Das Kind aus erster Ehe - Patricia Vandenberg - E-Book

Das Kind aus erster Ehe E-Book

Patricia Vandenberg

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Beschreibung

Im Sonnenwinkel ist eine Familienroman-Serie, bestehend aus 75 in sich abgeschlossenen Romanen. Schauplätze sind der am Sternsee gelegene Sonnenwinkel und die Felsenburg, eine beachtliche Ruine von geschichtlicher Bedeutung. Wundervolle, Familienromane die die Herzen aller höherschlagen lassen. Es war eine herrliche Frühlingsnacht mit samtblauem Himmel und vielen Sternen. So recht geschaffen für Verliebte, und Holger von Gandolf war bis über beide Ohren verliebt. »Nanette«, flüsterte er und umschloß das erglühende Gesicht mit seinen Händen, »willst du meine Frau werden?« Sie konnte es nicht glauben. Es war wie ein Traum, viel zu schön, um wahr zu sein. Aber auch Holger von Gandolf war wie in einem Traum gefangen. Was er niemals für möglich gehalten hatte, war geschehen. Er hatte in Nanette Hollweg die große Liebe seines Lebens gefunden. Und als sie nun ihr »Ja« hauchte, vergaß er die leisen Zweifel, ob sie nicht doch zu jung für ihn wäre. Erst vier Wochen war es her, daß Holger die junge Dolmetscherin anläßlich einer Tagung kennengelernt hatte. Es war bei beiden die berühmte Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber niemals hätte Nanette es für möglich gehalten, daß er ihr einen Heiratsantrag machen würde, denn sie kannte seine tragische Vergangenheit. Ihre Freundin Dolly hatte sie ihr ausführlich erzählt. Holger von Gandolf, sechsunddreißig Jahre, ebenso bekannt als Verfasser historischer Dokumentationen wie auch als Turnierreiter, war schon einmal verheiratet gewesen und hatte aus dieser Ehe einen achtjährigen Sohn. Seine Frau, ebenfalls eine Pferdenärrin, war bei einer Fuchsjagd so unglücklich gestürzt, daß sie nach monatelangem Leiden gestorben war. Holger von Gandolf hatte sich damals vom Reitsport und auch vom gesellschaftlichen Leben zurückgezogen. Er lebte jetzt mit seinem Sohn und dessen Kinderfrau in seinem Elternhaus am Sternsee. Dolly war bestens informiert, denn sie war schon lange mit Eric Stenberg befreundet,

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Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Im Sonnenwinkel – 47 –Das Kind aus erster Ehe

Patricia Vandenberg

Es war eine herrliche Frühlingsnacht mit samtblauem Himmel und vielen Sternen. So recht geschaffen für Verliebte, und Holger von Gandolf war bis über beide Ohren verliebt.

»Nanette«, flüsterte er und umschloß das erglühende Gesicht mit seinen Händen, »willst du meine Frau werden?«

Sie konnte es nicht glauben. Es war wie ein Traum, viel zu schön, um wahr zu sein. Aber auch Holger von Gandolf war wie in einem Traum gefangen. Was er niemals für möglich gehalten hatte, war geschehen. Er hatte in Nanette Hollweg die große Liebe seines Lebens gefunden. Und als sie nun ihr »Ja« hauchte, vergaß er die leisen Zweifel, ob sie nicht doch zu jung für ihn wäre.

Erst vier Wochen war es her, daß Holger die junge Dolmetscherin anläßlich einer Tagung kennengelernt hatte. Es war bei beiden die berühmte Liebe auf den ersten Blick gewesen, aber niemals hätte Nanette es für möglich gehalten, daß er ihr einen Heiratsantrag machen würde, denn sie kannte seine tragische Vergangenheit. Ihre Freundin Dolly hatte sie ihr ausführlich erzählt.

