Das Kunstwerk - Sinclair Lewis - E-Book

Das Kunstwerk E-Book

Sinclair Lewis

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Beschreibung

In 'Das Kunstwerk' von Sinclair Lewis werden die Leser in die Welt der amerikanischen Kunstszene der 1920er Jahre eingeführt. Der Roman präsentiert eine faszinierende Darstellung von Künstlern, Galeristen und Sammlern, die sich in einem zunehmend kommerzialisierten Umfeld behaupten müssen. Lewis' prägnanter und zugleich detailreicher Schreibstil fängt die Ambivalenz zwischen künstlerischer Integrität und wirtschaftlichem Erfolg gekonnt ein. Das Werk wird oft als kritische Analyse der Kunstwelt seiner Zeit angesehen, die sowohl unterhaltsam als auch anspruchsvoll ist. Der Roman ein wichtiger Beitrag zur amerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts und ein Spiegelbild der kulturellen Dynamik dieser Epoche.

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Sinclair Lewis

Das Kunstwerk

Familiendrama
 
EAN 8596547731535
DigiCat, 2023 Contact: [email protected]

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Das flache Dach des American House, des größten und bedeutendsten von Black Thread Center in Connecticut, war mit rotgestrichenen Weißblechplatten belegt, deren jede die eingestanzte Inschrift »Phoenix, das Weißblech der Könige« trug. Es war zwar erst zwei Minuten nach sechs Uhr, aber an diesem Julimorgen des Jahres 1897 glühte das Dach bereits. Das Blech hatte die Temperatur eines Plätteisens, und der Teer am Ziegelgesims, der den ganzen vorhergehenden Nachmittag Blasen geworfen hatte, war brennend heiß.

Tief unten in der Putnam Street, ganze drei Stockwerke unterhalb des roten Blechdaches, äußerte der Schutzmann Tad Smith gegenüber dem Möbelhändler Mr. Barstow: »Na, das wird heute auch wieder so n Hundstag werden wie gestern.«

Mr. Barstow dachte darüber nach. »Ich kann nur sagen, Sie haben recht. Ein regelrechter Hundstag.«

»Jawoll Herr, n Hundstag«, wiederholte Tad sinnend und ging seines Wegs – um vielleicht nie wieder in der Geschichte aufzutauchen.

Hoch oben über diesen biederen Bürgern aber tanzte auf dem roten Blechdach, berauscht von Jugend und Morgenglanz, voll jubelnder Wonne über seine neu entdeckte Sangeskraft ein junger Dichter, ein Sohn der Himmel. Nur Lancelot, der Hotelhund, war bei ihm, und ohne jede Scham begrüßte er den Sonnengott, der sein Bruder war. Die Melodie »Heut nacht, da ist was los im Städtelein« pfeifend, schritt er, sich seiner Jugend und seines Genies freuend, auf und nieder; seine Hände arbeiteten, als führte er eine Militärkapelle an, seine Füße tanzten kleine verschlungene Muster, sein ganzer Leib pendelte und schwankte hin und her, sein Kopf ruckte von einer Seite zur anderen. Lancelot bellte anerkennend – die erste von den Beifallsäußerungen, die die Zukunft für den Meister barg.

Der junge Dichter führte den nicht gerade überaus romantischen Namen Ora Weagle, aber er hatte eine ganze Menge Swinburne, Longfellow, Tennyson und Kipling gelesen. Er zählte fünfzehn Jahre und war sich schon bewußt, daß er zu einer Welt gehörte, die größer war als Black Thread Center. Ja, er verachtete Black Thread und insbesondere alles, was mit dem American House zu tun hatte, dessen Besitzer sein Vater, der alte Tom Weagle, war.

Als er an das fabelhafte Gedicht dachte, das er am Abend vorher geschrieben hatte, verwandelte sich seine faunisch überschäumende Lebensfreude in scheue Ehrfurcht, und er begann (während Lancelot sich mit enttäuschter Miene niederließ, um sich zu kratzen und ein Schläfchen zu machen) erst zu säuseln, dann zu murmeln und schließlich mit laut erhobener Stimme zu deklamieren – Ora, der junge Keats, delektierte sich hoch in den Lüften, zwischen Phönix-Dachbelag und Himmel, an seinem Meisterwerk:

»Kalt ist dein Auge, kalt ist dein Leib und kalt deine Hand, Kalt wie der Schnee, in den die Connecticut-Höhn sich hüllen, Doch sieh! zersprengen will ich, mit dem du mich hältst, das Band, Bis meiner Kraft wild flammende Gluten ganz dich erfüllen! Oh, ich bin stolz, ich bin mächtig, und um mich ist Schrecken und Furcht, Was wider mich löcket, zertret ich wie schmählichen Unrat und Plunder. Du bist mir ein Feld, noch harrend der Pflugschar, die es durchfurcht, Und deiner Seele Geburt soll sein ein schimmerndes Wunder!«

»Herrje, wenn ich bloß wüßte, wo ich das herhab!« flüsterte er.

Die dröhnende Pracht der Verse begeisterte ihn, und so stolzierte er singend und mit den Armen fuchtelnd weiter.

»Stolz bin ich, stolz, Um mich Ist Schrecken und Furcht, Ist Schrecken und Furcht,

Höre! Stolz bin ich, Um mich Ist Schrecken und Furcht, Stolz bin ich, schrecklich stolz!«

Und die Strahlen, mit denen die Sonne ihn überschüttete, kleideten ihn in doppelte Glorie, denn sie wurden von dem roten Blechdach reflektiert.

Das Pfeifen des Zuges, der um sechs Uhr sieben von den Berkshires ankam, ließ Ora, den von Morgengluten Umlohten, nicht weiter auf Wolken wandeln und erinnerte ihn daran, daß er Brennholz für das American House klein zu machen hatte. Er murmelte zwar noch vor sich hin: »Schrecken und Furcht«, konnte sich aber doch nicht enthalten, über das Gesims zu blicken und die Wirklichkeiten des Provinzlebens ins Auge zu fassen. Von der Station der New York, New Haven & Hartford her kam, seine beiden Köfferchen tragend, der typische, der unvermeidliche, der aus dem Weltbild gar nicht fortzudenkende Handlungsreisende. Unten, abgrundtief unter Ora, sprengte sein Bruder Myron Weagle mit einer abscheulichen, verbeulten grünen Gießkanne den Bürgersteig. Ora beobachtete diese unerfreuliche Alltagsposse belustigten Blicks. Seine Großmut gegenüber Myron war nicht weniger ein Teil seiner Dichtererhabenheit als Gluten und Machtfülle und Furchtbarkeit.

Der arme Myron! Myron, so überlegte Ora, hatte keine Phantasie, keine Begeisterungsfähigkeit, keinen Sinn für Schönheit, kein Verlangen danach, schöpferisch zu sein oder mehr zu leisten, als die Beschäftigung mit den trivialen täglichen Arbeiten, die ihn zu befriedigen schienen, mit sich brachte.

Obgleich Myron theoretisch um zwei Jahre älter – siebzehn – war, kam sich Ora um eine ganze Generation älter und welterfahrener vor. Selbst am Äußeren war der Unterschied zu sehen: Ora ganz schlank, rasch, mit schönem Haar, so schwarz wie schwarzes Glas, und Myron, damals, groß und schwerfällig, mit einem struppigen Schopf hanffarbener Haare. Ora hatte oft gedacht, er selbst gleiche einer Katze: geschmeidig, schnell, selbständig, während Myron ganz und gar ein Hund sei, und zwar nicht ein Windspiel oder Jagdhund, sondern ein Bauernköter: plump, erbärmlich gutmütig, treu jedem nichtswürdigen Herrn.

»Na ja, der arme Teufel«, dachte Ora, »wahrscheinlich wird er auf seine Bauernart glücklicher sein als ich. Ich geh nach New York! Ich werde ein vollkommenes Kunstwerk schaffen! Herrgott, sicher werd ich leiden, was das Zeug hält, so wie in Sentimental Tommy und in David Copperfield, während er hier bleibt und sich in der Sonne kratzt – wie du, Lancelot!«

Ora sah zu, wie sein dummer großer Bruder dem Reisenden ein Stückchen entgegenging, ihn begrüßte und ihm sein Gepäck abnahm.

»Wie ein Dienstbote!« seufzte Ora.

»Los, Lancelot, wir müssen runter und zusehen, daß wir was zum Frühstück kriegen«, kommandierte er. Doch bevor er seinen Posten am Gesims verließ, musterte er voll Abscheu Black Thread Center und erblickte nichts, was seiner Aufmerksamkeit wert gewesen wäre. Vom Dach des American House, das um die Höhe eines ganzen Stockwerkes über alle anderen Gebäude der Ortschaft emporragte, konnte er alles in der kleinen Welt des Städtchens übersehen.

(Ora dachte daran, daß es Leute gab, für die Black Thread Center und East Black Thread der Nabel der Welt waren, von dem aus man Entfernungen maß nach Rom und Schanghai und Tierra del Fuego, Leute, die die Wichtigkeit eines Eisenbahnzuges, eines Zirkus' oder einer Religion danach abschätzten, ob sie nach Black Thread kamen oder nicht. Ora staunte über solchen Provinzialismus. Für ihn – ach, New York, London, Paris, Berlin, Monte Carlo!)

Mißfällig betrachtete er die roten Backsteingebäude des Ortes: Cal Bigus' Laden – Wand- und Taschenuhren, Bijouteriewaren, Fahrräder – neben dem Hotel. Barstows Möbelmagazin und Beerdigungs-Institut gegenüber. Der Fachwerkbau der N. Y., N. H. & Hartford-Station mit ihrem schmierigen Bahnsteig. Der Marktplatz und das gußeiserne Standbild des Bürgerkriegssoldaten. Allerdings konnte er auch den Housatonic River hinter den Geleisen sehen und jenseits der Stadt eine mit Ulmen, Ahornbäumen und Tannen dicht bewachsene Anhöhe.

