Das kleine Haus am Fluss - Selma Noort - E-Book
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Das kleine Haus am Fluss E-Book

Selma Noort

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Beschreibung

Juss und seine Familie wohnen in dem kleinen Haus am Fluss. Mit seiner Cousine Amber, die direkt neben ihnen wohnt, schwimmt er im Fluss, eröffnet in seinem Zimmer ein Museum oder gräbt versehentlich das Skelett von Omas verstorbenem Hund im Garten aus ... Für Kinder kann es keinen schöneren Ort geben! Bis eines Tages ein Lastwagenfahrer das kleine Haus rammt und es fast zum Einsturz bringt. Aber Juss und seine Familie wissen, was das Wichtigste ist: Zusammenzuhalten und sich umeinander zu kümmern. Gemeinsam schaffen sie es, aus etwas Schlimmem Neues entstehen zu lassen.

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Inhalt

Was geschah, obwohl sich alle so viel Mühe gegeben hatten, genau das NICHT geschehen zu lassen …

Eine große Familie in fünf kleinen Häusern

Freitagnachmittag

Durst

Beleidigt

Das Foto

Jannemann

Es tut mir leid

Königin Amber

Etwas von früher

Warum um Himmels willen?

Ruhe sanft

Gemeine Sachen machen

Beichten

Mach nur

Alt

Verstanden?

Saubere Arbeit

Die letzte Schwimmerin

Auf Wiedersehen, Schlamperle

Gefährlich

Ganz ehrlich nicht

Wir von der anderen Seite vom Fluss

Es tut mir leid

Einsturzgefahr

Elend

Besuch

Tapfer

Inzwischen

Keinen einzigen Schritt näher

Vorsichtig

Zu Hause

Wir kommen einfach

Sachen

Lebe wohl

Samstag

Nach Hause

Komm stets

wieder nach Hause,

find den Weg,

flieg hinein,

schüttle und

putz dein

zerzaustes

Gefieder und

ruh dich aus.

Wer beschützt

dein Zuhause, in weiter

Ferne oder hier

am Fluss?

Ist es Gott

oder vielleicht

Opa Gurrgurr?

Was geschah, obwohl sich alle so viel Mühe gegeben hatten, genau das NICHT geschehen zu lassen …

Juss hörte Zazas Schreie. Sand brannte in seinen Augen. Oder so was Ähnliches. Sein Mund war auch voll Sand. Oder so was Ähnlichem.

Walter schrie. »JUSS!«

Und Zaza: »Juss! Jus-sef!«

Und dann Walter wieder: »Bleib ganz still liegen!«

Juss konnte sich nicht mal bewegen.

Er hörte, wie Zaza Walter etwas zuschrie. Es klang weit weg. Bestimmt war in seinen Ohren auch Sand. Oder so was Ähnliches.

Dann hörte er Zazas Stimme wieder ganz nah, zittrig und ganz komisch piepsig. »Juss, mein Kleiner, wir sind hier. Mama und Papa sind da. Kannst du mich hören? Bitte, bitte, gib uns ein Zeichen!«

Juss’ Mund war voller Schutt. Er konnte nichts sagen.

Er traute sich nicht, etwas zu sagen, und er traute sich nicht, zu weinen. Er traute sich nicht, zu schlucken. Er traute sich nicht einmal, zu atmen.

Er sollte nicht so viel Angst haben. Er musste tapfer sein.

Er musste still liegen bleiben, ganz still. Wie Walter es sagte.

Zaza weinte. »Er hört mich nicht.«

Walter brüllte wie ein Löwe.

Er brüllte, wie er noch nie zuvor gebrüllt hatte.

Juss wurde von einer schweren Last befreit und dann war da Licht.

Juss sah Walter mit Blut im Gesicht und an den Händen.

Er sah Zaza mit offenen Haaren.

»Juss!« Sie fiel auf die Knie und beugte sich vor, um sein Gesicht abzuwischen. Sie reichte nur knapp an ihn heran.

Er konnte sich noch immer nicht bewegen. Sein Mund war voller Schutt.

Er bekam keine Luft mehr.

