedoch nicht. Wenn die Vereinigten Staaten Geld für Regierungsprojekte ausgeben, fließen diese Mittel durch Gehälter und Profite wieder in unsere Wirtschaft zurück. Aber wenn die Sowjets Geld ausgeben, belasten sie damit nur ihren Staatshaushalt. Dort gibt es keinen freien Markt. Das Geld verschwindet einfach und kehrt nicht zurück. Die Gehälter werden kontrolliert, die Profite reguliert, und deshalb müssen sie ständig neues Geld generieren, nur um ihre Rechnungen bezahlen zu können. Wir recyceln unser Geld. Mit ihrem Rubel können sie unserem Dollar nicht Jahr für Jahr das Wasser reichen. Das ist unmöglich. Sie werden implodieren.«

Der Papst war sichtlich angetan.

»Der Kommunismus hat es nie geschafft, sich durch öffentliche Unterstützung zu legitimieren. Seine Herrschaft beruht ausschließlich auf der Macht, die mit Terror durchgesetzt wird. Die Zeit hat gegen sie gearbeitet, die ganze Welt hat es getan, weil sie sich geändert hat. Kommunismus ist nur eine moderne Form der Leibeigenschaft, und ich kann keine Vorteile gegenüber dem Kapitalismus erkennen. Ist Eurer Heiligkeit klar, dass in der UdSSR nicht einmal eine von sieben Familien über ein eigenes Auto verfügt? Wenn jemand ein Auto kaufen möchte, beträgt die Wartezeit zehn Jahre. Wie soll man ein solches System für stabil oder abgesichert halten?«

Johannes Paul lächelte. »Das Regime steht auf einem brüchigen Fundament. Das hat es schon immer getan, von Anfang an.«

»Ich möchte Ihnen versichern, dass ich kein Kriegstreiber bin. Es geht dem amerikanischen Volk nicht um Eroberung. Wir wollen einen dauerhaften Frieden.«

Reagan meinte, was er sagte. In seiner Jackentasche trug er ein laminiertes Kärtchen mit den Codes, die nötig waren, um einen Nuklearangriff zu starten. Gleich vor der Tür saß ein Militärattaché mit einer schwarzen Lederaktentasche, in der sich etwas befand, was genau diesem Zweck diente. Alles in allem verfügten die Vereinigten Staaten über 23 464 atomare Sprengköpfe. Die Sowjetunion lagerte 32 049. Reagan nannte sie »die Werkzeuge Armageddons«. Schon eine Handvoll von ihnen konnte die gesamte menschliche Zivilisation auslöschen.

Es war sein Ziel, dass sie niemals angewendet werden mussten.

»Ich glaube Ihnen«, sagte der Papst. »Ihre Botschafterin hat Ihre Auffassung sehr gut dargestellt. Sie ist eine intelligente Frau. Sie haben sie gut ausgewählt.«

Er hatte sie mitnichten ausgewählt. Al Haig hatte die Wahl unter seinen Attachés im Außenministerium getroffen. Aber Johannes Paul hatte recht. Sie war jung, intelligent und besaß Einfühlungsvermögen – und er verließ sich auf ihr Urteil, wenn es um den Vatikan ging.

»Da wir so offen sprechen«, sagte er, »lassen Sie mich sagen, dass Sie Ihr Licht unter den Scheffel stellen. Auch Sie bedienen sich gewisser Täuschungsmanöver. Dieser Priester, den Sie scheinbar ungehalten auf dem Rollfeld in Nicaragua getadelt haben. Sie haben ihn aufgefordert, sein Regierungsamt niederzulegen, doch er hat sich Ihnen widersetzt. Und das tut er immer noch. Ich vermute, dass der Mann den Vatikan inzwischen bestens mit Informationen darüber versorgen kann, was die Sandinisten tun. Und wer würde ihn schon nach einer solch öffentlichen Zurechtweisung verdächtigen?«

Johannes Paul sagte nichts, doch Reagan wusste, dass seine Schlussfolgerung zutraf. Die Sandinisten waren nichts als sowjetische Marionetten. Seine Leute arbeiteten bereits daran, Mittelamerika von ihnen zu befreien, und Johannes Paul anscheinend auch.

»Unsere Politik muss weitsichtig sein«, sagte der Papst. »Sie muss den ganzen Erdball im Auge behalten und sich für Gerechtigkeit, Freiheit, Liebe und Wahrheit einsetzen. Unser Ziel muss immer der Frieden sein.«

»Zweifellos. Ich habe eine Theorie.« Reagan hielt den Moment für gekommen, sie mitzuteilen. »Die UdSSR ist für mich im Kern eine christliche Nation. Russen waren schon lange, bevor sie Kommunisten wurden, Christen. Wenn wir unseren Kurs weiterverfolgen, können wir nach meiner Einschätzung für einen Stimmungswandel sorgen, bei dem die Einwohner der Sowjetunion zum Christentum zurückfinden, sodass jene lang gehegten Ideale den Kommunismus überwinden.«

Er fragte sich, ob der Papst den Eindruck hatte, dass er ihm nach dem Mund redete. Seine Sonderbotschafterin hatte ihm nach ihren Besuchen eine detaillierte Einschätzung seiner Persönlichkeit geliefert. Johannes Paul legte Wert auf Ordnung und Sicherheit und schätzte es nicht, sich auf Unbekanntes einlassen zu müssen. Er ließ sich von seiner Vernunft und seinen Überlegungen anleiten und mied bewusst Risiken und Wagnisse. Unklarheiten, Impulsivität und Extremismus stießen ihn ab. Bevor er eine Entscheidung traf, durchdachte er immer alles genau. Ganz besonders störte ihn jedoch, wenn er das Gefühl bekam, jemand würde ihm nur das erzählen, von dem er glaubte, dass er es hören wollte.

»Glauben Sie das?«, fragte der Papst. »In Ihrem Herzen? Mit Ihrem Verstand? Mit Ihrer Seele?«

»Ich muss gestehen, Eure Heiligkeit, dass ich niemand bin, der regelmäßig zur Kirche geht. Ich halte mich nicht einmal für besonders religiös. Aber ich bin ein spiritueller Mensch. Ich glaube an Gott. Und ich finde Stärke in meinen tiefsten Überzeugungen.«

Das meinte er wirklich ernst.

»Sie und ich, wir haben etwas gemeinsam«, sagte er.

Johannes Paul war die Verbindung offensichtlich klar. Im letzten Jahr war innerhalb von zwei Monaten auf sie beide geschossen worden. Alle drei Kugeln wurden aus nächster Nähe abgefeuert und verfehlten nur knapp ihre Hauptschlagadern, was den sicheren Tod bedeutet hätte. Reagan wurde in die Lunge getroffen, während die beiden Kugeln, die auf Johannes Paul abgefeuert wurden, seinen Körper glatt durchschlugen, dabei jedoch wunderbarerweise kein lebenswichtiges Organ trafen.

»Gott hat uns beide gerettet«, sagte er, »damit wir tun können, was wir tun werden. Welche Erklärung sollte es sonst dafür geben?«

Er glaubte schon seit Langem, dass jeder Mensch einen göttlichen Auftrag hatte. Einen Plan für die Welt, der sich der menschlichen Kontrolle entzog. Er wusste, dass dieser Papst ebenfalls an die Macht symbolischer Handlungen und die Rolle der Vorsehung glaubte.

