Das kleine Cottage am Meer - Debbie Macomber - E-Book
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Das kleine Cottage am Meer E-Book

Debbie Macomber

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Beschreibung

Zuhause ist, wo mein Herz ist – und das Meer …

Annie Marlow hat das Schlimmste erlebt, denn sie hat ihre ganze Familie durch ein tragisches Unglück verloren. Als ihre beste Freundin ihr rät, an den Ort zurückzukehren, an dem sie immer glücklich war, fällt ihr Oceanside ein, eine kleine Stadt am Meer, in der sie viele fröhliche Sommer mit ihrer Familie verbrachte. Annie mietet ein winziges Cottage und schließt auch bald neue Freundschaften – vor allem mit Keaton, der für sie der Fels in der Brandung wird. Während sie langsam zurück ins Leben findet, muss Annie sich schon bald fragen, ob da nicht doch mehr als nur Freundschaft zwischen ihnen ist …

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Buch

Annie Marlow hat das Schlimmste erlebt, denn sie hat ihre ganze Familie durch ein tragisches Unglück verloren. Als ihre beste Freundin ihr rät, an den Ort zurückzukehren, an dem sie immer glücklich war, fällt ihr Oceanside ein, eine kleine Stadt am Meer, in der sie viele fröhliche Sommer mit ihrer Familie verbrachte. Annie mietet ein winziges Cottage und schließt auch bald neue Freundschaften – vor allem mit Keaton, der für sie der Fels in der Brandung wird. Während sie langsam zurück ins Leben findet, muss Annie sich schon bald fragen, ob da nicht doch mehr als nur Freundschaft zwischen ihnen ist …

Autorin

Debbie Macomber ist mit einer Gesamtauflage von über 170 Millionen Büchern eine der erfolgreichsten Autorinnen überhaupt. Wenn sie nicht gerade schreibt, ist sie eine begeisterte Strickerin und verbringt mit Vorliebe viel Zeit mit ihren Enkelkindern. Sie lebt mit ihrem Mann in Port Orchard, Washington, und im Winter in Florida.

Von Debbie Macomber bereits erschienen:

Winterglück · Frühlingsnächte · Sommersterne · Herbstleuchten · Rosenstunden · Leise rieselt das Glück

Weitere Informationen unter: www.debbiemacomber.com

Besuchen Sie uns auch auf www.facebook.com/blanvalet und

www.twitter.com/BlanvaletVerlag

DEBBIE

MACOMBER

Das kleine Cottage

am Meer

Roman

Aus dem Amerikanischen

von Nina Bader

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Cottage by the Sea« bei Ballantine Books, an Imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC, New York.
Copyright © der Originalausgabe 2018 by Debbie MacomberThis translation published by arrangement with Ballantine Books, an imprint of Random House, a divison of Penguin Random House LLC.Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Blanvalet Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.Redaktion: Ulrike NikelUmschlaggestaltung: www.buerosued.deUmschlagmotive: © living4media/Sheltered Images; www.buerosued.deSatz: KompetenzCenter, MönchengladbachLH · Herstellung: samISBN: 978-3-641-23891-9V002
www.blanvalet.de

Sommer 2018

Liebe Freunde,

es hat sich tatsächlich so abgespielt. Ohne Vorwarnung und ohne irgendein Anzeichen, dass so etwas geschehen würde, ist in der Nähe von Oso, Washington, ein ganzer Hang abgerutscht. Die Schlammlawine vom 22. März 2014 hat neunundvierzig Häuser mitgerissen und dreiundvierzig Menschen das Leben gekostet. Dieser Erdrutsch gehört zwar inzwischen der Geschichte an, aber im Pazifischen Nordwesten wird man sich an diesen Schicksalsschlag noch lange erinnern – an die Plötzlichkeit, mit der das Unheil über die Menschen hereinbrach, und an das Entsetzen darüber, dass so etwas überhaupt passieren konnte.

Mich selbst hat diese Tragödie sehr beschäftigt, das Schicksal der Opfer und vor allem das der Hinterbliebenen, die an einem Tag teilweise ihre gesamte Familie verloren, und ich habe mich gefragt, wie sie wohl weitergelebt haben mit ihrer Trauer und ihrer Verzweiflung. Diese Überlegungen inspirierten mich schließlich zu diesem Roman, in dessen Mittelpunkt eine junge Frau steht, der genau das passiert ist, die plötzlich mutterseelenallein in der Welt steht und einen Ort sucht, den sie als ihr Zuhause betrachten kann. Und ist es nicht das, wonach wir alle suchen, nach einem Zuhause?

Unterstützt haben mich bei der Realisierung dieses Projekts meine Redakteurinnen Shauna Summers und Jennifer Hershey, die sich nach Kräften bemühen, das Beste aus mir als Autorin herauszuholen. Und obwohl ich mir gerne einbilde, dass jedes Wort, das ich in meinen Computer eingebe, perfekt ist, trifft das nicht zu. Es gibt Überarbeitungen und Neufassungen und weitere Überarbeitungen und Neufassungen. Ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass diese beiden mich unter ihre Fittiche genommen haben.

Und wie immer ist es für mich von elementarer Bedeutung, von meinen Lesern zu hören. Ich freue mich darauf, eure Kommentare, Vorschläge und Korrekturen zu lesen. Tatsächlich tauchen trotz mehrfachen Durchlesens immer noch Fehler auf. Also scheut euch nicht, mich darauf hinzuweisen. Und natürlich könnt ihr mich auch wissen lassen, wie euch das Buch gefallen hat. Solche Rückmeldungen sind immer willkommen.

Ihr erreicht mich über meine Website debbiemacomber.com, oder ihr schreibt mir an die Adresse PO.O. Box 1458, Port Orchard, WA 98366. Außerdem findet ihr mich bei Facebook, Twitter und Co.

Herzlichst

Debbie Macomber

Für Candi und Tom,

meine liebsten Freunde.

Und das sage ich, auch ohne Toms wunderbaren Wein

getrunken zu haben.

Prolog

Dreizehn Jahre zuvor

Keaton war das hübsche Mädchen gleich aufgefallen, als sie zum ersten Mal an den Strand gekommen war, und er hatte den Blick nicht von ihr losreißen können.

Ihre Familie verbrachte die Ferien im Munson-Cottage, und sowie das Auto ausgeladen war, hatten sich das Mädchen und ihr Bruder auf den Weg ans Wasser gemacht. Seitdem waren sie jeden Tag zum Schwimmen hier gewesen oder hatten mit anderen Teenagern Volleyball gespielt.

Das Mädchen sprühte geradezu vor Leben; sein Lachen wehte mit dem Wind zu ihm herüber und entlockte ihm jedes Mal, wenn er es hörte, ein Lächeln. Sie konnte nicht älter sein als vierzehn oder fünfzehn und war vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als ihr Bruder. Keaton bemerkte, dass sich alle wie von selbst zu ihr hingezogen fühlten und ihre Nähe suchten. Auch er spürte diese Anziehungskraft, obwohl er sie nur aus der Ferne beobachtete.

Oceanside war ein kleines, abgelegenes, eher verschlafenes Städtchen, doch wenn der Sommer kam, waren sämtliche Hotelzimmer und sonstigen Unterkünfte belegt. Die Geschäfte wimmelten von Touristen, die darauf brannten, ihre Urlaubsdollar auszugeben. Der Geruch des Meeres vermischte sich dann mit dem Duft von frittierten Muscheln, Fisch und Chips. Kinder drängten sich vor dem Fenster des Süßwarenladens, um zuzuschauen, wie Mr. Buster Salzwassertoffees zog oder Fondantmasse auf große Backbleche goss. Ebenfalls beliebt war das Geschäft, in dem Drachen verkauft wurden, die sich während der Saison in allen erdenklichen Formen und Farben am Himmel tummelten, nachdem Kinder wie Erwachsene mit ihnen über den Sand gerannt waren, um sie steigen zu lassen.

Und inmitten dieses Trubels hatte dieses eine Mädchen Keatons Aufmerksamkeit in einem solchen Maße erregt, dass er unentwegt an sie denken musste. Ihm gefiel ihr langes kastanienbraunes, in der Sonne rötlich schimmerndes Haar. Sie trug es zu einem dicken Zopf geflochten, der auf ihrem Rücken tanzte, wenn sie den Strand entlanglief und der Sand unter ihren nackten Füßen aufspritzte. Über mangelnde Aufmerksamkeit konnte sie sich jedenfalls nicht beklagen. Ihm war nicht entgangen, dass sich eine ganze Reihe von Jungen für sie interessierte.

Kein Wunder, weshalb sollte es ihnen denn anders ergehen als ihm.

Mehr als irgendetwas sonst wünschte Keaton sich, mit ihr zu reden. Das Problem bestand allerdings darin, dass er nicht wusste, wie er sie ansprechen oder was er sagen sollte. Sofern er überhaupt den Mut dazu aufbrachte. Sollte er ihr gestehen, dass er sie hübsch fand? Schwierig, zumal er selbst an seinen besten Tagen den Mund kaum aufbekam. In der Gegenwart von Mädchen schien sich nämlich grundsätzlich ein Knoten in seiner Zunge zu bilden, der ihn hartnäckig am Reden hinderte.