Holger von Gandolf, sechsunddreißig Jahre, ebenso bekannt als Verfasser historischer Dokumentationen wie auch als Turnierreiter, war schon einmal verheiratet gewesen und hatte aus dieser Ehe einen achtjährigen Sohn. Seine Frau, ebenfalls eine Pferdenärrin, war bei einer Fuchsjagd so unglücklich gestürzt, daß sie nach monatelangem Leiden gestorben war. Holger von Gandolf hatte sich damals vom Reitsport und auch vom gesellschaftlichen Leben zurückgezogen.

Er lebte jetzt mit seinem Sohn und dessen Kinderfrau in seinem Elternhaus am Sternsee.

Dolly war bestens informiert, denn sie war schon lange mit Eric Stenberg befreundet, der Chefredakteur des Ver­lages war, für den Holger arbeitete.

Nanette war dreiundzwanzig, Tochter eines höheren Beamten, konventionell erzogen und in ihrem Beruf außerordentlich tüchtig. Sie war eine vollendete junge Dame von aparter Schönheit.

Als Holger von Gandolf in ihr Leben trat, waren die Würfel gefallen.

Und nun lag sie in seinen Armen. Sie sagte aus vollem Herzen ja zu einem Leben mit ihm. Jetzt dachten sie beide nicht daran, daß es da noch ein Kind gab.

Über Daniel sprachen sie am nächsten Morgen, als Holger Nanette bat, das Wochenende bei ihm zu verbringen, um Daniel kennenzulernen.

»Was wird er dazu sagen?« fragte sie leise.

»Er wird entzückt sein, eine so bezaubernde Mama zu bekommen«, erwiderte er. »Er ist ein lieber Junge, Nan. Er hat nie Schwierigkeiten gemacht.«

»Er hängt sehr an dir«, sagte Nanette.

»Er ist mein Sohn und mir sehr ähnlich«, erwiderte er.

Von seiner Frau Sonja sprach er nie, und Nanette stellte ihm keine Fragen.

»Du wirst ihn mögen«, sagte Holger.

»Ich werde ihn liebhaben«, sagte Nanette. »Er ist dein Sohn.«

Eine Mutter konnte man wohl nicht ersetzen. Sie konnte dem kleinen Daniel eine große Freundin sein, das war ihr Wunsch und Wille, und sie fuhr mit stiller Freude im Herzen mit Holger zum Sternsee.

*

»Du, Mimi, Papi bringt eine Dame mit«, sagte Daniel zu seiner Kinderfrau, in deren treuer Obhut Holger seinen Sohn stets zurücklassen konnte. »Eine sehr hübsche Dame.«

»Dann wasch dir die Hände und begrüße den Gast anständig«, meinte Mimi.

Daniel war ein richtiger Junge. Ganz sauber war er nie, wenn er draußen spielte. Sein braunes Haar war zerzaust, und die Beine wiesen Kratzer auf.

Die Hände wusch er sich, aber für anderes nahm er sich keine Zeit.

»Das ist unsere gute Mimi, Nan«, hörte er seinen Vater sagen, und da stürzte er schon hinaus.

Nanette sah den Jungen an. Er war seinem Vater tatsächlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Ein weiches Lächeln legte sich um ihren Mund.

»Hände habe ich mir gewaschen, Papi«, sagte Daniel, »na, und sonst«, er sah an sich herab und grinste verlegen.

»Ein richtiger Junge braucht nicht ganz sauber zu sein«, sagte Nanette. Sie ergriff die kleine, noch feuchte Hand. »Ich freue mich, dich kennenzulernen, Daniel.«

»Das ist Nanette Hollweg, Daniel«, sagte Holger. »Sie wird übers Wochenende unser Gast sein.«

»Welches Zimmer soll ich herrichten?« fragte Mimi.

»Das hat noch Zeit«, sagte Holger. »Nanette wird sich erst das Haus ansehen, dann kann sie selbst entscheiden.«

Mimi blinzelte und machte sich ihre Gedanken, und es waren keine falschen. Wenn Herr von Gandolf eine so hübsche Dame mitbrachte, mußte das triftige Gründe haben. Sie hatte nichts dagegen einzuwenden, daß wieder eine Frau ins Haus kam.