»Aber trotzdem, bloß so ganz gewöhnliches Land. Nichts Historisches. Keine Burgen. Ach! Komm, los, Lancelot!« sagte Ora.

Er drehte dem fleißigen Myron, der das Gepäck des Reisenden trug, eine lange Nase und ging, »Schrecken und Furcht« vor sich hinsingend, zur Falltür. Er blieb noch eine Weile stehen. »Nichts Romantisches. Aber auch schon gar nichts! Und was für ein Name das ist! Black Thread Center!«

Der Reverend Thaddeus Prout aus Beulah in Connecticut hatte das ganze Jahr 1637 hindurch seine behaglich dahinlebende Gemeinde Sonntag um Sonntag darauf hingewiesen, daß die Bergschlucht im Norden und Osten gegen die Indianer gesichert werden müsse. »Ich predige euch die ewige Gnade, und ich predige euch auch ewige Wachsamkeit«, donnerte der alte Geistliche auf der hohen Kanzel der Kongregationisten-Kirche. »Ich predige euch die unaufhörliche Übung des Gebetes – und die unaufhörliche Übung des Musketenschießens, wie ich es in Seiner Majestät Worcestershire-Leibregiment gelernt habe. Ich sage euch, diese Bergschlucht ist eine schwarze Gefahr – eine schwarze Gefahr – eine schwarze Gefahr für unseren Frieden und Wohlfahrt!«

Er sagte es so oft, daß seine Pfarrkinder die Ansiedlung nördlich und östlich von ihnen (die ganze Siedlung bestand aus einer Schenke mit Kramladen und vier Katen) scherzend »the Black Threat«, »die schwarze Gefahr«, zu nennen anfingen. Sie hatten zu eifrig und zu früh gescherzt. Als die Indianer sich wirklich durch die Schlucht schlichen und Beulah einschlossen, kämpften die Ansiedler unter der Führung des Reverend Thaddeus, der sich über seinem schwarzen Leibrock mit einer Säbelkoppel gegürtet hatte und dessen weißer Bart mit Blut beschmiert war, verzweifelt mit Beil und Büchse, aber das gute Dorf wurde nahezu dem Erdboden gleich gemacht. Von da an wurde die Siedlung hinter ihnen mit bangerer Ehrfurcht »Black Threat« genannt.

Ein junger Vermessungsbeamter der Regierung war es, der, in seiner Harvard-Art die Möglichkeiten falscher Orthographie und die Torheit der Legendenbildung bedenkend, im Jahre 1810 den Namen als »Black Thread«, »schwarzer Faden«, eintrug.

Von alledem hatte Ora nie etwas gehört … wahrscheinlich teilten im Jahre 1897 alle Bewohner Black Thread Centers dieses Schicksal mit ihm.

Von einem unterjochten Lancelot gefolgt, kroch der unterjochte Verwandte des Sonnengottes vom Dach über die Leiter hinunter in das Hotel, in schmale Gänge mit Strohläufern, die in der Mitte zu kanalähnlichen Pfaden ausgetreten waren, in den alles einhüllenden Dunst von billiger Blumenseife, Kohl, verschwitzter Wäsche und alten Baumwoll-Laken. Das American House hatte vierunddreißig Zimmer, neunundzwanzig ein- und fünf zweibettige. Nach Ansicht der Weagles war es ein überaus modernes Hotel: es gab keine Petroleumlampen, sondern Gasbeleuchtung, und im Büro war, in einem langen, dunklen Kasten, der wie ein aufgestellter Sarg aussah, eine Telephon.

Jedes der einbettigen Zimmer – Ora konnte, während er an offenen Türen vorbeikam, hineinsehen – enthielt ein Holzbett, dessen Lackierung ein wenig gesprungen war, einen geraden Stuhl, ein Stückchen Teppich vor dem Bett, reichlich verschmutzte Spitzenvorhänge, eine Gaslampe, die so geschickt an der Wand angebracht war, daß sie weder den Spiegel beleuchtete noch ein Lesen im Bett ermöglichte, einen Waschtisch mit Krug und Schüssel, die mit Lilien oder Schneelandschaften bemalt waren, ein Spülgefäß auf einem Linoleumstreifen, der mit geringem Erfolg Marmor imitierte, eine weiße Wachsleinwand, mit Reißzwecken an der Wand hinter dem Waschtisch befestigt, ein Stückchen minderwertiger Seife, ein dünnes Handtuch und den vorherrschenden Geruch in konzentrierter Form.

Aber die zweibettigen Zimmer waren raffinierter eingerichtet. Da gab es außerdem noch ein zweites Handtuch, einen zweiten geraden Stuhl, einen Tisch und in der Regel einen Wandkalender.

Die Matratzen in den Betten waren klumpig und hatten in der Mitte eine Kuhle. Die Laken waren aus grober, kratzender Baumwolle, aber da das Amt der Haushälterin von Edna Weagle, Mrs. Tom Weagle, versehen wurde, waren sie makellos sauber und frei von Ungeziefer. Edna sprach oft und nicht ohne Bitterkeit von Ungeziefer und machte jeden lieben Tag Jagd darauf. Die Decken waren gleichfalls aus Baumwolle, ebenso die Wattierung der Steppdecken. Sie waren sehr schwer und alles andere als warm. Erfahrene Geschäftsreisende legten in Winternächten ihre Mäntel obendrauf.

Ora war an das Hotel, das in jenen Jahren sein Heim war, so gewöhnt, daß er es kaum noch sah, aber an diesem Tag hatte ihn sein Dichtertriumph in eine so glänzende Stimmung versetzt, daß er für zehn Sekunden stehenblieb, um einen Blick in Nr. 20 zu werfen.

»Was für ein Loch das ist!« seufzte er. »Ich werd mal ein Zimmer mit einem großen schwarzen Ledersessel haben und ein Bett mit seidenem Bettzeug! Vielleicht auch schwarz!«

Er war zu sehr Black Thread Center und zu sehr 1897, um sich einzugestehen, daß er sich ausmalte, was für einen schönen und erregenden Anblick sein schlanker weißer Leib auf einem schwarzseidenen Laken bieten würde.

Im Vorraum traf er Flossy Gitts, das zweite Zimmermädchen. Nun war Ora zwar fünfzehn und Flossy zwanzig, aber sie war großzügig und vorurteilslos; sie hatte Löckchen und besaß das, was man damals als Büste kannte; sie schäkerte vergnügt und zufrieden mit jedem männlichen Wesen im Alter von zehn bis zu hundert Jahren, obgleich ihr das liebste ein gereifter Reisender von fünfunddreißig war, der einen Freimaurerring trug und nichts dagegen hatte, sich einen Wagen aus dem Mietsstall kommen zu lassen und ein Mädel ordentlich zu traktieren.

»Hören Sie mal, wissen Sie, Ora, Myron ist ordentlich geladen, weil Sie im Souterrain und in den Musterzimmern nicht sauber gemacht haben!« sagte Flossy.

»Der Teufel soll ihn holen!« rief Ora.

»Ja, aber er wird Ihnen schon geben!«

»Ach, ich will 'n Kuß haben!«

»Seien Sie manierlich! Oh! Aber, Ora Weagle, Sie sollten sich was schämen; was Sie da tun!«

»Um mich ist Schrecken und Furcht!«

»Nein, wie Sie reden können – wie ein Buch! Hören Sie mal, Ora, wenn ich mit der 23 und der 15 fertig bin, helf ich Ihnen im Souterrain sauber machen.«

»Gemacht, Süßes!«

Ora stolzierte zum »Büro«. Er stolzierte tatsächlich. Eroberungen unter seinen Altersgenossinnen in der Ortschaft hatte er wohl genug gemacht, aber das war sein erster Erfolg als Gigolo, als junger Galan, der einer älteren Frau etwas abschmeichelt.

An den Wänden des Büros standen abwechselnd Rohrschaukelstühle und Spucknäpfe aus Messing. Das Schreibpult war aus gemasertem Kiefernholz. Dahinter hingen die Zimmerschlüssel, jeder mit einem Holzknebel versehen, um nicht unbefugt fortgenommen werden zu können; auf dem Pult stak eine Feder in einer Kartoffel und lag ein Fremdenbuch, das sich um einen Messingzapfen drehen konnte. Das Fremdenbuch war selbstverständlich immer offen, denn eines wußten die Hotelfachleute jener Zeit mit absoluter Sicherheit: wenn das Fremdenbuch jemals zugemacht wird, ist es mit dem Geschäft für den betreffenden Tag vorbei.

Es war niemand im Büro.

Ora wurde leichter ums Herz, als er Myron nicht sah. Vielleicht war er, nachdem er dem Reisenden das Gepäck ins Zimmer gebracht hatte, rasch fortgelaufen, um noch Morgeneinkäufe zu machen – eigentlich oblagen alle Besorgungen dem alten Tom, aber der schlief oft lange, fast bis sieben, und Myron war einfältig genug, bereitwilligst in aller Eile ein Pfund Speck zu holen, wenn beim Frühstück besonders viel zu tun war. Ora fühlte sich wieder frei. Er glitt durch den Speisesaal und den Billardraum in die Bar. Wenn Jock McCreedy, der Barmann, da war, dann konnte er ihm vielleicht ein winziges Glas Bier vor dem Frühstück abschwatzen. Aber als Ora die Tür öffnete, die Pforte zu diesem Hafen kühlen Biergeruches mit dem prächtigen Mahagoni-Schanktisch, den köstlichen Gläser- und Flaschenpyramiden und dem großartigsten Gemälde, das er in seinem ganzen Leben gesehen hatte – einer nackten, inmitten scharlach-, safran- und smaragdfarbener Kissen ruhenden Dame – da zauderte er mit einem Male, denn hinter dem Schanktisch stand kein anderer als Myron und strich mit einem Ebenholzspatel den überstehenden Schaum von einem Glas Bier für den ersten Morgengast ab.