»Wasser!«, schrie Zaza. »Wasser!«

Ja. Mama würde ihm Wasser geben und dann spuckte er alles aus. Das hier war bald vorbei. Wie der Winter, Geburtstag haben und die mit Sand beladenen Frachtschiffe auf dem Fluss.

So war es doch, oder?

Er hörte Gepolter und das Geräusch fallender Steine.

Ganz kurz musste er wohl eingenickt sein. Da goss Zaza ihm wieder Wasser übers Gesicht und er schaute wieder auf.

Dann war das Wasser alle.

Walter kam mit der Kaffeekanne und einer Tasse zurück. Seine Hände zitterten, als er sie Zaza reichte.

Zaza spülte Juss’ Augen noch einmal aus. Und seinen Mund.

Ausspülen, spucken. Ausspülen, spucken.

Einfach so in sein Bett spucken.

Bett?

Juss sah kein Bett mehr. Er sah sich selbst nicht mehr. Überall lagen Glasscherben und Mauerbrocken. Und wie seltsam … er spürte Wind. Kühler Wind strich ihm über die Wangen.

Er musste husten. Das ging nicht. Wenn er husten musste, würde er ersticken.

Wasser, mehr Wasser. Da war Walter wieder.

Walter weinte Wasser, Tränen in die Tasse.

Wasser, mehr Wasser.

Es gab keine Mauer mehr.

Da war ein Lastwagen. Am Spiegel hing ein Fähnchen. In dem Lastwagen saß ein Mann mit verrutschter Brille und Blut im Gesicht. Er bewegte sich nicht.

Wasser, mehr Wasser.

Das Geräusch von Martinshörnern, die immer näher kamen.

»Da ist die Feuerwehr schon, Juss, hörst du?«, sagte Walter.

»Alles wird gut. Alles wird wieder gut!«

Juss hörte die Feuerwehr. Brannte es hier denn?

Der verletzte Mann im Lastwagen öffnete die Augen.

Er sah Juss an.

Juss flüsterte: »Mama, der Mann da schaut mich an …«

Eine große Familie in fünf kleinen Häusern

Walter und Zaza, das war Liebe auf den ersten Blick.

Walter reparierte im Haus der Zukunft Wasserhähne, verlegte Steckdosen und hängte Lampen auf.

Zaza war aus einem Land geflüchtet, in dem Krieg war, und lernte Niederländisch im Haus der Zukunft.

Juss war in ihrem Bauch und konnte Walter darum noch nicht sehen, aber Zaza meinte, Walter hätte damals auch schon überall Haare gehabt. Er sah aus wie ein Löwe.

Sonnengebleichte Locken kringelten sich um sein Gesicht, ein braun gebranntes Gesicht, aus dem überall weiße Stoppeln ragten. Aus seinen Ohren, seinem Kinn und seinen Wangen. Und auch auf seinen Armen, seiner Brust, seinem Rücken und seinen Beinen wuchsen goldblonde Härchen.

Im Haus der Zukunft schaute Zaza ihn immer an, als sähe sie einen Löwen. Das fiel ihm schon bald auf. Er fing an, sie zu necken: »Bis morgen, Schönheit. Ich bin leider fertig für heute. Sag doch mal Tschüsschen!«

»Küsschen«, sagte Zaza und da verliebten sie sich so sehr, dass es kein Zurück mehr gab.

Sie heirateten und Zaza zog zu Walter in sein kleines Haus am Fluss und fuhr ihm jeden Tag durch die Wuschelmähne.

Als Juss geboren wurde, bekam er den Namen von Zazas Opa: Jussef. Und Walters Nachnamen: Van Rijn.

Jussef van Rijn.

Walter wurde Juss’ einziger, echter, hitzköpfiger, starker und allerbester Vater. Walter liebte Zaza und Juss so sehr, dass er ihr Häuschen hochgehoben und an einem sicheren Ort wieder hingestellt hätte. Wenn er es gekonnt hätte.

Zaza war zu Walter in das erste der fünf Häuschen am Fluss gezogen. Das kleine Haus, das zwischen der Deichstraße und dem Radweg wie eingeklemmt stand.