Daniel blieb ganz unbefangen. Ihm gefiel es, daß Nanette nicht an ihm herumgemäkelt hatte, wie das zum Beispiel seine Tante Renate immer tat. Er war mit dem Besuch einverstanden.

Reibungslos begann ihre Bekanntschaft.

Nach dem Mittagessen gingen sie gemeinsam in den Garten.

»Heute morgen war ein Hase hier, Papi«, erzählte Daniel. »Ich würde auch gern einen Hasen haben.«

»Ob Mimi das recht wäre?« fragte Holger.

»Man kann sie ja fragen«, meinte Daniel. Dann warf er Nanette einen schrägen Blick zu. »Magst du Hasen?«

»Ich mag alle Tiere«, erwiderte sie.

»Auch Schlangen?« fragte er.

»Nein, Schlangen gerade nicht.«

»Die mag ich auch nicht«, sagte Daniel. »Aber Vögel.«

»Wer mag Vögel nicht«, meinte sie.

»Es gibtLeute, die sie schießen«, sagte Daniel.

Nanette wunderte sich, daß Holger plötzlich so nervös wurde.

»Wir wollten etwas anderes mit dir besprechen, Daniel«, sagte er rasch und erklärte dem Jungen, daß sie heiraten wollten.

Daniel sah Nanette forschend an. »Dachte mir schon so was«, sagte er. Es klang nicht unfreundlich.

»Nanette möchte deine Mama sein«, sagte Holger betont.

»Eine Mama ist sie nicht«, sagte der Junge. »Sie ist ein großes Mädchen. Mama werde ich nicht sagen.«

»Das brauchst du auch nicht«, sagte Nanette. »Du kannst dir einen Namen aussuchen für mich. Ich hoffe, daß wir uns gut verstehen werden, Daniel.«

»Kann ich in den Ferien dann zu Hause bleiben, Papi?« fragte der Junge.

»Darüber sprechen wir noch«, erklärte Holger.

»Dann werde ich jetzt mal Mimi Bescheid sagen«, meinte Daniel. »Sie wird ja nun endlich zufrieden sein.«

»Es kam ihm wohl zu plötzlich«, sagte Nanette nachdenklich.

»I wo, wenn es ihm nicht recht wäre, hätte er schon gemeutert«, erwiderte Holger lächelnd. »Übrigens verbringt er die Ferien immer bei seinen Großeltern, und das wird auch dieses Jahr so sein. Wir werden kurz vorher heiraten und dann unsere Hochzeitsreise machen.« Er räusperte sich. »Es sind Sonjas Eltern. Du hast doch Verständnis dafür, daß der Junge zu ihnen fährt, Nan?«

»Werden sie Verständnis haben, daß du wieder heiratest?« fragte sie.

»Daniel ist ihr Enkel, wenn ich heirate, ist das meine Angelegenheit. Mach dir darüber keine Gedanken, ich habe nur losen Kontakt zu ihnen. An Daniel hängen sie natürlich.«

Nanette faßte sich nun doch ein Herz. »Du hast mir noch nie von deiner Frau erzählt, Holger«, sagte sie leise.

»Du wirst meine Frau sein, Nan«, sagte er. »Denken wir an die Zukunft. Von Vergangenem wollen wir nicht reden.«

»Gefällt dir das große Mädchen, Mimi?« fragte Daniel indessen.

»Gefällt sie dir?« fragte Mimi.

»Recht gut, aber ich sage nicht Mama. Nanette mag Vögel. Sie schießt bestimmt keine tot.«

Mimi wußte, was er damit sagen wollte. Seine Mutter hatte auf Vögel geschossen. Es war ein Sport für sie gewesen.

»Ich kann mir einen anderen Namen suchen, hat sie gesagt«, fuhr Daniel fort. »Das finde ich nett. Sie sieht aber aus, als ob sie noch zur Schule geht.«

Mimi äußerte sich nicht weiter. Sie war der Ansicht, daß ihr dies nicht zustünde. Sie war Daniel herzlich zugetan und seit seiner Geburt im Hause. Holger von Gandolf war ein angenehmer Arbeitgeber. Sie konnte frei schalten und walten, und das gefiel ihr. Sie war zuverlässig und treu, und wenn jetzt eine junge Frau ins Haus kam, würde sie sich auch zurechtfinden.

