Die Hauptstraße - Sinclair Lewis - E-Book

Die Hauptstraße E-Book

Sinclair Lewis

0,0
1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

In "Die Hauptstraße" entführt Sinclair Lewis die Leser in das amerikanische Provinzleben der 1920er Jahre und beleuchtet die Herausforderungen des Einzelnen in einer sich wandelnden Gesellschaft. Der Roman folgt der Protagonistin Carol Kennicott, einer idealistischen jungen Frau, die in die gleichförmige Kleinstadt Gopher Prairie zieht und dort mit den engen gesellschaftlichen Konventionen sowie der bornierten Mentalität der Bürger kämpft. Lewis verbindet einen klaren Erzählstil mit scharfer Satire; der Leser wird sowohl zum Schmunzeln als auch zum Nachdenken angeregt, während er die facettenreiche Darstellung des Lebens in der Provinz betrachtet, das oft durch Konformität und kulturelle Stagnation geprägt ist. Sinclair Lewis, der erste Amerikaner, der den Nobelpreis für Literatur erhielt, war ein scharfer Beobachter seiner Zeit. Geboren in 1885, brachte ihn seine eigene Erfahrung in einer amerikanischen Kleinstadt dazu, die Themen von Individualität und sozialen Normen in den Mittelpunkt seines Schaffens zu stellen. "Die Hauptstraße" zeigt nicht nur seine meisterhafte Erzählkunst, sondern auch seinen tiefen Einblick in die Kämpfe von Frauen und die paradoxe Natur des amerikanischen Traums. Dieses Buch ist ein unverzichtbares Werk für jeden, der sich für die soziale Dynamik und die Herausforderungen des individuellen Ausdrucks in der modernen Gesellschaft interessiert. Lewis' brillante Analyse und vielschichtige Charaktere machen "Die Hauptstraße" zu einem zeitlosen Klassiker, der auch in der heutigen Welt relevant bleibt. Lesen Sie dieses Werk, um die zeitlosen Themen des persönlichen und gesellschaftlichen Konflikts zu verstehen und zu genießen. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine prägnante Einführung verortet die zeitlose Anziehungskraft und Themen des Werkes. - Die Synopsis skizziert die Haupthandlung und hebt wichtige Entwicklungen hervor, ohne entscheidende Wendungen zu verraten. - Ein ausführlicher historischer Kontext versetzt Sie in die Ereignisse und Einflüsse der Epoche, die das Schreiben geprägt haben. - Eine Autorenbiografie beleuchtet wichtige Stationen im Leben des Autors und vermittelt die persönlichen Einsichten hinter dem Text. - Eine gründliche Analyse seziert Symbole, Motive und Charakterentwicklungen, um tiefere Bedeutungen offenzulegen. - Reflexionsfragen laden Sie dazu ein, sich persönlich mit den Botschaften des Werkes auseinanderzusetzen und sie mit dem modernen Leben in Verbindung zu bringen. - Sorgfältig ausgewählte unvergessliche Zitate heben Momente literarischer Brillanz hervor. - Interaktive Fußnoten erklären ungewöhnliche Referenzen, historische Anspielungen und veraltete Ausdrücke für eine mühelose, besser informierte Lektüre.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2023

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sinclair Lewis

Die Hauptstraße

Bereicherte Ausgabe. Eine junge Frau kämpft gegen ländliche Konventionen im amerikanischen Kleinstadtleben des 20. Jahrhunderts
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547788027

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Synopsis
Historischer Kontext
Autorenbiografie
Die Hauptstraße
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate
Notizen

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Ein einzelner Wille prallt auf die starre Ordnung einer ganzen Stadt. Dieser Roman zeigt, wie die Sehnsucht nach Erneuerung an Gewohnheit, Bequemlichkeit und sozialem Druck zerschellen kann, ohne dabei die Sehnsucht selbst zu verraten. Er entfaltet das Drama des Alltäglichen: höfliche Gespräche, kleine Gesten, Vereinsmeierei und die unsichtbaren Fäden, die Menschen an Konventionen binden. In dieser Reibung zwischen Ideal und Realität liegt eine Energie, die weit über die Handlung hinausweist. Der Schauplatz ist klein, die Fragen sind groß: Wie verändert man eine Gemeinschaft, ohne ihr den Rücken zu kehren – und ohne sich selbst zu verlieren?

Die Hauptstraße, im Original Main Street, erschien 1920 in den Vereinigten Staaten und stammt von Sinclair Lewis, einem US-amerikanischen Schriftsteller, der 1930 als erster US-Amerikaner mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde. Das Buch spielt in Gopher Prairie, einer fiktiven Kleinstadt in Minnesota, deren Züge an Lewis’ eigene Herkunftsregion erinnern. Der Roman gehört zur frühen Phase seines großen satirischen Schaffens der 1920er Jahre. Er verbindet Beobachtungsgabe mit Erzählkunst und hält der amerikanischen Provinz einen Spiegel vor. Das Werk gilt als Schlüsseltext zur Erforschung gesellschaftlicher Mentalitäten im Übergang zur Moderne nach dem Ersten Weltkrieg.

Im Zentrum steht Carol, eine gebildete, idealistische junge Frau, die nach der Ehe mit einem Landarzt in die Kleinstadt zieht. Sie bringt den Willen mit, öffentliche Räume, Kulturangebote und den Ton des Zusammenlebens zu beleben. Ihr Projekt stößt auf Höflichkeit und Widerstände, auf Zustimmung im Privaten und Zögern im Öffentlichen. Mehr muss man zur Ausgangslage nicht wissen: Die Handlung entfaltet sich aus dem Aufeinanderprallen von Plänen und Praktiken, von Reformideen und Gewohnheiten. Lewis zeichnet daraus kein Schwarz-Weiß-Bild, sondern eine soziale Topografie, in der Begehren, Vorsicht und Rangordnungen ineinandergreifen.

Zu den großen Themen zählen Konformität und Individualität, bürgerliche Selbstzufriedenheit und der Preis des Fortschritts. Der Roman zeigt, wie Normen sich durch tausend kleine Erwartungen verfestigen und warum Veränderung selten an Argumenten scheitert, sondern an Geselligkeit, Status und Angst vor Anstoß. Zugleich macht er sichtbar, wie Idealismus in der Begegnung mit konkreten Menschen reifer wird. Das Buch ist keine Tirade, sondern eine satirische, doch empathische Studie über Gemeinschaften, die sich für selbstverständlich halten. Darin berührt es Machtfragen ebenso wie Fragen des Geschmacks, der Sprache, der Moral und des Ortes.

Als Klassiker gilt Die Hauptstraße, weil es eine weithin romantisierte Idee vom Kleinstadtleben mit literarischer Schärfe prüft und dabei weder Karikatur noch Sentimentalität verfällt. Lewis verbindet detailgenaue Milieuschilderung mit einer Spannweite an Perspektiven, die Figuren nicht bloß vertreten lässt, sondern verorten kann. Er zeigt Institutionen – Laden, Kirche, Zeitung, Vereine – als Gefüge, das Mentalitäten hervorbringt. Das Ergebnis ist keine These im Romankleid, sondern Erzählkunst, die soziale Erkenntnis stiftet. Die Kraft des Buches liegt im Zusammenspiel von Komik, Kälte und Mitgefühl, das Leserinnen und Leser gleichermaßen herausfordert und bindet.

Der literarische Einfluss war weitreichend. Der Roman wurde unmittelbar nach Erscheinen breit gelesen und heftig diskutiert; er prägte eine Debatte darüber, was Kleinstadt bedeutet und wer darüber sprechen darf. Die Figur der Main Street entwickelte sich zu einer kulturellen Chiffre für amerikanische Durchschnittlichkeit, mit der sich spätere Autorinnen und Autoren auseinandersetzten. Das Buch trug wesentlich zu Lewis’ internationalem Renommee bei; sein späterer Nobelpreis bestätigte die Bedeutung eines Werkes, das nationale Selbstbilder prüft. Entscheidend ist dabei nicht Skandalwert, sondern die Dauerhaftigkeit der Fragen, die der Roman eröffnet.

In der Literatur der 1920er Jahre steht Die Hauptstraße zusammen mit anderen Lewis-Romanen wie Babbitt, Arrowsmith, Elmer Gantry und Dodsworth für eine präzise Vermessung sozialer Räume. Während Zeitgenossen Industrialisierung, Urbanisierung und Medienwandel feierten oder beklagten, konzentriert sich Lewis auf Sitten, Gespräche und Rituale, in denen sich Modernisierung bricht. So tritt die Kleinstadt nicht als Randerscheinung, sondern als Prüfstand nationaler Ideale auf. Der Roman verbindet realistische Darstellung mit satirischer Zuspitzung und erweitert den Kanon um eine Perspektive, die Provinz als Zentrum gesellschaftlicher Aushandlung begreift.

Stilistisch arbeitet Lewis mit ironischer Distanz, einer dichten Figurenkonstellation und präzisen Details, die den Alltag plastisch machen: die Wege durch den Ort, die Räume der Vereine, die Hierarchien in Geschäften und Reden. Die Erzählweise wechselt zwischen Nahsicht auf Carol und einem panoramischen Blick auf das Gemeinwesen. Das erzeugt Spannung ohne Sensationsdurst. Humor dient nicht dem Spott, sondern der erkenntnisreichen Brechung, die Urteile verlangsamt. In dieser Prosa lässt sich lesen, wie Sprache soziale Macht ausübt, wie Tonlagen Zugehörigkeit markieren und wie kleine Wörter große Barrieren bilden.