»He, du, komm mal her!« donnerte Myron.

»Wo brennt's denn?« winselte der Erbe des Sonnengottes.

Er schob sich, nur mit Mühe Myrons Feldwebelblick standhaltend, seitwärts herein. Von der Nähe gesehen, war Myrons flachsfarbene Haarmähne steif, so als hätte sein Schopf ein eigenes Leben. Seine kräftige Haut hatte jene skandinavische, vom Schnee genährte Helligkeit, die von keiner Sonne gebräunt wird und in den Jünglingsjahren von Pickeln verschont bleibt. In Myron war, das räumte Ora bisweilen ein, eine gewisse breitschultrige Kraft und Gesundheit … wenn er nur Oras Phantasie hätte, statt so ein aufgestellter Besen von Mensch zu sein!

»Ora! Seit zwei Tagen hast du die Balkons nicht gefegt! Wie ich heute früh im Herd Feuer gemacht hab, war kein Holz klein gemacht, und dabei war die Holzkiste halb voll! Und im Souterrain – heute früh ist ein Reisender gekommen; der will sofort einen Musterraum haben, und beide sind verdreckt!«

Ora fühlte sich sicher, weil der Schanktisch zwischen ihm und Myron war, und spottete: »Na und, wenn schon?«

Ein Tiger sprang durch die Luft.

Myron war auf ein Bierfäßchen gestiegen und hatte sich über die Theke geschwungen. Er schüttelte Ora wie eine kleine Katze. »Ich werd dich braun und blau prügeln, das wird das ›Na und‹ sein! Ich hab die Nase voll von deiner Faulenzerei! Du bist der einzige Mensch im Hotel, der nie was tut! Wirst du jetzt sofort, auf der Stelle, die Musterzimmer sauber machen, oder muß ich dich vertobacken?«

»Schön! Schön! Herrgott noch mal! Du mußt nicht gleich angeben wie eine Hyäne!«

»Bei dir schon! Jetzt ab! Frühstücken darfst du noch vorher, und dann – –«

Ora, der schon an der Tür war, steckte noch einmal seinen kleinen Schädel herein, um zurückzurufen: »Ich darf frühstücken! Als ob du darüber zu bestimmen hättest! Das Frühstück gehört nicht dir, das gehört Pa und Ma!«

Aber er zog sich beschleunigt zurück. Er wußte, was ein »Vertobacken« von Myron zu bedeuten hatte: es kam selten vor, doch dafür war es außerordentlich schmerzhaft und nachhaltig.

Alice Aggerty, Flossy Gitts' umfangreiche Kollegin, servierte beim Frühstück. Zwischen zwei Reisenden stehend, rief sie aus: »Ha'erschleim, Eier, Schinken'dspeck, Ko'letts, Würste, Weizenkuchen.« Ora selbst nahm als Poetenfrühstück Haferschleim zu sich, ein Schweinekotelett mit Spiegelei, Weizenkuchen, Speck, Kaffee und nicht mehr als ein, zwei Häppchen Maiskuchen und Toast mit Pflaumenmarmelade. Der Kaffee war schwach, und obenauf schwammen große Körner vom Satz. Die Butter war gefärbt, und da sie zur Konservierung in einer Tonne mit Salzzusatz gehalten wurde, glitzerten Salzkristalle auf den leuchtend gelben Kügelchen. Zum Kotelett, das in Schmalz gebraten war, gab es aufgewärmte Kartoffeln vom Abend vorher. Wenn diese Fülle an Derbheit Oras ästhetisches Empfinden und Phantasie störte, war ihm, während er mit wölfischer Gier aß, nichts davon anzumerken.

Er saß am Familientisch, der hinter den beiden langen Tafeln für die Gäste stand. Die grünen Tapeten des Speisesaals hatten ein Muster aus gelben Rosen, der Fußboden war kahl, und als Zierstück stand ein gewaltiges schwarzes Walnußbüfett da, das mit silbernen Menagen und Obstschalen aus imitiertem Kristallglas dekoriert war – diese wurden wohlweislich nur an den Sonntagnachmittagen gefüllt. Neben der Doppeltür stand auf einem schön weiß gedeckten Tischchen eine Schale mit Zahnstochern.

Die Tischtücher auf der langen Tafel waren sauber, aber das auf dem Familientisch der Weagles hatte mit seinen Inseln von Eigelb, Ketchup, Bratensauce und Butter einen einigermaßen kartenähnlichen Charakter.

Während Ora frühstückte, setzte sich sein Vater zu ihm.

Tom Weagle hatte einen faltigen braunen Hals, der von seinem farblosen Bart nur zum Teil verdeckt wurde. In seinen Augen, vor denen er aus Bauernschlauheit eine stahlgeränderte Brille trug, war etwas Verträumtes und Unklares. Seine Nase leuchtete rötlich. Er sah zwar keineswegs kräftig aus, hatte aber die derben Hände eines Farmers.

»Morgen«, sagte der alte Tom.

»Morgen«, antwortete Ora.

»Hast du im Souterrain gefegt, wie du solltest?«

»Klar.«

»Na also – –«

Damit schien die Angelegenheit erledigt zu sein. Tom bestellte sich Haferschleim, ein Kotelett, Spiegeleier und eine Doppelportion Weizenkuchen – das alles verschwand ohne sichtliche Wirkung in seinem mageren Leib – und schwieg. Er war gesprächig genug, wenn er sich mit Reisenden unterhielt, wenn er Anekdoten von den alten Tagen auf der Farm erzählte oder über die Schlechtigkeit von Gästen sprach, die nicht zahlten, über die Bösartigkeit von Dienstboten, die nicht arbeiteten, und über die wundersamen Erlebnisse auf seiner einzigen Reise nach New York, aber der Familie gegenüber hielt er es für ziemlich sinnlos, seinen Atem zu vergeuden.

Kauend saßen sie einander gegenüber, Tom mit leerer, Ora mit verschlafener Miene. In Oras Innerem aber arbeitete es wie in einem anscheinend schlummernden Vulkan.

Dieses große Vieh, der Myron … Hatte keine Ahnung, wie man mit einem klugen Kopf, wie sein Bruder es war, umzugehen versuchen mußte, nur eines konnte er, ihm mit Prügel drohen! … Und so stinkige Theatertricks – über die Theke springen – wie der lächerliche, dicke, riesige Held in dem Stück, das sie in der letzten Woche hier im Zelt gespielt hatten, »Barry O'Lary mit seiner Truppe in Schottenmützen.« Und dabei wußte Myron nicht einmal recht, was das war, ein Theaterstück! Ach der! Na! Kein Verstand und keine Bildung! Konnte Myron so eine Zeile schreiben: »Bis meiner Kraft wild flammende Gluten ganz dich erfüllen«?

Nein, konnte er nicht!

Es war Ora wohler, viel wohler.

Ein wenig dämpfte ihn der Anblick eines dicken, feuchten Zeigefingers, der ihm von der Küchentür aus winkte (der Anstrich der Tür war von den Hüften eiliger Kellnerinnen, die sich mit Tabletts voll schmutzigen Geschirrs hinausdrängten, in der Mitte abgescheuert). Der Finger gehörte der Dame, die die Ehre hatte, die einzige Köchin des American House und überdies die Mutter Ora Weagles zu sein – Edna Weagle, in der sich mit der Rundlichkeit, die einer Köchin zukommt, die geplagte Schärfe einer Frau vereinigte, die einen Trunkenbold zum Mann hat. Langsam entsagte Ora wildflammenden Gluten, Schrecken und Furcht und schaufelte das letzte bißchen süßen Syrups und die Kuchenkrümel mit einem Löffel zusammen, während Alice Aggerty, die Kellnerin, ihm finstere Blicke zuwarf. Daß der verflixte Junge für diesen einen Bissen einen ganzen Löffel verbrauchte, der nun wieder gewaschen werden mußte!

Ora schlenderte anmutvoll in die Hitze und den Bratenfettdunst der Küche. »Was willst du, Ma?« fragte er in beleidigtem Ton.