Dort bekam sie eine komplette neue Familie geschenkt. Die Familie van Rijn. Als Juss geboren wurde, gab es immer jemanden, der auf ihn aufpassen wollte.

Neben Juss wohnte Walters Bruder, Onkel Jordan, mit Tante Fien und Juss’ Cousinen Isabel und Amber.

Juss und Amber waren fast gleich alt und spielten immer zusammen. Leider gingen sie nicht in dieselbe Schule, weil Walter an nichts mehr glaubte. Sein Bruder Jordan aber war immer noch katholisch, so wie Oma Mu ihn erzogen hatte.

Isabel war schon vierzehn und wollte nie mitspielen, bei nichts. Wenn sie Amber und Jussef ansah, bekamen die beiden das Gefühl, für sie so etwas zu sein wie spitze Steinchen in ihren Schuhen.

Im Winter lag Isabel drinnen auf dem Sofa und schrieb mit ihren Schulfreundinnen. Im Sommer lag sie mit ihrem Handy draußen auf dem Steg am glitzernden Fluss. Isabel war zu groß und zu zickig zum Spielen.

Im Haus neben Onkel Jordan wohnte Oma Mu. Sie heiratete einen Mann, der zufällig auch van Rijn hieß wie sie selbst. Der starb, als sie noch jung war, also musste Oma Walter und Jordan allein großziehen. Das war nicht einfach, weil die Brüder aufbrausende Hitzköpfe waren. Drinnen hocken, in der Schule, das gefiel ihnen überhaupt nicht.

Zu Omas großer Erleichterung wurde aber doch noch was aus ihnen, den Sprücheklopfern mit den langen Locken und funkelnden Augen. Das lag vor allem daran, dass sie beide zwei rechte Hände hatten – sie konnten unheimlich gut bauen, reparieren und tüfteln.

Walter und Jordan bauten ihre Häuschen aus. Da ein Stückchen Küche hinzu. Dort ein Dachfenster hinein. Davor eine Stiefelecke. Ein Schutzdach dazwischen. Und daneben einen Schuppen.

Sie blieben zusammen und bei den anderen, weil sie sich und einander etwas versprochen hatten. Etwas Wichtiges.

Wir kümmern uns um Mu.

Und wir kümmern uns um einander.

Was immer auch geschieht.

Im vierten Häuschen wohnte Onkel Arie mit Tante Eva. Zu ihrem Häuschen gehörte ein Garten voller Obst und Gemüse.

Und schließlich war da noch Opa Gurrgurr, der in dem früheren Familienhaus ganz am Ende wohnte. Eigentlich hieß er Chris, aber fast keiner nannte ihn so.

Sein ganzes Leben lang hatte sich Opa Gurrgurr nie in jemanden verliebt und niemand verliebte sich in ihn.

Oma Mu fand, dass er ein Schmutzfink war, weil er das Haus, in dem sie aufgewachsen war, nie sauber machte.

»Früher, als ich ein Mädchen war, als wir dort noch mit unseren Eltern lebten …«, erzählte sie Juss und Amber oft – und dann schaute sie gleichzeitig wütend und traurig –, »früher war das Haus wie aus dem Ei gepellt und wir auch, obwohl wir elf Kinder waren und nur wenig Geld hatten. Chris war ein gut erzogener Junge. Aber jetzt hat dieser Kindskopf einen Schweinestall daraus gemacht mit seinen Tauben und Hühnern!«

Und dann machte sie das Kreuzzeichen, weil sie hässlich über ihren Bruder sprach und das gehörte sich nicht für eine gute Katholikin.

Jeden Abend brachte Zaza oder Tante Fien eine warme Mahlzeit zu Opa Gurrgurr. Oft gingen Juss und Amber mit und warteten bei den Hühnern im Garten.

Jeden Morgen brachte Onkel Arie ihm eine Kanne Kaffee und Käsebrote.

Und jeden Freitagnachmittag sahen Juss und Amber, wie Oma Mu Opa Gurrgurr quer durch den Garten in ihr eigenes blitzsauberes Haus schleifte.