Beständig ist das Buch, weil es strukturelle Fragen stellt: Wer definiert Normalität, und wie werden Abweichungen sanktioniert? Was bedeutet Reform, wenn sie auf Zustimmung angewiesen ist, die Veränderung zugleich fürchtet? Welche Rolle spielen Geschlecht, Beruf und Nachbarschaft in der Verteilung von Einfluss? Lewis zeigt Reform als Arbeit an Formen – an Gesprächskulturen, Räumen, Festen, Institutionen. Damit schaut der Roman dorthin, wo Werte gelebt werden: in die Alltagspraktiken. Indem er den Blick dafür schärft, macht er Leserinnen und Leser empfindlicher für Mechanismen, die sonst als bloße Gewöhnung durchgehen.

Der Titel vermittelt eine doppelte Pointe. Main Street bezeichnet eine konkrete Geschäftsstraße, doch im Amerikanischen wurde er zur Metapher für Gemeinschaftsideale, wirtschaftliche Vernunft und politischen Pragmatismus. Die deutsche Titelwahl, Die Hauptstraße, hält diese Doppeldeutigkeit fest: Sie ist Ort und Symbol zugleich. Lewis nutzt die Straße als Bühne, auf der Menschen einander sehen, beurteilen, helfen, behindern und antreiben. So wird Architektur zu Moral, Verkehr zu Kommunikation, Routine zu Geschichte. In dieser Verknüpfung liegt ein Schlüssel zum Verständnis des Romans und seiner anhaltenden kulturellen Wirkung.

Heute bleibt der Roman relevant, weil die Fragen nach Zugehörigkeit, Wandel und öffentlicher Debatte nicht kleiner geworden sind. Veränderungen in Technik, Demografie und Medien haben neue Schauplätze geschaffen, doch die Mechanismen sozialer Kontrolle sind vertraut. Wer an Initiativen, Kulturprojekten oder lokaler Politik mitwirkt, erkennt viel wieder: das Ringen um Tempo, Ton und Teilhabe. Das Buch bietet keine Rezepte, aber es schärft Urteilsvermögen. Es zeigt, wie wichtig Geduld, Bündnisse und Sprache sind, wenn aus Ideen Veränderungen werden sollen, die mehr verbinden als spalten.

Die Hauptstraße ist zeitlos, weil sie aus genauer Beobachtung Menschlichkeit gewinnt. Sie hält Distanz und Nähe in Balance, vermeidet moralische Selbstgewissheit und lädt zu Prüfung des eigenen Blicks ein. Ihre Komik entlastet, ohne zu verharmlosen; ihre Kritik belebt, ohne zu verbittern. Wer sie liest, erhält eine Schule des Sehens und Hörens: wie man Milieus versteht, ohne sie zu verdammen, und wie man an Idealen festhält, ohne blind zu werden. Darin liegt die bleibende Stärke des Buches – ein Klassiker, der nicht erstarrt, sondern immer wieder neu befragt und gebraucht werden kann.

Synopsis

Inhaltsverzeichnis

Sinclair Lewis’ Roman Die Hauptstraße, erstmals 1920 veröffentlicht, zeichnet ein präzises, meist satirisches Porträt einer Kleinstadt im amerikanischen Mittleren Westen. Im Mittelpunkt steht die gebildete, idealistische Carol, deren Blick auf Fortschritt und Kultur mit der Wirklichkeit provinzieller Routinen kollidiert. Die titelgebende Hauptstraße fungiert als Bild für soziale Ordnung, wirtschaftlichen Ehrgeiz und beharrliche Gewohnheit. Der Roman erkundet, wie Individuen in festen Gemeinschaften ihren Platz suchen, und wie Reformimpulse an Selbstzufriedenheit abprallen. Zugleich ist er eine Studie über Geschmack, Modernität und den Preis der Zugehörigkeit, die ohne direkte Parteinahme die Spannungen freilegt.

Carol lernt den Arzt Will Kennicott kennen, der in der Kleinstadt Gopher Prairie verwurzelt ist. Sie heiratet ihn in der Hoffnung, im neuen Umfeld ihre Vorstellungen von Schönheit, Bildung und Gemeinsinn zu verwirklichen. Der Umzug markiert den Auftakt einer Auseinandersetzung mit alltäglichen Abläufen, Nachbarschaftsritualen und beruflichem Pragmatismus, wie ihn ihr Mann verkörpert. Lewis schildert Carols Übergang vom städtischen Milieu zur ländlichen Gemeinschaft als Prüfstein für Ideale, ohne die Ehe zu dramatisieren. Der Kontrast zwischen romantischer Erwartung und praktischer Realität bildet den Hintergrund für die folgenden Reformversuche und die Konflikte, die daraus erwachsen.

Carols erster Eindruck von Gopher Prairie ist von funktionaler Nützlichkeit und wenig Sinn für Gestaltung geprägt. Die Geselligkeit der Stadt wird von Vereinen, Kirchengemeinden und Handelsinteressen organisiert, was Zugehörigkeit bietet, aber auch Konformität verlangt. Carol beteiligt sich, spürt aber rasch, wie informelle Regeln und Gruppendruck das Verhalten steuern. Freundliche Bekanntschaften wechseln sich mit skeptischer Distanz ab. Die Hauptstraße, stolz präsentiert, wirkt für sie wie ein sichtbares Programm der Gleichförmigkeit. Diese Kluft zwischen bürgerlicher Zufriedenheit und ästhetischem Anspruch ist der Motor ihrer frühen Bemühungen, die über bloße Verschönerung hinausgreifen sollen.

Anfangs setzt Carol auf kleine, konkrete Projekte: ansprechendere Stadtplanung, kulturelle Veranstaltungen, ein lebendigeres Vereinsleben. Sie stößt auf Zustimmung, solange Vorhaben unverbindlich bleiben, und auf Widerstand, sobald Gewohntes in Frage steht. Geschäftsleute, die die Stadt als erfolgreich und tüchtig verstehen, betrachten Kritik als Illoyalität. Moralisch-strenge Stimmen polarisieren zusätzlich. Lewis zeigt, wie Reformideen nicht an Argumenten, sondern an Loyalitätsstrukturen scheitern. Dieser Abschnitt etabliert die Grundspannung des Romans: der Versuch, Werte wie Offenheit und Experimentierfreude in einem Umfeld zu verankern, das Stabilität als höchste Tugend begreift.

Ein zentrales Ereignis ist eine ambitionierte Theateraufführung, die Carol als kulturellen Aufbruch versteht. Was als gemeinschaftsstiftendes Projekt gedacht ist, legt jedoch Empfindlichkeiten frei: Eitelkeiten prallen aufeinander, Missgunst und Spott zirkulieren, Erwartungen an Rollenbilder werden sichtbar. Das Projekt wird so zur Messlatte für die Bereitschaft der Stadt, sich auf Neues einzulassen. Dabei wahrt der Roman eine nüchterne Perspektive: Er verurteilt nicht, er beobachtet. Der Rückschlag markiert einen Wendepunkt, nach dem Carol nüchterner bilanzieren muss, wie viel Veränderung überhaupt möglich ist und wie viel sie selbst zu tolerieren bereit ist.

Carols Alltag verdichtet sich: Haus, gesellschaftliche Verpflichtungen und Mutterschaft bringen neue Bindungen, aber kaum geistige Entlastung. Der weitere zeitgeschichtliche Rahmen verstärkt den Druck zur Anpassung; Patriotismus und Gemeinsinn werden eng geführt, Kritik als Mangel an Loyalität gelesen. Carol erlebt das als Begrenzung ihrer Handlungsspielräume. Sie beginnt, alternative Wege zu prüfen, die außerhalb des vertrauten Umfelds liegen, um Beruflichkeit, Selbstständigkeit und Sinn neu auszuloten. Diese Phase erweitert den Blick des Romans über die Kleinstadt hinaus und fragt, ob Distanz eine Voraussetzung für innere Klarheit oder nur eine weitere Versuchung ist.

Auch die Ehe gerät in ein neues Licht. Will Kennicott agiert pragmatisch und verantwortungsbewusst, misst aber ideellen Anliegen wenig Gewicht bei. Zuneigung und Gegensätze existieren nebeneinander, ohne melodramatisch zu eskalieren. Gleichzeitig tritt ein künstlerisch sensibler Zugezogener auf, dessen Anregungen Carol intellektuell und emotional herausfordern. Was sich anbahnt, ist weniger Skandal als Erkenntnismoment: Carol spürt die Kluft zwischen ihren Sehnsüchten und den gesellschaftlichen Schranken. Lewis nutzt diese Konstellation, um die Grenzen individueller Entfaltung in einem engmaschigen sozialen Gefüge sichtbar zu machen, ohne einfache Lösungen zu liefern.

