Das kleine Tännlein - Vera Hewener - E-Book

Das kleine Tännlein E-Book

Vera Hewener

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Beschreibung

Wenn Weihnachten naht, wird die Zeit knapp. Viele Dinge sind zu klären: Ist der Tannenbaum ausgesucht? Sind alle Geschenke verpackt? Ist das Festmenue vorbereitet? Die Weihnachtsgeschichten von Vera Hewener laden zu einer Auszeit in all dem Trubel ein, gewinnen der Adventszeit ganz besondere Momente ab (DieWoch 11.10.2017). Das Buch versammelt sowohl heitere, nachdenkliche als auch besinnliche Geschichten zur Weihnachtszeit aus dem literarischen Werk von Vera Hewener. Heweners Sprache ist Rhythmus und Malerei. SZ 07.05.02. Jedes Wort schillert und ruft ein Bild hervor. SZ 07.11.2011 Vera Hewener versteht es meisterlich, Fiktion und Realität miteinander zu verknüpfen...viel Raum für Besinnlichkeit und Reflektion. DieWoch 11.10.2017 Buchtipp Kerzen, Wunder, Himmels-Zunder. Offensichtlich steckt auch ein Schalk in Hewener. Anja Kernig SZ 07.12.17. Einfühlsam geschriebene Geschichten, mal heiter und komisch, mal reflektierend und nachdenklich. DieWoch 10.11.18. Vera Hewener, Jahrgang 1955, lebt als freie Schriftstellerin in Püttlingen, mehrfach ausgezeichnet, u.a. Superpremio Cultura Lombarda Centro Europeo di Cultura Rom (I) 2001, Superpremio Mondo Culturale, 2002; 1. Preis Deutsche Sprache CEPAL Thionville (F) 2004, Trophäe Goethe 2007, Trophäe Mörike 2015, Wilhelm Busch Preis 2017.

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Wenn Weihnachten naht, wird die Zeit knapp. Viele Dinge sind zu klären: Ist der Tannenbaum ausgesucht? Sind alle Geschenke verpackt? Ist das Festmenue vorbereitet? Die Weihnachtsgeschichten von Vera Hewener laden zu einer Auszeit in all dem Trubel ein und „gewinnen der Adventszeit ganz besondere Momente ab“ (DieWoch 11.10.2017). Das Buch versammelt sowohl heitere, nachdenkliche als auch besinnliche Geschichten zur Weihnachtszeit aus dem literarischen Werk von Vera Hewener.

Vera Hewener, Jahrgang 1955, lebt in Püttlingen als freie Schriftstellerin, mehrfach ausgezeichnet, u.a. vom Centro Europeo di Cultura Rom (I) "Superpremio Cultura Lombarda" 2001, "Superpremio Mondo Culturale“, 2002; von CEPAL Thionville (F) 1. Preis Deutsche Sprache 2004, Trophäe Goethe 2007, Trophäe Mörike 2015, Wilhelm Busch Preis 2017.

Pressesplitter

„Heweners Sprache ist Rhythmus und Malerei.“ SZ 07.05.02. „Jedes Wort schillert und ruft ein Bild hervor.“ SZ 07.11.2011 „Vera Hewener versteht es meisterlich, Fiktion und Realität miteinander zu verknüpfen...viel Raum für Besinnlichkeit und Reflektion.“ DieWoch Buchtipp 11.10.2017. „Offensichtlich steckt auch ein Schalk in Hewener." Anja Kernig SZ 07.12.17. „Einfühlsam geschriebene Geschichten, mal heiter und komisch, mal reflektierend und nachdenklich.“ DieWoch Buchtipp 10.11.18.

Inhaltsverzeichnis

Aller Ehren wert

Das kleine Tännlein

Der Schneeengel

Der doppelte Ochse oder das Wunder von Saarlouis

Die Krippe von St. Blasius

Als im Köllertaler Dom das Licht ausging

Wie aus Ochs Ludwig ein Tannenbaum wurde

Der Vogelchor oder das Wunder von Bethlehem

Drei Weihnachtsmänner

Die Sternsinger

Der Umzug

Die gute Tat

Wer ist die Weihnachtsmaus?