»Ich bin Ihrer Meinung, Mr. President«, flüsterte der Papst nahezu. »Wir müssen es tun. Gemeinsam.«

»In meinem Fall war der Schütze einfach nur geisteskrank. Aber in Ihrem Fall würde ich sagen, Sie haben es den Sowjets zu verdanken.«

Die CIA hatte von einer Verbindung zwischen dem Mann, der das Attentat auf Johannes Paul verübt hatte, und Bulgarien erfahren. Die Spur führte direkt bis Moskau. Das Weiße Haus hatte dem Vatikan diese Informationen zur Verfügung gestellt. Ein echter, belastbarer Beweis fehlte, doch es war die Absicht gewesen, Solidarność ein Ende zu bereiten, indem man deren geistigen und moralischen Führer beseitigte. Selbstverständlich konnten sich die Sowjets unmöglich unmittelbar an einer Verschwörung beteiligen, deren Ziel es war, den Anführer einer Milliarde Katholiken zu töten.

Doch sie waren darin verwickelt.

»Soweit es irgend möglich ist und von euch abhängt, lebt mit allen Menschen in Frieden«, sagte Johannes Paul, indem er den Bibelvers Römer 12,18 zitierte. »Rache wäre also recht unchristlich, nicht wahr?«

Reagan entschloss sich, bei der Bibel und den Römerbriefen zu bleiben:

»Rächet euch nicht selbst, meine Liebsten, sondern gebet Raum dem Zorn Gottes.

So nun dein Feind hungert, so speise ihn; dürstet ihn, so tränke ihn. Wenn du das tust, so wirst du feurige Kohlen auf sein Haupt sammeln.«

Und genau das würden sie tun.

Dieser Priester hatte die Gewaltherrschaft der Nazis erlebt. Karol Wojtyla war da gewesen, als Polen jenen unvorstellbaren Horror erduldete und er hatte mit der Widerstandsbewegung zusammengearbeitet. Nach dem Krieg tat er, was er konnte, um den Sowjets entgegenzuwirken, die das Leiden der Polen verlängerten. Johannes Paul war unbestritten eine Heldenfigur, ein außerordentlicher Mann mit viel Erfahrung und großem Mut.

Er konnte den Menschen Kraft geben.

Und er war mit der richtigen Einstellung zur rechten Zeit am rechten Ort.

»In dem Moment, als ich auf dem Petersplatz stürzte«, sagte der Papst, »hatte ich eine klare Vorahnung, dass ich gerettet werden würde. Diese Gewissheit hat mich zu keiner Zeit verlassen. Die Jungfrau Maria ist an jenem Tag persönlich hinzugetreten und hat es mir erlaubt zu überleben. Das glaube ich von ganzem Herzen. Gott möge mir verzeihen, aber ich habe mit den Sowjets noch eine Rechnung offen. Nicht für das, was sie mir womöglich angetan haben, sondern für das, was sie schon seit so langer Zeit so vielen Millionen angetan haben. Ich habe dem Mann vergeben, der mich umbringen wollte. Ich ging in seine Zelle, kniete nieder, betete mit ihm, und er hat wegen seiner Sünde geweint. Nun kommt auch für diejenigen, die ihn schickten, die Zeit, ihre Sünden zu erkennen.«

Reagan sah die Entschlossenheit im festen Blick von Johannes Paul, der wirkte, als sei er zum Kampfe entschlossen. Er selbst war es auch. Er war jetzt einundsiebzig und fühlte sich besser denn je. Seine Spannkraft war nach dem Attentat zurückgekehrt, als wäre er tatsächlich neugeboren worden. Er hatte die Aussagen der Kritiker gelesen. Man schien von seiner Präsidentschaft nicht viel zu erwarten. In den vergangenen Jahrzehnten hatte das schiere Gewicht des Jobs viele gute Männer aufgerieben. Kennedy war gestorben. Vietnam hatte Johnson das Genick gebrochen. Nixon war zum Rücktritt gezwungen worden. Ford hatte sich nur zwei Jahre lang halten können und Carter wurde schon nach einer Amtszeit nach Hause geschickt. Kritiker nannten Ronald Reagan einen rücksichtslosen Cowboy, einen alten Schauspieler, der sich darauf verließ, dass andere ihm sagten, was er tun sollte.

Doch sie irrten sich.

Er war ein ehemaliger Demokrat, der schon vor langer Zeit die Partei gewechselt hatte. Das bedeutete, er ließ sich politisch nicht eindeutig einem Lager zuordnen. Viele fürchteten und misstrauten ihm. Andere verachteten ihn. Aber er war der vierzigste Präsident der Vereinigten Staaten, er hatte vor, noch weitere sieben Jahre im Amt zu bleiben; und er beabsichtigte, diese Zeit einem Ziel zu widmen.

Reagan wollte dem Reich des Bösen ein Ende bereiten.

Denn genau das repräsentierte die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Doch allein schaffte er das nicht. Brauchte er auch nicht, denn jetzt hatte er einen Verbündeten. Jemanden, der zweitausend Jahre Erfahrung im Umgang mit Despoten hatte.

»Von meiner Seite aus werde ich den Druck beibehalten«, sagte er. »Sowohl politisch als auch ökonomisch. Von Ihrer Position aus könnten Sie das sogar mit spiritueller Unterstützung tun. Eine weitere Reise nach Polen wäre gut, aber noch nicht sofort. In einem Jahr vielleicht.«

Johannes Paul hatte sein Heimatland bereits im Jahre 1979 besucht. Drei Millionen Menschen waren zur Messe auf den Warschauer Siegesplatz gekommen. Als damaliger Kandidat für das Weiße Haus hatte er sich im Fernsehen angesehen, wie der Mann in Weiß aus dem päpstlichen Flugzeug stieg und den Boden küsste. Er erinnerte sich noch lebhaft daran, was der Papst seinen Landsleuten immer wieder eingehämmert hatte.

Habt keine Angst.

Damals hatte er begriffen, was das religiöse Oberhaupt von einer Milliarde Menschen erreichen konnte, insbesondere jemand, dem die Herzen und die Gedanken von Millionen Polen gehörten. Er war einer von ihnen. Sie hörten auf das, was er zu sagen hatte. Doch als Papst durfte er sich nicht allzu deutlich äußern. Die Botschaft aus Rom musste vielmehr immer eine Botschaft der Wahrheit, der Liebe und des Friedens sein. Es gibt einen Gott, und jeder hat das unveräußerliche Recht, ihn ungehindert zu verehren. Moskau ignorierte das zunächst, doch schließlich reagierte es mit Drohungen und Gewalt, und der erschreckende Kontrast zwischen den beiden Kernbotschaften sprach Bände. Unterdessen sprachen sich die Vereinigten Staaten für Reformen im Ostblock aus, sie finanzierten Verbesserungen für einen freien Warenaustausch und isolierten die Sowjetunion ökonomisch wie technologisch und manövrierten sie so langsam, aber sicher in den Bankrott. Sie bedienten sich dabei der Paranoia und der Angst, die der Kommunismus so gern bei anderen erweckte. Er wurde aber nicht damit fertig, wenn es ihn selbst betraf.

Ein perfekter Zweifrontenkrieg.

Er warf einen Blick auf die Uhr.

Jetzt redeten sie schon über fünfzig Minuten.

Jeder schien eine klare Vorstellung von der Aufgabe und ihren individuellen Verantwortlichkeiten zu haben. Es wurde Zeit für den letzten Schritt. Er stand auf und streckte den Arm über den Tisch.

Auch der Papst erhob sich von seinem Stuhl.

»Mögen wir beide erfolgreich unsere Pflichten gegenüber der Menschheit erfüllen«, sagte er.

Der Papst nickte, und sie schüttelten sich noch einmal die Hände.