Dort steckte sie seine Kleidung in die Waschmaschine und ihn selbst in die Badewanne. Das Kippfenster im Badezimmer riss sie sperrangelweit auf, um möglichst viel frische Luft hineinzulassen. Eigentlich war die Wascherei auch ein wenig gemein, aber trotzdem mussten Juss und Amber darüber lachen, weil Opa sich immer mit Händen und Füßen wehrte.

»Ich will nicht, ich will nicht! Ich will nach Hause, zu meinen Gurrgurrs. Lass mich in Ruhe!«

»Halt still oder ich gurrgurr dir auch mal was!«, drohte Oma Mu. Und danach sagte sie jedes Mal: »Nur gut, dass Pa und Ma das hier nicht mehr erleben müssen. Sie würden sich im Grab umdrehen.«

Freitagnachmittag

Juss und Amber hörten Oma Mu mal wieder beim Freitagnachmittag-Schimpfen zu. Sie kletterten in den Birnbaum vorm Haus und versuchten, durch das Badezimmerfenster hineinzuschauen.

Zaza und Walter saßen draußen und tranken Kaffee. Sie winkten, wenn ein Schiffer vorbeifuhr, den sie kannten. Die Schiffer winkten zurück.

Vom Birnbaum aus konnten Juss und Amber viel sehen.

Amber spähte in Omas Haus, aber Juss schaute über den Fluss hinweg zum anderen Ufer. Dort stand ein alter, heruntergekommener Bauernhof. Auf einem breiten Fassadenstein stand sein Name: Seltenruh.

Juss sah, wie sich die Seitentür von Seltenruh öffnete wie jeden Tag gegen vier Uhr, außer sonntags oder wenn es fror. Er sah, wie Frau Bakker in ihrem dunkelblauen Badeanzug hinauf zur Straße ging.

Die alte Bäuerin hatte kalkweiße Beine. Auf ihrem Kopf thronte eine mit verblichenen Plastikblumen besetzte Badekappe und über der Schulter trug sie eine ziemlich lange Aluminiumleiter.

Autofahrer, Bus- und Lastwagenfahrer bremsten vor Schreck, sobald sie mit dem glänzenden Ding am Straßenrand auftauchte, um die Straße zu überqueren.

Sie schaute nicht nach links und sie schaute nicht nach rechts. Sie schaute immer geradeaus zum Fluss.

Sobald sie neben dem Radweg im Gras am Flussufer stand, schüttelte sie sich die Badelatschen von den Füßen und ließ die Leiter hinab ins Wasser.

Dann stieg sie in aller Ruhe in den Fluss.

Von einem Ufer zum anderen schwamm sie geruhsam sechs Bahnen.

Wenn ein Schiff vorbeifuhr, hielt sie mit den Füßen paddelnd inne. Manche Schiffer kannten sie, winkten und riefen ihr einen Gruß zu. Manche jungen Schiffer kannten sie nicht und schrien, sie solle gefälligst aus der Flussmitte verschwinden. Das sei gefährlich, was sie da machte. Sie könne vom Sog ihrer Schiffe mitgerissen werden.

Onkel Arie und Oma Mu kannten Frau Bakker gut. Sie sagten, sie würde schon ihr ganzes Leben lang gegen vier Uhr nachmittags ihre Bahnen ziehen. Sie hatte damit angefangen, als sie ungefähr fünfzehn war, als ihre Eltern noch Bauern waren auf Seltenruh.

Wenn Oma Mu nicht gerade Opa Gurrgurr in die Badewanne steckte, ging sie zum Ufer und hielt einen Schwatz mit der Nachbarin. War Oma Mu beschäftigt, übernahm jemand anders aus der Familie van Rijn das. Schließlich konnte man eine alte Frau, die im Fluss hin und her schwamm, nicht ohne einen Plausch zurück in ihren windschiefen Bauernhof gehen lassen.

Juss und Amber sahen, wie die alte Bäuerin allmählich näher kam.

»Hallo, Frau Bakker!«, rief Juss.

»Wie geht es Ihnen heute?«, frage Amber.