»Dein Vater muß heute früh nach Beulah hinüber, ein paar Hühner besorgen, und unser Schmalz ist knapp geworden, du mußt also noch am Vormittag zu Aldgate springen und einen Eimer holen!«

»Herrgott, muß ich denn alles in dem Hotel machen – im Souterrain aufräumen und die Balkons fegen und die Holzkiste füllen und überhaupt alles!«

»Ja, du hast's wirklich schlecht!« spottete Edna Weagle und wischte sich die Hände an der nicht sehr sauberen Schürze ab, die sie um ihren rundlichen, in Kattun gekleideten Leib gebunden hatte. »Ich arbeite erst seit fünf! Du holst das Schmalz, oder ich sag Myron – –«

»Myron! Myron! Myron! Werd ich denn mein ganzes Leben lang nichts anderes hören wie Myron! Ich bin der Beste in meiner ganzen Klasse, und er sitzt fast ganz hinten in seiner!«

»Ja, Herzchen, ich weiß. Ja. Du wirst schon recht haben. Vielleicht paßt du für die Arbeit nicht so wie Myron. Ich glaube, und ich hoffe auch, daß du einmal Dentist oder Rechtsanwalt oder vielleicht sogar Geistlicher werden wirst! Na.«

Sie streichelte ihm über das Haar, was Ora fürchterlich war, weil sie nach billiger gelber Seife und Backschmalz roch. »Lies und studier du nur weiter, aber du wirst an mein Schmalz denken, nicht wahr?«

»Na klar!«

Als der Schriftgelehrte, der er war, anerkannt, marschierte Ora hinauf, um die blonde, gutmütige Flossy Gitts aufzusuchen und sie dazu zu bewegen, daß sie ihm beim unvermeidlichen Fegen des Souterrains half. Sie brummte ein bißchen darüber, daß sie ein erst halb gemachtes Bett verlassen mußte, aber sie kam, und bald waren die Musterzimmer und der Heizraum gesäubert und schön hergerichtet. Es war eine sehr befriedigende Arbeitsteilung: Ora redete, und Flossy schuftete. Sie fegte, staubte ab und nagelte ein loses Brett auf einer der langen Tischplatten an, die im Musterzimmer, auf Böcke gelegt, bald in einem für Black Thread ungewohnten orientalischen Glanz erstrahlen sollten: schottische Seidenblusen, zweifarbige elegante Gürtel, zierlich getupfte Schleier, Handschuhe, kurz all die erlesenen Waren von M. & I. Vollschutz, Damenkonfektion in New York, Cincinnati und Kansas City, zur Schau ausgestellt für die feurigen Kaufleute Black Thread Centers, dieses modernen orientalischen Marktes, wo die Verkäufer nicht um Feuer aus Kameldung hockten, sondern in gewürfelten Anzügen, Zigarren rauchend, in der ganzen Freiheit und Tüchtigkeit des Jahres 1897 m Amerika aufrecht stehend, ihre köstlichen Waren mit todernstem Profitsinn anpriesen.

»Das haben Sie ganz ordentlich gemacht, Flossy. Komm mal her und gib mir einen Kuß!« sagte Ora.

»Tjüs! Auf nachher!«

Er ließ sie stehen – etwas unsicher, wie später noch so manche andere Dame, ob sie zu viel oder zu wenig getan hätte – galoppierte die Treppe hinauf und eilte, gefolgt von Lancelot, durch das Gäßchen hinter dem American House in die Putnam Street. Einen Moment schauderte es ihn beim Anblick des widerlichen Misthaufens in dem Hintergäßchen, des Hotelabfalls und der ganzen Widerlichkeit dieses engen Lebens, aber im sauberen warmen Sonnenschein auf der Straße vergaß er das bald, und Lancelot, wieder überzeugt davon, daß er der Hund eines Sonnengottes und nicht ein Hotelköter sei, jagte einer eingebildeten Katze nach und bellte dann »Schrecken und Furcht«.

Es muß ausdrücklich gesagt werden, daß er nur von Ora Lancelot genannt wurde. Für die anderen im Hotel hieß er »Spot« oder einfach »Geh weg da«.

Nicht ein einziges Mal während des ganzen Tages dachte Ora wieder an das Schmalz für seine Mutter.

Nun ja! Es gab eine einst viel gelesene Geschichte über Maria und Martha. Überdies hatte Ora Ferien, es war Sommer und hinter Black Thread Center, auf der Ulmenhöhe, gab es Dinge, die das Interesse eines jungen Dichters stärker fesseln konnten als Schmalz und der Zustand eines Musterzimmers für den Reisevertreter von M. & I. Vollschutz.

2

Inhaltsverzeichnis

Ein junger Dichter wanderte mit seinem Hund zu den kleinen Hainen und Grotten, zu dem Frieden und der Freiheit des Ulmenhügels hinauf. Doch einen Augenblick blieben sie am Garten des Mannes stehen, von dem Ora gelernt hatte, daß es noch vieles mehr gibt auf dieser Welt als Lilien und Sonntagvormittags-Langeweile, als Rosen und streng respektable Connecticuter Freuden. Das war der Reverend Waldo Ivy, der anglikanische Geistliche. Obgleich sein Name Efeu bedeutete, war Mr. Ivy rundlich, rot und kurzatmig. Seine Liebe galt der Liturgie, der Tradition, der Sauberkeit und der Poesie. In Black Thread fand man ihn »komisch«. In den zehn Jahren seiner Tätigkeit an dieser Kirche hatte er genau eine Seele gefunden, die sein Evangelium – Schönheit ist Wahrheit, und Wahrheit Schönheit – begriff, und das war Ora Weagle. Er liebte es, »Hochwürden« genannt zu werden, und dies tat nur einer. Auch dieser eine war Ora. Wahrscheinlich hatte er es aus seiner Kipling-Lektüre. Von ihm hatte Ora alles gelernt, was er wußte – wenn Ora überhaupt etwas wußte.

In der Höheren Schule, in deren Junioren-Jahrgang er im nächsten Herbst kommen sollte, hatte Ora gelernt, Wesen und Art der Literatur seien folgendermaßen charakterisiert: In ferner Vergangenheit – vor sehr, sehr langer Zeit, noch vor der amerikanischen Revolution – gab es gute Schriftsteller. Recht gute. Ein Herr namens Caesar, der nach England fuhr und die Eingeborenen amerikanisierte. Cicero, der sich einem Mann namens Catilina entgegenstellte und damit dem Gangster-Unwesen für alle Zeiten ein Ende machte. Und Virgil, der irgendwie sehr schön war. Ferner gab es – aber diese wurden nur in vornehmen Schulen wie in Andover gelesen – Griechen wie Homer, Sophokles und Aeschylos, die ziemlich wichtig waren. Dann sprang die Literaturgeschichte über einige Zeit hinweg – zweihundert oder vielleicht auch zweitausend Jahre – und man kam zu Jane Austen, Dickens, Thackeray, Scott, Tennyson, Longfellow, Whittier, Walt Whitman und Poe. Diese Schriftsteller waren alle tot. Ja, das ganze Zeitalter der Literatur war tot, wie das Zeitalter der Ritter, obwohl es auch einige ganz gute Journalisten gab, die noch lebten – William Dean Howells und Mark Twain und einen Franzosen namens Anatole France.

Der Reverend Waldo Ivy jedoch hatte Ora erzählt, die Literatur stehe noch in ihren Anfängen, der Kampf der Welt um Schönheit und Gerechtigkeit sei noch nie so glorreich gewesen wie gerade jetzt. Die Augen des Knaben leuchteten, und sein Atem ging schneller, wenn Mr. Ivy Zeugnisse für sein Evangelium anführte. Und in dem kleinen anglikanischen Arbeitszimmer, das nach den Ledereinbänden alter griechischer Bücher und den Leinenbänden moderner Romane roch, schenkte Mr. Ivy schließlich einem Schüler Vertrauen und las ihm vor:

»Bis die See sich träge hebt, und die Klippen erstöhnen, Bis Terrassen und Matten der Meerschwall trinkt, Bis der Hochflut Wogen wüten und dröhnen Um den Fels, der wankt, das Land, das versinkt. In seinem Triumph dann, wo alles brach liegt, Auf der Beute hier, die er sich selbst darbot, Wie ein Gott, der am eignen Altar sich erstach, liegt Tot der Tod.«

Es war ein ganz kleines Arbeitszimmer, das Mr. Ivy da gleich hinter der Kirche hatte; ein weiß getünchter Raum an einem zwei Quadratmeter großen Garten mit einem zementierten Weg, den er seinen Philosophenpfad nannte. Im Garten wuchsen steifer Krokus und schüchterne Stiefmütterchen. An den Wänden des Zimmers hingen Bilder von S. Paolo Fuori le Mura, von Thoreau und Emerson. Als der Priester aus Swinburne vorgelesen hatte, warf er einen schüchternen Blick auf Ora und sagte:

»Es gibt größere Poesie als all dies. Und zwar in der Bibel. Ich glaube kaum, daß du sie kennst. Siehst du, mein lieber Junge, die Väter meiner Kirche wußten schon vor sehr langer Zeit alles, was uns heute Kummer macht. Möchtest du etwas davon hören?«

»Klar!« antwortete Ora.

»Das ist vielleicht das Schönste an Dichtung, was je geschrieben wurde. Hör zu, mein Sohn:

»Ehe denn der silberne Strick wegkomme, und die goldene Schale zerbreche an der Quelle, und das Rad zerbrochen werde am Born.

Denn der Staub muß wieder zu der Erde kommen, wie er gewesen ist und der Geist wieder zu Gott, der ihn gegeben hat.

Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, ganz eitel.«

Mr. Ivy blickte über die Brille hinweg, die in seinem roten Gesicht saß.

Der Junge weinte.

»Ich hab gar nicht gewußt«, schluchzte er, »daß die Bibel Poesie ist! Ich hab immer gemeint, sie wär bloß Religion!«

Aber das war vor zwei Jahren gewesen.

Als Ora an diesem Julimorgen Mr. Ivy herablassend über den Zaun zunickte, empfand er keine Ehrfurcht. Denn jetzt war er selbst ein Dichter und brauchte keinen Respekt vor den alten Besen zu haben, die seine Rivalen waren.

»Ora«, fragte Mr. Ivy, »kennst du das Sonett von Wordsworth, das so anfängt: Zu sehr umgibt die Welt uns – spät und früh?«

»Klar. Feines Stück. Na, wir müssen rasch weiter«, sagte Ora. Er kannte das Sonett nicht, aber schließlich – es war früher Morgen, es waren Ferien, und gefolgt von dem umhertollenden Lancelot spazierte er weiter.