Außerdem hämmerte jedes Mal, wenn er erwog, sie am Strand anzusprechen, sein Herz so heftig, dass er seinen Pulsschlag bis in den Kopf spüren konnte. Und zum ersten Mal in seinem Leben dachte er über Mittel und Wege nach, wie sich diese hinderliche Scheu überwinden ließ und er es zumindest schaffte, sich ganz normal mit ihr zu unterhalten. Ein gewandter Plauderer würde er nie werden, diese Gabe war ihm nicht in die Wiege gelegt worden.

»Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, ermutigte ihn sein bester Freund ständig.

Preston hatte gut reden, dachte Keaton und hätte ihm am liebsten genau dasselbe vorgehalten. Schließlich hatte er während seiner gesamten Highschoolzeit für Mellie Johnson geschwärmt und, obwohl er wegen des Mädchens fast krank vor Liebe war, vier Jahre lang nie mehr getan, als sie auf dem Gang zu grüßen. Nicht dass es ihm etwas genutzt hätte – Mellie war am Tag nach dem Schulabschluss mit einem Typen durchgebrannt, den sie beim Ausgehen in Aberdeen kennengelernt hatte. Seither hatte niemand sie mehr gesehen oder von ihr gehört.

Wie auch immer. Keaton brauchte fast die ganze Woche, um sich ein Herz zu fassen und sich dem Mädchen zu nähern. Jetzt oder nie, sagte er sich. Jedoch musste er zuvor noch eine andere Hemmschwelle überwinden, und das war die Furcht, seine überdurchschnittliche Größe könnte sie abschrecken, ihn überhaupt zur Kenntnis zu nehmen.

Immerhin hatte er während seiner Schulzeit genug leidvolle Erfahrungen gemacht.

Die Mitschülerinnen hatten ihn gemieden, weil er auf sie irgendwie bedrohlich wirkte, mürrisch und unfreundlich. Und in der Tat lächelte er so gut wie nie. Was vor allem daran lag, dass es in Keatons Leben nicht viel Grund zum Lachen gegeben hatte. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, aber seine Größe und seine Statur verhinderten das.

Bereits in seinen ersten Highschooljahren hatte er fast die Zwei-Meter-Grenze erreicht und seitdem noch fünf Zentimeter zugelegt. Seine Schultern waren so breit, dass er kaum durch eine Tür passte, und entsprechend riesig waren seine Hände und Füße. Wohl oder übel hatte er sich an die spöttischen Bezeichnungen gewöhnt, mit denen andere sich über seine Größe lustig machten.

Ochse und Elch waren lediglich zwei Bezeichnungen von vielen, mit denen er verhöhnt wurde. Er bot ein leichtes Ziel, da er es vorzog, den Spott zu ignorieren und nicht darauf zu reagieren, wenngleich es ihm unter die Haut ging.

Verlegen und mit wild pochendem Herzen näherte er sich also langsam dem Mädchen.

»Hey, schaut mal, da kommt der Jolly Green Giant«, rief einer der Jungs.

Keaton achtete nicht auf ihn und lächelte, murmelte »Hi« und musterte sie dabei eindringlich.

Aus der Nähe betrachtet war sie sogar noch hübscher als aus der Entfernung. Ihre Augen waren haselnussbraun mit einem Grünschimmer, und ihr dicker Zopf lag auf ihrer gebräunten Schulter. Sie trug ein Strandkleid mit einem Muster aus roten Mohnblüten und darunter einen Badeanzug. Er verspürte den unwiderstehlichen Drang, eine Hand auszustrecken und ihre Wange zu berühren, um sich zu vergewissern, dass sie kein Produkt seiner Fantasie war.

»Das ist der Yeti persönlich«, spottete ein anderer Halbwüchsiger.

»Nein, das ist Bigfoot.«

»Er hat wirklich Riesenfüße.«

»Sag ich doch. Bigfoot.«

»Hört auf!«

Das Mädchen wirbelte herum und wandte sich empört an die Spötter, bevor sie sich zu Keaton umdrehte und ihm ein freundliches Lächeln schenkte.

»Komm, Annie«, drängte ihr Bruder und griff nach ihrer Hand. »Wir müssen zurück.«

Annie. Sie hieß Annie. Keaton war hin und weg, genoss es, den Widerhall des Namens in seinem Kopf zu hören.

Das Mädchen schien die Aufforderung des Bruders zu ignorieren, ihre großen Augen waren forschend und warm auf Keaton gerichtet.

»Hast du etwas zu sagen, King Kong?«, höhnte Devon Anderson, der ebenfalls zu der Gruppe gehörte, die Annie umlagerte.

Keaton kannte ihn von der Highschool. Er war ein Mistkerl, und es überraschte ihn nicht, dass er dem Mädchen schöntat und seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken versuchte.

»Nenn ihn nicht so«, herrschte Annie den Fiesling aufgebracht an.

»Er spricht nicht.«

»Was hat er denn soeben sonst getan?«, konterte sie, war sichtlich verärgert über Devon und machte sich nicht die geringste Mühe, das zu verbergen. »Er hat ›Hi‹ gesagt, falls du es nicht gehört haben solltest.«

Der andere brach in brüllendes Gelächter aus.

»Ich wette, dass er darüber hinaus keinen Ton rauskriegt«, japste er und maß Keaton mit einem mehr als geringschätzigen Blick.

Annie hingegen sah ihn erwartungsvoll an, doch Keaton brachte tatsächlich kein weiteres Wort über die Lippen. Dabei wollte er ihr so gerne sagen, wie hübsch er sie fand und dass sie ihm gleich aufgefallen war mit ihrem langen Zopf.

»Siehst du, was ich meine?«, ätzte Devon.

»Lass das!«, fauchte sie ihn an. »Das ist gemein.«

Ihr Bruder zerrte erneut an ihrer Hand. »Komm endlich, Annie. Mom und Dad warten sicher schon.«

»Tut mir leid«, wandte sie sich an Keaton, und ihre Augen wurden ganz weich. »Wir müssen gehen. War schön, dich kennengelernt zu haben.«

Er nickte und rang sich ein Lächeln ab, um ihr zumindest zu verstehen zu geben, dass er dasselbe empfand.

»Wir fahren morgen nach Seattle zurück, kommen aber nächsten Sommer wieder«, versicherte sie ihm und winkte ihm im Gehen zu, während ihr Bruder sie mit sich zog.

Ein Jahr. Das war eine Menge Zeit, in der er an sich arbeiten konnte. Dann war er hoffentlich in der Lage, ihr all die Dinge zu sagen, die er in seinem Kopf gespeichert hatte.

Doch Annie kam nie zurück.

Keaton wartete Jahr für Jahr und vergaß niemals das schöne Mädchen mit dem kastanienbraunen Haar. Das Bild der über den Sand laufenden Annie blieb in seinem Gedächtnis haften. Unzählige Male zeichnete er mit Bleistift und Kohle Strandszenen von ihr, Bilder, die niemand zu Gesicht bekam. Und im Geist führte er lange Gespräche mit ihr, allein der Gedanke an sie verschaffte ihm seltene Glücksmomente.

Eines Tages vielleicht, dachte er und blickte hinaus auf den weiten Ozean und die Wellen, die ans Ufer rollten.

Eines Tages vielleicht …

1

Annie Marlow hasste es, ihre Eltern zu enttäuschen, trotzdem würde sie nicht zu Thanksgiving nach Seattle fliegen. Sie hatte Weihnachten für einen Besuch eingeplant und würde jetzt nicht alle Pläne über den Haufen werfen.

In ihrem Job als Arztassistentin, der ganz schön stressig war, hatte Annie nicht oft übers Wochenende vier Tage am Stück frei, und das musste sie ausnutzen. Trevor, ein guter Freund, wollte einen Truthahn zubereiten und hatte außer ihr und ihrer Freundin Stephanie einen attraktiven jungen Arzt eingeladen, der erst kürzlich in der Klinik angefangen hatte. Außerdem hatte sich ihre Cousine Gabby angesagt.

Vor allem dürfte es ihrer Mutter, unterstellte Annie zumindest, darum gehen, die komplette Familie auf ein Foto für die Weihnachtskarten zu bannen, die ihre Eltern jedes Jahr zu verschicken pflegten. Und das war es ihr nicht wert, kurzfristig umzudisponieren, zumal sie selbst für dieses Wochenende Besuch von ihrer Cousine aus Seattle erwartete. Sollte sie das alles etwa absagen wegen eines Familienfotos für die Weihnachtskarte? Nein wirklich, bei aller Liebe nicht. Von ihr aus konnten sie sie per Photoshop hineinkopieren. Überdies hatte sie wegen Gabby einen Mädelabend organisiert, für den sie sich extra ein schickes Outfit und Highheels mit zehn Zentimeter hohen Absätzen zugelegt hatte, alles Designerware.