»Vielleicht brauche ich in den Ferien dann nicht zu den Großeltern zu fahren«, sagte Daniel.

»Darauf werden sie wohl bestehen«, brummte Mimi.

*

Es waren noch drei Wochen bis zu den Ferien. Drei Wochen, in denen Holger und Nanette damit beschäftigt waren, alle Vorbereitungen zu treffen, die für eine Heirat nun mal zu treffen waren.

Daniel war es gewohnt, mit Mimi allein zu sein, und in seinem kleinen Herzen nährte sich die Hoffnung, daß es nun doch bald anders werden würde. Er verstand sich prima mit Mimi, aber für ihn war es ein angenehmer Gedanke, nun auch Eltern zu haben, nicht nur einen Papi.

Seine Freunde drüben im Sonnenwinkel, wo er auch zur Schule ging, würden staunen, was für ein hübsches Mädchen nun seine Mutter werden würde.

Mutter gefielt ihm auch nicht so gut. Mami hätte ihm dafür recht gut gefallen, aber er fragte sich, ob man sie dazu nicht schon von Anfang an hätte haben müssen.

Mama hatte er zu der Mutter gesagt, die früher bei ihnen gewesen war und die immer Vögel geschossen hatte. Es war schon lange her, und an sie selbst konnte Daniel sich gar nicht mehr erinnern, aber daran, daß sie auf Vögel schoß.

Und dann fragten die Großeltern auch immer noch, ob er auch an die Mama dächte. Und Renate, seine Tante, fragte ihn stets, ob der Papi denn nicht öfter Damenbesuch hätte.

Das ärgerte ihn dann immer. Natürlich kamen auch Damen zu ihnen ins Haus, aber immer mit ihren Männern. Tante Renate wollte ja wissen, ob auch Damen kämen, die keine Männer hatten.

Daniel verspürte eine gewisse Genugtuung, daß er es ihr nun sagen konnte, daß eine Dame gekommen sei, wenn er in den Ferien wirklich nach Gut Lerchenhof mußte.

Lerchen waren Vögel, die Daniel besonders gern mochte, weil sie so schön singen konnten. Hier gab es noch einige, aber im Lerchenhof nicht mehr. Manchmal dachte Daniel, daß die Mama sie alle weggeschossen hätte.

Ein paar Tage hatte Daniel für sich behalten, daß das Leben daheim sich nun verändern würde, aber dann hatte er es seinen engsten Freunden doch verkündet.

Mittwochs hatten sie länger Schule als sonst, und da durfte er dann immer noch im Sonnenwinkel bleiben. Abwechselnd aß er bei den Münsters und den Auerbachs zu Mittag, und anschließend machte er mit Bambi Auerbach und Manuel Münster Hausaufgaben. Zeit zum Spielen blieb auch noch.

»Mein Papi heiratet ein großes Mädchen«, erzählte er den Spielgefährten. »Sie ist sehr nett und heißt auch so.«

»Wie?« fragte Bambi.

»Nanette«, erwiderte er.

»Gefällt mir«, sagte Bambi.

»Mir auch«, erklärte Manuel.

»Ihr habt sie ja noch nicht gesehen«, sagte Daniel. »Sie wird euch erst recht gefallen, wenn ihr sie gesehen habt. Bei ihr darf ich ruhig mal dreckig sein und brauch’ auch keinen Diener zu machen. Am meisten würde es mich aber freuen, wenn ich in den Ferien mal mit ihnen verreisen könnte.«

Er wollte nicht direkt sagen, daß er keine Lust hatte, immer zu seinen Großeltern zu fahren, bei denen es so schrecklich vornehm zuging, aber er dachte es.

»Wann heiraten sie denn?« erkundigte sich Bambi, die Hochzeiten liebte.