»Gemeinsam«, sagte er, »werden wir die UdSSR auslöschen.«

GEGENWART

1

Baikalsee, Sibirien

Freitag, 18. Januar

15 Uhr

Bittere Erfahrungen hatten Cotton Malone gelehrt, dass totale Abgeschiedenheit normalerweise Ärger ankündigte.

Und der heutige Tag bildete da keine Ausnahme.

Er flog eine 180-Grad-Schleife, damit er noch einmal hinuntersehen konnte, bevor er landete. Die blasse messingfarbene Sonne stand tief im Westen. Der Baikalsee lag unter einer winterlichen Eisschicht, dick genug, um darauf fahren zu können. Er hatte bereits Lkw ausgemacht, Autobusse und Pkw, die in alle möglichen Richtungen über die milchig-weißen Bruchkanten fuhren, und deren Reifenspuren diese vergänglichen Schnellstraßen anzeigten. Andere Autos parkten um Angellöcher herum. Er erinnerte sich aus dem Geschichtsunterricht daran, dass man im frühen 20. Jahrhundert Eisenbahnschienen über das Eis gelegt hatte, um während des Russisch-Japanischen Krieges Nachschub in den Osten zu transportieren.

Allein durch seine Zahlen wirkte der See fantastisch. Er wurde von einem uralten kontinentalen Grabenbruch gebildet, der dreißig Millionen Jahre alt war. Er galt als der älteste See der Welt und enthielt ein Fünftel des gesamten Süßwasservorrats weltweit. Dreihundert Flüsse speisten ihn, doch es gab nur einen einzigen Abfluss. Der See war fast 100 Meilen lang, bis zu fünfzig Meilen breit und erreichte eine Tiefe von bis zu 1600 Metern. Das Ufer hatte eine Länge von über 1200 Meilen, und dreißig Inseln verteilten sich auf der kristallklaren Oberfläche. Auf Landkarten sah der See in Südsibirien wie ein halbmondförmiger Bogen aus, er lag 2000 Meilen westlich vom Pazifik und 3200 Meilen östlich von Moskau, in dem großen, menschenleeren Gebiet Russlands nahe der Grenze zur Mongolei. Man hatte ihn zum Weltnaturerbe erklärt. Auch darüber dachte Malone nach, weil das normalerweise ebenfalls mit Ärger verbunden war.

Der Winter hatte Land und Wasser fest im Griff. Die Temperatur stagnierte um minus achtzehn Grad Celsius, überall lag Schnee, doch glücklicherweise fiel gerade keiner. Mit einem kurzen Zug am Steuerknüppel ging er auf eine Höhe von 700 Fuß. Die Kabinenheizung blies warme Luft auf seine Füße. Das Flugzeug stammte von einem kleinen Flugfeld außerhalb von Irkutsk und war ihm von den russischen Luftstreitkräften zur Verfügung gestellt worden. Weshalb es zu dieser intensiven russisch-amerikanischen Kooperation kam, wusste er nicht, doch Stephanie Nelle hatte ihm befohlen, sich das zunutze zu machen. Normalerweise wurden für eine Einreise nach Russland Visa benötigt. Während seiner Zeit als Agent beim Magellan Billet hatte er oft falsche Visa verwendet. Auch der Zoll hätte Probleme machen können, doch diesmal gab es überhaupt keinen Papierkram, und kein Behördenvertreter hatte ihm die Einreise erschwert. Stattdessen war er mit einem russischen Sukhoi/HAL-Kampfflugzeug der neuen Zweisitzer-Ausführung ins Land geflogen. Sein Ziel war ein Luftwaffenstützpunkt nördlich von Irkutsk gewesen, wo fünfundzwanzig Tupolew Tu-22M-Mittelstreckenbomber aufgereiht am Rollfeld standen. Ein Ilyushin-II-78-Tankflugzeug hatte während seines langen Fluges das Nachtanken ermöglicht. Am Luftwaffenstützpunkt hatte ein Helikopter gewartet, der ihn weiter nach Süden brachte, wo dieses Flugzeug für ihn bereitstand.

Die An-2 war eine einmotorige Doppeldeckermaschine mit einem abgeschlossenen Cockpit und einer Fahrgastkabine, in der zwölf Passagiere Platz hatten. Wegen des Vierblattpropellers rüttelte der dünne Aluminiumrumpf unablässig, als er sich in unruhigem Flug durch die eiskalte Luft schraubte. Er wusste nur wenig über dieses sowjetische Arbeitspferd aus dem Zweiten Weltkrieg, das langsam und ruhig flog und dabei kaum Steuerungskorrekturen erforderte. Diese Maschine war mit Kufen ausgestattet, die es ihm ermöglicht hatten, von einer verschneiten Bahn aus zu starten.

Er flog die Kurve aus und änderte dann den Kurs nach Richtung Nordosten, über dicht bewachsene Wälder hinweg. Große Felsbrocken ragten wie die Zähne eines Tieres in gezackten Linien über die Bergrücken. In der Ferne glitzerten an einem Hang ganze Batterien von Hochspannungsleitungen im Sonnenlicht. Das Land hinter dem Seeufer lag teils brach, dann und wann unterbrochen von kleinen Gruppen von Holzhäusern. Es gab aber auch Birken-, Tannen- und Lärchenwälder, und schließlich kamen die schneebedeckten Berge. Auf einem Felsgrat entdeckte er sogar einige alte Artilleriestellungen. Und er konnte eine Gruppe von Gebäuden erkennen, nahe am östlichen Ufer, gleich nördlich der Stelle, wo der Selengafluss nach seinem langen Weg durch die Mongolei in den See strömte. Das versandete Flussdelta bildete ein beeindruckendes, zu Eis erstarrtes Gewirr von Kanälen, Inseln und Schilfflächen.

»Was sehen Sie?«, fragte Stephanie Nelle über das Headset.

Das Kommunikationssystem der An-2 war mit seinem Handy verbunden, sodass sie miteinander reden konnten. Seine ehemalige Chefin überwachte alles von Washington aus.

»Eine Menge Eis. Es ist unglaublich, dass etwas so Großes so fest zusammenfrieren kann.«

Tiefblauer Dampf schien im Eis eingebettet zu sein. Ein wirbelnder Nebel aus Pulverschnee fegte über die Oberfläche. Der diamantartige Staub glitzerte in der Sonne. Er machte einen weiteren Überflug und inspizierte die unter ihm liegenden Gebäude. Zur Vorbereitung hatte er Satellitenaufnahmen der Gegend bekommen.

Jetzt sah er alles aus der Vogelperspektive.

»Das Hauptgebäude liegt abseits vom Dorf, circa eine Viertelmeile nördlich«, sagte er.

»Irgendwelche Aktivitäten?«

Das Dorf mit den Holzhäusern wirkte ruhig, nur flauschige Rauchschwaden kräuselten sich aus den Schornsteinen und ließen auf Bewohner schließen. Die Siedlung zog sich in die Länge, ohne sich irgendwo zu verdichten, und eine einzige geteerte Straße, die von Schnee gesäumt war, führte hinein und ein Stück weiter wieder hinaus. Eine Kirche aus gelben und rosafarbenen Holzbohlen mit zwei Zwiebeltürmen markierte das Zentrum. Sie befand sich in Ufernähe. Zwischen den Häusern und dem See erstreckte sich ein Kiesstrand. Man hatte ihm erzählt, dass das östliche Ufer weniger besucht werde und dünner besiedelt sei. In den etwa fünfzig Gemeinden lebten nur knapp 80 000 Menschen. Das südliche Ufer des Sees hatte sich zu einer Touristenattraktion entwickelt und war im Sommer bevölkert, doch das restliche Ufer, das sich über Hunderte von Meilen hinzog, blieb unberührt.