Kinderträume

Das reumütige Rentier oder das Wunder von Saarbrücken

Die Rose von Jericho

Missverständnis am Fulseck

Lawinenwarnung

Katzenweihnacht

Von Weihnachtspuppen und anderen Gaben

Seife in Aspik

Das Lächeln eines Engels

Die Nikolausverschwörung

Wie die Erzengel den Himmel retteten

Auf der Kartoffelhütte thront ein Schneemann

Höhere Gewalt

Advent

Weihnachten in Zeiten der Pandemie

Bücher von Vera Hewener

ALLER EHREN WERT

„Wirst du wohl stehen bleiben“, rief Berta der Gans zu und rannte ihr hinterher. „Du hast den Auftrag, als Festmahl an Weihnachten den Gaumen zu verzaubern. Das ist doch aller Ehren wert.“

Die Gans ließ sich davon nicht überzeugen, halb rannte, halb flog sie durch die Wiese hinaus in das angrenzende Waldstück. Es war nichts zu machen. Die Gans entschwand in Windeseile mit hysterischem Gegacker und Flügelschlagen.

„Kinder“, erklärte Berta, als sie außer Atem wieder zurück ins Haus kam, „mit dem Festbraten wird es an Weihnachten nichts werden. Amalie ist davon geflattert. Wir müssen uns mit Kartoffeln und Vanillepudding begnügen.“

„Ich hätte Amalie sowieso nicht angerührt. Sie ist meine Freundin und Freunde verspeise ich nicht“, meinte klein Rita.

„So gesehen hast du Recht. Amalie ist die einzige Gans, die uns geblieben ist. Was soll’s. Am besten, ihr geht sie nach dem Frühstück suchen. Wisst ihr was, ich mache für heute Abend euer Lieblingsessen, Thüringer Klöße mit Specksoße.“

„Au fein“, rief jetzt Peter, „das wird bestimmt der schönste heilige Abend, den wir bis jetzt gefeiert haben.“

Klein Rita und der größere Bruder Peter machten sich also auf in den Wald. Sie würden Amalie sicher bald gefunden haben. Die Federspur war nicht zu übersehen. Aber sie endete plötzlich hinter einem Baum.

„Amalie“, rief Rita immer wieder, „Amalie, du kannst jetzt rauskommen. Du wirst nicht gebraten. Mutter macht Thüringer Klöße.“

Doch vergeblich, die Gans ließ sich nicht blicken. Etwas abseits fanden sie blutige Blätter.

„Nein“, rief Rita vor Schrecken, „das kann nicht sein. Amalie hat kein Fuchs geholt. Doch nicht unsere Amalie.“ Rita heulte unaufhörlich auf dem Rückweg.

„Sei nicht traurig,“ versuchte Peter sie zu trösten, „irgendwann wäre auch sie gestorben. Wie all die anderen Gänse. Dieser Fuchs hat alle unsere Gänse geschnappt. Sie wird jetzt im Gänsehimmel sein.“

„Wenn Papa noch leben würde, wäre der Zaun bestimmt rechtzeitig fertig geworden“, schluchzte sie.

„Papa ist auch im Himmel“, murmelte Peter traurig.

Zu Hause angekommen lief Rita tränenüberströmt in die Arme ihrer Mutter und weinte: „Mama, Mama, jetzt ist Amalie doch tot. Der Fuchs hat sie gefressen. Dieser böse Fuchs.“

Berta versuchte, ihre Kinder zu trösten. Obschon sie selbst genau so traurig war. Sie dachte an ihren geliebten Mann, der im letzten Jahr verunglückte. Sie hätte die Gans nicht auf den Speiseplan setzen dürfen. Wenn sie geahnt hätte, dass Rita sie so sehr ins Herz geschlossen hatte, wäre sie nie auf diese Idee gekommen. Nun war es zu spät. Dieses Weihnachten würde schrecklich werden, dachte sie und betete zu Gott, dass er ihr genügend Kraft schenken würde, um die Kinder trösten zu können und wieder zum Lachen zu bringen.