»Ich kann euch zwar hören, aber nicht sehen«, antwortete Frau Bakker im Wasser.

Sie tickte das Ufer an wie eine echte Wettkampfschwimmerin und wendete dann umständlich.

»Wir sitzen im Birnbaum!«, rief Juss.

Sie schauten, wie Frau Bakker wieder ans andere Ufer schwamm, wendete und zurückkehrte.

»Mir geht’s gut. Und euch?«, fragte sie, als sie sich wieder näherte, und sie schaute hinauf zum Baum.

»Uns geht’s auch gut und Oma auch. Sie kann gerade nicht rauskommen, weil sie Opa Gurrgurr in die Wanne steckt!«, rief Juss.

»Dann grüßt eure Oma doch bitte von mir!«

»Machen wir!«, versprach Amber.

Die alte Bäuerin schwamm wieder weg.

Oben, im Badezimmer von Oma Mu, brüllte Opa Gurrgurr: »Nicht die Haare! Nicht meine Haare waschen!«

Man hörte Geplätscher und Geplantsche. Kurz darauf schrie Opa Gurrgurr: »Du ertränkst mich! Du ertränkst mich!«

Da schlenderte Walter herbei. »Und, seht ihr was?«

»Frau Bakker, die hin und her schwimmt«, sagte Juss.

»Opa Gurrgurrs Kopf mit Schaumkrönchen«, sagte Amber.

»Sind die Birnen schon reif?«, wollte Walter wissen.

»Nein, natürlich nicht. Die sind noch winzig. Der Sommer hat doch gerade erst angefangen«, antwortete Amber.

»Wirf mir mal eine zu«, bat Walter. »Mal sehen, ob da noch keine Würmer drin sind.«

Juss pflückte eine Birne ab und tat, als würde er sie werfen.

Walter griff ins Nichts und da warf Juss ihm die Birne schnell an den Kopf.

»Aua! Na warte nur, du!«

Walter ging zum Baum und rüttelte wild an dem Stamm. Ein paar Birnen fielen hinunter. Juss und Amber hielten sich fest und lachten ihn aus. Sie fielen nicht.

Walter ließ von dem Baum ab. Alle Fältchen in seinem braun gebrannten Gesicht lachten mit seinen Augen um die Wette.

Er breitete die Arme aus. »Spring!«

Juss sprang. Walter fing ihn auf und setzte ihn auf dem Boden ab. Amber sprang. Walter fing auch sie auf.

Sie gingen zu dem Häuschen, vor dem Zaza noch auf der Bank saß. Ein Stückchen weiter lag Isabel mit ihrem Handy auf dem Steg. Sie schaute nicht auf.

Plötzlich setzte sich Walter in Bewegung. »Isabel hat Lust, zu schwimmen, das seh ich doch!«

Er stürmte auf den Steg, hob Isabel hoch und schwenkte sie über das glitzernde Wasser, als wollte er sie hineinwerfen.

»AAAH! Lass das! Lass mich los, du Blödmann! Mein Handy! Mein Handy wäre fast ins Wasser gefallen!« Isabel fuchtelte wild mit Armen und Beinen.

Walter stellte sie auf die Füße und ging zurück zu Juss und Amber und zwinkerte ihnen zu.

Hinter ihm rief Isabel wütend in ihr Handy: »Nein, hier gibt es keine anderen Jungs! Das war bloß mein blöder Onkel, der sich für unheimlich witzig hält!«

Gegenüber kletterte die alte Bäuerin ganz langsam die Leiter hinauf. Als sie im Gras stand, zwängte sie ihre molligen weißen Füße in die Badelatschen, zog die Leiter aus dem Fluss, legte sie sich über die Schulter und überquerte triefnass die Straße zum Bauernhof Seltenruh.

Durchs Badezimmerfenster hörte man Oma Mus Stimme: »Finger weg von dem Handtuch! Wasch dir gefälligst den Hintern, verdammt noch mal! Und ich sehe da auch noch Dreck zwischen deinen Zehen!«

Durst

Juss rettete jemandem das Leben. Einem Mann. Er machte das nicht ganz allein, Amber half ihm. Aber wenn er nicht aufgepasst und sie gerufen hätte, wäre der Mann womöglich ertrunken.