Genau das war der Grund, weshalb es das Dorf unter ihm überhaupt gab.

Seine Bewohner nannten es Chayaniye, was »Hoffnung« bedeutete. Sie wünschten sich nichts weiter, als in Ruhe gelassen zu werden, und die russische Regierung hatte ihnen über zwanzig Jahre lang diesen Gefallen getan. Sie waren die Rote Garde: die letzte Bastion eingefleischter Kommunisten, die es im neuen Russland noch gab.

Man hatte ihm gesagt, das Haupthaus wäre eine alte Datscha. Jeder angesehene Sowjetführer seit Lenin hatte ein solches Landhaus besessen und die Statthalter der Provinzen im fernen Osten waren da keine Ausnahme gewesen. Das Haus direkt unter ihm stand auf einem Felsbuckel, der in den gefrorenen See hineinreichte, und lag am Ende einer gewundenen Teerstraße, die durch ein dichtes Gewirr schneebedeckter Fichten verlief. Es war auch kein kleines Gartenhäuschen aus Holz, vielmehr schienen die ockerfarbenen Wände aus Ziegeln und Zement zu bestehen. Das Haus war zweigeschossig und hatte ein Schieferdach; zwei vierrädrige Fahrzeuge parkten an der Seite. Aus dem Schornstein des Hauses stieg dichter Rauch auf, auch aus dem Schornstein eines der hölzernen Nebengebäude, von denen es etliche gab.

Es war allerdings kein Mensch zu sehen.

Malone vollendete seinen Vorbeiflug und zog nach rechts für einen weiteren engen Kreis zurück über den See. Er liebte es zu fliegen, und hatte ein Talent dafür, die Maschine in der Luft zu steuern. Er würde schon bald die Kufen brauchen, wenn er fünf Meilen südlich in der Nähe der Stadt Babuschkin auf dem Eis landen und die Maschine bis zu den Docks rollen lassen würde, wo es, wie man ihm gesagt hatte, in dieser Jahreszeit keinen Schiffsverkehr gab. Dort sollte für sein Fortkommen über Land gesorgt sein, sodass er nach Norden fahren konnte, um sich diese Siedlung noch genauer anzusehen.

Ein letztes Mal flog er über Chayaniye und die Datscha hinweg, dann ging er in den Landeanflug auf Babuschkin. Er kannte die Geschichte vom Großen Sibirischen Marsch während des russischen Bürgerkriegs. Dreißigtausend Soldaten hatten sich über den gefrorenen Baikalsee zurückgezogen, wobei die meisten gestorben waren. Ihre Leichen waren bis zum Frühling im Eis eingeschlossen gewesen und erst dann endgültig im tiefen Wasser untergegangen. Dies war ein grausamer und brutaler Ort. Wie hatte ihn einst ein Schriftsteller genannt? Kaltschnäuzig gegenüber Fremden, rachsüchtig gegenüber Unvorbereiteten.

Er glaubte es.

Ein Aufblitzen zwischen den hohen Kiefern und Lärchen erregte seine Aufmerksamkeit. Die grünen Zweige bildeten einen starken Kontrast zu dem weißen Boden darunter. Etwas kam aus den Bäumen auf ihn zugeflogen und zog eine Rauchspur hinter sich her.

Eine Rakete?

»Ich bekomme Probleme«, sagte er. »Jemand feuert auf mich.«

Er reagierte nach seiner jahrelangen Erfahrung instinktiv, wie ein Autopilot. Er zog hart nach rechts, senkte die Nase des Flugzeugs tiefer und verlor rasch an Höhe. Die An-2 reagierte wie ein Sattelschlepper, deshalb setzte er die Kurve steiler an, um schneller an Höhe zu verlieren. Der Mann, der ihm das Flugzeug übergeben hatte, hatte ihm eingeschärft, den Steuerknüppel fest im Griff zu behalten, und damit hatte er recht gehabt. Das Steuerruder bäumte sich hoch wie ein Bulle. Jeder Niet schien sich durch die Vibration zu lockern. Die Rakete schoss vorbei und berührte die beiden linken Tragflächen; der Rumpf erzitterte von dem Aufprall. Malone fing seinen Sturzflug ab und besah sich den Schaden. Die Tragflächen waren nur mit Gewebe bezogen, das heißt, jetzt lagen viele Fasern frei und waren beschädigt. Die Fetzen flatterten im Wind.

Und es wurde sofort problematischer, die Maschine ruhig in der Luft zu halten.

Das Flugzeug schaukelte, und er musste sich anstrengen, um es unter Kontrolle zu behalten. Er flog jetzt direkt in einen steifen Nordwind, und seine Geschwindigkeit betrug weniger als fünfzig Knoten. Die Gefahr eines Strömungsabrisses wurde größer.

»Was ist los?«, fragte Stephanie.

Er kämpfte weiter mit dem Steuerknüppel, der sich loszureißen versuchte, doch er hielt ihn fest und gewann wieder an Höhe. Die Maschine röhrte wie ein Motorrad, als der Propeller sich bemühte, sie in der Luft zu halten.

Dann stotterte der Motor.

Fehlzündungen.

Er kannte den Grund: Der Propeller war überlastet, und der Motor machte nicht mehr mit.

Die Stromversorgung des Cockpits schaltete sich aus und wieder ein.

»Ich wurde von einer Boden-Luft-Rakete getroffen«, meldete er Stephanie. »Ich verliere die Kontrolle und gehe runter.«

Der Motor setzte aus.

Alle Instrumente erloschen.

Das Cockpit hatte vorn und seitlich Fenster; der Sitz des Kopiloten war leer. Malone blickte nach unten und sah nur das blaue Eis des Baikalsees. Die An-2 verwandelte sich schlagartig von einem Flugzeug in dreieinhalb Tonnen totes Metall.

Angst stieg in ihm hoch, und er hatte nur noch einen Gedanken.

Ist das mein Ende?

2

Washington, D.C.

2.20 Uhr morgens

Stephanie Nelle starrte auf den Lautsprecher auf ihrem Schreibtisch. Ihre Direktverbindung zu Cottons Handy war abgerissen.

»Sind Sie noch da?«, fragte sie noch einmal.

Ihr antwortete nur Stille.

Cottons letzte Worte klangen ihr in den Ohren.

»Ich verliere die Kontrolle und gehe runter.«

Über den Schreibtisch hinweg bedachte sie Bruce Litchfield, den amtierenden Generalstaatsanwalt, der noch zwei Tage lang ihr Chef war, mit einem herausfordernden Blick. »Er steckt in Schwierigkeiten. Jemand hat sein Flugzeug mit einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen.«

Sie saß in einem Büro des Justizministeriums. Normalerweise arbeitete sie in der Abgeschiedenheit ihres eigenen abgeschirmten Bereichs im Hauptquartier des Magellan Billet in Atlanta. Doch angesichts der bevorstehenden Amtseinführung eines neuen Präsidenten war sie in den Norden nach Washington beordert worden.

Sie wusste auch, weshalb.

Es geschah, damit Litchfield sie im Auge behalten konnte.