In späteren Kapiteln prüft Carol die Wirksamkeit unterschiedlicher Strategien: vom großen Umbruch bis zur stillen, ausdauernden Einflussnahme. Die Erfahrung lehrt sie, dass kleinräumige Veränderungen, vermittelt über Allianzen und Geduld, tragfähiger sein können als demonstrative Gesten. Begegnungen mit jüngeren Menschen und Zugezogenen lassen die Möglichkeit einer allmählichen kulturellen Verschiebung aufscheinen. Der Roman deutet an, dass Wandel weniger als Sieg, sondern als Prozess mit Rückschritten zu verstehen ist. Damit verschiebt sich auch Carols Selbstverständnis, das weniger auf Triumph, mehr auf Beharrlichkeit und Urteilskraft setzt.

Die Hauptstraße bleibt am Ende Sinnbild einer dauerhaften, aber nicht monolithischen Ordnung. Lewis’ Roman verbindet Gesellschaftssatire mit psychologischer Genauigkeit und stellt die Frage, wie viel Individualität eine Gemeinschaft zulässt, ohne ihren Zusammenhalt zu verlieren. Die nachhaltige Bedeutung des Buches liegt in dieser Doppelperspektive: Es kritisiert provinziellen Dünkel und würdigt zugleich die Bedürfnisse nach Bindung, Sicherheit und Anerkennung. So wird die Hauptstraße zur Bühne eines vertrauten Konflikts, der weit über Ort und Zeit hinausweist: dem Ringen um ein Leben, das zugleich eigenständig und gemeinschaftsfähig ist.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Sinclair Lewis situierte Die Hauptstraße im fiktiven Gopher Prairie, das unverkennbar an Kleinstädte des oberen Mittleren Westens der USA, insbesondere Minnesota, angelehnt ist. Zeitlich bewegt sich der Roman um 1910 bis in die frühen 1920er Jahre, eine Phase tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche. Dominante Institutionen in solchen Orten waren evangelische Kirchen, lokale Banken, die Stadtverwaltung, Zeitungen, Geschäftsvereinigungen und Frauenklubs. Die Hauptstraße als städtischer Mittelpunkt bündelte Handel, Geselligkeit und Repräsentation. In dieser Kulisse entfaltet der Text seine Analyse von Normendruck, Bürgerstolz und Reformambivalenz, die zeitgenössische Leserinnen und Leser an realen alltäglichen Konflikten wiedererkannten.

Im Hintergund des Romans steht die Progressive Era, ungefähr von den 1890er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg reichend. Kommunale Reformen zielten auf Effizienz, Hygiene, Stadtverschönerung und soziale Fürsorge. In vielen Kleinstädten entstanden „Commercial Clubs“, Bibliotheksvereine und Gesundheitskampagnen. Zugleich stießen diese Initiativen auf Widerstände etablierter Kreise, die Eigenständigkeit und Tradition bedroht sahen. Die Spannung zwischen idealistischem Verbesserungsdrang und pragmatischem Lokalinteresse prägt die Handlung: Die Vision einer modernisierten, kulturell lebendigen Kleinstadt gerät in Konflikt mit den Routinen und Loyalitäten der bestehenden kommunalen Netzwerke.

Die Vereinigten Staaten erlebten zwischen 1900 und 1920 eine beschleunigte Urbanisierung; 1920 lebte erstmals eine Mehrheit in Städten. Kleinstädte dienten als Zwischenräume zwischen agrarischer Peripherie und Großstadtzentren. Sie verloren junge Menschen an Metropolen, zugleich wollten sie Attraktivität und Status behaupten. Diese demografische Verschiebung erzeugte Identitätsdruck: Soll man kosmopolitische Impulse aufnehmen oder das Vertraute bewahren? Der Roman spiegelt diesen Übergang, indem er Sehnsucht nach kultureller Weite mit dem Beharren des Ortes auf Beständigkeit kontrastiert – ein Konflikt, der insbesondere gebildete Frauen und Rückkehrer aus größeren Städten betraf.

Der Erste Weltkrieg markierte einen Einschnitt. Nach dem Kriegseintritt 1917 mobilisierten auch Kleinstädte Ressourcen: Liberty-Loan-Kampagnen, Hilfskomitees und patriotische Feste strukturierten den Alltag. In Bundesstaaten wie Minnesota setzten Loyalitätskommissionen lokale Überwachung und Sprachpolitik durch, was vor allem deutschsprachige Gemeinden traf. Nach Kriegsende kehrten Veteranen zurück und forderten Anerkennung sowie Chancen, während Gedächtniskultur und Ehrenmale das Stadtbild prägten. Diese Atmosphäre verstärkte Konformitätsdruck und Patriotismusrituale, die in der sozialen Kontrolle und im öffentlichen Diskurs Kleinstädte jener Jahre unübersehbar waren und im Roman in Einstellungen und Gesprächen anklingen.

Die Influenza-Pandemie von 1918/19 traf Kleinstädte empfindlich. Provisorische Quarantänen, Schulschließungen und improvisierte Pflege zeigten die Grenzen lokaler Gesundheitsstrukturen. Land- und Kleinstadtärzte arbeiteten am Limit, oft ohne spezialisierte Einrichtungen. Das Ereignis sensibilisierte für Hygiene, kommunale Krankenhäuser und koordinierte Gesundheitsämter – zentrale Anliegen progressiver Reformen. Im Romanumfeld erklärt diese Erfahrung, weshalb medizinische Autorität respektiert, aber auch hinsichtlich moderner Public-Health-Maßnahmen diskutiert wurde. Die Pandemie wirkte zudem auf Vereinsleben und Gottesdienste, die zeitweise ausgesetzt wurden, was die soziale Textur von Orten wie Gopher Prairie vorübergehend auflöste.

Der landesweite Alkoholverbot, ratifiziert im 18. Verfassungszusatz (1919) und mit dem Volstead Act umgesetzt, wurde 1920 wirksam. In Kleinstädten verschwanden Saloons aus dem Straßenbild, doch entstanden neue Grauzonen der Geselligkeit: private Zusammenkünfte, Clubs und inoffizielle Treffpunkte. Kirchen und Temperenzvereine hatten vielerorts den Boden bereitet, während manche Geschäftsleute Einbußen beklagten. Prohibition verschob soziale Orte der Männlichkeit, stärkte teils das Vereinswesen und veränderte die Nutzung der Hauptstraße. Diese Verschiebungen liefern einen Hintergrund für Moralvorstellungen, öffentliche Reputation und die Verhandlungen von Freiheit und Kontrolle, die Lewis’ Kleinstadtgesellschaft prägen.

Das Jahr 1920 brachte mit dem 19. Verfassungszusatz das allgemeine Frauenwahlrecht in den USA. Bereits zuvor hatten Frauenklubs, Bibliotheksvereine und Wohltätigkeitsorganisationen kommunale Reformen geprägt. Der Diskurs um die „New Woman“ – gebildet, berufstätig, öffentlich engagiert – traf in Kleinstädten auf tradierte häusliche Rollen. Im Roman spiegelt sich dieses Spannungsfeld in der Frage, welche Räume Frauen jenseits von Haushalt und Repräsentation besetzen dürfen. Debatten um Stadtverschönerung, Bildung und Kultur boten Frauen Chancen, gleichzeitig stießen sie auf subtile Grenzen, gesetzt von Kirchenvorständen, Geschäftsleuten und informellen Netzwerken.

Die Ausweitung der Konsumkultur veränderte den Alltag. Versandkataloge von Sears, Roebuck oder Montgomery Ward machten standardisierte Waren verfügbar, was lokale Händler unter Konkurrenzdruck setzte. Schaufensterästhetik, Markenwerbung und Ratenzahlung gewannen an Bedeutung. In Kleinstädten galt die Hauptstraße als Bühne des Konsums: Kaufhäuser, Drogerien und Möbelgeschäfte signalisierten Modernität. Der Roman setzt diese Ökonomie der Zeichen gegen Erwartungen an Kultur und Geschmack: Was als Fortschritt gilt – neue Waren, modische Einrichtungen – kann zugleich als Nivellierung wahrgenommen werden. Konsum wird damit zum Indikator für Prestige, aber auch für den Verlust individueller Maßstäbe.

Die Verbreitung des Automobils, vor allem des erschwinglichen Model T (ab 1908), veränderte Raum und Zeit des Kleinstadtlebens. Der Good-Roads-Movement förderte befestigte Straßen; Garagen, Tankstellen und Werkstätten kamen hinzu. Wochenendausflüge verbanden Stadt und Land, während Pendeln neue Handlungsspielräume eröffnete. Die Hauptstraße wurde verkehrsreicher, lauter und kommerzieller. Für den Roman liefert dies ein sichtbares Symbol von Modernisierung, die Bequemlichkeit schafft, aber auch alte Nachbarschaftsstrukturen auflöst. Mobilität ermöglicht Kontakte zu größeren Kulturzentren – und macht die Begrenztheit des örtlichen Angebots deutlicher spürbar.

Medien- und Kommunikationswandel strukturierten ebenfalls den Kontext. Parteitelefone verbanden Haushalte, trugen aber auch zu öffentlicher Indiskretion bei. Lokale Zeitungen fungierten als Meinungsführer mit starkem Boosterismus – Berichte über Fortschritt, Vereinsfeste, Bauprojekte. Kinos brachten Wochenschauen und Spielfilme, während Rundfunk erst Anfang der 1920er Jahre langsam Verbreitung fand. Diese medialen Kanäle standardisierten Vorstellungen von Stil, Erfolg und Sitte. Im Romanumfeld erklärt dies, wie Klatsch, Leitartikel und Vereinsreden Verhaltensnormen festigen und Reformansätze rahmen: Öffentlichkeit entsteht weniger in Debattenräumen als in kleinteiligen, permanenten Resonanzen.