Am Nachmittag schmückten sie gemeinsam den Weihnachtsbaum. Im Gänsestall bauten sie die große Krippe auf, die ihr Mann geschnitzt hatte. Sie war fast lebensgroß. Die Krippe füllten sie mit Stroh und legten Ritas Puppe als Jesuskindchen hinein. Dann gingen sie wieder zurück.

Als die Sonne untergegangen war und der Himmel voller Sterne blitzte, suchten sie in der schönsten Sonntagskleidung wieder den Gänsestall auf, um vor der Krippe Weihnachtslieder anzustimmen. Berta zündete die großen Kerzen der Windlichter an, die in jeder Ecke standen. Das Licht fiel auf die Krippe. „Ihr Kinderlein kommet“, begann Berta zu singen und Rita und Peter stimmten ein. Doch irgendetwas rührte sich in der Krippe. Es raschelte. Rita nahm ein Windlicht und hielt es über die Krippe. Ein heftiges Flügelschlagen folgte und lautes aufgeregtes Gegacker.

„Ha“, rief Rita aus, diesmal in wahrer Freude. „Da ist ja Amalie, Amalie lebt!“

Jetzt konnte auch Peter und ihre Mutter sie erkennen. Die Gans Amalie lag in der Krippe und hielt die Puppe warm.

„Das glaub ich jetzt nicht“, staunte Berta, „das gibt es doch gar nicht.“

Amalie gackerte vergnügt in der Krippe und umschlang das Puppen-Christuskind.

„Da hast Recht, Amalie, das ist auch aller Ehren wert. So hat das Jesuskindlein es schön warm.“ Berta strich der Gans über den Kopf. „Liebe Amalie, verzeih mir bitte, dass du in den Kochtopf solltest. Von jetzt an bist du unser Gast. Das hätte Bernhard bestimmt auch getan.“

Sie sangen Weihnachtslieder, Rita nahm Amalie danach in den Arm und trug sie ins Wohnzimmer. Dort packten alle gemeinsam die Geschenke aus, aßen Thüringer Klöße und zum Nachtisch Vanillepudding mit Schokoladensoße.

DAS KLEINE TÄNNLEIN

Im Wald stöberten die Arbeiter. Es hackte und knackte, Motorsägen heulten auf. Wenn die Stämme zu Boden fielen, schallte und donnerte es wie bei einem Meteoriteneinschlag. Die schönsten Tannen für den Christbaumverkauf sammelten sich Stück für Stück am Waldrand und wurden nacheinander in den Anhänger des Lastwagens verfrachtet. Durch das Waldstück zog sich bereits eine große Schneise, als die Christbaumfäller beschlossen, dass die Anzahl der aufgeladenen Tannen für den diesjährigen Weihnachtsbaumverkauf wohl ausreichen würde. Sie stellten die Arbeit ein und fuhren davon.

Die kleinste Tanne aber blieb zurück und stand nun allein inmitten des halb gerodeten Waldstückes, streckte die jungen Zweige aus und fühlte sich verlassen.

„Ich bin für nichts gut“, klagte sie, „ich bin zu klein, um als Weihnachtsbaum leuchten zu dürfen und zu dünn, um der kalten Witterung standhalten zu können. So werde ich nie ein großer Tannenbaum werden.“

Jetzt begann es auch noch zu schneien. Das Tännlein fror und zitterte, niemand konnte ihm gegen den rauen Wind Schutz bieten. Der Schnee wuchs, türmte sich auf und bald sah das Tännlein wie ein Schneemann aus.