Seinerzeit im Dezember hatte Harriett Engle, die Präsident Danny Daniels als dritte Generalstaatsanwältin diente, ihren Rücktritt angeboten. Die beiden Amtszeiten der Daniels-Administration waren vorüber, und es würde nicht nur einen neuen Präsidenten geben, sondern es hatte auch eine andere Partei die Kontrolle übernommen, sowohl über das Weiße Haus als auch über die Hälfte des Kongresses. Danny hatte sich sehr für seinen Wahlkandidaten eingesetzt, doch er war gescheitert. Anscheinend wirkte die Daniels-Magie nur bei ihm selbst. Litchfield war zu dieser gottlosen Stunde nur deshalb hier, weil er vorübergehend sowohl das Kommando über das Justizministerium als auch über den kläglichen Rest des Magellan Billet hatte.

Vor zwei Monaten, einen Tag nach Thanksgiving, hatte man Nelle darüber informiert, dass man sie nicht nur von der Leitung des Magellan Billet entbinden wollte, sondern dass die ganze Einheit aufgelöst werden sollte. Der neue Generalstaatsanwalt, der nächste Woche vom Senat bestätigt werden sollte, hatte bereits geäußert, dass das Billet für ihn nur eine Doppelung der zahllosen anderen Einrichtungen für nachrichtendienstliche Tätigkeiten und Spionageabwehr war, welche die Regierung bereits unterhielt. Das Justizministerium bedurfte ihrer Dienste nicht mehr, deshalb sollte das Billet aufgegeben und seine Agenten auf andere Dienste verteilt werden.

»Sollen die Russen damit fertigwerden«, erklärte Litchfield jetzt. »Die haben uns um Hilfe gebeten, Sie haben sie ihnen gewährt, also ist es jetzt ihr Problem.«

»Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein. Einer unserer Männer wurde dort abgeschossen. Verlassen wir uns jetzt darauf, dass sich andere Dienste um unsere eigenen Agenten kümmern?«

»Ja, das tun wir. Vergessen Sie nicht – Sie haben Malone auf eigene Faust dorthin geschickt, ohne dass ich mein Okay gegeben hatte.«

»Das hat der Präsident der Vereinigten Staaten von mir verlangt.«

Litchfield war unbeeindruckt. »Sie und ich waren uns einig, dass alle operativen Entscheidungen über mich laufen. Und das ist nicht geschehen. Wir wissen beide, weshalb. Weil ich das niemals autorisiert hätte.«

»Ich brauchte Ihre Autorisierung nicht.«

»Doch, die brauchten Sie. Sie wissen, dass die gegenwärtige Administration mit der neuen vereinbart hat, sie auf dem Laufenden zu halten. Außerdem sollten alle operativen Entscheidungen vom Beginn letzter Woche an gemeinschaftlich erfolgen. Es ist meine Aufgabe, die neue Administration mit Informationen zu versorgen. Aus irgendeinem Grund wurde diese Operation jedoch auf ganzer Linie einseitig durchgezogen.«

Litchfield blickte auf eine respektable, achtzehnjährige Karriere im Justizministerium zurück. Er war von Daniels vorgeschlagen worden, der Senat hatte die Entscheidung bestätigt, und Litchfield hatte in den letzten fünf Jahren als stellvertretender Generalstaatsanwalt fungiert. Der neue Generalstaatsanwalt hatte noch nicht entschieden, welche Mitarbeiter der obersten Führungsspitze bleiben konnten. Stephanie wusste, dass Litchfield scharf auf einen hohen Posten war, deshalb witterte er, als der Kandidat des neuen Präsidenten durchblicken ließ, dass er das Magellan Billet schließen wollte, die Gelegenheit zu beweisen, dass er sich ins neue Team einfügen konnte. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte sie sich eine derartige bürokratische Einmischung verbeten, aber da die Amtseinführung und Vereidigung so dicht bevorstanden, war sozusagen alles nicht ganz so im Fluss wie sonst. Die Führung war momentan im Umbruch begriffen, das hieß, Wechsel, nicht Konsistenz stand auf der Tagesordnung.

»Sie haben versucht, die Sache unter der Hand abzuwickeln«, fuhr Litchfield fort. »Aber ich habe es trotzdem herausgefunden. Deswegen bin ich hier, mitten in der Nacht. Ob das Weiße Haus zustimmt oder nicht, diese Operation ist vorbei.«

»Sie sollten dafür beten, dass Cotton es nicht schafft«, sagte sie beiläufig.

»Was soll das denn heißen?«

»Das wollen Sie nicht wissen.«

»Teilen Sie den Russen mit, was passiert ist«, sagte er. »Sollen die sich damit herumschlagen. Außerdem haben Sie nie richtig erklärt, warum der Präsident Malone überhaupt dorthin geschickt hat.«

Nein, das hatte sie nicht, obwohl Litchfield bestimmt verstehen würde, welchen Wert es hatte, jemandem einen Gefallen zu tun. »Landeswährung« nannte man das in Washington. Hilfst du mir, helfe ich dir. Und als sie vor Jahren mit dem Billet anfing, lief das erst recht so. Damals waren ihre zwölf Agenten zuvor allesamt Rechtsanwälte gewesen, von denen jeder zusätzlich in nachrichtendienstlicher Tätigkeit und Spionage ausgebildet war. Cotton war einer der Ersten gewesen, den sie eingestellt hatte. Er kam von der Marine und dem obersten Militärgericht und hatte seinen Abschluss an der juristischen Fakultät von Georgetown gemacht. Ein Dutzend Jahre hatte er für sie gearbeitet, bevor er in den vorzeitigen Ruhestand ging und nach Kopenhagen zog, wo er jetzt ein Antiquariat besaß. In den vergangenen Jahren war er aber immer wieder in ihre Welt zurückgekehrt, weil die Umstände es verlangten. In letzter Zeit hatte sie ihn bei Bedarf als Externen ins Boot geholt. Sein heutiger Einsatz, eine simple Aufklärungsmission, gehörte zu diesen befristeten Verträgen.

Aber irgendetwas war schiefgegangen.

»Tun Sie, was ich Ihnen sage«, forderte er sie auf.

Den Teufel würde sie tun. »Bruce, ich bin noch zwei Tage lang für diese Agency tätig. So lange werde ich sie führen, wie ich es für angemessen halte. Wenn Ihnen das nicht gefällt, dann feuern Sie mich. Aber dann stehen Sie auch dem Weißen Haus Rede und Antwort.«

Sie wusste, dass er diese Drohung nicht ignorieren konnte. Danny Daniels war immer noch Präsident, und das Billet war schon geraume Zeit seine bevorzugte Agency gewesen. Litchfield war ein typischer Washington-Karrierist. Er wollte nur überleben und seinen Job behalten. Wie er das erreichte, spielte keine Rolle. Sie hatte in der Vergangenheit nur selten mit ihm zu tun gehabt, doch sie hatte mitbekommen, dass man ihn für einen Opportunisten hielt. Deshalb würde er sich unter keinen Umständen auf einen Machtkampf mit dem noch amtierenden Präsidenten der Vereinigten Staaten einlassen. Er würde diesen Kampf nicht nur verlieren, sondern er würde damit auch jede Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wenn dieser Mann vorhatte, Teil der neuen Administration zu werden, musste er erst einmal die alte überleben.