Da der kleine Hügel »Ulmenhöhe« hieß, wuchsen selbstverständlich größtenteils Tannen und Kiefern auf ihm. Es gab da eine verborgene Bodensenkung, die, wie Ora fest überzeugt war, außer ihm noch kein Sterblicher entdeckt hatte. Dort lag er in dem warmen, süßen Harzduft, während Lancelot neben ihm keuchte und hustete und sich kratzte. Er träumte – es waren die ungeformten, rein visuellen Träume eines jungen Dichters: Burgen. Mägdlein, weiß wie Milch. Zu Xanadu befahl der Große Chan der Tartarei, ein Haus der Wonnen prunkvoll zu erbaun. Blaue Windspiele mit silbernen Schellen. Auf seinem Thron aus scharf behauenem Granit verschlummert Gott Äonen. Degen, so spitz wie Schmerz. Kalifornien und schier unerträglicher Sonnenglast auf gelben Mohnblüten. Wilde weiße Pferde, die an einer Orangen-Mesa vorüber durch die Wüste galoppieren. Ein Erzbischof, der in Gewändern steif von Gold die Messe liest. Ein verhungernder Forscher, der in ein tibetanisches Dorf taumelt. Ein englisches Landhäuschen inmitten von Rosen. Ein Luftschiff – aber natürlich konnte es niemals Luftschiffe geben – sauste mit einer Stundengeschwindigkeit von 100 Kilometern über die blaue Himmelsveste … Blaue Himmelsveste! Sehr schön gesagt! Auf so etwas wie »Blaue Himmelsveste« würde Myron nie kommen!

Osiris' Priester sah ich beten mit erhobnen Händen, sich verneigend vor des Tempels weinbekränzten Wänden. Ja, aus ihren Augen scharlachrote Sünde sprach, doch mein von allen war das größte Ungemach. Im heiligen Bergland springen tausend Bronnen, die spenden ewger Jugend Wonnen. Der Herrscherhof, wo Tamshyd in Prächten residierte und viel roten Weines trank. Ein Weib, das nach ihrem Teufelsbuhlen klagt. Nimm auf dich Schmerz und Qual, allüberall zu suchen nach dem Heiligen Gral. Köstliche Wonnen. Mächtige Feen. In weißen Golddamast gehüllt, mystisch, wunderwirkend. Goldene Kronen werfen sie ins gläserne Meer. Die Eule fror, so dick auch ihr Gefieder war. Speere, Speere, getaucht in Lichtesglanz.

»Ach du lieber Gott, wenn ich es nur könnte!« seufzte Ora.

Wie die meisten gesunden Jungen hatte Ora ununterbrochen Hunger. Trotzdem wollte er nicht zurück zu den Schrecken des American House, er wollte weder das Genörgel seiner Mutter, seines Vaters und Myrons noch Alice Aggertys oder Flossy Gitts' Singsang hören: »Muschelsuppe, Tomatensuppe, Filet, Koteletts, Irish Stew, Schweinebraten, Gemüse«; er zog es vor, einen Maiskolben zu verspeisen, den er in weiser Voraussicht geklaut hatte, während er in der Küche mit seiner Mutter sprach.

»Was für einen Namen soll ich mir denn zulegen?« fragte er Lancelot. »Ein Schriftsteller kann doch nicht Ora Weagle heißen!«

Donner krachten, Blitze zuckten, und in geheimnisvoller Weise kam ihm aus unbekannten Regionen sein Schriftstellername: Marcel Lenoir.

»Herr Jesus, das ist ja blendend!« murmelte Ora. »Wenn ich bloß wüßte, wo ich das immer her hab! Marcel Lenoir! Ist ja fabelhaft! Heh, du, Lancelot! Hör doch! Marcel Lenoir!«

So erblickte in einem duftenden Kieferngehölz ein Dichterheld das Licht der Welt: Marcel Lenoir.

Pete Breyette, aus dem der Berichterstatterstab der Black Thread Center Star and Tadings bestand, hatte soeben einen wichtigen Artikel beendet:

Mrs. Trumbull Lambkin empfing am letzten Donnerstag den Epworth-Bund bei sich. Es wurde Kaffee, Pfannkuchen und Eis gereicht, der Reverend Swan sprach ein kurzes Gebet, und alle verbrachten einige vergnügte Stunden.

Pete lehnte sich zurück, steckte seinen Bleistift ein und seufzte befriedigt auf. Er blickte auf das gelbe Konzeptpapier. Da stand es, fertig, literaturfähig: die ganz gewöhnliche Tatsache unsterblich gemacht. Aber er sprang auf, und aller Stolz auf seinen Stil schwand dahin, denn durch das große Fenster des einstöckigen Star and Tidings-Gebäudes blickte Ora Weagle herein. Nun war Pete zwar ein Mann von achtzehn Jahren und Ora erst fünfzehn, aber Pete wußte: er selbst mochte ein noch so gereifter Journalist sein, der ausgezeichnet über die Parade der großen Bürgerkriegs-Armee oder gar über den Jahrmarkt zu berichten imstande war, Ora war ein Genie, an das er niemals heranreichen konnte. Er winkte, und Ora kam herein, die Worte »Marcel Lenoir« murmelnd.

»Hah?«

»Marcel Lenoir. Mein Pseudonym. Schön?«

»Herrgott – ja – das ist einfach blendend. Das ist mal ein Name. Sag mal, Ora, was für Pläne hast du?«

»Was für Pläne ich habe? Was meinst du?«

»Na, wegen deiner literarischen Karriere.«

»Ach. Na schön, ich will dir's sagen.« Ora setzte sich, kippte seinen Stuhl zurück und legte die Füße auf den Tisch wie Pete in seinen besten Augenblicken. Er ließ sich eine Zigarette reichen und rauchte sie auf das mannhafteste, nur ganz wenig hustend. »Ich will dir's sagen. Die Sache ist so. Erst mal werd ich Reporter werden. Selbstverständlich muß man zuerst Reporter sein, bevor man Schriftsteller werden kann – das wird dir jeder Reporter sagen. Ich werd wohl zur New York Sun gehen, aber ich denke nicht daran, früher als in zwei drei Jahren dort eine Stellung anzunehmen; erst muß ich wohl noch was lernen. Dann werd ich auf Reisen gehen – ganz egal wohin, nur raus aus diesem verstunkenen alten Nest! Es ist möglich, daß ich eine Forschungsexpedition nach Afrika mitmache oder sowas. Dann geh ich als Sekretär zu irgendeinem großen Schriftsteller – zu so jemand wie Mark Twain. Muß natürlich sehr angenehm für solche Leute sein, einen Sekretär zu haben, der selber was mit der Literatur zu tun hat! Und der gebildet ist. Dann werd ich so weit sein, daß ich schreiben kann. Zuerst Lyrik. Aber worauf ich eigentlich aus bin, das sind große Romane. Ich rechne damit, daß ich der Dickens von Amerika werde. Herrgott! Mit einem großen Haus und einem Paar feinen Trabern und sechs oder sieben Anzügen! So denk ich mir's. Natürlich kann ich mir's auch noch überlegen. Ich könnte auch nach dem Westen gehen, statt nach Afrika, und Ranch-Besitzer werden. Aber ich hab ja noch Zeit genug, mir später darüber klar zu werden.«

»Du hast wirklich allerhand vor, Ora. Ich würde mich gar nicht sehr wundern, wenn du das alles vielleicht auch wirklich machst.«

»Na ja, natürlich werd ich das machen! Was denkst du denn!«

»Ja, warum gehst du dann nicht gleich jetzt aus dem Provinznest da fort?«

»Ach, daran ist mein Bruder schuld, der Bauernlümmel. Der zwingt mich dazu, hier in der Schule zu bleiben, wo ich doch schon eine ganze Menge mehr weiß wie die Lehrer, nur können die eben im Buch nachsehen, während wir alles auswendig sagen müssen, und deshalb können sie uns bei den Jahreszahlen erwischen. Heiliger Strohsack, Pete, du hast ja keine Ahnung, was ich unter Myron, unter dem Riesenroß, zu leiden hab! Der hat nicht einmal so viel Verstand, daß er die Arbeit in einem Hotel ekelhaft finden kann! Hotelführen! Auch eine Sache! Zu besoffenen Gästen nett sein müssen! Küchengeruch! Jeden Morgen Betten machen! Eine widerliche Arbeit! Und er meckert nicht einmal darüber. Myron hat keine Phantasie, keinen Stolz, keinen Sinn für Schönheit, könnte man sagen. Er könnte eben ganz einfach nie begreifen, wie ein wirklicher Künstler empfindet, niemals!«

3

Inhaltsverzeichnis

Myron Weagle war sieben Jahre alt, als sein Vater die abgelegene, steinige Farm im Norden von Beulah verkaufte und nach Black Thread Center übersiedelte, wobei er die Vorstellung hatte, in dieser Metropole mit sechzehnhundert Einwohnern werde er Behagen und Glücksgüter finden. Der Vater, Tom Weagle, war in aller Selbstgefälligkeit überzeugt davon, daß ihm Erfolg beschieden sein müßte, ob er nun einen Mietsstall aufmachte, Kolonialwarenhändler, Besitzer einer Beerdigungsanstalt, Naturheiler, Elektrotherapeut oder was immer würde, aber er entschloß sich zum Hotelgewerbe, weil sein gutes Weib Edna eine berühmte Köchin war. Ihre Pfannkuchen und Zitronenbaisers waren in der ganzen Provinz Beulah unerreicht, und bei den Abendessen der Lorbeerhain-Kongregationisten-Kirche erregten ihr Muschelkartoffel-Gericht und ihre kalten gewürzten Fleischpasteten noch mehr Begeisterung als Mrs. Lyman Barstows Kartoffelsalat und süß-saure Appetithappen. Tom bedachte auch, daß sie sich außerdem noch großartig darauf verstand, Schlafzimmer sauber zu halten, obgleich sie ziemlich nachlässig war, soweit es sich um ihren eigenen Hals, ihre Nägel und ihr Haar handelte, und obgleich ihre Schürzen immer verschmutzt waren.