Plötzlich flitzte ein Eichhörnchen unter die Schneezweige und vergrub seine Beute. Dann wuselte es im Schnee, eine Waldmaus kam angeschlichen, sprang auf einen Zweig und dann auf den Boden. Kurz darauf flog eine Tannenmeise heran, lies sich auf der Tannenspitze nieder und begann zu singen. Zu guter Letzt kam eine Rehfamilie aus dem Gehölz getrabt und umlagerte das Bäumchen, so dass der Wind nicht mehr ganz so arg durch die Nadeln fauchte.

Die Tannenmeise hüpfte hin und her und naschte vom Schnee. Das Tännlein war kitzlig und musste lachen. Dabei verschütteten die Zweige den überhängenden Schnee und bildeten eine kleine Schneemauer am Boden. Das war dem Eichhörnchen und der Waldmaus gerade recht.

„Danke für den Schutz“, räusperte sich das Pelztier, „jetzt kann ich hier meinen Vorrat verscharren und Winterruhe halten.“

Die Waldmaus piepste: „Gut, gut, für mich reicht die Höhle unter deinen Zweigen. Hier findet mich so schnell kein Fuchs.“ Es hörte auf zu schneien, die Rehe sprangen vergnügt um die Tanne und spielten im Schnee. Das Tannenmeislein pfiff ununterbrochen und wenn man genau hinhörte, klang es fast wie das Lied „Oh Tannenbaum“.

„Ah“, freute sich die kleine Tanne, „ich habe doch eine Aufgabe. Wenn ich auch noch zu klein für das Weihnachtfest bin, für die Waldtiere bin ich groß genug. Danke lieber Schnee, dass du mir das zugetraut hast, danke liebe Tiere, dass ihr euch bei mir eingenistet habt. Nun weiß ich, dass es niemand auf der Welt gibt, für den das Leben keine Aufgabe hat.“

Der Schnee glitzerte und funkelte. In diesem Winter fiel er ununterbrochen vom Himmel, damit das Tännlein seiner Aufgabe gerecht werden konnte. Die kleine Gemeinschaft der Waldtiere rückte enger zusammen. So hatte jeder mehr Schutz vor der Witterung und war nicht allein. Das Tännlein indes wuchs zu einer stattlichen Größe heran und konnte im Jahr darauf als Weihnachtsbaum von den Menschen geschmückt werden, um zu Ehren der Geburt des kleinen Jesuskindchens zu strahlen und zu leuchten.

DER SCHNEEENGEL

„Mariechen, warum starrst du durch das Fenster und bist so traurig?“ fragte mich Mutter.

„Ich warte auf den Schnee. Ich wollte doch mit Karlchen einen riesigen Schneemann bauen. Die Kohlen und die Karotten liegen schon parat“, antwortete ich voller Sehnsucht.

„Es wird schon noch Winter werden. Er lässt sich dieses Jahr eben etwas Zeit“, versuchte Mutter, mich zu trösten.

„Aber im Winter muss es doch schneien“, meinte Karlchen, „weil es im Frühling auch immer blüht.“

„Weißt du“, sagte Mama, „manchmal entwickeln sich die Dinge eben anders, als wir es erwarten. Wir können dem Winter nicht befehlen, dass er schneien soll.“

„Wir nicht, aber der liebe Gott kann es ja tun“, wünschte ich mir.

„Der liebe Gott kann dir nicht jeden Wunsch erfüllen. Er schickt schon den Nikolaus und das Christkind, um euch zu beschenken“, erklärte Mama.

„Dann wünsche ich mir, dass der Nikolaus anstatt Süßigkeiten den Schnee bringt“, hoffte Karlchen.

Am Abend saßen wir im Bett, falteten die Hände und beteten: „Lieber Gott, lass doch bitte den Schnee rieseln. Alle Kinder warten schon darauf. Unser Lehrer hat versprochen, sobald genug Schnee liegt, einen Klassenausflug in den Lachwald zu machen. Bitte, bitte, mach, dass es Winter wird. Wir versprechen dir auch, ganz brav zu sein und uns nicht mehr zu zanken. Und auf den Nikolausstiefel würden wir auch verzichten.“ Mutter stand in der Tür und hörte alles mit. Sie lächelte uns an und meinte: „So, so. Da bin ich aber mal gespannt. Wenn man jeden Tag eine gute Tat macht, sieht das der liebe Gott auch. Vielleicht würde ihn das überzeugen und einen Schneeengel schicken. Jetzt macht die Augen zu, damit ihr morgen ausgeschlafen seid.“ Sie gab uns einen Gute-Nacht-Kuss und knipste das Licht aus.