Leider ließ ihre Mutter nicht locker, nervte sie ständig mit neuen Telefonattacken wie eben jetzt und setzte auf Schuldgefühle.

»Annie, bitte.«

»Mom, du kannst nicht in der letzten Minute all meine Pläne umschmeißen.«

Stöhnend warf sie einen Blick auf die Uhr. Wenn dieses Gespräch noch lange dauerte, würde sie nicht rechtzeitig beim Yogakurs sein.

»Dein Bruder kommt mit Kelly und dem Baby«, zog die Mutter ihren größten Trumpf, wie sie hoffte, aus dem Ärmel.

Ihr Bruder, der heißgeliebte Sohn. Na und? Sie hatte Mike und seine Familie dieses Jahr bereits zweimal gesehen, und das reichte schließlich, oder? Langsam hatte sie es dick, ständig alles so einzurichten, dass es in den Terminkalender ihres Bruders passte.

»Er kommt auch an Weihnachten, schon vergessen?«

»Wir sind seit August nicht mehr als Familie zusammengekommen«, jammerte ihre Mutter unverdrossen weiter.

Annie, das Telefon ans Ohr gepresst, war kurz davor loszuschreien.

»Und ein paar Monate sind lang bei einem Baby. Inzwischen kann Bella laufen, weißt du das überhaupt?«

»Ich werde Bella an Weihnachten sehen und sie dann gebührend bewundern. Mom, bitte. Wir haben das alles mehrmals durchgekaut. Können wir jetzt Schluss machen, ich muss nämlich weg.«

Ihr Telefon zeigte mit einem Piepton an, dass eine Nachricht eingegangen war. Stephanie hatte ihr ein Selfie geschickt. Mit rot getönten Haaren, die Lippen zu einem Schmollmund verzogen, sah die Freundin aus, als würde sie ihr durch das Telefon einen Kuss zuwerfen.

Annie lachte.

»Lachst du mich etwa aus?«, kam prompt die misstrauische Frage ihrer Mutter.

»Nein, entschuldige, Mom.« Sie unterdrückte ihre Belustigung. »Eine Freundin hat mir gerade eine Nachricht geschickt.«

»Ich hatte so sehr gehofft, dass du deine Meinung ändern würdest.«

»Sorry, Mom, wenn ich es könnte, täte ich es, leider geht es wirklich nicht.« Die Lüge kam ihr glatt über die Lippen, ohne ihr ein schlechtes Gewissen zu verursachen. »Du wirst mich nicht vermissen«, fügte sie besänftigend hinzu. »Immerhin kannst du dich auf diese Weise voll und ganz auf deine Enkelin konzentrieren. Genieße es, Bella ist ja wirklich total süß. Und Dad wird sowieso die ganze Zeit mit Mike herumhängen.«

»Dann versprich mir wenigstens, dass du es dir wegen Weihnachten nicht auch anders überlegst«, bat ihre Mutter. »Nicht dass es so läuft wie letztes Jahr«, fügte sie vorwurfsvoll hinzu.

Das war ein wunder Punkt, den sie da berührte. Letztes Weihnachten war Annie gefragt worden, ob sie bereit sei, an den Feiertagen zu arbeiten, und da sie immer knapp bei Kasse war, hatte sie die Gelegenheit sofort genutzt. Zum Kummer ihrer Eltern, da konnte sie noch so oft die hohen Lebenshaltungskosten in Südkalifornien ins immense Feld führen.

»Keine Sorge, ich bin Weihnachten bei euch, Mom«, versprach sie und hoffte, dass sie ihr endlich ihren Fauxpas vom letzten Jahr verzeihen würde.

Ein einziges Mal hatte sie es gewagt, über die Feiertage nicht nach Hause zu kommen, und das bekam sie bei jeder Gelegenheit aufs Brot geschmiert!

»Es tut mir leid, dass ich immer wieder davon anfange«, erklärte ihre Mutter. »Ich bin einfach schrecklich enttäuscht, denn ich hatte es mir schon so schön vorgestellt.«

»Mir tut es ja ebenfalls leid, aber Gabby und ich haben bereits das gesamte Wochenende verplant. Es geht ja nur um ein paar Wochen, dann bin ich zu Hause. Ich habe mittlerweile mein eigenes Leben, weißt du.«

»Sei nicht so, erwiderte ihre Mutter leicht pikiert.

»Was meinst du mit ›nicht so‹?«

»So störrisch. Die Familie ist das, was zählt. Ich weiß, dass du viel um die Ohren hast, bloß werden dein Vater und ich nicht jünger. Wir leben nicht ewig, vergiss das nicht«, führte sie ein neues Argument an.

Annie traute ihren Ohren nicht.

Das war ja eine ganz neue Masche, um ihr Schuldgefühle einzuimpfen – sie daran zu erinnern, dass es irgendwann vorbei war mit Treffen im trauten Familienkreis. Was im Übrigen lächerlich war, denn ihre Eltern waren nach wie vor fit und unternehmungslustig. Am liebsten hätte sie ihr das empört an den Kopf geworfen, doch sie ließ es lieber. Sonst war der nächste Streit vorprogrammiert.

Ihre Mutter schien zu spüren, dass sie zu weit gegangen war, und versuchte es mit einem neuen Vorschlag.

»Ich habe eine Idee: Was hältst du davon, Trevor an Thanksgiving einzuladen?«

Sie wollte einfach nicht begreifen, dass Annie keinerlei romantisches Interesse an Trevor hegte. Sie hatte seinen Namen ein- oder zweimal beiläufig erwähnt, und seitdem ritt die Mutter ständig auf dem Thema herum. Wenn sie ihn nach Seattle einlud, bestärkte Annie sie lediglich in der Überzeugung, dass sie und Trevor ein Paar seien. Er war einfach ein Freund, ein guter Freund. Und wenn man ihn schon verkuppeln wollte, dann mit Stephanie, die sowieso ein Auge auf ihn geworfen hatte.

»Du hast ihn doch gern, nicht wahr?«, insistierte ihre Mutter

»Er ist ein Freund, Mom, mit dem ich gerne ausgehe, weil er ein guter Tänzer ist. Außerdem ändert das nichts daran, dass dieses Wochenende durch Gabby fest verplant ist.«

»Okay, Schätzchen, ich verstehe. Du wirst uns fehlen.«

»Mom, ich muss jetzt wirklich los.«

»Schnell noch eines. Ich wollte dich eigentlich überraschen, weil ich dachte, du würdest an Thanksgiving zu Hause sein …«

Die Zeit lief ihr davon. Annie griff nach ihrer Yogamatte und ihrer Sporttasche und steuerte auf die Vordertür ihrer Wohnung zu.

»Dad und ich haben die Küche renoviert und neue Elektrogeräte und Arbeitsflächen angeschafft. Du wirst sie nicht wiedererkennen.«

Ihre Eltern besaßen ein Haus in Hanglage über dem Puget Sound, von wo aus man einen atemberaubenden Blick auf die Stadt und die Bucht hatte. Sie hatten das Grundstück vor Jahren erworben und jahrelang jeden Cent zurückgelegt und Opfer gebracht, um ihr Traumhaus Wirklichkeit werden zu lassen.

»Das klingt ja großartig, Mom. Ich bewundere alles an Weihnachten. Hab dich lieb.«

»Ich dich ebenfalls. Oh, ehe du auflegst, möchte Dad dir kurz Hallo sagen.«

»Er wird mir hoffentlich nicht auch noch wegen des Besuchs zusetzen?«

»Nein, keine Sorge.« Sie musste das Telefon weitergereicht haben, denn die nächste Stimme, die Annie hörte, war die ihres Vaters.

»Wie geht es meiner Tochter, der Ärztin?«, erkundigte er sich gut gelaunt.

Es war eine Anspielung, wie sehr er sich wünschte, dass Annie ihr Medizinstudium fortsetzte.

»Ich bin keine Ärztin, Dad.«

Sie hatte das Studium sattgehabt, hinzu war eine Trennung von ihrem langjährigen Freund gekommen. Anstatt weiter das College zu besuchen und Ärztin zu werden, hatte sie eine Ausbildung zur Arztassistentin absolviert, ein Beruf, der irgendwo zwischen pflegerischem Fachpersonal und Arzt rangierte.

»Was nicht ist, kann ja noch werden«, gab ihr Vater zurück.

Er schien keine Gelegenheit zu versäumen, Annie an ihren ursprünglichen Traum zu erinnern. Was er nicht begriff oder nicht zu würdigen wusste, war, dass sie im medizinischen Fachbereich arbeitete, nur eben nicht als Ärztin.

»Dad, ich würde ja gerne weiter mit dir plaudern, aber ich bin mit einer Freundin verabredet«, drängte sie.