Walter und Zaza waren mit Onkel Jordan und Tante Fien auf einem Sommerfest. Darum übernachtete Isabel bei einer Freundin und Amber auf ihrer Luftmatratze bei Juss.

Es war so eine schwüle Nacht, in der alle unruhig schliefen. So eine Nacht, in der einen das Summen der Mücken bei weit offenen Fenstern, durch die Einbrecher einsteigen konnten, nicht zur Ruhe kommen ließ.

Bevor Juss und Amber einschliefen, lagen sie darum lange wach im Bett, schwatzten und dachten sich Rätsel aus.

Als Juss endlich eingeschlafen war, wachte er mitten in der Nacht wieder auf, weil Amber plötzlich total laut sagte:

»Juss! Ich habe Durst. Du auch?«

»Ich hole Wasser«, sagte er. Gähnend ging er am Schlafzimmer von Walter und Zaza vorbei. Die Tür stand offen und das Bett war ordentlich gemacht. Sie waren noch nicht zu Hause. Im Dunkeln ging er die Treppe hinunter zur Küche. Dort nahm er einen Becher und schaute durchs Fenster zum Steg, auf dem zwei Enten schliefen. Das Ruderboot, das dort festgebunden lag, schaukelte auf dem Wasser, in dem sich ein milchiger runder Mond spiegelte.

Zwischen dem Fluss und der Reihe mit den fünf Häuschen schlängelte sich der Radweg wie ein Wurm aus dunklem Asphalt an den Birnbäumen entlang. Den ganzen Tag kamen Radfahrer vorbei. Im Sommer und im Winter. Bei Regen und Sturm. Mit Rückenwind und Gegenwind.

Morgens vor Schulanfang radelten viele Kinder vorbei und nach Schulschluss wieder.

Aber jetzt fuhr dort niemand entlang.

Oder doch.

In der Ferne näherte sich ein schwankendes Fahrradlämpchen.

Juss stellte sich auf die Zehenspitzen und stützte sich auf die Anrichte, um rausschauen zu können.

Er hörte jemanden singen. Oder, na ja, lallen. Singen, wie es die Männer manchmal taten, die aus der Kneipe Zur windigen Ecke kamen, hinten im Dorf an der Brücke.

Schnapsdrosseln, so nannten sie alle in der Familie nur.

Juss und Amber hatten die Geschichten auch gehört: wie Onkel Walter schon zweimal nachts eine Schnapsdrossel aus dem Fluss gerettet hatte. Und Onkel Arie tagsüber einmal erst eine Frau und dann ihren kleinen Hund, der in einem Körbchen hinten auf dem Gepäckträger gesessen hatte.

Tante Eva hatte die außergewöhnlichste Geschichte: An einem heißen Sommertag musste sie einmal einem Amerikaner mit Rucksack aus dem Fluss helfen. Der war nicht betrunken, sondern dachte, er könnte auf der Entengrütze gehen.

Aber Oma Mu war die beste Menschenretterin von allen. Sie hatte so oft jemanden aus dem Fluss gefischt, dass sie es gar nicht mehr zählen konnte, behauptete sie.

Es lag nicht daran, dass all diese Leute nicht schwimmen konnten. Die meisten konnten das durchaus. Aber mit ihren Sachen am Leibe hielten sie nicht lange durch. Und im Winter schon mal gar nicht, wenn das Wasser eiskalt war.

Das Problem war vor allem, dass sie nicht aus dem Wasser klettern konnten. Das Ufer war zu hoch. Darum mussten sie gerettet werden.

Juss hatte noch nie jemanden ins Wasser fallen hören. Er schlief zu fest und hinten im Haus.

Aber jetzt stand er mitten in der Nacht in der Küche und die lag an der Flussseite des Hauses. Er konnte den Radweg sehen und die Gestalt eines Mannes auf dem Fahrrad mit dem Licht.