„Karlchen, vielleicht ist das mit der guten Tat eine gute Idee“, flüsterte ich Karlchen zu.

„Meinst du? Was ist denn eine gute Tat?“ fragte er.

„Der Pastor sagt immer, wir sollen Nächstenliebe üben“, antwortete ich.

„Wie übt man denn Nächstenliebe? So wie Klavierspielen?“ fragte Karlchen wieder.

„Vielleicht geht es darum, jemand anderem etwas Gutes zu tun, zu helfen oder zu schenken“, überlegte ich.

„Ich könnte Otto mein Pausenbrot schenken. Der hat nie etwas zum Essen dabei und hat immer Hunger“, meinte Karlchen.

„Ich könnte Klara meine Puppe schenken. Oder wir könnten der alten Anna im Garten helfen. Seitdem sie kaum noch gehen kann, ist sie immer schlecht gelaunt, weil sie ihren Kräutergarten nicht mehr pflegen kann“, kam mir in den Sinn.

„Aber Mariechen, im Winter wächst doch gar nichts mehr“, lachte Karlchen.

„Stimmt, dann fragen wir sie, ob wir für sie einkaufen gehen sollen. Darüber freut sie sich bestimmt“, tat ich meine Blitzidee kund.

„Abgemacht, ich spendiere mein Pausenbrot, du deine Puppe und für Anna gehen wir zusammen einkaufen. Dann wird es ganz bestimmt schneien“, gähnte Karlchen und schlief ein.

Und so setzten wir unseren Plan in die Tat um. Nach drei Tagen wurde Mutter misstrauisch. Karlchen kam immer sehr hungrig aus der Schule und nachmittags verschwanden wir nach den Hausaufgaben sofort.

„Sag mal, Karlchen, schmeckt dir dein Pausenbrot nicht mehr?“ fragte sie.

„Doch, doch, es ist nur zu wenig. Ich hab seit Montag doppelt soviel Hunger wie sonst“, schoss es aus Karlchen hinaus.

„Warum sagst du denn nichts. Dann mache ich dir jetzt immer zwei Brote“, meinte Mama.

„Au fein“, rief Karlchen. Mutter wunderte sich.

„Mariechen, kannst du heute Mittag mal zum Metzger für mich gehen. Ich muss für das Wochenende vorbestellen“, wandte sie sich nun an mich.

„Ja, kann ich schon, aber erst später, nach den Hausaufgaben“, versuchte ich, Zeit zu schinden. „Natürlich, erst wenn du Zeit hast“, sagte Mutter und wunderte sich noch mehr.

„Das können wir doch zusammen erledigen“, murmelte Karlchen. Recht hatte er. „Ich hab’s mir überlegt, ich erledige das gleich nach den Hausaufgaben“, sagte ich nun.

„So, so“, staunte Mutter und nahm ich ins Visier. Zu dumm, wir hatten ihren Spürsinn offengelegt. Nun mussten wir alles noch mehr verheimlichen. Karlchen aber freute sich. Jetzt konnte er teilen, ohne zu verzichten.

Als die Woche zu Ende ging und der Nikolaustag sich näherte, standen Karlchen und ich wieder am Fenster. Wir hofften, dass unsere Mühe endlich belohnt werden würde. Aber es fiel kein Schnee.

Nikolaus ging vorbei, die Stiefel waren trotzdem gefüllt und Anna wurde immer freundlicher. Am dritten Advent backte sie Anisplätzchen für uns. Die mochte ich ganz besonders. Dann schenkte sie noch jedem von uns eine Tafel Schokolade. Die mochte Karlchen wiederum. Anna freute sich über unsere Hilfe so sehr, dass sie meine Mutter anrief und sich für die Unterstützung bedankte.