»Hören Sie, nichts für ungut, aber Ihre Zeit ist vorbei«, sagte er. »Genau wie die des Präsidenten. Können Sie beide nicht einfach loslassen? Ja, Sie sind für das Billet zuständig. Nur arbeiten keine Agenten mehr für Sie. Die sind alle weg. Sie sind die Einzige, die noch übrig ist. Es gibt für Sie nichts mehr zu tun, außer aufzuräumen. Gehen Sie nach Hause. Ziehen Sie sich zurück. Entspannen Sie sich.«

Auf den Gedanken war sie auch schon gekommen. Sie hatte in Zeiten der Reagan-Administration im Außenministerium begonnen, war dann ins Justizministerium gewechselt und hatte irgendwann das Magellan Billet auf die Beine gestellt. Sie hatte den Dienst lange Zeit geführt, doch das schien jetzt alles vorbei zu sein. Ihre Quellen hatten ihr berichtet, dass die zehn Millionen Dollar, die das Billet jährlich kostete, jetzt in eine Öffentlichkeitskampagne gesteckt werden sollten, in Public Relations und andere Mittel, mit denen sich das Ansehen des neuen Generalstaatsanwalts verbessern ließ. Das hielt man anscheinend für wichtiger als verdeckte Geheimdienstarbeit. Das Feld der Spionage wollte das Justizministerium der CIA, der NSA und all den anderen Diensten überlassen, die sich hinter Buchstaben versteckten.

»Sagen Sie, Bruce, wie fühlt es sich an, die Nummer zwei zu sein? Niemals der Captain. Immer der Lieutenant.«

Er schüttelte den Kopf. »Sie sind eine anmaßende alte Ziege.«

Sie grinste. »Anmaßend? Gewiss. Ziege? Wahrscheinlich. Aber ich bin nicht alt. Dafür aber die Leiterin vom Magellan Billet, und das noch zwei Tage lang. Ich mag die einzige verbliebene Angestellte sein, aber ich bin immer noch zuständig. Also: Entweder feuern Sie mich jetzt, oder Sie verschwinden hier.«

Sie meinte es verdammt ernst.

Insbesondere das »nicht alt«. Bis zu jenem Tag fand sich in ihrer Personalakte kein Hinweis auf ihr Alter, nur die Buchstaben N/A an der Stelle, wo das Geburtsdatum eingetragen werden sollte.

Litchfield stand auf. »Okay, Stephanie. Machen wir es auf Ihre Art.«

Er konnte sie nicht entlassen, das wussten sie beide. Noch nicht. Am 20. Januar Punkt 12 konnte er es tun. Deshalb hatte sie Cotton autorisiert, sofort nach Russland aufzubrechen, ohne es vorher abknicken zu lassen. Der neue Generalstaatsanwalt lag falsch. Das Justizministerium brauchte das Magellan Billet. Sein ganzer Zweck bestand darin, außerhalb der Interessenssphären anderer Nachrichtendienste zu arbeiten. Das war der Grund, warum sich sein Hauptquartier 550 Meilen südlich von Washington in Atlanta befand, weit weg von der politischen Bühne der Hauptstadt. Diese Entscheidung, die sie vor Jahren getroffen hatte, hatte sowohl für Unabhängigkeit als auch für Effizienz gesorgt, und darauf war sie stolz.

Litchfield verließ das Zimmer. In einem Punkt hatte er allerdings recht: Ihre anderen Agenten waren aussortiert, und die Büros in Atlanta waren geschlossen.

Sie plante nicht, einen anderen Posten im Justizministerium anzunehmen oder abzuwarten, bis man sie hinauswarf. Stattdessen würde sie kündigen. Es wurde Zeit, ihre Pension zu beziehen und sich eine andere Beschäftigung zu suchen. Unter gar keinen Umständen wollte sie den ganzen Tag zu Hause herumsitzen.

Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, ein vertrautes Gefühl. Cotton steckte in Schwierigkeiten, und sie wollte die Russen nicht um Hilfe bitten. Ihr war von Anfang an nicht ganz wohl dabei gewesen, ihnen zu vertrauen, doch sie hatte keine andere Wahl gehabt. Cotton war über die Risiken aufgeklärt worden, und er hatte ihr versprochen, auf der Hut zu sein. Jetzt gab es nur noch eine Stelle, an die sie sich wenden konnte.

Sie griff nach ihrem Smartphone.

Und schrieb eine SMS.

3

Virginia

2.40 Uhr morgens

Luke Daniels liebte den Kampf, andererseits: Welcher Bauernjunge aus Tennessee tat das nicht? In der Highschool hatte er viele Kämpfe ausgefochten, vor allem wegen Mädchen, und noch mehr hatte er sie während seiner sechs Jahre als Army-Ranger genossen. In den letzten Jahren war er als Agent des Magellan Billet in dieser Hinsicht auch nicht zu kurz gekommen, aber leider waren diese Tage vorüber. Seinen Marschbefehl hatte er schon erhalten. Er war zum militärischen Nachrichtendienst DIA versetzt worden. Am kommenden Montag sollte er dort den Dienst antreten – einen Tag nach dem Amtsantritt des neuen Präsidenten.

Bis dahin hatte er offiziell Urlaub.

Doch nun, in aller Herrgottsfrühe, war er hier und folgte einem anderen Fahrzeug.

Sein Onkel, der amtierende Präsident der Vereinigten Staaten, hatte ihn persönlich um Unterstützung gebeten. Normalerweise hatten sein Onkel und er nur wenig persönlichen Kontakt, doch neuerdings gaben sich beide mehr Mühe mit ihrer verwandtschaftlichen Beziehung. Ehrlich gesagt war er froh, helfen zu können. Er liebte das Magellan Billet, und er mochte Stephanie Nelle. Sie wurde von einigen Politikern, die alles besser zu wissen glaubten, ziemlich mies behandelt. Und Onkel Danny war schon auf dem Rückzug ins Privatleben; seine politische Laufbahn war vorbei. Doch es schien noch ein Problem zu geben, das sowohl den Präsidenten als auch Stephanie beschäftigte.

Wie immer hatte man ihm nicht genau erklärt, warum er dem Wagen folgen sollte. Seine Zielperson war eine Russin namens Anya Petrowa, eine kurvige Blondine mit einem fein geschnittenen ovalen Gesicht und markanten Wangenknochen. Ihre Beine waren lang und muskulös, wie bei einer Tänzerin, und sie bewegte sich sehr bewusst und kalkuliert. Ihre Lieblingskleidung schienen enge Jeans zu sein, die in kniehohen Stiefeln steckten. Dass sie kein Make-up verwendete, verlieh ihr eine gewisse Seriosität, was wohl auch ihre Absicht war. Sie war ziemlich beeindruckend, und er hätte sie gern unter anderen Umständen kennengelernt. Dass er sie in den letzten beiden Tagen beobachten musste, war ihm keineswegs unangenehm gewesen.

Offensichtlich stand sie auf das Cracker Barrel.Sie hatte den Laden heute schon zweimal aufgesucht, einmal zum Mittagessen und dann vor ein paar Stunden noch einmal zum Abendessen. Nach dem Essen verkroch sie sich in einem Virginia-Motel westlich von Washington, neben der Interstate 66. Onkel Danny hatte ihm alle relevanten Informationen zur Verfügung gestellt. Petrowa war vierunddreißig Jahre alt und die Geliebte von Aleksandr Zorin, einem in die Jahre gekommenen, ehemaligen KGB-Offizier, der jetzt im Süden Sibiriens lebte. Anscheinend hatte sich bis vor einer Woche niemand groß Gedanken über Zorin gemacht. Aber dann hatte irgendetwas die Russen und Onkel Danny so aufgescheucht, dass man Luke als Schatten abkommandiert und Cotton Malone als Kontaktmann nach Übersee geschickt hatte.

»Pass auf, dass sie dich nicht bemerkt«, hatte der Präsident ihm eingeschärft. »Aber bleib ihr auf den Fersen. Egal, wo sie hingeht. Kriegst du das hin?«

Ihre Beziehung war heikel, gelinde gesagt, doch er musste zugeben, dass sein Onkel wusste, wie man Dinge regelte. Er würde dem Land fehlen, genau wie Luke sein alter Job fehlen würde. Er freute sich nicht auf die DIA. Nach der Highschool war er nicht zum College gegangen, sondern hatte sich bei der Army verpflichtet, und irgendwann hatte er ein Zuhause beim Billet gefunden.