Religiöse Gemeinden und brüderliche Vereinigungen prägten Werte und Netzwerke. In Minnesota und dem weiteren Mittleren Westen dominierten lutherische, methodistische und presbyterianische Kirchen, oft nach ethnischen Linien organisiert. Freimaurer, Odd Fellows und später Serviceklubs wie Rotary (ab 1905 verbreitet) oder Kiwanis (ab 1915) bündelten lokale Eliten. Diese Institutionen stabilisierten Wohltätigkeit und Geschäftsbeziehungen, setzten aber auch implizite Konformitätsanforderungen. Im Romanhintergrund erklären sie, weshalb abweichende kulturelle Vorschläge als Störung sozialer Harmonie erscheinen konnten: Anerkennung hing davon ab, wie gut man Rituale, Spendenpraxis und Vereinsarbeit beherrschte.

Die ethnische Zusammensetzung vieler Orte im oberen Mittleren Westen speiste sich aus Einwanderung des 19. Jahrhunderts, insbesondere aus Deutschland und Skandinavien. Während des Krieges gewannen Amerikanisierungsprogramme an Gewicht; Deutschunterricht und deutschsprachige Zeitungen gingen zurück. In den frühen 1920er Jahren erstarkten in Teilen der Region nativistische Strömungen, teils auch der wiederauflebende Ku-Klux-Klan, der sich gegen Katholiken, Einwanderer und Minderheiten richtete. Diese Tendenzen rahmen die Haltung mancher Kleinstadtmilieus zu „Fremdem“ – sei es Herkunft, Geschmack oder Lebensstil – und helfen, die im Roman geschilderte Abwehr gegenüber kultureller Differenz historisch einzuordnen.

Ökonomisch erlebte der Agrarsektor während des Krieges hohe Preise, gefolgt von einer scharfen Korrektur 1920/21. Die agrarische Depression belastete Farmbetriebe und damit Absatz und Kreditwesen der Kleinstädte. Lokale Banken gerieten unter Druck, Bauprojekte stockten, während Booster-Rhetorik weiterhin Wachstum versprach. Dieses Auseinanderklaffen von Selbstbild und wirtschaftlicher Realität ist ein wichtiger Hintergrund des Romans: Öffentliche Optimismusformeln überdecken strukturelle Schwächen. Aus dieser Diskrepanz erwachsen Misstrauen gegenüber Reformkosten, Abwehr neuer Steuern und eine Fixierung auf symbolische Fortschrittssignale – etwa Fassadenrenovierungen statt tiefgreifender sozialer Veränderungen.

Professionalisierung prägte Berufe wie Medizin, Recht und Verwaltung. Nach dem Flexner-Report (1910) wurde die medizinische Ausbildung standardisiert; ärztliche Praxis setzte stärker auf Wissenschaft und Hygiene. In Kleinstädten blieben Ärztinnen und Ärzte dennoch Generalisten, die Hausbesuche machten und mit begrenzter Infrastruktur auskamen. Apotheken, Hebammen und kommunale Gesundheitsinitiativen ergänzten das dünne Netz. Im Romanhintergrund erklärt das den Respekt vor Fachautorität, aber auch die Grenzen dessen, was ein einzelner Praktiker bewirken kann. Fragen der öffentlichen Gesundheit, der Finanzierung von Kliniken und der Prävention wurden so zu politisch aufgeladenen Gemeindethemen.

Literarisch steht Lewis’ Werk in einer realistischen und satirischen Tradition, die gesellschaftliche Typen und Milieus seziert. Zeitgenössische Texte wie Sherwood Andersons Winesburg, Ohio (1919) boten ebenfalls kritische Kleinstadtbilder, während die Muckraker zuvor politische und wirtschaftliche Missstände offengelegt hatten. Lewis übertrug journalistische Beobachtungsgabe auf den Roman und nutzte Wiederholung, Kataloge und Dialogrhythmen, um Konformität sichtbar zu machen. Diese Verfahren verankern Die Hauptstraße in einem breiteren kulturellen Projekt: die Entzauberung idealisierter Mittelstandsmythen und die Prüfung, ob „Fortschritt“ kulturell und institutionell mitvollzogen oder nur rhetorisch beschworen wird.

Die Veröffentlichung von Die Hauptstraße erfolgte 1920 bei Harcourt, Brace and Howe. Das Buch wurde rasch zu einem Bestseller und löste landesweite Debatten aus. Kritiker lobten Schärfe und Genauigkeit der Milieuschilderung; in vielen Kleinstädten fühlten sich Leser jedoch angegriffen. Auch in Kreisen um Lewis’ Herkunftsregion gab es heftigen Widerspruch. Die anhaltende Auseinandersetzung um dieses und folgende Werke trug zu Lewis’ literarischer Bedeutung bei; 1930 erhielt er als erster US-Amerikaner den Nobelpreis für Literatur. Die Kontroverse um Die Hauptstraße machte sichtbar, wie stark sich nationale Identität am Bild der Kleinstadt entzündet.

Als zeitgenössischer Kommentar bündelt der Roman Konfliktlinien seiner Epoche: Idealismus versus Interessenpolitik, Frauenemanzipation versus häusliche Norm, kulturelle Weite versus provinzieller Schutzreflex. Er zeigt, wie technischer und ökonomischer Wandel – Automobil, Konsum, Medien – neue Möglichkeiten schafft, aber soziale Erwartungen nur langsam weichen. Indem Lewis Sprache, Rituale und Institutionen kleinstädtischen Lebens präzise erfasst, kritisiert er eine Fortschrittsrhetorik, die ohne Selbstprüfung auskommt. Damit wird Die Hauptstraße zu einer historischen Quelle, die die Mentalität der frühen 1920er Jahre beleuchtet und die fragile Balance zwischen Gemeinschaft und individueller Entfaltung hinterfragt.

Autorenbiografie

Inhaltsverzeichnis

Sinclair Lewis (1885–1951) war ein US-amerikanischer Romancier und Satiriker, dessen Werk die sozialen und kulturellen Spannungen des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts präzise einfing. Als erster US-Amerikaner erhielt er 1930 den Literaturnobelpreis, ausgezeichnet für eine kritische, realistische Darstellung des amerikanischen Lebens. Seine Romane sezieren Konformismus, Geschäftsmentalität und institutionelle Macht mit literarischer Energie und journalistischer Genauigkeit. Aus dem Mittleren Westen stammend, verwandelte er alltägliche Milieus in Spiegel nationaler Selbstbefragung. Lewis verband erzählerische Unterhaltung mit gesellschaftlicher Analyse und prägte damit den Kanon der amerikanischen Literatur ebenso wie öffentliche Debatten über die Werte und Ambivalenzen der modernen Demokratie.

Aufgewachsen in Minnesota, zeigte Lewis früh einen Hang zum Lesen und Schreiben. Er studierte an der Yale University, beteiligte sich am Yale Literary Magazine und sammelte dort erste redaktionelle Erfahrung. 1906 hielt er sich kurz in Upton Sinclairs experimenteller Siedlung Helicon Hall auf, bevor er nach Yale zurückkehrte und 1908 abschloss. In New York arbeitete er anschließend für Zeitschriften und Verlage, was seinen Zugriff auf zeitgenössische Debatten prägte. Literarisch stand er in der Tradition des amerikanischen Realismus; auch die investigative Öffentlichkeit des Progressive Era-Journalismus und europäischer Naturalismus schärften seine Aufmerksamkeit für soziale Strukturen und die Sprache alltäglicher Ideologien.

Seine ersten Romane erschienen im 1910er-Jahrzehnt und halfen, sein Handwerk zu konsolidieren. Our Mr. Wrenn (1914) und The Trail of the Hawk (1915) etablierten Themen individueller Ambition und Alltagsmilieus. Mit The Job (1917) wandte er sich beruflichen Rollen und städtischen Umbrüchen zu; Free Air (1919) verknüpfte Mobilität und Landschaft mit moderner Erfahrung. Parallel schrieb Lewis Reportagen, Kurzprosa und arbeitete als Lektor, wodurch er Stile, Jargons und soziale Typen genau kennenlernte. Diese Frühphase brachte moderaten Erfolg, lieferte jedoch das Fundament für die schonungslose Beobachtungsgabe und die satirische Schärfe seiner späteren, breiter rezipierten Bücher.

Der Durchbruch gelang 1920 mit Main Street, einer pointierten Darstellung kleinstädtischer Normen und Ambivalenzen, die zum Bestseller und zu einem kulturellen Bezugspunkt wurde. Babbitt (1922) schärfte die Analyse des Geschäftslebens und der bürgerlichen Selbstdarstellung; der Protagonistenname ging als Chiffre für Konformismus in den Sprachgebrauch ein. Arrowsmith (1925) untersuchte Wissenschaftsethos und Professionalisierung; die ihm 1926 zugesprochene Pulitzer-Ehrung lehnte Lewis ab. Elmer Gantry (1927) provozierte heftige Kontroversen um religiöse Rhetorik und Macht, während Dodsworth (1929) transatlantische Perspektiven öffnete. In Summe festigten diese Werke seinen Rang als scharfsinnigen Chronisten amerikanischer Institutionen. Zugleich wuchs sein internationales Lesepublikum deutlich.