»Mach’s gut, Süße.«

»Tschau, Dad.«

Annie kam auf den letzten Drücker beim Fitnessstudio an, wo Stephanie bereits ungeduldig wartete. Gemeinsam hasteten sie zu ihrem Kurs. Anschließend fühlte Annie sich weitaus besser, entspannt und gut gelaunt.

Sie tranken an der Saftbar einen Smoothie, und Annie schoss unbemerkt ein Selfie von ihnen beiden und twitterte es.

»Lass mal sehen, lass mich mal sehen!«, protestierte die Freundin und lachte. »Du bist hinterhältig!«

»Hey, wir sehen beide toll aus.«

»Ist es instagramtauglich?«

Annie kicherte. »Meiner Meinung nach ja«, bestätigte sie und postete das Foto auf Instagram, wo Gabby es bestimmt sehen würde.

Sie konnte es kaum erwarten, ihre Cousine wiederzusehen, seit Wochen freute sie sich darauf. Sie waren fast gleichaltrig und nahezu ihr ganzes Leben lang beste Freundinnen gewesen. Da Gabby vor Kurzem eine Beziehung beendet hatte, konnte sie bestimmt ein bisschen Abwechslung gut brauchen. Annie hatte entsprechend einiges angeleiert, von gemütlichen Abenden bis zu Besuchen in einem angesagten Nachtclub.

Am Morgen von Thanksgiving erwachte Annie mit einem monstermäßigen Kater. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde jemand darin einen Presslufthammer betätigen, und ihr Mund war so trocken wie ein Flussbett in Arizona. Das unaufhörliche Klingeln ihres Telefons, das auf dem Nachtschränkchen neben ihrem Bett lag, machte alles noch schlimmer. Ein Blick auf das Display verriet ihr, dass ihre Tante Sherry am Apparat war, Gabbys Mutter.

Was um alles in der Welt bewog sie dazu, so früh am Morgen anzurufen?

»Hallo«, krächzte Annie mühsam, presste dabei in der Hoffnung, die winzigen Männer in ihrem Schädel so weit gnädig zu stimmen, dass sie ihr Gehämmer einstellten, eine Hand fest gegen ihre Stirn.

»Annie.« Sherrys Stimme klang atemlos, als hätte ihr jemand die Luft abgeschnürt. »O Annie, Annie.«

Angesichts des verzweifelten Tonfalls und der unterdrückten Schluchzer richtete sie sich erschrocken auf.

»Was ist los, Tante Sherry, willst du mit Gabby sprechen? Sie ist hier.«

»Nein, nein. Ich muss dir etwas sagen.«

»Mir was sagen?«

Ihrer Tante entfuhr ein erstickter Laut.

Annie erstarrte und hatte Mühe, ihrer Stimme Festigkeit zu verleihen.

»Bist du okay, Tante Sherry?«, fragte sie bang und stellte das Telefon laut, damit Gabby, die inzwischen ebenfalls wach geworden war, mithören konnte.

»Hast du … Ich meine, hast du den Fernseher … Ist er eingeschaltet?«, stammelte die Tante, die sichtlich Mühe hatte, die Worte herauszuwürgen.

»Nein. Tante Sherry, erzähl mir um Himmels willen einfach, was passiert ist.«

Während Annie sprach, griff sie nach der Fernbedienung, schaltete den Fernseher ein und zappte durch die Kanäle, bis sie auf den Vierundzwanzig-Stunden-Nachrichtensender stieß. Das Erste, was auf dem Bildschirm erschien, war eine Werbung von Macy’s, die ihr nicht weiterhalf.

Anstelle einer Antwort begann ihre Tante zu schluchzen. »Es ist so schrecklich, Annie. Ich … ich weiß gar nicht, wie … Ich weiß nicht … wie ich es dir sagen soll.«

Als Arztassistentin hatte Annie oft mit Menschen zu tun gehabt, die panisch waren.

»Atme tief durch, zähl bis fünf, atme noch einmal tief ein und fang am Anfang an«, befahl sie ihrer Tante in einem sachlichen, beruhigenden Ton.

Ihr erster Verdacht ging dahin, dass Lyle, dem Mann, mit dem ihre Tante seit fünfzehn Jahren zusammenlebte, etwas zugestoßen war. Allerdings ergab das keinen Sinn, denn in diesem Fall hätte sie Gabby angerufen.

»Ich versuche es.« Sherry zählte laut und sog dann erneut den Atem ein, so wie Annie es ihr erklärt hatte. »Deine Mom und dein Dad …«

Annie verkrampfte sich. »Meine Mom und mein Dad?«

»Sie … hatten mich zum Frühstück eingeladen …«

Was sollte das jetzt? Ein Grund, aus der Fassung zu geraten und zu heulen, war das ja wohl kaum, aber ihre Tante schien völlig von der Rolle zu sein und kam nach wie vor nicht zur Sache.

»Ich … wollte das Baby sehen … Bella«, setzte sie stakkatoähnlich und von Schluchzern unterbrochen ihren wirren Bericht fort.

»Tante Sherry«, sagte Annie leise. »Ist meinen Eltern etwas passiert?«

Die Tante überging die Frage. »Als ich … in die Nähe des Hauses kam … zwei Straßen entfernt … Da war Polizei … und die hat mich angehalten.«

»Die Polizei?«, wiederholte Annie. Ihre Gedanken überschlugen sich. »Und was hatte die Polizei dort zu suchen?«

»Alles war abgesperrt.«

»Sie haben die Straße gesperrt?«

Langsam kam es Annie albern vor, dass sie wie ein Papagei ständig die Worte ihrer Tante wiederholte. Nach wie vor wurde sie aus dem Ganzen nicht schlau, obwohl sie Böses zu ahnen begann.

»Es hat … geregnet … und geregnet.«

»Nun ja, das kommt in Seattle öfter mal vor.«

In der Tat war die Gegend um die größte Stadt des Bundesstaates Washington herum für ihre ergiebigen Regenfälle berühmt und berüchtigt, ein weiterer Grund, weshalb Annie dem Leben in Kalifornien den Vorzug gab.

»Annie«, begann ihre Tante jetzt hysterisch zu schluchzen. »Du … verstehst nicht, der ganze Hang … ist weg. Er … hat einfach … nachgegeben und alles, alles mitgerissen.«

Für eine Weile wirkte Annie wie gelähmt, stieg dann langsam aus dem Bett.

»Willst du damit sagen, dass Moms und Dads Haus den Hang hinuntergerutscht ist?«

»Ja«, bestätigte die Tante mit gepresster Stimme. »Ihr Haus … und zwanzig andere.«

In diesem Moment flimmerte über den Bildschirm des Fernsehers eine Eilmeldung, und man sah einen Hubschrauber, der über den Puget Sound flog, während unten am Ufer gerade ein einzelnes Haus von Schlammmassen ins Wasser geschoben wurde.

»Mom und Dad?« Annies Stimme klang flehend, als hätte ihre Tante es in der Hand, das Schreckliche weniger schrecklich zu machen. »Haben sie sich retten können?«

»Ich weiß es nicht … kann mir jedoch kaum vorstellen, wie sie das geschafft haben sollen. Alle sagen, es sei ganz schnell passiert und so früh am Morgen …«

Annie ließ sich auf das Bett zurückfallen. Ihre Beine zitterten so stark, dass sie sie nicht länger trugen, und sie begann am ganzen Körper zu flattern.

»Wie früh?«

»Der Polizist sagte, gegen vier Uhr. Sie glauben, fast alle hätten noch im Bett gelegen. Es gab wohl keine Anzeichen. Keine Warnung.«

Ihre Brust war so zugeschnürt, dass sie nicht zu sprechen vermochte. Ihre gesamte Familie war höchstwahrscheinlich von dem Erdrutsch ausgelöscht worden.

Ihre Mutter.

Ihr Vater.

Ihr Bruder.

Ihre Schwägerin.

Und ihre kleine Nichte.

Annies Verstand war nicht imstande zu erfassen, was sie im Fernsehen hörte und sah. Das Schluchzen ihrer Tante hallte in ihrem Ohr wider, und in ihrem Kopf drehte sich ein Karussell. »Bist du noch da, Annie? Sag etwas.«

Bevor sie antworten konnte, musste sie die aufkeimende Panik zurückdrängen, die sie zu überwältigen drohte. Sie durfte sich jetzt nicht hängen lassen.

»Ich muss … ich komme, so schnell ich kann«, versprach sie und legte auf. Dann wandte sie sich an ihre Cousine. »Es gibt bestimmt Überlebende, oder?«

Sie versuchte, positiv zu denken und sich einzureden, dass es ihren Eltern irgendwie gelungen war, dieser fürchterlichen Katastrophe zu entkommen. Sie musste einfach glauben, dass ihre Familie noch am Leben war, weil sie alles andere nicht akzeptieren konnte.

Ihre Cousine legte die Arme um sie und drückte sie fest an sich.