Sie wurden nicht gleich der hohen Ehre teilhaftig, das American House mit seinen vierunddreißig Zimmern zu führen. Sie begannen in einem Boarding-House mit acht Fremdenzimmern in dem alten Tatam-Gebäude, und es war noch kein ganzer Monat vergangen, als Mutter Weagles Sorgen anfingen. Tom hatte immer gern den Duft von Apfelbranntwein eingeschnuppert, und nun, da er nichts zu tun hatte und ihm außer dem Geld vom Verkauf der Farm vierundzwanzig arbeitslose Stunden im Tag für dieses Nichtstun zur Verfügung standen, war es ihm ein leichtes, sich eifrig vollaufen zu lassen. Die Abgelegenheit der Farm, die er von seinem Vater geerbt und vergnügt heruntergewirtschaftet hatte, war ihm seit jeher ein Grund des Ärgers gewesen; es hatte ihn verdrossen, daß es da so wenige Nachbarn gab, vor denen er sich mit seinen Talenten, eine Million Dollar zu machen, brüsten konnte. Nun saß Tom im Zimmer hinter Earl Peters Kolonialwarengeschäft und trank Apfelgeist, oder er ruderte in der Gesellschaft unrasierter Gefährten und eines Kruges voll weißem Korn hinunter zur Insel, um Fische zu fangen, und kroch dann am Abend mit herunterhängendem, zittrigem Unterkiefer nach Hause.

Mutter Weagle entfernte ihn eiligst aus der Gesellschaft der Pensionäre, und wenn sie versucht hatte, ihm pflichtschuldigst eine Gardinenpredigt zu halten – was sie aber ernsthaft nie zu Wege brachte – ließ sie ihn seinen Rausch ausschlafen. Im Anfang, als sie das Boarding-House übernahmen, fand Tom alle möglichen kleinen Arbeiten für sich – Regale an die Wand nageln oder einen Weg zementieren, der sehr rasch wieder ruiniert war. Aber als es allmählich dazu kam, daß er Zeit für das Großstadtleben und den Alkohol hatte, bestand seine ganze Tätigkeit darin, bei Tisch zu tranchieren, wenn er, was selten genug vorkam, gerade nüchtern war.

So wurde Myron, noch ehe er zehn Jahre alt war, der Mann im Hause.

Mutter Weagle teilte ihre Liebe ohne Bevorzugung zwischen Myron und Ora; Tom jedoch hatte mehr für Ora übrig, der schon als Fünfjähriger, als sie nach Black Thread kamen, in seinem Vater einen interessanten Charakter sah. Als Ora sieben Jahre alt war, saß er oft in dem flachen, ungestrichenen Kahn, den Tom in den Schatten der über das Wasser hängenden Weiden gerudert hatte, um staunend zuzusehen und zuzuhören, während Tom seine lange Bambusangelrute in der Hand hielt, gelegentlich einen Schluck aus dem Krug nahm (er stützte ihn auf die Schulter und kippte ihn geschickt) und unaufhörlich Geschichten erzählte – von denen einige nahezu wahr waren: wie er den letzten Bären getötet hatte, der sich im Staate Connecticut zeigte. Wie er als ganz junger Mann direkt nach Michigan gegangen war und Indianer gesehen hatte, die, wie es schien, nie etwas anderes sagten als: »Uff, ich bin ein gewaltiger Indianer.« Wie er als dreizehnjähriger Junge gegen Ende des Bürgerkrieges die letzten Connecticuttruppen hatte ausmarschieren sehen; sie waren alle eins achtzig groß und sehr tapfer, und die meisten Offiziere waren zwei Meter lang und trugen eineinviertel Meter lange Säbel. Und dann sang er:

»Oh, ihr sollt mich nicht in der Prairie begraben Dort zischen die Schlangen, dort krächzen im Wind die Raben, Dort würden über mein Grab die heulenden Wölfe traben, Oh, ihr sollt mich nicht in der Prairie begraben.«

Von Boarding-House-Küchen in schmierigen Schulpulten in ein Reich von Soldaten und Cowboys und einsamen Bergesgipfeln entrückt, lauschte Ora hingerissen. Und die Rückkehr zu dem schnatternden Geschimpfe Mutter Weagles und den bösen Blicken Myrons war ihm um nichts weniger verhaßt als seinem Vater. Sie beiden hatten, wenn sie sich zu ihrem verspäteten Abendessen aus Schabefleisch und Kaffee heimschlichen, den finsteren Verdacht, daß Myron in der Zeit ihrer Abwesenheit, während sie wacker versucht hatten, mit ihrem Fischfang für den Haushalt zu sorgen, sich vom Fetten des Landes genährt hätte – von den dicksten Steaks, den heißesten Muschelgerichten und übergroßen Portionen Butter.

Schon vor seinem elften Lebensjahr war Myron in allen Hausarbeiten perfekt – »ganz wie ein blödes Mädel«, brummte Ora, wenn es besonders kräftige Ohrfeigen gesetzt hatte. Myron trocknete Geschirr ab, manchmal wusch er es sogar; der große Lümmel konnte ein Wasserglas besser polieren als seine Mutter, und seinen Riesenpfoten entglitt niemals eine Obstschüssel. Er fegte aus, er machte Betten, er kochte oder briet Eier, er konnte ein Kotelett zubereiten. Seine Mutter brachte ihm in aufgeregten Flüstertönen bei, wie er einen verärgerten Gast beruhigen konnte, indem er sich jede Beschwerde eifrig anhörte und dann rief: »Ich werde Ma sagen, daß sie das sofort in Ordnung bringt.« Er guckte seiner Mutter sogar ein wenig davon ab, wie man die verschiedenen Fleischsorten schneiden muß, und woran man eine reife Melone oder eine gute Birne erkennt.

Aber noch mehr als von seiner Mutter lernte er von einer Pensionärin des Hauses.

Der beste Gast im Boarding-House war Miss Absolom, die elegante New-Yorkerin, die in der Höheren Schule Unterricht gab. Im Speisesaal ließ Myron, während er Minnine, dem Dienstmädchen, beim Servieren half, Miss Absolom nicht aus den Augen. In der Erkenntnis, daß er es als Farmerjunge nötig hatte, Tischmanieren zu lernen, beobachtete er die zehn Pensionäre. Er konstatierte, daß Horace Tiger von dem New-York-Schnittwarenladen, eine auffallend feine Art hatte, Kaffee zu trinken: wenn er die Tasse aufhob, stand sein kleiner Finger ab, als wollte er damit dokumentieren, daß er mit der Derbheit gewöhnlichen Trinkens nichts zu tun habe. Miss Abbott, die Putzmacherin, stocherte sich die Zähne hinter einer großen Serviette, die sie sich vor das Gesicht hielt. Wer als Kellner hinter ihr stand, konnte sehen, daß sie sehr heftig arbeitete und herumbohrte, aber Myron war von ihrer Züchtigkeit erbaut. Und andererseits war er, obwohl sie es auf der Farm selbst auch immer getan hatten, ganz sicher, daß es nicht nett war, wie das alte Ehepaar Glenn die Suppe laut zu blasen oder beim Kaffeetrinken den Löffel in der Tasse zu lassen und ihn mit dem Daumen festzuhalten.

Miss Absolom aber schien überhaupt keine Manieren zu haben, weder gute noch schlechte. Niemals konnte er sich genau darauf besinnen, was sie eigentlich getan hatte. Wenn sie einmal, was nicht oft geschah, einen Zahnstocher benutzte, dann benutzte sie ihn einfach, ohne Orgien der Zurückhaltung zu feiern. Sie machte kein Aufhebens davon, wenn sie nach dem Essen Messer und Gabel auf dem Teller kreuzte – die anderen vollführten dann ein großes Geklapper – aber plötzlich lagen eben Messer und Gabel da.

»Herrgott, bei ihr ist alles so selbstverständlich!« überlegte Myron, während er die schwer versilberte Menage mit den Ketchup-, Essig-, Pfefferessig- und Worcestersauce-Flaschen putzte. »Das wird wohl die richtige Art sein, sich zu benehmen – so, daß überhaupt kein Mensch merkt, was für feine Manieren man hat.« Das war eine tiefsinnige und beunruhigende Theorie. Gar keine Ehre damit einlegen, daß man feine Manieren hat? Wozu sind sie dann da? Nun, er würde es wohl tun müssen. Er wollte lieber sein wie Miss Absolom – schlank, dunkel, resolut, aufrecht – als wie der rundliche, schnaufende Horace Tiger.

Eines Abends, als Miss Absolom an jenem Zustand litt, den man damals als »Migräne« bezeichnete, und nicht zum Abendessen hinuntergekommen war, brachte er ihr eine Tasse Tee.

»Komm herein; ich möchte mich ein bißchen mit dir unterhalten«, sagte sie.

Nach den Vorstellungen, die man sich im Jahre 1891 von New-Yorker Damen machte, die in kleinen Nestern verbannt lebten, hätte das Zimmer üppig mit türkischen Wandteppichen, einem Samowar und chinesischen Lampions dekoriert sein müssen – solchen Lampions, wie sie bei Wiesenfesten in Black Thread erstrahlten. In Wirklichkeit war nichts von diesem orientalischen Glanz da. Aber auf dem Tisch aus Kiefernholz lagen einen Viertelmeter hoch Bücher, daneben stand ein mit Chintz bezogener Sessel, und das Bett war mit einem chinesischen Teppich zugedeckt. (Das fand Myron immer komisch – ein Teppich auf einem Bett! Aber es sah eigentlich nett aus, das weißgestrichene eiserne Bettgestell wirkte weniger gewöhnlich.) Im übrigen zeigte das Zimmer dieselbe saubere, kahle, getünchte Einfachheit wie alle anderen im Haus.