Mit dem Literaturnobelpreis 1930 wurde Lewis’ internationale Bedeutung bestätigt. In den 1930er- und 1940er-Jahren entwickelte er seine Gesellschaftsanalyse weiter: Ann Vickers (1933) beleuchtete Reformmilieus und Geschlechterrollen; It Can't Happen Here (1935) reflektierte autoritäre Versuchungen; Gideon Planish (1943) und Cass Timberlane (1945) untersuchten Karriere, Moral und Gemeinschaft; Kingsblood Royal (1947) stellte Fragen zu Rasse, Zugehörigkeit und Privileg. Wiederholt unternahm er Vortragsreisen und pflegte regen Austausch mit Öffentlichkeit und Presse. Stilistisch verband er erzählerische Zugänglichkeit mit Reportageblick; die Spannweite reichte von Satire bis gesellschaftsnahem Realismus, stets mit Augenmerk auf Sprache, Statusrituale und Institutionenlogik.

Die spätere Rezeption schwankte: Manche Kritiker sahen Wiederholungen, andere lobten die unverminderte Beobachtungslust. Zahlreiche Bühnen- und Filmadaptionen verbreiteten seine Stoffe weiter, was seine Präsenz im populären Diskurs festigte. Lewis arbeitete beständig, reiste häufig und blieb produktiv, auch wenn literarische Moden wechselten. In seinen letzten Jahren setzte er die Analyse gesellschaftlicher Rollen fort. Er starb 1951 in Rom; sein Roman World So Wide erschien im selben Jahr postum. Rückblickend markiert sein Spätwerk eine Phase der Konsolidierung, in der er Themen variiert, Perspektiven wechselt und die Beziehung zwischen Individuum, Beruf und Gemeinschaft neu akzentuiert.

Sinclair Lewis’ Vermächtnis liegt in der dauerhaften Evidenz seiner gesellschaftlichen Diagnose. Begriffe wie Main Street und Babbitt haben sich als kulturelle Signale für Milieu, Konvention und Selbsttäuschung etabliert. Seine satirische Methode, präzise Typisierung mit dokumentarischem Blick zu verbinden, prägt bis heute Lektüren amerikanischer Moderne. In Studienplänen, literaturkritischen Debatten und politischer Kommentierung werden seine Romane regelmäßig herangezogen, wenn es um Provinzialismus, Kommerz, Moralpolitik und die Verführbarkeit demokratischer Öffentlichkeit geht. Trotz wechselnder Moden bleibt Lewis ein Referenzautor dafür, wie Fiktion gesellschaftliche Selbstprüfung ermöglicht und die blinden Flecken des Alltags sichtbar macht. Seine Figuren bleiben Prüfsteine öffentlicher Rhetorik.

Die Hauptstraße

Hauptinhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebentes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Dreizehnte Kapitel
Vierzehntes Kapitel
Fünfzehntes Kapitel
Sechzehntes Kapitel
Siebzehntes Kapitel
Achtzehntes Kapitel
Neunzehntes Kapitel
Zwanzigstes Kapitel
Einundzwanzigstes Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel
Achtundzwanzigstes Kapitel
Neunundzwanzigstes Kapitel
Dreißigstes Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel
Fünfunddreißigstes Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel

Das ist Amerika – eine Stadt mit wenigen tausend Einwohnern, in einer Gegend mit Weizen und Mais, mit Molkereien und kleinen Wäldchen.

Die Stadt heißt in unserer Erzählung »Gopher Prairie, Minnesota«. Aber ihre Hauptstraße ist die Fortsetzung der Hauptstraße von überall. Die Geschichte wäre die gleiche in Ohio oder Montana, in Kansas oder Kentucky oder Illinois, und nicht sehr anders würde sie oben im York-Staat oder in den Carolina-Bergen erzählt werden.

Die Hauptstraße ist der Gipfel der Zivilisation. Damit dieser Fordwagen vor dem Bon Ton-Laden stehen könne, ist Hannibal in Rom eingedrungen, hat Erasmus im Oxforder Kloster geschrieben. Was Ole Jenson, der Kaufmann, zu Ezra Stowbody, dem Bankier sagt, ist das neue Gesetz für London, Prag und die wilden Inseln des Meeres; was immer Ezra nicht weiß und nicht billigt, das ist Ketzerei, nicht wert gewußt, und sündhaft gedacht zu werden.

Unser Stationsgebäude ist die höchste Errungenschaft der Architektur. Sam Clarks jährlicher Eisenumsatz ist ein Gegenstand des Neides für die vier Provinzen, aus denen »Gottes Land« besteht. In der empfindsamen Kunst des Filmpalastes »Rosenknospe« liegt eine Botschaft und streng moralischer Humor.

Dies ist unsere behagliche Tradition und unser sicherer Glaube. Würde sich nicht als widerwärtiger Zyniker erweisen, wer die Hauptstraße anders schilderte oder die Bürger durch Erwägungen darüber verstimmte, ob es etwa auch andere Glauben geben könne?

Erstes Kapitel

Inhaltsverzeichnis

1

Auf einem Hügel am Mississippi, wo vor zwei Menschenaltern noch Chippewas lagerten, stand ein Mädchen vor dem Kornblumenblau des nördlichen Himmels. Sie sah jetzt keine Indianer; sie sah Dampfmühlen und blinkende Fenster von den Wolkenkratzern in Minneapolis und St. Paul. Sie dachte auch nicht an Squaws und Tragstrecken, nicht an die Yankee-Pelzhändler, deren Schatten sie rings umgaben. Sie stellte Betrachtungen an über Nußcrême, über die Theaterstücke von Brieux, sie überlegte, warum man Absätze schief tritt, und dachte daran, daß der Chemielehrer ihre neue Frisur, die ihre Ohren versteckte, angestarrt hatte.

Ein frischer Wind, der über tausend Meilen Weizenlandes herkam, legte ihr Taftkleid in Linien so voll Anmut, so voll Leben und bewegter Schönheit, daß das Herz eines zufälligen Beobachters auf der Straße unter ihr sich sehnsüchtig zusammenzog, als er sie so in schwebender Freiheit sah. Sie streckte die Arme aus, sie lehnte sich gegen den Wind, ihr Kleid warf sich und glitzerte, eine Locke flatterte wild. Ein Mädchen auf einer Bergspitze; gläubig, bildsam, jung; sie trinkt die Luft ein, wie sie sich danach sehnt, das Leben zu trinken. Die ewig wehmütige Komödie erwartungsvoller Jugend.

Es ist Carola Milford, die auf eine Stunde aus dem Blodgett College geflohen ist[1q].

Die Tage des Pioniertums, der Mädchen in großen Radhüten und der auf Fichtenlichtungen mit Äxten getötetenBären sind längst vergessen, und ein rebellisches Mädchen ist der Geist jenes wirren Landes, das der amerikanische Mittelwesten heißt.

2

Das Blodgett College liegt am Rande von Minneapolis. Es ist ein Bollwerk gesunder Religiosität. Es bekämpft noch immer die neuen Ketzereien Voltaires, Darwins und Robert Ingersolls[1]. Fromme Familien in Minnesota, Iowa, Wisconsin und den Dakotas schicken ihre Kinder dorthin, und Blodgett bewahrt sie vor der Verruchtheit der Universitäten. Doch es birgt freundliche Mädchen in sich, junge Männer, die singen, und eine Lehrerin, die wirklich Milton und Carlyle liebt. So waren die vier Jahre, die Carola in Blodgett verbrachte, nicht ganz verloren. Daß die Schule so klein war und daß sie so wenig Rivalinnen hatte, gestattete ihr, mit ihrer gefährlichen Vielseitigkeit Experimente zu machen. Sie spielte Tennis, gab kleine Gesellschaften in ihrer Bude, nahm an einem Theaterseminar für Fortgeschrittene teil, flirtete und trat einem halben Dutzend Gesellschaften bei, welche die Künste pflegten oder eifrig nach einem Etwas jagten, das »Allgemeine Kultur« hieß.

In ihrer Klasse gab es zwei oder drei hübschere Mädchen, aber keine, die eifriger gewesen wäre. Sie hatte außerordentliches Gleichmaß im Lernen und beim Tanzen, obgleich von den dreihundert Studierenden Blodgetts viele gewissenhafter lernten und Dutzende geschmeidiger Boston tanzten. Jede Zelle ihres Körpers war voll Leben – die schmalen Handgelenke, die blühende Haut, die unschuldigen Augen, das schwarze Haar.

Die anderen Mädchen in ihrem Schlafsaal staunten über die Zierlichkeit ihres Leibes, wenn sie sich im Negligé sehen ließ oder naß von der Dusche kam. Sie schien dann nur halb so breit zu sein, als man vermutet hatte. Ein zartes Kind, das mit verständnisvoller Freundlichkeit behandelt werden mußte. »Medium«, flüsterten die Mädchen, und »ätherisch«. Doch so radioaktiv ihreNerven waren, so abenteuerlich ihre vertrauensvolle Hoffnung auf ziemlich unklar erkannte und begriffene Lieblichkeit und Helligkeit, daß sie mehr Energie entwickelte als alle plumpen jungen Weiber mit Waden in grob gerippten Wollstrümpfen unter den züchtigen blauen Turnhosen, die polternd über den Fußboden der Turnhalle galoppierten, um sich für die Basketball-Damenmannschaft Blodgetts zu trainieren.