Juss wusste, was der Mann im Dunkeln nicht sehen konnte. Dass die Wurzeln der Birnbäume den Asphalt des Radweges nach oben gedrückt hatten und breite Risse voller Gras darin entstanden waren.

Er wusste, dass Radfahrer tagsüber ihre Lenker extra gut festhielten, bis sie, hoppel, hoppel, hoppel, über die Wurzeln gefahren waren.

»Pass auf!«, sagte er.

Aber das konnte der Mann natürlich nicht hören.

Und da passierte es auch schon.

Hoppel, hoppel, hoppel, ein Schrei und ein mächtiger Plumps.

Der Mond im Fluss zerbrach in tausend Teilchen.

»Amber! AMBER!«

Juss rannte schon nach draußen, zu dem Schutzdach, unter dem Oma Mu immer ihre Wäsche aufhängte. Dort lag die Holzleiter. In diesem Moment war er bärenstark. Bärenstark, weil er musste.

Es ging um ein Menschenleben!

Er zerrte schon an der Leiter, als Amber rausgerannt kam, auch barfuß und in Unterhosen, genau wie er. Sie fragte nichts. Sie hatte schon alles verstanden.

Gemeinsam schleiften sie die Leiter über das Gras, an dem Fahrrad vorbei, dessen Vorderrad sich noch in der Luft drehte.

Dort, wo der Radfahrer verschwunden war, strudelte das Wasser.

Eine Hand tauchte auf und dann, mit einer Menge Getöse und Prusten, ein tropfnasser Kopf.

Sie schoben die Leiter über den Rand des Stegs und ganz von selbst rutschte sie in die Tiefe.

»Hierher!«, schrie Juss. »Sie müssen hierherschwimmen!«

Der Mann schnaubte und spuckte Wasser wie ein Wal. Wie jemand, der überhaupt nicht schwimmen konnte, paddelte er zu der Leiter. Es dauerte eine ganze Weile, bis er hinaufkletterte. Er war zu müde, um selbst aus dem Fluss zu kommen. Juss und Amber mussten ihn an seinen nassen Sachen herausziehen.

Der Mann blieb erst mal keuchend sitzen. Dann rappelte er sich mühsam auf und sagte: »Danköschün.«

Mit seiner patschnassen Hand tätschelte er Juss und Amber den Kopf und sagte noch ein paar Sachen, aber die verstanden sie nicht, weil er in einer anderen Sprache redete.

Dann wankte er zurück zu seinem Rad und stieg wieder auf, nass, wie er war. Der Lenker war ziemlich krumm, aber er radelte trotzdem weg, ohne ihn erst zu richten.

Über den Radweg verteilt lagen überall rote Plastikstückchen von seinem Reflektor. Im Gras entdeckten sie seine Fahrradlampe. Sie brannte nicht mehr.

»Wir fegen das morgen auf«, sagte Juss. »Ich weiß nicht, wo der Besen steht. Bei Oma oder vielleicht bei Onkel Arie.«

»Und Papa soll die Leiter aus dem Wasser ziehen«, sagte Amber.

Sie gingen ins Haus. Sie traten ihre nassen Füße an der Fußmatte ab. Sie tranken Wasser in der Küche und gingen nach oben.

Amber kroch zu Juss ins Bett und das war jetzt nicht so schlimm, weil es allmählich kühler wurde. Sie zogen das Bettlaken über sich.

Die Fenster standen noch weit offen und eine Mücke summte irgendwo bei ihren Ohren, aber sie hörten nichts mehr.

Beleidigt

Juss wachte erst auf, als Oma ihren Teppich über die Wäscheleine hängte und mit ihrem Teppichklopfer darauf eindrosch.

Die Sonne schien ins Zimmer.

Walter, Zaza, Onkel Jordan und Tante Fien waren längst wieder zu Hause. Sie waren irgendwann in der Nacht schlafen gegangen und inzwischen wieder aufgestanden. Der Milchwagen war längst vorbeigefahren, um die Milch von Bauer Marias Kühen abzuholen, und die ersten Leute waren schon auf dem Weg zur Dorfkirche vorbeigeradelt.