»Noch vor den Ferien. Sie sind schon unterwegs wegen der Papiere. Nanette hat auch Eltern, stellt euch das mal vor.«

Nanettes Eltern fielen aus allen Wolken, als Holger um die Hand ihrer Tochter bat. Ganz formell natürlich, wie es sich bei einem Ministerialrat gehörte.

Ein kleiner Schock war es für Nanettes Eltern, daß Holger einen achtjährigen Sohn mit in die Ehe brachte, wenn an ihm selbst auch kaum etwas auszusetzen war.

Ein gutaussehender, interessanter Mann war er. Vermögend auch. Eine bessere Partie hätte Nanette kaum machen können. Daß er dreizehn Jahre älter war, empfanden sie nicht als störend.

Holger fand seine Schwiegereltern äußerst sympathisch. Ihren älteren Bruder und seine Frau sollte er dann bei der Hochzeit kennenlernen, auch ihre Freundin Dolly, die mit Eric Stenberg eingeladen werden sollte. Eine Hochzeit im kleinen Kreis sollte gefeiert werden. Holger sehnte diesen Tag mit brennender Ungeduld herbei. Die Hochzeitsreise hatte er auch schon geplant. Das Ziel sollte für Nanette eine Überraschung werden.

Nanette blieb jetzt in ihrem Elternhaus. Ihre kleine Wohnung wollte sie noch auflösen. Ihre Möbel wollte sie mit in ihr neues Heim nehmen.

»Ihr werdet doch nett zu Daniel sein«, sagte sie zu ihren Eltern.

»Das ist doch wohl selbstverständlich«, sagte ihre Mutter. »Du hast dich entschieden. Wir sind überzeugt, daß es eine gute Entscheidung war.«

»Ich liebe Holger, und der Junge ist ihm sehr ähnlich und nun einmal sein Sohn«, sagte Nanette darauf.

*

Die Tage eilten dahin. »Daniels Papi heiratet nicht hier«, verkündete Bambi ihren Eltern enttäuscht. »Sie heiraten bei Nanettes Eltern. Morgen fahren sie.«

»Wie es sich gehört«, sagte Professor Werner Auerbach. »Die Hochzeiten finden im Elternhaus der Frau statt.«

»Immer nicht«, widersprach sie. »Aber manche Bräute haben ja auch keine Eltern.«

Sie hatte immer eine plausible Erklärung. Inge und Werner Auerbach tauschten einen Blick. Ihre unwiderstehliche Jüngste schien das Zeugnis völlig vergessen zu haben. Auf eine diesbezügliche Frage reagierte Bambi gelassen.

»Wie immer«, sagte sie, um es dann aus ihrer Schultasche zu nehmen.

Wie immer alles Einsen. Ihr machte die Schule Spaß. Sie brauchte sich nicht zu plagen.

»Ist der Professor zufrieden?« fragte Bambi schelmisch.

»Der Papi bedankt sich«, sagte Werner.

»Gell, du schimpfst mit Hannes aber nicht, wenn er mal wieder eine Fünf hat«, sagte Bambi sogleich.

Sie war sehr besorgt, weil ihr großer und über alles geliebter Bruder noch immer nicht daheim war.

Werner Auerbach beruhigte sie. Er wollte mit Hannes nicht schimpfen.

»Du machst ja alles wett, mein Schatz«, sagte er liebevoll.

»Hannes möchte schon, aber manches liegt ihm halt nicht«, sagte Bambi. »Im Gymnasium ist es auch viel schwerer. Nun komme ich schon in die dritte Klasse, Papi. Hoffentlich muß ich mich da ein bißchen mehr anstrengen.«

Zu Bambis Freude erschien nun Hannes. Und auch er, der Fünfzehnjährige, strahlte heute.

»Nur eine Vier«, rief er aus. »Daß es ausgerechnet in Mathematik ist, Papi, tut mir leid. Aber ich habe so viel für Latein gebüffelt, daß ich in Mathe nachlässig geworden bin.«

»Ist schon gut, Hannes«, sagte Inge Auerbach und fuhr dem Jungen durch das struppige Haar.