Selbst wenn sie müde war, beobachteten ihre dunklen Augen. Sie wußte noch nicht, in welch ungeheuerem Maße die Welt gleichgültiger Grausamkeit und hochmütiger Dummheit fähig ist, aber selbst wenn sie diese traurigen Kräfte kennenlernen sollte, auch dann würden ihre Augen nie trotzig oder schwer oder wässerig verliebt werden.

Trotz all ihrem Enthusiasmus, trotz aller Zärtlichkeit und Geselligkeit, deren Mittelpunkt Carola war, empfanden ihre Bekannten Scheu vor ihr. Ob sie glühend Hymnen sang oder freche Streiche ersann, immer schien sie in aller Freundlichkeit Distanz zu bewahren und kritisch zu bleiben. Vielleicht war sie leichtgläubig; eine geborene Heldenverehrerin; und doch fragte und prüfte sie unaufhörlich. Was immer sie auch werden sollte, Gleichgewicht würde sie nie erlangen.

Sie ließ sich von ihrer Vielseitigkeit verführen. Abwechselnd hoffte sie, eine außergewöhnliche Stimme, schauspielerische Begabung, ein Talent zum Klavierspielen, zum Schreiben, zur Schaffung von Organisationen an sich zu entdecken. Immer war sie enttäuscht, aber immer erglühte sie von neuem – beim Anblick der freiwilligen Studentenmission, beim Malen von Dekorationen für den Theaterklub, bei der Inseratenakquisition für die College-Zeitschrift.

Auf ihrer Höhe war sie, wenn sie am Sonntagnachmittag in der Kapelle geigte. Ihre Violine hob das Orgelthema aus der Dämmerung heraus, das Kerzenlicht zeigte sie in einem glatten, goldschimmernden Kleid, den Arm mit dem Bogen gekrümmt, mit ernstem Mund. Alle Männer verliebten sich dann in die Religion und in Carola.

Während des Seniorenjahres überprüfte sie ängstlich alle Experimente und Teilerfolge für einen Beruf. Täglich, auf den Stufen der Bibliothek oder in der Halle des Hauptgebäudes, sprachen die Kommilitoninnen über das Thema: »Was sollen wir machen, wenn wir mit dem College fertig sind?« Auch die Mädchen, die wußten, daß sie heiraten würden, taten so, als stellten sie Betrachtungen über wichtige Geschäftsstellungen an; auch die, welche wußten, daß sie zu arbeiten haben würden, machten Andeutungen über fabelhafte Verehrer. Carola selbst war Waise; ihre einzige nähere Verwandte, eine lavendelduftende Schwester, hatte einen Optiker in St. Paul geheiratet. Sie besaß nicht mehr viel von dem Geld, das ihr Vater ihr hinterlassen hatte. Sie war nicht verliebt – das heißt, nicht oft, und kein einziges Mal lange. Sie mußte sich ihren Lebensunterhalt verdienen.

Aber wie sie ihn verdienen, wie sie die Welt erobern sollte – fast ausschließlich zum Besten der Welt – das begriff sie nicht. Die meisten der Mädchen, die nicht verlobt waren, wollten Lehrerinnen werden. Von diesen gab es zwei Arten: leichtsinnige junge Weiber, die kein Hehl daraus machten, daß sie vorhätten, »den ekelhaften Klassen und den schmutzigen Kindern« den Rücken zu kehren, sobald sie eine Möglichkeit zum Heiraten sähen; und die fleißigen Mädchen, häufig mit knolligen Stirnen und hervorquellenden Augen, die während der Gebetsandachten Gott baten, »ihre Füße auf die Pfade größter Nützlichkeit zu lenken«. Keine dieser Arten lockte Carola. Die ersten schienen ihr unaufrichtig zu sein (um diese Zeit eines ihrer Lieblingsworte). Von den ernsthaften Jungfrauen, dachte sie, sei zu erwarten, daß sie in ihrem Glauben an Satzanalysen im Cäsar ebenso Schlechtes wie Gutes tun könnten.

Während des Seniorenjahres beschloß Carola endgültig: einmal Jus zu studieren, einmal Filmmanuskripte zu schreiben, Krankenschwester zu werden oder einen nebelhaften Helden zu heiraten.

Dann wurde die Soziologie ihr Steckenpferd.

Der Soziologielehrer war neu. Er war verheiratet unddaher tabu, aber er kam aus Boston, er hatte unter Dichtern, Sozialisten, Juden und umstürzlerischen Millionären im Universitätsviertel New Yorks gelebt, und er hatte einen schönen, weißen, starken Hals. Er führte seine kichernde Klasse durch die Gefängnisse, Armenpflegeanstalten und Arbeitsnachweisämter von Minneapolis und St. Paul. Carola ging am Ende des Zuges, voll Empörung über die verletzende Neugier der anderen, über die Art, wie sie die Armen anglotzten, als wären sie in einem zoologischen Garten. Sie kam sich als große Befreierin vor.

Ein Klassenkamerad namens Stewart Snyder, ein tüchtiger, schwerfälliger junger Mann in blauem Flanellhemd, mit verschossener Krawatte und der grünvioletten Jahrgangskappe, knurrte, während er mit ihr hinter den anderen durch den Schmutz der Viehhöfe St. Pauls stapfte: »Diese College-Hammel gehen mir auf die Nerven. Sie sind so aufgeblasen. Die hätten auf dem Land arbeiten sollen wie ich. Die Arbeiter dort stecken sie alle ein.«

»Ich hab' gewöhnliche Arbeiter rasend gern«, rief Carola glühend.

»Nur dürfen Sie nicht vergessen, daß gewöhnliche Arbeiter sich nicht für gewöhnlich halten.«

»Sie haben recht! Ich bitte um Entschuldigung!« Carolas Augenbrauen hoben sich in der Überraschung ihres Gefühls in glorreicher Selbsterniedrigung. Ihre Augen bemutterten die Welt. Stewart Snyder starrte sie an. Er bohrte seine großen roten Fäuste in die Taschen, er riß sie wieder heraus, er wurde sie entschlossen los, indem er die Hände auf dem Rücken verschränkte und stammelte:

»Ich weiß. Sie haben ein Auge für die Menschen. Die meisten von den verdammten Kommilitoninnen – Hören Sie, Carola, Sie könnten eine ganze Menge für die Menschen tun.«

»Wie?«

»Ach – also, ja – Sie wissen schon – Mitgefühl und so – wenn Sie – sagen wir, Sie wären die Frau eines Rechtsanwalts. Sie würden seine Klienten verstehen.Ich werde Rechtsanwalt. Ich muß zugeben, bei mir hapert's mit dem Mitgefühl manchmal. Ich werd' so ekelhaft ungeduldig mit Leuten, die sich nichts sagen lassen wollen. Sie wären gut für einen Menschen, der zu ernst ist. Sie würden ihn – ihn – Sie verstehen – mitfühlender machen!«

Seine etwas aufgeworfenen Lippen, seine Hundeaugen bettelten, sie solle ihn bitten, weiterzusprechen. Sie floh vor der Dampfwalze seines Gefühls. Sie rief: »Ach, sehen Sie die armen Schafe – Millionen und Millionen Schafe.« Sie lief davon.

Stewart war nicht interessant. Er hatte keinen wohlgeformten weißen Hals, er hatte nie unter berühmten Reformern gelebt. Sie wünschte sich, eben jetzt, eine Zelle in einem Stiftungshaus zu haben, wie eine Nonne ohne unbequeme schwarze Kutte, freundlich zu sein, Bernard Shaw zu lesen und eine Schar dankbarer Armer kolossal zu bessern.

In ihrer soziologischen Lektüre stieß sie auf ein Buch über Dorfverschönerung – Bäumepflanzen, ländliche Feste, Mädchenklubs. Darin waren Bilder von Rasenplätzen und Gartenmauern in Frankreich, Neu-England und Pennsylvanien. Achtlos, mit einem leichten Gähnen hatte sie es aufgenommen. – Als die Drei-Uhr-Glocke sie zur Vorlesung über englische Geschichte rief, hatte sie es zur Hälfte durchflogen.