»Verrenn dich nicht. Wie es aussieht, besteht kaum Hoffnung auf Überlebende. Ach Annie. Es tut mir leid, so furchtbar, furchtbar leid.«

Die beiden Cousinen saßen schluchzend auf der Bettkante und starrten auf eine Sondersendung im Fernsehen, die die katastrophalen Folgen des Erdrutsches in ihrer ganzen Brutalität zutage treten ließ. Bis auf ein Haus, das gerade im Wasser versank, war keines mehr zu sehen. Alle anderen waren vom Schlamm begraben worden oder im Sund versunken.

2

Sechzehn Monate später

Annie hatte sich noch nie in ihrem Leben so allein gefühlt. Kein Wunder, denn sie war ja tatsächlich ganz allein auf der Welt. Ihre gesamte Familie war an einem einzigen Tag ausgelöscht worden.

Selbst jetzt, nach all diesen Monaten, fiel es ihr immer noch schwer, das zu glauben. Unzählige Male hatte sie zum Telefon gegriffen, um zu Hause anzurufen, bis ihr einfiel, dass ihre Mutter tot war, begraben von einer Lawine aus Schlamm und Geröll. Eine unvorhersehbare Tragödie hatte man den Erdrutsch allenthalben genannt.

Fernsehteams von Nachrichtensendern weltweit waren in das Katastrophengebiet gekommen, um darüber zu berichten. Aber sobald sich anderswo eine Überschwemmung oder ein Erdbeben mit Hunderten Toten ereignete, war der Tross weitergezogen, und der Erdrutsch wurde zu Schnee von gestern und geriet mehr und mehr in Vergessenheit.

Nicht so für Annie und die anderen, die Familienangehörige und Freunde verloren hatten. Ihr Leben war für immer gezeichnet, für immer verändert.

Unmittelbar nach dem Unglück beauftragte Annie einen Makler mit dem Verkauf ihrer Wohnung in Los Angeles, gab ihren Job auf und zog nach Seattle zurück, um sich um die notwendigen Dinge zu kümmern. Nach und nach wurden Leichen geborgen, beerdigt werden konnten sie jedoch erst, wenn sie identifiziert worden waren. Außerdem mussten Wertgegenstände, die im Schlamm entdeckt wurden, den Besitzern zugeordnet und Gespräche mit Anwälten geführt werden, die herausfinden wollten, wem sich am lukrativsten die Schuld zuweisen ließ: der Stadt, dem Staat oder den Bauunternehmern. Jemand musste schließlich die Verantwortung übernehmen, den Preis für diese entsetzliche Tragödie bezahlen und die Hinterbliebenen entschädigen.

Hinterblieben.

Das entsprach genau dem Gemütszustand, in dem sich Annie befand. Eigentlich hätte sie an diesem Tag bei ihrer Familie sein sollen, dann wäre sie zusammen mit ihnen umgekommen. Am Anfang hatte sie Dankbarkeit empfunden, dass das Schicksal sie davor bewahrt hatte, aber als die Monate verstrichen, begann sie sich manchmal zu wünschen, es wäre anders gekommen.

Sie konnte nicht mal in Ruhe trauern, die Abwicklung der Tragödie erforderte ihre ganze Kraft. Anträge mussten gestellt und Vermögenswerte aufgelistet werden, dauernd saß sie bei irgendwelchen Behörden oder Anwälten. Es war mehr, als sie ertragen konnte, und irgendwann fiel sie in ein tiefes Loch. Als sie merkte, dass sie allein nicht wieder an die Oberfläche gelangen würde, suchte sie eine Therapeutin auf.

Sie leide an dem Überlebensschuldsyndrom, erfuhr sie, das ganz typisch für Ereignisse wie dieses sei. Vielleicht stimmte das ja, Annie wusste es nicht. Es verlangte ihr emotional zu viel ab, darüber nachzudenken. Dennoch empfand sie besonders die Gruppensitzungen als hilfreich, bei denen sie sich mit anderen Betroffenen, die wie sie liebe Menschen verloren hatten, austauschen konnte. Es war eine Wohltat im Vergleich zu den unzähligen Treffen mit Anwälten und Behörden.

Insgesamt erlebte sie das erste Jahr wie in einem Nebel. Ihre Tante und ihre Cousine vor allem kümmerten sich um sie, wobei Gabby sie haufenweise mit Büchern versorgte, die bei der Bewältigung von Trauer und Tod helfen sollten. Alles gut gemeint, bloß war es Annie nicht möglich, die vielen Ratschläge zu verarbeiten. Zwar versuchte sie durchaus, nach vorn zu schauen und ihr Leben weiterzuleben, doch ihre Anstrengungen führten zu nichts. Mit der Folge, dass sie endlose Stunden mit Sudokurätseln verbrachte und sich in Zahlen vergrub, weil Zahlen wenigstens einen Sinn ergaben. Alles ließ sich mit Logik in einem kleinen Quadrat säuberlich zusammenfügen, so wie es einst mit ihrem Leben der Fall gewesen war.

Nur dass ihr Leben inzwischen außer Kontrolle geraten war, sich in einem Sumpf des Schmerzes verloren hatte, in dem sie sich wie in einer Falle gefangen fühlte. Niemand schien sie daraus befreien zu können, und so vergingen weitere Monate, ohne dass sich ihre Situation und ihre seelische Verfassung besserten.

Was Annie brauchte, war ihre Familie. Und die konnte ihr niemand zurückbringen.

Auch ihre Freunde aus Los Angeles bemühten sich, sie aufzurichten. Trevor und Stephanie riefen sie in regelmäßigen Abständen an, und zu ihrer Freude erfuhr sie, dass die beiden jetzt zusammen waren. Am ersten Jahrestag des Erdrutsches kamen sie gemeinsam nach Seattle, um ihr beizustehen, sie ihrer Zuneigung zu versichern und für sie da zu sein. Es tat Annie gut, aber als sie weg waren, fühlte sie sich noch deprimierter als zuvor.

Erschwerend kam hinzu, dass die Freunde nicht nachzuvollziehen vermochten, wie nachhaltig sie der Verlust ihrer Familie verändert hatte. Irgendwie schienen sie zu denken, dass zwölf Monate reichen müssten, um wieder zu der Annie zu werden, die sie einst gewesen war. Außerdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass sie langsam genug davon hatten, sie dauernd aufrichten zu müssen. Was Anni durchaus verstand.

Sie hingegen lernte mithilfe ihrer Therapeutin zu akzeptieren, dass eine gewisse Form der Trauer sie für den Rest ihres Lebens begleiten werde. Das, was sie empfand, sei ganz normal, versicherte sie ihr, und mit der Zeit werde sie lernen, damit zu leben.

Mit der Zeit, was immer das bedeuten mochte. Immerhin war es eine Perspektive, dass sie irgendwann ihr Leben um diesen furchtbaren Verlust herum neu aufbauen könne und wieder zu sich selbst finden werde. Wenngleich in dem Bewusstsein, dass sie nie wieder dieselbe Frau sein würde wie früher. Annie war bereit, diese Realität als gegeben hinzunehmen. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie gar nicht mehr derselbe Mensch sein, der sie einst gewesen war.

Nachts, wenn sie sich am verletzlichsten fühlte, wenn schwermütige Gedanken über sie hereinbrachen, rief sich Annie das letzte Gespräch ins Gedächtnis, das sie mit ihrer Mutter geführt hatte. Es kam ihr so vor, als hätte ihre Mom eine dunkle Vorahnung gehabt. Warum hatte sie sie sonst daran erinnert, dass Eltern nicht ewig leben würden. Keiner allerdings hätte im Traum damit gerechnet, wie schnell dieser Tag kommen sollte.

Vielleicht deshalb war sie in den Monaten nach dem Unglück völlig desorientiert gewesen, als hätte sie jemand bei den Füßen gepackt, sie kopfüber über den Rand eines Hochhauses baumeln lassen und von ihr verlangt, sich einen Reim auf alles, was passiert war, zu machen. Die Tage rasten mit schwindelerregender Geschwindigkeit dahin, ohne dass sie Einzelheiten wahrnahm, und ehe sie sichs versah, waren sechzehn Monate vergangen. Sechzehn Monate, vierhundertsechsundachtzig Tage, und Annie konnte sich an keinen einzigen davon wirklich erinnern. In ihrem Kopf verschwamm alles miteinander.

Es hieß, dass alle Hinterbliebenen eine Ausgleichszahlung erhalten würden. Eine Ausgleichszahlung als Ersatz für ihre Familie? Ein Scheck als Entschädigung für ihren Verlust? Es kam ihr wie ein schlechter Scherz vor. Wie konnte man die Eltern, den Bruder, die Schwägerin und die kleine Nichte ersetzen? Kein Geld der Welt, egal auf welchen Betrag man sich einigte, würde je diesen Verlust wettmachen.

»Annie?«

Gabby, die ihr am Tisch bei Starbucks gegenübersaß, versuchte, ihre abdriftenden Gedanken zurückzuholen.

Sie blickte von ihrem Kaffee auf und zwang sich zu einem Lächeln, doch selbst das verlangte ihr mehr Energie ab, als sie eigentlich zu geben bereit war.