Damit war es jetzt leider vorbei.

Momentan befand er sich eine Meile hinter seiner Zielperson. Er blieb auf Abstand, weil nur wenige Autos auf der Interstate unterwegs waren. Die Winternacht war klar und ruhig. Vor einer halben Stunde hatte er das Motel beobachtet, als Anya Petrowa plötzlich mit einer Axt herauskam und in westliche Richtung nach Virginia fuhr. Sie waren jetzt in der Nähe von Manassas, und sie blinkte an einer Ausfahrt. Er folgte ihr und kam ans Ende der Ausfahrt, wo sie in südliche Richtung auf eine zweispurige Landstraße abgebogen war. Leider musste er jetzt einen größeren Abstand zu ihr einhalten, weil es hier nicht annähernd so viele andere Fahrzeuge gab wie auf einer Interstate.

Wo zum Teufel wollte sie hin, mitten in der Nacht?

Mit einer Axt?

Er spielte mit dem Gedanken, Onkel Danny anzurufen und ihn aufzuwecken. Man hatte ihm die Durchwahl gegeben und ihm befohlen, sofort zu berichten, wenn sich etwas tat, doch alles, was sie bis jetzt unternommen hatten, war eine Fahrt aufs Land.

Petrowa, die im Augenblick eine gute halbe Meile voraus war, bog noch einmal ab.

In beide Richtungen waren keine Autos unterwegs, die Landschaft, war, so weit er sehen konnte, völlig dunkel, deshalb schaltete er die Scheinwerfer aus und näherte sich der Stelle, wo der verfolgte Wagen von der Landstraße abgebogen war.

Sein Auto war sein ganzer Stolz. Es war ein silberner Ford Mustang Baujahr 1967, den er sich gegönnt hatte, als er noch in der Army war. Er stand immer in einer Garage neben seinem Mietshaus in Washington. Der Wagen war eines der wenigen Besitztümer, die ihm wirklich etwas bedeuteten. Er benutzte ihn an seinen freien Tagen, die alle Agenten des Magellan Billet auf Stephanie Nelles Befehl hin alle vier Wochen nehmen mussten. Er hatte einem Kerl, der unbedingt Bargeld brauchte, knapp 35 000 Dollar dafür hingelegt. Ein Schnäppchen, wenn man bedachte, was der Wagen auf dem freien Markt gekostet hätte. Als er ihn bekam, war er in einem fabrikneuen Zustand, er hatte Handschaltung mit vier Gängen und einen getunten V8-Motor mit 320 PS. Der Benzinverbrauch war zwar nicht gerade günstig, aber als man dieses Spaß-Auto konstruiert hatte, kostete der Liter Benzin noch sieben Cent.

Er sah eine Einfahrt, die an beiden Seiten von massiven Steinsäulen eingefasst und von einem schmiedeeisernen Bogen überspannt wurde. Das Metalltor hing schief in den Angeln, der Weg dahinter war gepflastert und führte zwischen dunklen Bäumen hindurch. Er konnte unmöglich hineinfahren, weil er keine Ahnung hatte, wie es dahinter weiterging und was dort auf ihn wartete. Besser war es, zu Fuß zu gehen. Also bog er in die Einfahrt ein, fuhr durch das Tor und parkte seitlich zwischen den Bäumen, ohne die Scheinwerfer einzuschalten. Er schob sich aus dem Mustang und drückte leise die Tür zu. Die Nacht war kalt, doch die Kälte drang einem nicht bis auf die Knochen. Die Mittelatlantikstaaten waren in den Genuss eines untypisch milden Winters gekommen, und bis jetzt waren sie von den heftigen Schneefällen der vergangenen Jahre verschont geblieben. Luke trug eine dicke Cordhose und einen Pullover, dazu eine wattierte Jacke und Handschuhe. Seine Dienstwaffe, die Beretta vom Magellan Billet, steckte im Schulterholster. Er hatte keine Taschenlampe dabei, aber sein Handy reichte zur Not auch aus. Allerdings überzeugte er sich, dass das Telefon auf lautlos gestellt war.

Dann marschierte er los.

Der Weg war nur ein paar hundert Meter lang und führte zu einem düsteren und weitläufigen zweigeschossigen Haus mit Flügeln, Anbauten und Nebengebäuden. Zu seiner Linken erstreckte sich eine Rasenfläche, die mit einer feinen Reifschicht bedeckt war. Eine Silhouette bewegte sich und erregte seine Aufmerksamkeit. Es war eine Eule, die mit ausgebreiteten Schwingen über die Wiese flog. An so etwas erinnerte er sich nur allzu genau aus seiner Kindheit im ländlichen Tennessee. Winzige funkelnde Sterne überzogen einen Himmel aus schwarzem Samt, und eine schmale Mondsichel stand am Himmel. Vor dem Haus parkte ein Wagen und neben der Eingangstür tanzte der Lichtstrahl einer Taschenlampe. Er fragte sich, wer dort wohl lebte, weil er keinen Namen gesehen hatte, keinen Briefkasten und auch sonst keinen Hinweis auf die Adresse.

Er hielt sich in der Nähe der Bäume und schlich vorsichtig weiter, wobei er aufpasste, nicht an den Brombeerzweigen hängen zu bleiben. Trotz der Kälte begann er durch die Bewegung und die wachsende Anspannung zu schwitzen. Er zählte über dreißig Sprossenfenster mit jeweils sechzehn Glasscheiben an der Hausfassade. Nirgendwo brannte Licht. Er hörte einen Schlag, wie von Metall auf Metall, dann splitterte Holz. Er lehnte sich gegen einen Baum und spähte um den Stamm herum. Da sah er, wie das Licht der Taschenlampe etwa fünfzig Meter entfernt von ihm im Haus verschwand. Er wunderte sich über die fehlende Vorsicht beim Einsteigen, und als er näher kam, erkannte er, dass das Haus eine verlassene Ruine war. Es sah von außen viktorianisch aus, die meisten Dachziegel waren noch intakt, die Wände an einigen Stellen schimmelig und verwittert. Einige der Parterrefenster waren mit Sperrholz abgedeckt, die Fenster im oberen Geschoss lagen frei. Am Fundament des Hauses wuchsen wilde Sträucher und Kräuter, als hätte sich schon seit Langem niemand mehr um das Haus gekümmert.

Nur zu gern hätte er gewusst, wem es gehörte. Und warum fuhr eine Russin mitten in der Nacht dorthin? Es gab nur einen Weg, das herauszufinden, also verließ er das Gehölz am Rand der Auffahrt und näherte sich dem Eingang. Die dicken Facettentüren waren mit Gewalt aufgebrochen worden.

Er zückte seine Beretta, dann ging er mit vorsichtigen Schritten hinein. Er stand in einem geräumigen Foyer. Auf dem Fußboden lag ein Teppich, einige Möbelstücke waren auch noch da. Ein Treppenaufgang führte hinauf und offene Verbindungstüren in angrenzende Räume. Dort hingen Vorhänge vor den Fenstern. Die Wandfarbe blätterte ab, der Putz bröckelte, und die Tapete löste sich an unzähligen Stellen von der Wand. Die Natur holte sich langsam zurück, was ihr einst gehört hatte.

Vor ihm lag ein langer Flur.

Er lauschte angestrengt. Es kam ihm vor wie in einer Grabkammer.

Dann hörte er ein Geräusch.