„Sie haben so liebe Kinder, das muss ich Ihnen doch mal sagen. Jeden Tag klingeln sie und fragen, ob ich etwas brauche. Das ist wirklich großartig. Vielen Dank, dass sie mir ihre Kinder schicken, um mir zu helfen. Ich bete für sie und ihre Familie. Vergelt’s Gott.“

Mutter war wie vom Blitz getroffen. Ahnte sie doch richtig, dass da irgendetwas im Gange war, von dem sie nichts wissen durfte. Nun wollte sie auch erfahren, was es mit dem Pausenbrot auf sich hatte. Sie ging in die Schule, um mit der Klassenlehrerin von Karlchen zu sprechen.

„Ja, wissen sie, der Otto stammt aus ganz ärmlichen Verhältnissen. Er hat nie ein eigenes Pausenbrot dabei. Seit drei Wochen gibt ihr Sohn Karlchen immer eins ab, damit er auch etwas zu Essen hat. Das wird sich auf die Note in Betragen natürlich positiv auswirken“, lobte sie ihren Sohn Karlchen.

Mutter verstand, dass ihre Kinder die gute Tat wörtlich genommen hatten, um den lieben Gott zu bitten, es schneien zu lassen.

Wir hingegen standen am Fenster und drückten uns Abend für Abend die Nase platt.

„Mama, meinst du wirklich, dass der liebe Gott alles sieht?“ fragte ich in der Weihnachtswoche.

„Ganz bestimmt. Vielleicht hat er nur zu viel zu tun so kurz vor Weihnachten. Der Schnee kommt ganz bestimmt“, tröstete Mutter uns wieder.

Wir waren schon ganz entmutigt, als die Weihnachtsferien begannen. Am Abend vor Weihnachten wurden wir immer trauriger.

„Der liebe Gott hat uns vergessen“, meinte Karlchen.

„Wart’s ab. Morgen ist ja erst Weihnachten. Mama hat bestimmt Recht. Vor Weihnachten kann er sich nicht um den Winter kümmern, da muss er doch all die vielen Geschenke besorgen“, versuchte ich, es zu erklären.

Am Morgen liefen wir direkt an die Terrassentür, aber es schneite nicht. Wir sahen uns beide an, tieftraurig und voller Zweifel. Mutter bat uns, ihr beim Schmücken des Tannenbaumes zu helfen. Das lenkte uns etwas ab. Dann kamen die beiden Omis und Opa. Wir spielten wie jedes Jahr Menschärgere-dich-nicht. Die Bescherung nahte. Unter dem Tannenbaum standen zwei sehr große Pakete. Was das wohl war? Wir streiften ganz eifrig das Papier ab.

„Hurra, das sind ja Schlitten“, riefen wir beide voller Freude, „jetzt fehlte nur noch der Schnee.“

„Das ist nicht das ganze Geschenk“, sagte Mama, „wir fahren über Silvester in den Schwarzwald, damit ihr die Schlitten auch ausprobieren könnt.“

„Wirklich, wir fahren in den Schnee? Danke Mama, Danke Papa, das ist ein tolles Geschenk“, freuten wir uns und küssten und umarmten unsere Eltern und Großeltern.

Als wir beim Festessen saßen, glitzerte es plötzlich im Fenster. Es sah aus, als ob uns ein Engel zuwinkte.

„Schau, ein Schneeengel, es schneit“, rief ich, „schau nur Karlchen, es schneit. Es war doch nicht umsonst!“ Wir liefen auf die Terrasse, hüpften hin und her, versuchten den Schnee zu fangen, lachten und herzten uns.

„Seht ihr, Kinder“, sagte meine Mutter, „gute Taten sind nie umsonst. Man bekommt immer etwas zurück. Auch wenn es manchmal länger dauert.“

DER DOPPELTE OCHSE ODER DAS WUNDER VON SAARLOUIS

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