»Du bist deprimiert.«

Wunderte das die Cousine etwa? Selbst bei Gabby hatte sie zunehmend den Eindruck, dass sie sich überfordert fühlte mit einem Trauerkloß wie ihr, dass sie lieber wieder über Partys und Shopping und tolle Jungs tratschen wollte – und da war sie natürlich ein Klotz am Bein.

»Ich nehme Antidepressiva, Gabby«, erklärte sie.

Sie hatte keine Ahnung, was sie sonst noch tun konnte, damit sie all dies durchstand.

Vielleicht wollte sie im Unterbewusstsein ja gar nicht aus ihrer Trauer herauskommen. So etwas sollte es geben, wie sie aus den vielen schlauen Büchern wusste. Ein bedrückender Gedanke, denn im Grunde ihres Herzens wollte Annie aus dem Tief heraus. Würde sie je wieder lächeln können? Vielleicht. Richtige Freude aber, die schien ihr für immer verloren. Manchmal kam es Annie vor, als wäre ihr gesamtes Leben diesen Hang hinuntergerutscht und hätte es in einem Grab aus Schlamm und Geröll eingeschlossen.

»Und was für einen Rat hat dir deine Therapeutin heute gegeben?«, erkundigte sich Gabby.

»Sie wollte, dass ich an irgendetwas oder irgendeinen Ort denke, der mich glücklich gemacht hat, bevor all das passiert ist.«

»Du hast für dein Leben gern getanzt.«

Gabby warf die Arme in die Luft und stieß einen spitzen Schrei aus, der bewirkte, dass sich alle Gäste zu ihnen umdrehten.

»Früher einmal, ja.«

Annie nippte an ihrem Frapuccino und versuchte zu lächeln. Nachdem sie inzwischen all diese Therapiesitzungen besucht und kluge Ratschläge befolgt hatte, ohne dass es ihr besser ging, war sie weit weniger euphorisch als die Cousine, was den Nutzen betraf.

»Annie. Du musst dich aus diesem Loch befreien, in das du gefallen bist. Du lebst. Du weißt, wie sehr ich dich mag und dass ich alles für dich tun würde, bloß das meiste musst du selbst tun.«

Das hörte Annie nicht zum ersten Mal. Lass los. Mach weiter. In der Theorie klang das gut, doch wenn sie losließ, was oder wer würde ihr dann Halt geben? Niemand schien das zu begreifen. Ihre Tante und ihre Cousine hatten ihr eigenes Leben, ihre eigenen Interessen und konnten sie nicht ewig mitschleppen.

Als sie keine Antwort gab, unternahm Gabby einen neuerlichen Vorstoß.

»Das ist gar keine schlechte Idee, weißt du?«

»Was?«

»Der Vorschlag deiner Therapeutin, dir einen Glücksort zu überlegen«, erwiderte ihre Cousine. »Einen Ort, mit dem dich schöne Erinnerungen verbinden, den du vielleicht besuchen kannst und der dich glücklich macht.«

Annie runzelte die Stirn. »Ein Glücksort«, flüsterte sie.

Was könnte das sein? Die Tanzfläche war es sicher nicht, nicht mehr. Sie gehörte zu einem früheren Leben.

»Disneyland?«, warf Gabby ein. »Da waren wir beide, als wir zehn waren. Na ja, du warst zehn, ich neun.«

»Nein.« Annie schüttelte den Kopf.

Es hatte Spaß gemacht, war aber nicht das, was sie als einen Glücksort bezeichnen würde. Was sich schon daran zeigte, dass sie den Ausflug völlig vergessen hatte.

»Gut, denk weiter darüber nach. Was hast du mit deiner Familie unternommen, wohin seid ihr gefahren? Gab es irgendwas, woran du gerne zurückdenkst?«

Annie fiel beim besten Willen nichts ein.

»Was ist mit dem Tag deines Highschoolabschlusses? Da warst du schließlich glücklich, oder?«

»Schon.«

Die Cousine meinte es gut, begriff sie, doch zum momentanen Zeitpunkt, fürchtete Annie, würde ihr nichts davon helfen. Licht und Freude passten nicht zu ihrer seelischen Verfassung. Noch war es viel zu verführerisch, sich in die Dunkelheit zurückgleiten zu lassen, die ihr Herz erfüllte und die der Raum zu sein schien, wohin sie jetzt gehörte.

»Was ist mit Bellas Geburt?«

Bella. Augenblicklich schossen Annie die Tränen in die Augen. Dieses goldige Baby hatte auf eine so furchtbare Weise sterben müssen, bevor sein Leben überhaupt richtig angefangen hatte.

»Okay, Bella zu erwähnen war nicht meine beste Idee«, räumte Gabby zerknirscht ein. »Trotzdem. Denk mal nach, was zu deinen liebsten Erinnerungen gehört?«

»Von wann?«

»Aus deinem ganzen bisherigen Leben. Es kann der erste Kuss sein, die erste Liebe, alles, woran du dich gern erinnerst.«

Obwohl sie sich elend fühlte, trat ein schwaches Lächeln auf Annies Gesicht.

»Meinen ersten Kuss habe ich mit zwölf bekommen.«

»Von wem?«

»Er hieß Adam, und wir haben uns am Strand kennengelernt.«

Im August hatte ihre Familie immer ein Cottage am Meer gemietet, und sie hatten sieben wundervolle Tage dort verbracht. Es waren die glücklichsten Tage des Jahres gewesen, die glücklichsten ihrer Kindheit.

»Erzähl mir von ihm.«

»Adam.« Seit Jahren hatte sie nicht mehr an ihn gedacht, konnte sich nicht einmal an seinen Nachnamen erinnern. »Er war Mikes Freund.«

»Und ihr habt euch geküsst.«

Annie nickte. »Wir sind den Strand entlanggerannt, haben Drachen steigen lassen und so heftig gelacht, dass wir uns kaum auf den Beinen halten konnten. Mike musste zum Cottage zurücklaufen, um irgendetwas zu holen, und Adam und ich blieben allein. Wir haben uns erschöpft in den Sand plumpsen lassen und die Drachenschnüre festgehalten, während wir darauf warteten, dass Mike zurückkam. Dann hat mich Adam ganz unverhofft etwas gefragt, und als ich mich zu ihm umdrehte, hat er mich geküsst.«

Wenn sie sich richtig erinnerte, war sein Mund eher gegen ihren geprallt, aber es war ihr erster Kuss gewesen. Einer, den sie nie vergessen würde. Ihr Herz hatte vor Aufregung einen Satz gemacht.

»Und?«, bohrte Gabby weiter.

»Nichts sonst. Es war mein erster Kuss. Ich glaube, seiner auch, denn anschließend ist er knallrot angelaufen.«

»Hat er dich noch mal geküsst?«

»Nein. Ich vermute, der Kuss war eine herbe Enttäuschung für ihn, und keiner von uns hat je wieder darüber gesprochen. Niemals mehr.«

In die Erinnerungen an diesen Sommer versunken, ließ Annie ihre Gedanken zu anderen Sommern schweifen, die sie mit ihrer Familie in diesem Cottage verbracht hatte. Es war die eine Woche im Jahr gewesen, in der Mike und sie kaum zankten, die eine Woche im Jahr, die ihre gesamte Familie frei von allen Alltagssorgen verbrachte.

Nachdem sie sich von Gabby verabschiedet hatte, kehrte Annie in das Apartment zurück, das sie in Seattle gemietet hatte. Das Gespräch mit ihrer Cousine ging ihr nicht aus dem Kopf, ebenso wenig der Strand und das Cottage dort. Sie dachte an das Geräusch der Wellen, die sich auf dem Sand brachen und eine Gischtspur hinterließen, an das Gefühl nasser Sandkörner zwischen ihren Zehen. Sie hatte mit ihrem Bruder gelacht, mit ihrem Vater Gezeitentümpel erforscht und mit ihrer Mutter über einem Lagerfeuer aus Treibholz Marshmallows geröstet. Fast meinte sie das flackernde Feuer zu riechen, als sie die Szenen im Geist an sich vorbeiziehen ließ.

Jahr für Jahr waren sie dort gewesen, bis Mike die Highschool abschloss und einen Sommerjob annahm. Danach war es vorbei gewesen mit den Familienurlauben. Annie hatte die kleine Küstenstadt während ihres ersten Collegejahres noch einmal kurz besucht, nachdem ihr damaliger Freund mit ihr Schluss gemacht hatte und sie am Boden zerstört gewesen war. Im Gegensatz zu ihm hatte sie von der großen Liebe und von einer Hochzeit in Weiß geträumt. Da traf es sie wie ein Schock, als Davis ganz nebenbei erklärte, er glaube nicht, dass ihre Beziehung funktioniere.

Nicht funktionierte?