Sie seufzte: »Das will ich nach dem College tun! Ich werde mich über eine von diesen Präriestädten hermachen und sie verschönern. Inspirieren und anfeuern. Dazu müßt' ich wohl Lehrerin werden – aber nicht so eine Lehrerin. Ich werde nicht faulenzen. Warum soll man denn nur in Long Island Gartenvorstädte haben? Kein Mensch hat mit den häßlichen Städten hier im Nordwesten etwas angefangen, abgesehen von Wiedererweckungsversammlungen und Bibliotheken mit Kitschbüchern. Ich werde die Leute dazu bringen, daß sie grüne Dorfplätze anlegen, reizende Häuschen und eine hübsche Hauptstraße bauen.«

So kam sie triumphierend durch die Stunde, dem typischenBlodgett-Kampf zwischen einem langweiligen Lehrer und widerstrebenden Kindern von zwanzig Jahren, in dem der Lehrer siegte, weil seine Gegner auf seine Fragen antworten mußten, während er ihren gefährlichen Fragen begegnen konnte, indem er sich erkundigte: »Haben Sie sich das in der Bibliothek angesehen? Also, wie wär's damit!«

Der Geschichtslehrer war ein pensionierter Geistlicher. Heute war er sarkastisch. Er fragte den flotten jungen Herrn Charlie Holmberg: »Nun, Charles, dürfte ich Sie vielleicht in Ihrer zweifellos faszinierenden Jagd auf diese boshafte Fliege stören, um Sie zu ersuchen, uns zu sagen, daß Sie nicht das geringste von König Johann wissen?« Drei köstliche Minuten lang konstatierte er, daß tatsächlich niemand das genaue Jahr der Magna Charta kannte.

Carola hörte ihn nicht. Sie stellte das Dach eines Fachwerk-Rathauses fertig. Sie war in dem Präriedorf auf einen Mann gestoßen, der ihr Ideal von gewundenen Straßen und Laubengängen nicht zu schätzen wußte, aber sie hatte den Stadtrat einberufen und einen prachtvollen Sieg davongetragen.

3

Obgleich Carola in Minnesota geboren war, wußte sie nicht viel von den Präriedörfern. Ihr Vater, ein lächelnder, etwas schäbig aussehender, gelehrsamer und freundlich scherzender Mann, stammte aus Massachusetts und war während ihrer Kindheit Richter in Mankato gewesen, das keine Präriestadt, sondern mit seinen von Gärten eingesäumten Straßen und Ulmenanlagen ein wiedergeborenes weiß-grünes Neu-England ist. Mankato liegt zwischen Felsen und dem Minnesota River, hart an der Traverse des Sioux, wo die ersten Ansiedler Verträge mit den Indianern machten und Viehdiebe einst auf der Flucht vor wie besessen reitenden Polizeitruppen vorübergaloppierten.

Wenn Carola an den Ufern des dunklen Flusses umherstieg,lauschte sie seinen Märchen von dem großen Land der gelben Wasser und gebleichten Büffelknochen im Westen; von den Flußniederungen im Süden mit den singenden Negern und den Palmen, wohin er, ewig rätselhaft, glitt; und sie hörte die aufgeregten Glocken der Flußdampfer wieder, die vor sechzig Jahren auf Sandbänke aufgefahren waren. Auf den Verdecks sah sie Missionare, gewerbsmäßige Spieler mit hohen Zylinderhüten und Dakotahäuptlinge mit purpurroten Decken… Fernes Pfeifen in der Nacht, das Echo von Ruderschlägen in den Föhren, ein Schimmer auf schwarzen, gleitenden Wellen.

Carolas Familie kam in ihrem phantasiereichen Leben mit sich allein aus; Weihnachten war eine Feier voll Überraschungen und Zärtlichkeiten, es gab improvisierte vergnügt komische »Maskeraden«. Die Tiere in der Milford'schen Kindermythologie waren nicht scheußliche Nachtwesen, die aus Kammern herausspringen und kleine Mädchen auffressen, sondern freundliche, helläugige Geschöpfe – das Tapp-tapp, das wollig und blau ist und im Badezimmer lebt und schnell läuft, um die kleinen Füßchen zu wärmen; der eiserne Ölofen, der schnurrt und Geschichten weiß; und das Heinzelmännchen, das vor dem Frühstück mit den Kindern spielt, wenn sie, noch während der Vater beim Rasieren die erste Strophe seines Liedes singt, aus dem Bett springen und das Fenster zumachen. Richter Milfords pädagogisches System bestand darin, daß er die Kinder alles lesen ließ, was ihnen in die Hände fiel; und in seiner braunen Bibliothek verschlang Carola Balzac, Rabelais, Thoraux und Max Müller. Er lehrte sie ernsthaft die Buchstaben auf dem Rücken des Lexikons, und wenn höfliche Besucher nach den geistigen Fortschritten der »Kleinen« fragten, hörten sie entsetzt die Kinder eifrig wiederholen: A–And, And–Aus, Aus–Bis, Bis–Cal, Cal–Cha.

Als Carola neun Jahre alt war, starb ihre Mutter. Ihr Vater zog sich aus dem Amt zurück, als sie elf war, und brachte die Familie nach Minneapolis. Dort starb er zwei Jahre später. Ihre ältere Schwester, eine emsigebrave Seele, die immer guten Rat zur Hand hatte, war ihr schon fremd geworden, als sie noch zusammen in einem Haus lebten.

Aus diesen frühen braun-silbernen Tagen bewahrte sich Carola in ihrer Unabhängigkeit von Verwandten die Bereitwilligkeit, anders zu sein als energische, tüchtige Menschen, die keine Bücher kennen; den Trieb, das Hasten zu beobachten und sich darüber zu verwundern, auch wenn sie daran teilnahm. Aber als sie ihre Laufbahn des Städtebauens entdeckte, merkte sie zufrieden, daß es sie jetzt trieb, selbst energisch und tüchtig zu sein.

4

Nach einem Monat hatte Carolas Ehrgeiz nachgelassen. Sie wußte wieder nicht, ob sie Lehrerin werden sollte. Bekümmert dachte sie, sie sei nicht stark genug, das tägliche Einerlei zu ertragen, sie konnte sich nicht vorstellen, wie sie vor grinsenden Kindern stehen und weise und entschlossen tun sollte. Aber der Wunsch, eine schöne Stadt zu schaffen, blieb. Wenn sie auf einen Artikel über kleinstädtische Frauenklubs oder auf die Photographie einer großzügig gebauten Hauptstraße stieß, bekam sie Heimweh, hatte sie das Gefühl, ihrer Arbeit beraubt zu sein.

Der Rat ihres Englisch-Professors brachte sie darauf, in einer Chicagoer Schule Bibliothekswesen zu studieren. Ihre Phantasie formte den neuen Gedanken und malte ihn farbig aus. Sie sah sich, wie sie Kindern zuredete, reizende Märchen zu lesen, jungen Männern half, technische Werke zu finden, wie sie überhöflich zu alten Herren war, die nach Zeitungen stöberten – die Leuchte der Bibliothek, eine Bücherautorität, die man mit Dichtern und Forschern zu Essen einlud, die in einer Gesellschaft erlesener Gelehrter einen Vortrag hielt.

5

Der letzte Empfang des Lehrkörpers vor der Promotion. Noch fünf Tage, und alle waren im Unwetter der Schlußprüfung.

Im Haus des Rektors waren Unmengen von Palmen aufgestellt, so daß man an ein besseres Leichenbestattungsgeschäft denken mußte, und in der Bibliothek mit dem Globus und den Porträts von Whittier und Martha Washington spielte das Studentenorchester »Carmen« und »Butterfly«. Carola war ein wenig berauscht von der Musik und der Abschiedsstimmung. Sie sah die Palmen als Dschungel, die rosa Glocken der elektrischen Lampen als opalisierenden Dunst und die bebrillten Lehrer als Olympier. Beim Anblick der kleinen Mädchen, mit denen sie »immer schon hatte näher bekannt werden wollen«, und der fünf oder sechs jungen Männer, die bereit waren, sich in sie zu verlieben, wurde sie melancholisch.

Mit Stewart Snyder aber machte sie eine Ausnahme. Er war so viel männlicher als die anderen; er wirkte wie ein ruhig warmes Braun, wie die Farbe seines neuen fertig gekauften Anzugs mit den wattierten Schultern. Sie saß mit ihm auf einem Haufen rektoraler Überschuhe im Garderobenverschlag unter der Treppe, mit zwei Tassen Kaffee und Hühnerpastetchen, und als die Musik dünn hereinsickerte, flüsterte Stewart:

»Ich kann es nicht aushalten, dieses Auseinandergehen nach vier Jahren! Den glücklichsten Jahren des Lebens.«

Sie glaubte es. »Oh, ich weiß! Zu denken, daß wir schon in wenigen Tagen Abschied nehmen und nie wieder einen von den Leuten hier wiedersehen werden!«

»Carola, Sie müssen mich anhören! Sie weichen immer aus, wenn ich ernst mit Ihnen reden will, aber Sie müssen mich anhören. Ich werde ein großer Anwalt werden, oder vielleicht auch Richter, und ich brauch' Sie, und ich würde Sie beschützen –«

Sein Arm schlüpfte hinter ihre Schulter. Die schmeichelnde Musik lähmte ihren Willen. Sie sagte ein wenig traurig: »Würden Sie achtgeben auf mich?« Sie faßte seine Hand an. Die war warm, fest.