Miss Absolom saß in dem Lehnstuhl. »Setz dich!« Sie zeigte auf das Bett, und ein wenig verlegen begab er sich dorthin.

Für einen Jungen in der sechsten Klasse bedeutete ein Privatgespräch mit einer Lehrerin der oberen Klassen in der Höheren Schule dasselbe wie für einen Gemeinen eine kameradschaftliche Unterhaltung mit einem Generalleutnant. Aber er hatte vier Jahre lang in einem Boarding-House gearbeitet und wußte darum schon als Elfjähriger recht viel von Menschen und ihren Neigungen, von ihren heimlichen Whiskyflaschen, ihren schmutzigen Tricks, wenn es sich um die Bezahlung der Wochenrechnung handelte, ihrer Freigebigkeit, wenn es nicht um mehr ging als um Wärmflaschen oder Konfekt. Er wußte tatsächlich so viel von den Menschen und ihren Methoden, wie jeder normale Junge von elf Jahren wüßte, wenn seine Fähigkeiten nicht unterdrückt wären, weil Eltern und Lehrer eifersüchtig darauf achten, daß alle Beschlüsse und Bestimmungen ihnen vorbehalten bleiben. Und doch geriet er mit all seinem frühreifen Wissen in Verlegenheit, als er Miss Absolom nicht in ihrer Eigenschaft als Pensionärin, an deren Bett, Verpflegung und Rechnung gedacht werden mußte, sah und sprach, sondern in ihrer Eigenschaft als Bekannte.

»Setz dich, Myron. Arbeitest du gern im Boarding-House?«

»Ach ja, ganz gern. Doch, ich glaub schon. Herrjeh, aber Ihnen gefällt's wahrscheinlich manchmal nicht besonders in so einem kleinen Nest, wo Sie doch in New York waren!«

»Das ist gar nicht so schlimm. Es rettet mich vor allzu viel hebräischem Bach und hebräischem Kaffeeklatsch und hebräischer Familie.«

»Wie?«

»Ich meine – – Das ist weiter nicht wichtig. Ich wollte bloß versuchen, witzig zu sein. Und tapfer, oder irgend so etwas Scheußliches. Es hat gar nichts zu bedeuten. Myron! Was willst du mit dir anfangen? Mir ist aufgefallen, daß du dir wirklich Mühe gibst beim Arbeiten. Was willst du werden?«

»Weiß nicht. Vielleicht Doktor.«

»Warum?«

»Weiß nicht. Ich denk mir, es könnte ganz interessant sein, für Menschen zu sorgen – ich meine – alles für die Menschen lernen.«

»Du willst von hier weg?«

»Ach, wahrscheinlich. Aber ich habe nie viel drüber nachgedacht.«

»Ja, mein Kind, ob du hier bleibst oder weggehst, du mußt es lernen, etwas besser auszusehen. Ich meine, sorgfältiger in deiner Kleidung zu sein. Nicht so wie Horace Tiger mit seinen albernen weißen Westen und seinem Haar, das wie ein ganzer Friseurladen riecht, sondern – – Du wirst eines Tages ein großer, imposant aussehender Mann sein. Du kannst das ruhig ausnutzen, indem du dich gut anziehst. Laß mal deine Nägel sehen.«

Schüchtern zeigte er sie. Sie waren wohl innerhalb vernünftiger Grenzen sauber, aber mit der Schere seiner Mutter ganz kurz abgeschnitten.

»Findest du nicht, daß meine etwas netter aussehen?« fragte Miss Absolom. Ihre mandelförmigen Nägel waren wahrscheinlich nichts Außerordentliches, aber Myron schienen sie köstlich zu sein, glatt wie polierter Achat. »Du kannst in der Drogerie für zehn Cent eine Nagelfeile kriegen. Feil die Nägel, mein Kind, feil sie. Und jetzt laß dir die Krawatte von mir binden. Du hast sie bloß zusammengeknotet.«

Geduldig band sie seine etwas ausgefranste blaue Schleife auf und brachte sie dann, sorgfältig die Enden zurecht zupfend, in Ordnung. Etwas schwach von ihrem warmen Frauenduft beugte er sich vor. »Schau jetzt in den Spiegel.« Er wunderte sich darüber, wie forsch die Krawatte jetzt aussah. Sie hatte in der Mitte eine schlanke Taille und rechts und links symmetrische Enden.

»Ich werd mir Mühe damit geben!« sagte er eifrig. »Ora bindet seine immer gut, und dabei ist er erst neun! Aber arbeiten will er nicht.«

»Jetzt hör mir einmal gut zu, junger Mann. Ich habe dich beobachtet. Du kujonierst Ora, um ihn zum Arbeiten zu bringen. Ich mache dir keinen Vorwurf daraus. Er ist ein faules kleines Vieh. Aber ein ernster junger Mann wie du, der nichts leicht nimmt und Gutes tun will, muß in einer Sache, die noch bedeutend wichtiger ist als das Nägelfeilen, auf sich acht geben. Du mußt mit dem Herrn ringen und versuchen, ein ganz klein wenig versuchen, dich davor zu bewahren, daß du ein Pharisäer wirst. Große, saubere, ernsthafte junge Herren haben eine Neigung dazu … ganz so wie intellektuelle jüdische Mädchen!«

»Herrjeh!«

»Ein Pharisäer ist ein Mensch, der, siehst du – natürlich, wenn man so etwas definieren soll – – Also, ein Pharisäer ist ein Mensch, der sich für etwas Wunderbares hält und das alle Leute merken läßt. Er ist – ach, er ist wie ein Mann in einem Wagen, der allen Menschen, die zu Fuß gehen, verächtlich zuruft: Seht mich an! Ich fahre! Auch wenn du fährst und Ora sozusagen moralisch im Staube kriecht, sei nicht zu stolz. Das Pferd vor deinem Wagen könnte durchgehen!«

»Ich – ja – vielleicht – ich glaube – ich verstehe – was Sie – meinen!«

Miss Absolom hatte durchaus den Eindruck, daß er nichts begriff. Aber er hatte begriffen.

Es gehört zu den Ironien des Lebens, daß eine Zufallsanregung – sie mag von einem Menschen kommen, den man in einem Eisenbahnzug trifft, von dem unbekannten Verfasser eines Leitartikels oder von einem Schauspieler, der in einem Theaterstück einer reinen Empfindung mit klingenden Worten Ausdruck verleiht – daß eine solche Zufallsanregung von größerem Einfluß sein kann als ganze Jahre langweiliger Ratschläge von Eltern. Als Myron erwachsen war und eigentlich zu sehr mit seiner Arbeit hätte beschäftigt sein müssen, um sich mit Toilettefragen abzugeben, dachte er, als er Miss Absoloms Namen schon seit Jahren vergessen hatte, noch immer daran, daß sie ihm seine Nachlässigkeit vorgeworfen hatte, und wurde mit einem Gefühl des Unbehagens und des Widerwillens gezwungen, sich entsprechend seiner Rolle als erfolgreicher Großstädter zu kleiden, was, trotz Carlyle, auf seine Selbstachtung und seine Fähigkeit, Menschen zu dirigieren, von ausgezeichneter Wirkung war. Er fing allmählich an zu glauben, Miss Absolom und er hätten oft viele Stunden lang miteinander gesprochen. Das hatten sie gar nicht getan. Sie war eine Gottheit in seiner Privat-Mythologie mit all dem durch nichts zu vernichtenden Einfluß einer Gottheit, die unsterblich ist, weil sie niemals existiert hat.

Ob sie ihn auch vom latenten Pharisäertum kuriert hat, läßt sich nicht sagen. Wahrscheinlich hatte Myron ebensoviel Pharisäerhaftes wie andere »Kanonen«. Überdies steht es auch keineswegs fest, ob die Freude am eigenen Pharisäertum nicht eines der unschuldigsten und gesündesten Vergnügen ist, was man für wahrscheinlich halten muß, wenn man die Karrieren der meisten Bischöfe, Chefredakteure, Feldwebel, Sportlehrer und sozialistischen Autoren betrachtet.

Am nächsten Tag nahm Myron fünfundzwanzig Cent von den zwei Dollar fünfundsechzig, aus denen seine Ersparnisse bestanden, und kaufte sich eine rote Krawatte, die er dann immer zur Sonntagsschule trug. Sie war knallrot, und Myron hielt sie für überaus vornehm. Er feilte auch seine Nägel, bis sie ihm ordentlich weh taten. Aber Miss Absolom sah ihn nicht einmal. Er litt darunter, war aber um so fester entschlossen, Eindruck auf sie zu machen; Eindruck auf alle klugen, zynischen Fräulein Absolom der Welt zu machen und sie dazu zu bringen, daß sie ihn als einen der ihren anerkannten.

An den Samstagabenden hatten die Gäste in Mutter Weagles Boarding-House in dem kleinen, viereckigen Salon mit dem abgetretenen roten Teppich und dem üppig vernickelten Ofen immer eine kleine Festivität, deren Höhepunkt Welsh Rabbits, Rührei oder Eiskrem bildeten. In einer Ecke des Raumes stand verloren eine Palme, und zu den Sitzgelegenheiten gehörten die allermodernsten Roßhaarsofas, ein mit Brüsseler Gobelin bezogener Patentschaukelstuhl und ein interessantes Möbel, das entstanden war, indem aus einem Faß ein Stück herausgeschnitten und das, was übrigblieb, vergoldet wurde.