»Ich habe so viel Daumen gedrückt, Hannes«, wisperte Bambi.

»Kleine Maus«, sagte Hannes zärtlich. Bambi strahlte. Sie war so glücklich, daß er da war und daß sein Zeugnis gut war.

»Ich hab’ doch immer gesagt, daß du es schaffst«, flüsterte sie.

»Ihr Glaube spornt ihn an«, sagte Inge Auerbach, als die beiden sich entfernt hatten. »Sie ist so süß, Werner. Mir kommen immer die Tränen, wenn ich sehe, wie sie an Hannes hängt.

Unwillkürlich dachten sie nun beide an jenen verhängnisvollen Tag, als sie das kaum einjährige Kind zu sich geholt hatten, nachdem Bambis Eltern tödlich verunglückt waren.

Bambis Vater war ein junger, begabter Mitarbeiter von Professor Auerbach gewesen, dessen Tod ihn schmerzlich getroffen hatte. Es war ihnen als Verpflichtung erschienen, der kleinen Waise ein Elternhaus zu geben, und wie glücklich waren sie alle durch dieses Kind geworden, das mit seinem unbeschreiblichen Liebreiz alle Herzen gewann.

»Hannes, ich bin so froh«, sagte Bambi und warf ihre Ärmchen um seinen Hals.

»Du, dir hab’ ich noch gar nicht gesagt, daß Daniels Hochzeit, ich meine die von seinem Papi, woanders gefeiert wird«, sagte Bambi.

»Hättest wohl wieder gern mal Blumen gestreut«, meinte Hannes.

»Ich denke nur nach, ob man eine neue Mami wirklich so liebhaben kann wie die richtige«, meinte Bambi nachdenklich.

Hannes konnte sich noch ganz gut an den Tag erinnern, an dem die winzige, aber schon so entzückende Bambi, damals noch mit ihrem richtigen Namen Pamela genannt, zu ihnen gekommen war. Er hatte es zuerst gar nicht so schön gefunden, noch ein Schwesterchen zu bekommen, aber dann hatte er sie doch gleich in sein Herz geschlossen, als sie ihm jauchzend die Ärmchen entgegenstreckte. Und so war es geblieben. Hannes hatte dieses kleine Mädelchen mit größter brüderliche Fürsorge betreut und bald innigst geliebt.

»Ich glaube schon, Bambi, daß man das kann. Es kommt natürlich auf die Mami an«, erwiderte er.

»Doch, ich meine, daß Daniel sie gern hat«, sagte Bambi. »Er spricht lieb von ihr. Morgen fahren sie zur Hochzeit.«

»Hat er wenigstens auch ein gutes Zeugnis?« fragte Hannes.

»Es geht so«, erwiderte Bambi ausweichend. »Vielleicht wird es besser, wenn er eine Mami hat.«

»Kommt ihr jetzt?« rief Inge Auerbach. »Das Essen steht auf dem Tisch.«

Bambi schleckte sich das Mündchen. »Und das wird uns schmecken, was, Hannes?« fragte sie.

*

Holger war mit seinem Sohn bereits unterwegs. »Warum kommt Mimi nicht mit?« fragte Daniel.

»Sie wollte nicht«, erwiderte Holger.

»Sie hat sich wohl geärgert, daß ich zwei Dreien im Zeugnis habe«, meinte Daniel. »Es tut mit leid, Papi, aber im Turnen und in Religion bin ich eine Niete.«

»Ist nicht so schlimm, mein Junge«, sagte Holger.

»Bambi hat wieder das beste Zeugnis«, sagte Daniel. »Wie kann man als Mädchen nur so schlau sein?«

»Das ist eben manchmal so.« Holger interessierte das Zeugnis seines Sohnes wenig. Er war mit seinen Gedanken schon bei Nanette.

»Großpapa wird wieder nörgeln«, sagte Daniel. Er wollte nicht so deutlich sagen, daß er traurig war, die Ferien wieder bei den Großeltern verbringen zu müssen, aber andeuten wollte er es doch.

»Du kannst es ja verschweigen«, erwiderte Holger.