Annie hatte nichts bemerkt, war wie vor den Kopf gestoßen gewesen und vergoss wahre Tränenströme, zumal ihr Ex sich sofort mit einer anderen tröstete. Sie verstand das nicht, wollte es auch nicht verstehen und nicht einmal akzeptieren. Zurückblickend empfand sie es als demütigend, wie sie ihn angefleht hatte, seine Entscheidung zu überdenken und ihrer Beziehung noch eine Chance zu geben.

Wie dumm sie damals gewesen war. Wie blind. Und wie konnte sie sich so erniedrigen, einem Typen hinterherzulaufen, der das weiß Gott nicht verdiente.

Ein Gutes allerdings hatte das Debakel mit Davis gehabt: Sie hatte wichtige Dinge über sich selbst gelernt und war danach längst nicht mehr so vertrauensselig, so naiv gewesen. Gleichzeitig hatte die schlechte Erfahrung jedoch ebenfalls dazu geführt, dass sie davor zurückschreckte, feste Beziehungen einzugehen. Irgendwie schien ihr der Glaube an die große Liebe ein für alle Mal abhandengekommen zu sein. Gute Freunde, hin und wieder ein Date, das musste genügen und hatte genügt.

Nach der Enttäuschung mit Davis war sie einem Impuls folgend an den Strand von Oceanside gefahren. Zufällig fast, denn als sie in ihr Auto stieg, hatte sie nicht einmal ein festes Ziel im Auge gehabt und war plötzlich in dem Städtchen gelandet. Eine Fügung, ein Wink des Schicksals? Jedenfalls hatte sie dort Trost gefunden.

Wenngleich nicht sofort. Erst einmal hatte sie stundenlang auf einem Holzklotz gesessen, der ans Ufer geschwemmt worden war, und mit tränenverschleiertem Blick über die weite Fläche des Ozeans geblickt, bis keine Tränen mehr kamen.

Irgendwann taten das sanfte Plätschern des Wassers und der monotone Rhythmus der Wellen, die ans Ufer rollten, ihre Wirkung, und sie beruhigte sich. Tief atmete sie den Duft von Salz und Meer ein, und ein zaghaftes Gefühl von Frieden begann sich über sie zu legen, das selbst das nervige Kreischen der über ihr am Himmel kreisenden Möwen nicht zu stören vermochte.

Sie saß dort, bis es dunkel wurde, und blickte hinauf zu dem funkelnden Sternenmeer. Zum ersten Mal nahm sie die unendliche Weite des Universums, die alles Irdische klein und unbedeutend erscheinen ließ, so richtig wahr. Und sie hatte das Gefühl, ihre eigenen Probleme mit einem Mal in einem anderen Licht zu sehen.

Schließlich ging sie zu ihrem Auto und fuhr nach Hause. Am nächsten Tag zog sie innerlich einen Schlussstrich unter Davis und ihre gescheiterte Beziehung und entschied sich zudem gegen eine Fortsetzung des Medizinstudiums. Spontan beschloss sie, sich stattdessen zur Arztassistentin ausbilden zu lassen.

Der magische Zauber des Meeres hatte Wirkung gezeigt.

Annie straffte sich, als ihr eine plötzliche Erkenntnis kam. Vielleicht würde das Meer ja noch einmal Wunder bewirken und ihr helfen, Frieden zu finden. Natürlich ließ sich der Verlust ihrer Familie nicht mit der Trennung von einem Studienfreund vergleichen, und bestimmt bedurfte es mehr als das Plätschern der Wellen, um ihren Schmerz zu lindern. Dennoch war das Cottage am Meer der einzige Ort, der ihr einfiel, an dem sie uneingeschränkt glücklich gewesen war. Insofern war es zumindest einen Versuch wert.

3

Am nächsten Morgen packte Annie eine Reisetasche und stieg mit einer Zielstrebigkeit, die sie seit jenem verhängnisvollen Thanksgiving nicht mehr empfunden hatte, in ihren Wagen. Für den Fall, dass sich Gabby wegen ihrer Abwesenheit Sorgen machte, schickte sie ihrer Cousine eine Textnachricht.

Bin auf dem Weg zu meinem Glücksort.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten.

Und wo bitte schön soll das sein?

Am Meer.

Die Fahrt dauerte dank wenig Verkehr gerade mal drei Stunden. Annie parkte am Strand, stieg aus dem Auto, schlang die Arme um ihren Oberkörper und füllte ihre Lunge mit der frischen Salzluft. Es dauerte nicht lange, bis sie ein Gefühl innerer Ruhe überkam, von dem sie schon gar nicht mehr gewusst hatte, wie es sich anfühlte.

Eigenartig.

Anders.

Ungewohnt.

Die Augen geschlossen, sog sie die friedliche Stille in sich ein und hielt den Atem so lange an, wie sie konnte, um ihn sodann langsam wieder auszustoßen. Es war ein Rhythmus, zu dem das stetige Auf- und Abschwellen der Brandung, dem sie lauschte, den Takt vorgab. Erst als ihr Magen vernehmlich knurrte, wurde ihr bewusst, dass sie darüber ganz vergessen hatte, ans Essen zu denken. Wie eigentlich immer in den letzten sechzehn Monaten.

Gleichzeitig meldete das Summen ihres Handys den Eingang einer Nachricht an. Sie stammte von ihrer Tante, der Gabby offenbar von ihrem Vorhaben erzählt hatte und die sich prompt Sorgen machte. Seit ihre Eltern nicht mehr lebten, meinte sie bei der Nichte zumindest teilweise die Mutterstelle vertreten zu müssen.

Alles in Ordnung?

Ja. Bleibe über Nacht in Oceanside.

Auf dem Weg zurück zum Parkplatz entdeckte Annie einen großen Hund, der mit einem Stock im Maul auf sie zugelaufen kam. Sie kniete sich hin, woraufhin das Tier den Stock vor ihren Füßen auf den Sand fallen ließ. Als sie seinen Kopf streichelte, blickte er mit leuchtenden braunen Augen zu ihr auf, was ihr ein Grinsen entlockte. Es sah fast so aus, als hätte er den ganzen Tag auf just diesen Moment gewartet.

»Ich wette, du willst, dass ich diesen Stock werfe, oder?«, fragte sie ihn.

Ein hingebungsvoller Ausdruck trat in die treuen Augen des Hundes.

Ihr Lächeln wurde breiter. Sie packte den Stock, richtete sich auf und schickte sich an, ihn wegzuschleudern, als sie in einiger Entfernung einen Mann bemerkte, der zu ihr herübersah. Er war überdurchschnittlich groß, größer als irgendjemand sonst, den sie kannte. Sicher an die zwei Meter, soweit sie das beurteilen konnte. Seine Kleidung wirkte sehr zweckmäßig: Windjacke, Jeans und Arbeitsstiefel, sein Haar war dunkel, seine Gesichtszüge ließen sich nicht erkennen, dafür war er zu weit weg. Was ihr hingegen auffiel, war die Art, wie er sie mit schief gelegtem Kopf eindringlich musterte, als würde er zu ergründen versuchen, wer sie war und wohin sie gehörte.

Kannte er sie etwa?

Nein, vermutlich nicht, denn er blieb stehen, wo er war. Da es sich vermutlich um seinen Hund handelte, mit dem sie gerade spielte, warf sie den Stock in Richtung des Besitzers. Sogleich jagte der Vierbeiner ihm eifrig hinterher. Mit heraushängender Zunge hetzte er den Strand so schnell hinunter, dass er den Sand nach allen Seiten hochschleuderte. Schwanzwedelnd legte er den Stock vor dem Mann ab, der ihm daraufhin den Kopf tätschelte.

Sie und der Fremde starrten sich noch ein paar Momente über die Entfernung hinweg an, bis es Annie unbehaglich wurde und sie sich abwandte, um zu ihrem Auto zurückzukehren.

Sie beschloss, erst einmal etwas essen zu gehen. Nichts Großes, einfach einen schnellen Imbiss. Deshalb zog sie es vor, statt nach einem Restaurant Ausschau zu halten, einem kleinen Coffeeshop den Vorzug zu geben, wo sie sich einen Latte und ein Sandwich bestellte. Ein junges Mädchen hinter der Theke nahm ihre Bestellung entgegen und schenkte ihr ein schüchternes Lächeln. Auf dem Namensschild ihrer Uniform stand Britt.

Nachdem sie sich gestärkt hatte, schlenderte sie die Straße hinunter und betrachtete die Schaufenster.

Den Laden, in dem Salzwassertoffees hergestellt wurden, gab es nach wie vor, stellte sie fest. Sie erinnerte sich daran, wie Mike immer die mit Lakritz herausgeklaubt und sich zwei oder drei in den Mund gestopft hatte, bis ihm die schwarze Flüssigkeit aus den Mundwinkeln und am Kinn hinuntergelaufen war. Es hatte ihm ein diebisches Vergnügen bereitet, seiner Schwester Ekel einzuflößen.

Wehmut überkam sie, als sie daran dachte. Wie glücklich wäre sie, wenn er jetzt da wäre und sie ärgern würde. Sie vermisste ihren Bruder schrecklich. Den Kopf voller trüber Gedanken ließ sie den Süßwarenladen hinter sich und ging weiter.