Gelegentlich spielte Miss Absolom etwas, das sie einmal »Mozart« ein andermal »Mendelssohn« nannte – Namen, die Myron noch nie gehört hatte. Aber der Löwe der Unterhaltungen war Horace Tiger. Er konnte auf einer Säge spielen und tat es auch. Er sang die damals populären Schlager und war vornehm genug, anstößige Stellen in eleganter Weise zu korrigieren. Sein Standardlied war:

»Ich weiß ein komisches Gewächs Von Boarding-House, Da kriegen alle Ham und Eggs, Tag ein, Tag aus.

Oh, wie sie auf die Teller glotzen In diesem Boarding-House, Am liebsten würden sie ja – schimpfen, Tag ein, Tag aus.«

Alle Pensionäre lachten wie irrsinnig, wenn Horace zögerte, ihnen zublinzelte und schließlich »schimpfen« statt des anstößigen Wortes sagte. Auch Myron lachte – nachdem er zu Miss Absolom hinübergeblickt hatte, um zu sehen, ob sie lächelte, was sie stets tat. Aber Mutter Weagle erklärte jedesmal (an zweiundfünfzig Samstagabenden in einem Jahr) verärgert: »Ich kann das wirklich nicht nett finden! Sie bekommen hier doch nicht alle Tage Harn and Eggs!«

Und Horace brillierte als Imitator. Seine beiden Nummern waren: ein Negergeistlicher (sehr realistisch), dessen Predigt mit den Worten begann: »Ich bin absoluterment überzeugt«, was in allen ein überaus glückliches Gefühl und das Bewußtsein der Erhabenheit über minderwertige Rassen erzeugte; und ein Maine-Farmer, der seine Gespräche immer mit den Worten einleitete: »Na, da soll mich doch gleich das Hagelwetter holen!«

Miss Absolom ermunterte Horace immer; sie saß da, ihr Kinn in die schmale dunkle Hand gestützt, zwinkerte ihm zu und murmelte: »Bravissimo.« Erst viele Monate, nachdem sie mit ihm über seine Nägel gesprochen hatte, kam er auf den Gedanken, daß sie Horace in etwas übertriebener Weise ermunterte. Von da an war es ihm immer peinlich, wenn Horace sich produzierte, und in den nicht ganz klaren Gedankengängen eines elfjährigen Jungen hielt er sich immer wieder vor, daß er sich schützen müßte, daß er den Menschen keine Möglichkeit geben dürfte, sich über ihn lustig zu machen.

Von diesem Vorsatz brachte es ihn auch keineswegs ab, als das Wunderkind Ora dazu veranlaßt wurde, die erhebende Ballade »Der Schiffbruch der Hesperus« zu deklamieren. Myron dachte strahlend, sein Bruder wäre ein Wunder der Natur, er könnte deklamieren wie ein richtiger Schauspieler, und das schon im Alter von zehn Jahren! Aber trotzdem wäre es ihm lieber, dachte er seufzend, wenn Ora nicht so mit den Armen herumfuchteln und sich nicht an den Höhepunkten seiner Deklamationskunst auf den Magen klopfen würde, als ob er Schmerzen hätte.

Myron lernte viel von diesen Samstagabend-Gesellschaften. Er lernte, daß die Menschen »amüsiert« werden wollen; daß sie fast alles tun, sich fast alles anhören, bloß um nicht allein zu sitzen und zu lesen; und nun gar allein sitzen und über etwas nachdenken, das war nur für die dümmsten Tölpel oder für die resigniertesten Weisen erträglich. Er fand damals noch keine klare Formulierung dafür, ebensowenig wie der Fischerjunge bewußt die Manöver kennt, mit denen er durch die Brandung steuert, aber er begann zu begreifen, daß er, wenn er einmal in der Lage wäre, für eine Anzahl von Menschen zu sorgen, diese kindischen Tierlein »amüsieren« müßte. Brot und Spiele, Schlittenfahrten und abendliche Kirchenfeste, Radios und Tonfilme, Oper und Reit- und Fahrturnier – in jedem Zeitalter, in jeder Gesellschaftsklasse, es handelt sich immer darum, den Menschen davor zu bewahren, daß er, allein gelassen, an seiner schönen Überlegenheit zu zweifeln beginnt.

Mit einer ungeschickten Geheimnistuerei, die etwas Seltenes an ihr war, denn im allgemeinen verkündete sie in der Küche, während sie Biskuitteig rührte oder Eierschnee schlug, mit lautem Gegacker alles, was sie dachte, rief Mutter Weagle Myron in das Zimmer, das sie mit ihrem Gatten teilte. Tom war für den Nachmittag weggegangen; theoretisch wollte er Wachteln jagen. Sie hatte nach einem Streit, in dem sie ihm damit drohte, ihn zu verlassen, die Verfügung über ihren ganzen Geldbesitz sich selbst vorbehalten und ließ Tom nicht mehr als einen Dollar in der Woche zukommen. Aber selbst mit dieser kleinen Summe brachte er es auf rätselhafte Weise zuwege, sich oft und ausgiebig zu betrinken.

Myron hatte den Argwohn, daß sein Vater Lebensmittel aus der Küche mauste und verkaufte.

Myron stand jetzt einen Monat vor der Vollendung seines dreizehnten Lebensjahres, war fast einen Meter siebzig groß und sehr mager, aber seinen kräftigen Knochen war schon anzusehen, daß er breite Schultern bekommen würde. Er lächelte nicht viel. Seine Hände waren rauh von der ununterbrochenen Hausarbeit. Seiner Mutter wenigstens bewies er stets Zärtlichkeit.

Sie saßen auf der Kante ihres Bettes; sie war aufgeregt und seufzte viel, während er sie besorgt betrachtete. Ihr Zimmer war verstaubt, das Bett ungemacht, das Bettzeug war noch ganz zerknäult von der Tracht Prügel, die Tom bekommen hatte, als er aus seiner alkoholischen Betäubung erwachte. Auf dem Fußboden lag die Wäsche der vergangenen Woche, nachlässig hingeworfen, ein sauberes Laken lag im Schmutz. Es war außer seinem und Oras Zimmer das einzige im Haus, das schlecht gehalten war: Mutter Weagle hatte keine Zeit für sich selbst und den Raum, in dem sie sich von ihrer Arbeit ausruhte.

»Myron, du bist noch so jung, daß man eigentlich nicht mit dir darüber reden kann, aber ich hab niemand anderen. Du weißt, wie dein Pa ist. Also, ich hab das ganze letzte Jahr nachgedacht, und dabei ist mir klar geworden, daß er sich nicht so benehmen würde, wenn er ein bißchen mehr zu tun hätte. Es gibt ja kaum Arbeit für ihn hier.«

»Ich könnt mir beim Bettenmachen von ihm helfen lassen, und vielleicht könnte er das Holz sägen, wenn er Lust dazu hat«, sagte Myron, ganz ernsthaft.

»Ja, ich glaube nicht, daß ihm daran was liegen würde. Ihm würde es Spaß machen, hinter einem Pult zu sitzen und anzugeben. Der Mann, der das American House leitet, wandert weiter nach dem Westen. Es ist zu pachten mit der ganzen Einrichtung und allem. Ich hab ein bißchen gespart und könnte die Pacht für zwei Jahre aufbringen. Dann könnte dein Pa vorn im Büro sitzen, und vielleicht würde ihn das wieder auf die Beine bringen. Was meinst du?«

»Das wär eine elegante Sache!«

Vor Myrons Auge erhob sich eine Vision vom Glanz des American House: die Geräumigkeit der Halle, in der vierzig Menschen sitzen konnten, ganz anders wie in dem engen, kleinen Salon ihres Boarding-House; die vergoldeten Heizkörper; die funkelnden großen Messingspucknäpfe; der gewaltige Speisesaal mit richtigen gedruckten Karten, wenigstens für das Sonntagsdinner; die endlosen Reihen von Zimmern und nicht weniger als vier Badezimmer; und dann das Gebäude selbst, drei hochragende Stockwerke aus Backstein und ein Portal, das ihn seit jeher fasziniert hatte – nicht eine einfache Tür in der Fluchtlinie der Mauer, sondern eine an der Ecke, die diagonal abgeschnitten war. Und die Leute dort! Er war die Boarding-House-Insassen gewohnt: größtenteils ältere Ehepaare aus dem Ort, die sich nicht mehr die Mühe machen wollten, selbst einen Haushalt zu führen. Sie waren für Myron ein ebenso vertrauter und uninteressanter Anblick wie etwa Warzen. Aber im American House saßen, durch das großartige Spiegelglasfenster auf die Hauptstraße hinausblickend, kühne Zugvögel: Geschäftsreisende in feschen rosa Westen, Plastronkrawatten und Kragen, die ihnen fast den Unterkiefer abschnitten; der Star der Original Drury Lane-Tournéegesellschaft, der einen mit Astrachan verbrämten Mantel besaß und dickes Haar hatte, das aussah wie ein Pferdeschwanz.

»Donnerwetter, Ma, das wär fein! Einfach blendend! Aber du müßtest sehr schwer arbeiten.«

»Ach, ich würde mehr Hilfe haben. Du würdest mir doch helfen, nicht wahr, das würdest du? Würdest du mir nicht helfen?«

Sie umarmten sich. Niemals in seinem ganzen Leben kam ihm ein anderes menschliches Wesen so nahe wie Mutter Weagle.

»Wir werden etwas Großartiges aus dem Hotel machen!« rief er.

»Ja, vielleicht«, sagte sie nachdenklich, sich ein wenig aus der Schwermut reißend, die uns alle überkommt, wenn wir daran denken, etwas von den Dingen wirklich zu tun, die wir uns immer gewünscht haben, ob es sich nun um Heiraten handelt oder um Sterben, ob es sich darum handelt, Gamaschen zu tragen oder ein Hotel zu leiten.