Ein Klopfen.

Es kam von der anderen Seite des Erdgeschosses.

Etwa zwanzig Meter vor ihm schimmerte ein Licht im Flur.

Er schlich sich vorwärts und machte sich den Lärm aus dem entfernten Zimmer zunutze, der seine Schritte übertönte. Anya Petrowa schien sich nicht darum zu kümmern, ob sie jemanden auf sich aufmerksam machte. Höchstwahrscheinlich ging sie davon aus, dass sich im Umkreis von etlichen Meilen niemand befand. Und normalerweise hätte sie damit auch richtiggelegen.

Er gelangte zu der offenen Tür, aus der das Licht in den Flur fiel. Vorsichtig spähte er um den Türrahmen und blickte in einen Raum, der einmal ein großes holzgetäfeltes Arbeitszimmer gewesen war. Die wandhohen Bücherregale auf einer Seite waren leer, zusammengebrochen und lagen durcheinander. Er sah kurz zur Zimmerdecke hoch. Es war eine Kassettendecke mit Stuckelementen. Möbel gab es keine. Petrowa schien sich auf die gegenüberliegende Wand zu konzentrieren. Sie hämmerte gerade ein Loch in die Holzvertäfelung, und das nicht gerade vorsichtig. Offensichtlich verstand sie sich darauf, mit einer Axt umzugehen. Ihre Taschenlampe lag auf dem Fußboden und spendete genug Licht für diese Arbeit.

Luke rief sich ins Gedächtnis, dass er nur beobachten und sich nicht einmischen sollte. Und vor allem …

»Lass dich nicht erwischen.«

Sie hackte weiter auf die Täfelung ein, bis sich ein Loch zeigte. Luke begriff, dass es sich um eine falsche Wand handelte, hinter der sich ein Hohlraum befand. Sie trat mit dem Stiefel lockeres Holz weg und vergrößerte das Loch. Danach richtete sie den Strahl ihrer Taschenlampe in das Loch.

Sie legte die Axt auf den Boden.

Und verschwand in dem Spalt.

4

Givors, Frankreich

8.50 Uhr morgens

Cassiopeia Vitt bemerkte zu spät, dass etwas nicht stimmte. Vor zwei Tagen hatten ihre Steinmetze ein paar Löcher in den Kalkstein gebohrt – nicht mit modernen Bohrmaschinen und Steinbohrern, sondern so, wie man es vor achthundert Jahren getan hatte. Ein langer sternförmiger Meißel aus Metall, an der Spitze so dick wie ein Männerdaumen, war in den Stein geschlagen worden, dann wurde er gedreht und wieder eingeschlagen. Das Ganze wurde so oft wiederholt, bis ein ordentlicher Tunnel mehrere Zentimeter tief reichte. Die Löcher hatten jeweils eine Handbreit Abstand und erstreckten sich zehn Meter weit über die gesamte Felsklippe. Es wurden keine Maßbänder benutzt; wie in alten Zeiten erfüllte ein langes Seil mit Knoten diesen Zweck. Dann füllte man jeden Hohlraum mit Wasser, verschloss ihn und ließ das Wasser gefrieren. Wenn es Sommer gewesen wäre, hätte man feuchtes Holz hineingestopft oder den Stein mit Metallkeilen gesprengt. Zum Glück waren die Temperaturen so weit gefallen, dass Mutter Natur ihre hilfreiche Hand bot.

Der Steinbruch befand sich drei Kilometer von ihrem französischen Besitz entfernt. Seit fast zehn Jahren schon arbeitete sie daran, nur mit Werkzeugen, Materialien und Techniken, die schon im 13. Jahrhundert zur Verfügung standen, eine Burg zu bauen. Das Grundstück, das sie gekauft hatte, war einmal im Besitz Ludwigs IX. gewesen, dem einzigen heiliggesprochenen König Frankreichs. Nicht nur die Burgruine, sondern auch ein Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert gehörte dazu. Das hatte sie zu ihrem Wohnsitz umgebaut. Sie nannte den Besitz »Royal Champagne«, nach einem der Kavallerieregimenter Ludwigs XV.

Eine Burg aus Stein galt einst als Zeichen der Macht eines Adligen, und die Burg bei Givors war als militärische Festung konzipiert worden. Sie verfügte über eine Burgmauer, einen Graben, Mauertürme und einen großen Bergfried. Vor fast dreihundert Jahren war die Burg vollkommen zerstört worden, und Cassiopeia hatte sich ihren Wiederaufbau zur Lebensaufgabe gemacht. Wie im Mittelalter gab es in der Umgebung immer noch jede Menge Wasser, Stein, Erde, Sand und Holz – alles, was zum Wiederaufbau benötigt wurde. Steinhauer, Steinmetze, Maurer, Tischler, Schmiede und Töpfer standen auf ihrer Gehaltsliste – sie arbeiteten sechs Tage pro Woche und lebten und kleideten sich so, wie sie es vor achthundert Jahren getan hätten. Die Baustelle war für den Publikumsverkehr geöffnet, und die Eintrittsgelder halfen, die Kosten zu decken, doch den Großteil der Arbeiten hatte sie mit ihrem eigenen namhaften Vermögen finanziert. Gegenwärtig ging man von weiteren zwanzig Jahren Bauzeit aus, bis alles fertig sein würde.

Die Steinhauer untersuchten die Löcher, das Wasser darin war festgefroren, und Ausdehnungsrisse, die von den Löchern ausgingen, ließen erkennen, dass alles bereit war. Die Felswand ragte viele Meter empor, es war nackter Stein mit wenigen Rissen, Spalten oder Vorsprüngen. Vor Monaten hatten sie alles brauchbare Material auf oder in der Nähe des Erdbodens abgebaut, jetzt standen sie zwanzig Meter hoch auf einem Gerüst aus Holz und Seil. Drei Männer mit Schlägeln begannen, auf chase masses zu schlagen. Diese Werkzeuge sahen aus wie Hämmer, aber eine Seite war zu zwei scharfen Kanten geschmiedet, die durch einen konkaven Bogen verbunden waren. Diese Seite wurde an den Fels geklemmt und dann mit einem Hammer bearbeitet, um einen Spalt zu öffnen.

Indem sie die chase masses an diesem Spalt entlangbewegten und dabei immer wieder draufschlugen, erzeugten sie Schockwellen, die durch den Stein pulsierten und entlang der natürlichen Nähte Risse verursachten.

Ein mühsames Verfahren, aber es funktionierte.

Sie sah zu, wie die Männer mit den chase masses hantierten. Das Geräusch, mit dem Metall auf Metall schlug, hatte einen fast musikalischen Rhythmus. Eine Reihe langer Risse deutete darauf hin, dass genug Vorarbeit geleistet worden war.

»Es bricht gleich heraus«, warnte einer der Steinhauer.

Das war für die anderen das Signal aufzuhören.

Sie standen alle still und betrachteten die Felswand, die noch weitere zwanzig Meter über ihnen aufragte. Tests hatten erwiesen, dass dieser grauweiße Stein eine Menge Magnesium enthielt, das ihn besonders hart machte – perfekt für Bauarbeiten. Unter ihnen wartete ein mit Heu ausgelegter Pferdewagen darauf, die mannsgroßen Steine – jeder gerade so groß, dass ihn einer alleine tragen konnte – sofort zur Baustelle zu fahren. Das Heu diente als natürlicher Stoßfänger, damit möglichst wenig von den Steinen abplatzte. Größere Teile wurden an Ort und Stelle behauen und dann abtransportiert. Hier war das Epizentrum ihrer gesamten Bemühungen.