Aber alles, woran sie vorbeikam, weckte schmerzliche Erinnerungen. Nichts war mehr so, wie es mit Mike an ihrer Seite gewesen war.

Das galt ebenfalls für das Geschäft, in dem Drachen verkauft wurden. Anscheinend hatte man es vergrößert, und die Drachen, die sie jetzt anboten, waren noch kunstvoller oder ausgefallener. Bei dem Anblick sah sie sich und ihren Bruder wieder vor sich, wie sie mit ihren Drachen über den Strand gerannt waren, und der Spaß fiel ihr ein, den die ganze Familie beim Drachensteigen gehabt hatte.

Als Nächstes kam sie an der Eiscremebude vorbei, die unverändert an ihrem angestammten Platz stand. An jedem Abend ihres Urlaubs war ihr Dad mit ihnen allen dorthin gegangen, um Eiswaffeln zu kaufen. Annie hatte jedes Mal eine andere Geschmacksrichtung gewählt, da sie sich fest vorgenommen hatte, bis zum Ende der Woche alle durchzuprobieren. Allerdings musste eine Kugel von Karamell-Pekannuss-Eis immer dabei sein, denn diese Sorte fand sie einfach unwiderstehlich.

Die Eisbude stand seit jeher vor einer hohen Steinmauer. Früher hatte sie so ausgesehen, wie diese großen Natursteine eben aussahen: grau. Jetzt prangte darauf ein riesiges Wandgemälde, das den Strand und das Meer zeigte. Die Wellen mit ihren Schaumkronen wirkten so realistisch, dass es ihr vorkam, als würden sie jeden Moment auf sie zurollen. Und über dem Wasser schwebten bunte Drachen an einem blauen, mit popcornförmigen Wolken übersäten Himmel. Der Maler, wer immer er war, war ungemein talentiert, fand sie. Als sie das Gemälde näher in Augenschein nahm, entdeckte sie darauf ein junges Mädchen, das zu den Drachen hochschaute. Es hatte kastanienbraune Haare, die zu einem dicken Zopf am Hinterkopf geflochten waren. Es war exakt die Frisur, die sie damals in jenen glücklichen Tagen in Oceanside getragen hatte. Und auch ansonsten kam es Annie vor, als würde sie ein Foto von sich selbst sehen.

Gebannt starrte sie das unbekümmerte Mädchen an, das ihr da entgegenblickte.

Nach einer Weile löste sie sich von ihrem eigenen Anblick und suchte nach dem Namen des Künstlers. Vergeblich, sie konnte keine Signatur finden. Zu gern hätte sie gewusst, wer es war. Immerhin musste er sie vermutlich während ihres letzten Aufenthalts hier gesehen haben, und unwillkürlich fragte sie sich, ob das Wandgemälde ihr ein Zeichen gab, ob es sich um einen Fingerzeig des Schicksals handelte, dass Oceanside der Ort war, an dem sie bleiben sollte. Dass sie in dieser kleinen Stadt vielleicht endlich wieder Ruhe und Frieden finden würde.

Ein zaghafter Hoffnungsfunke glomm in ihr auf.

Als sie weiterging, gelangte sie zu der Straße, die ihr am vertrautesten war: Hier befand sich das Cottage, das ihre Familie einst Sommer für Sommer gemietet hatte. Ohne nachzudenken, schlug sie diese Richtung ein.

Zehn Minuten später blieb sie stehen, und ihr Puls beschleunigte sich. Das Cottage gab es noch, es war nur viel kleiner als in ihrer Erinnerung. Früher einmal mochte es ein Haus für Angestellte gewesen sein, denn bei dem dahinterliegenden Haus handelte es sich um ein imposantes zweistöckiges Gebäude, dessen Erbauer sicher im großen Stil gelebt hatten.

Jetzt war das nicht mehr der Fall, vielmehr wirkte das ganze Anwesen samt Garten eher heruntergekommen. Besonders an dem Cottage waren die Jahre nicht spurlos vorbeigegangen. Überall blätterte die Farbe ab, und die kleine Veranda sah ziemlich windschief aus, weil die Holzbohlen teilweise zerbrochen waren.

Das Cottage am Meer. Der Platz, an dem sie die glücklichsten Tage ihres Lebens mit ihrer Familie verbracht hatte.

Annie war auf ihren Glücksort gestoßen.

4

Auf der Rückfahrt nach Seattle spürte Annie, wie der alte Kummer sich nach und nach wieder über sie legte und Dunkelheit ihre Seele umschloss. Sie fuhr immer langsamer, bis andere Autos sie wütend anhupten und ihr bewusst wurde, dass sie mit vierzig Meilen auf einer Straße unterwegs war, wo das Tempolimit bei sechzig Meilen lag.

Je näher sie ihrem Ziel kam, desto schwerer fiel ihr das Atmen.

Dabei hatte ihr der Aufenthalt in Oceanside so viel Hoffnung gemacht. Sie hatte die Nacht in einem Motel verbracht und zum ersten Mal seit dem Unglück, zum allerersten Mal seit sechzehn Monaten, bis zum Morgen durchgeschlafen. Und beim Erwachen hatte sie überrascht festgestellt, dass es taghell war. Obwohl Albträume sie heimgesucht hatten, war sie im Gegensatz zu fast jeder anderen Nacht seit der Katastrophe frisch und ausgeruht aufgewacht.

Da es regnete, hatte sie rasch das Gepäck im Auto verstaut, ausgecheckt und war nach Seattle zurückgefahren. Aber als zunehmend die Traurigkeit wieder von ihr Besitz ergriff und ihr Herz schwer werden ließ, begann sie zu glauben, dass an der Sache mit dem Glücksort etwas dran war und sie den Wink des Schicksals, das sie nach Oceanside geführt hatte, ernst nehmen sollte.

Mit einem Mal meinte Annie zu wissen, wohin sie gehörte.

Zurück in Seattle, litt Annie prompt unter innerer Unrast und wusste nichts mit sich anzufangen. Vielleicht fehlte ihr ja ihre Arbeit. Bislang hatte sie sich nicht in der Lage gefühlt, sie wieder aufzunehmen. Ganz davon abgesehen, dass sie von Therapiesitzungen sowie Behörden- und Anwaltsterminen ziemlich in Anspruch genommen war.

Was sollte sie tun?

Aufgewühlt tigerte sie in dem kleinen Wohnzimmer auf und ab. Alles, woran sie denken konnte, waren der Strand und der Wunsch beziehungsweise der Drang, dorthin zurückzukehren. Wobei sie den Verdacht nicht loswurde, dass sie im Grunde lediglich der dunklen Wolke entfliehen wollte, die drohend über ihrem Kopf hing.

Umso mehr klammerte sie sich an den Gedanken, dass das Wandgemälde ein Zeichen sein musste und Oceanside der Ort war, an dem sie Trost und Heilung finden würde, an dem sie leben musste. Dort wollte sie sich dann auch einen Job suchen und auf diese Weise nach und nach in ein einigermaßen normales Leben zurückkehren. Nach all diesen Monaten ohne Arbeit verspürte sie erstmals wieder wirklich ein Verlangen danach.

Von neuem Elan beseelt, fuhr sie ihren Computer hoch, suchte nach freien Stellen in der Gegend. Als sie eine Anzeige für das einzige Krankenhaus sah, schnappte sie überrascht nach Luft. Dort wurde nämlich ausgerechnet ein Arztassistent gesucht.

Ein weiteres Zeichen, schoss es ihr durch den Kopf. Das konnte kein Zufall sein. Diese Angebotsliste trug Gottes Handschrift. Sie war ihr Schicksal, ein ebensolches Wunder wie die Teilung des Roten Meeres. Erst das Mädchen auf dem Wandgemälde, das sie als Teenager abzubilden schien, und jetzt ein Stellenangebot für einen Arztassistenten, das ihr geradezu auf den Leib geschneidert war.

Ohne zu zögern, füllte sie das Bewerbungsformular aus, schickte es per E-Mail ab und fügte alle erforderlichen Unterlagen hinzu. Es überraschte sie kaum noch, dass praktisch postwendend eine Antwort eintraf.

Bereits für den nächsten Tag wurde sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen.

Zum zweiten Mal in dieser Woche packte sie eine Reisetasche und fuhr nach Oceanside. Als sie sich dem Meer näherte, fühlte sie, wie eine Last von ihr genommen wurde und ein kleines Licht aufblitzte. Ein zwar schwacher Sonnenstrahl, den sie jedoch spüren konnte. Als würde ihr eine Atempause von der Dunkelheit gewährt und ihr ein Loch gezeigt, durch das sie sich zurück ins Licht kämpfen konnte.

Annie fuhr direkt zu der kleinen Klinik durch, ohne anzuhalten, um etwas zu essen. Der Termin für das Vorstellungsgespräch mit dem einzigen Arzt war direkt nach der Mittagspause angesetzt.