»Und ob! Wir würden, Herrgott, wir würden's großartig haben in Yankton, wo ich mich niederlassen werde –«

»Aber ich möchte etwas mit dem Leben anfangen.«

»Gibt es denn was Schöneres, als ein Haus behaglich zu machen, prächtige Kinder aufzuziehen und nette, gemütliche Leute zu kennen?«

»Natürlich. Ich weiß. Das wird schon so sein. Wirklich, ich hab' Kinder gern. Aber es gibt ja so viel Frauen, die im Haus arbeiten können. Ich aber – also, wenn man schon im College gewesen ist, muß man es auch der Welt zugute kommen lassen.«

»Ich weiß, aber Sie können's ja ebensogut im Haus verwenden. Und, herrje, Carola, stellen Sie sich doch nur vor, wenn wir mit 'ner Gesellschaft ein Autopicknick machen, an einem hübschen Frühlingsabend.«

»Ja.«

»Und Schlittenfahren im Winter, und Angelngehen –«

Trara! Das Orchester hatte den »Soldatenchor« begonnen. Sie protestierte: »Nein! Nein! Sie sind ein lieber Kerl, aber ich möcht' was tun. Ich versteh' mich selber nicht, aber ich möchte – alles auf der ganzen Welt! Vielleicht kann ich nicht singen oder schreiben, aber ich weiß, als Bibliothekarin kann ich's zu etwas bringen. Stellen Sie sich nur vor, wenn ich einem kleinen Jungen helfe und er dann ein großer Künstler wird! Ich will! Ich will's tun! Lieber Stewart, ich könnte mich nie damit abfinden, nichts weiter zu tun, als Geschirr zu waschen!«

Zwei Minuten später – zwei schwindelnde Minuten – wurden sie von einem verlegenen Paar gestört, das gleichfalls die idyllische Abgeschiedenheit des Garderobenverschlags suchte.

Nach der Promotion sah sie Stewart Snyder nie wieder. Sie schrieb ihm wöchentlich einmal – einen Monat lang.

6

Ein Jahr war Carola in Chicago. Das Studium des Bücherkatalogisierens, des Registrierens, der Nachschlagewerke war leicht und nicht allzu einschläfernd. Sie schwelgte in der Gesellschaft der Kunstfreunde, bei Symphonie-, Violin- und Kammermusikkonzerten, im Theater und bei antiken Tänzen. Fast hätte sie die Bibliothekslaufbahnaufgegeben, um eine der jungen Frauen zu werden, die in leichten Nesselgewändern im Mondschein tanzen. Sie wurde zu einem richtigen Atelierfest mitgenommen, mit Bier, Zigaretten, kurzgeschnittenen Haaren und einer russischen Jüdin, welche die Internationale sang. Man kann nicht behaupten, daß Carola bei den Bohemiens etwas Bedeutsames zu sagen gehabt hätte. Sie war unbeholfen bei ihnen, kam sich unwissend vor und war entsetzt über die freien Manieren, nach denen sie sich jahrelang gesehnt hatte. Aber sie hörte Gespräche, die sie im Gedächtnis behielt, Diskussionen über Freud, Romain Rolland, über den Syndikalismus, die Confédération Générale du Travail[2], Feminismus contra Haremismus, über chinesische Lyrik, Nationalisierung von Bergwerken, Christian Science und das Fischen im Ontariosee.

Sie ging nach Hause, und das war der Anfang und das Ende ihres Bohemienlebens gewesen.

Ein entfernter Vetter von Carolas Schwager lebte in Winetka und lud sie einmal zum Sonntagsessen ein. Sie ging durch Wilmette und Evanston zurück, entdeckte neue Formen der Vorstadtarchitektur und entsann sich ihres Wunsches, Dörfer zu verschönern. Sie kam zu dem Schluß, daß sie die Bibliotheksarbeit aufgeben und, dank einem Wunder, dessen Natur ihr nicht sehr klar war, eine Präriestadt in eine Ansiedlung mit Häusern im Kolonialstil und japanischen Bungalows umwandeln würde.

Am nächsten Tag hatte sie im Bibliothekskurs über die Verwendung des Ergänzungskatalogs zu sprechen und wurde von der Diskussion so gepackt, daß sie ihr Städtebauen aufgab – und im Herbst war sie in der städtischen Bibliothek St. Pauls.

7

In der St. Pauler Bibliothek war Carola nicht unglücklich und nicht selig. Sie gestand sich zögernd ein, daß sie keinen sichtbaren Einfluß auf Menschen gewann. Anfangs legte sie in ihren Verkehr mit den Kunden eine Bereitwilligkeit, die Welten bewegen sollte. Aber von diesenfesten Welten wollten so wenige bewegt werden. Wenn sie im Zeitschriftensaal Dienst hatte, fragten die Leser nicht nach Anregungen für schöngeistige Essays. Sie knurrten: »Ich möcht' die Lederwarenzeitschrift vom letzten Februar.« Wenn sie Bücher ausgab, war die Hauptfrage: »Können Sie mir eine gute, leichte, spannende Liebesgeschichte empfehlen? Mein Mann verreist auf eine Woche.«

Niemals hatte sie das Gefühl, zu leben.

Während ihrer dreijährigen Bibliotheksarbeit zeigten einige Männer eifriges Interesse für sie – der Börsendisponent einer Pelzfirma, ein Lehrer, ein Zeitungsreporter und ein kleiner Eisenbahnbeamter. Keiner von diesen beschäftigte sie mit mehr als einem Gedanken. Monatelang hob sich kein männliches Wesen aus der Menge ab. Dann lernte sie bei den Marburys Herrn Will Kennicott kennen.

Zweites Kapitel

Inhaltsverzeichnis

1

Eine schwache, melancholische und einsame Carola war es, die zum Sonntagabendessen bei der Familie Johnson Marbury trabte. Frau Marbury war eine Nachbarin und Freundin von Carolas Schwester; Herr Marbury war Reisevertreter einer Versicherungsgesellschaft. Ihre Spezialität war ein Schnellimbiß aus belegten Broten, Salat und Kaffee, und Carola galt bei ihnen als Vertreterin der Literatur und Kunst. Sie war die einzige, auf deren Urteil man sich verlassen konnte, wenn man eine neue Caruso-Platte[3] bekam, oder wenn Herr Marbury seiner Frau eine chinesische Lampe aus San Franzisko mitbrachte. Carola fand, daß die Marburys sie bewunderten, und fand sie daher bewundernswert.

An diesem Sonntagabend im September hatte sie ein Tüllkleid auf blaßrosa an. Ein Nachmittagsschläfchenhatte die schwachen Müdigkeitslinien um ihre Augen ausgelöscht. Sie war jung, unbefangen, von der kühlen Luft ein wenig erregt. Sie warf ihren Mantel auf den Stuhl im Vorzimmer und stürzte in das grüne Plüschwohnzimmer. Die Familiengruppe versuchte Konversation zu machen. Sie sah Herrn Marbury, die Turnlehrerin einer Hochschule, einen höheren Büroangestellten der Great Northern Railway, einen jungen Rechtsanwalt. Aber es war auch ein Fremder da, ein großer starker Mann von sechs- oder siebenunddreißig Jahren, mit schwerem braunen Haar, befehlsgewohntem Mund, Augen, die gutmütig alles verfolgten, und Kleidern, auf die man sich nicht ganz besinnen konnte.

Herr Marbury rief laut: »Carola, kommen Sie her, ich muß Sie mit Doktor Kennicott bekannt machen – Doktor Will Kennicott aus Gopher Prairie. Er macht die Untersuchungen für unsere Versicherung in den Walddistrikten dort oben und soll ein glänzender Arzt sein!«

Als Carola auf den Fremden zuging und irgendeine Redensart murmelte, fiel ihr ein, daß Gopher Prairie eine Stadt mit etwas über dreitausend Einwohnern in den Weizenprärien Minnesotas sei.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, erklärte Dr. Kennicott. Seine Hand war stark, die Handfläche weich, der Rücken derb, mit goldenen Härchen auf der festen roten Haut.

Er sah sie an, als ob sie eine angenehme Überraschung wäre. Sie machte ihre Hand frei und sagte unsicher: »Ich muß in die Küche gehen und Frau Marbury helfen.« Sie sprach mit ihm erst wieder, als sie die Brötchen aufgeröstet und die Papierservietten herumgereicht hatte, und Herr Marbury sie einfing, indem er rief: »Ach, hören Sie jetzt auf, herumzutrödeln. Kommen Sie her, setzen Sie sich nieder und erzählen Sie uns was.« Er drängte sie auf ein Sofa zu Dr. Kennicott, der einen etwas unsicheren Ausdruck in den Augen hatte, wie wenn er nicht wüßte, was man jetzt von ihm erwartete. Als der Hausherr sich von ihm entfernte, wurde Kennicott munter:

»Marbury sagt mir, Sie sind ein Großmogul in derstädtischen Bibliothek. Das hat mich überrascht. Ich kann mir nicht vorstellen, daß Sie alt genug dazu sind. Ich dachte, Sie wären noch ein Mädel, vielleicht noch im College.«

»Ach, ich bin schrecklich alt. Bald werd' ich mich schminken müssen und jeden Morgen ein graues Haar finden.«

»Hu! Sie müssen schrecklich alt sein – wahrscheinlich schon zu alt, um meine Enkelin zu sein! – Wie gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«

»Sie ist angenehm, aber manchmal komme ich mir so vom Leben abgeschnitten vor – die Eisenregale und die ewigen Papiere, die über und über mit roten Stempeln verschmiert sind.«

»Wird Ihnen die Stadt nicht zuwider?«

»Sankt Paul? Wieso, gefällt es Ihnen nicht? Ich kenne keine hübschere Aussicht als von der Summit Avenue über die untere Stadt auf die Mississippiklippen und die Hochlandfarmen am anderen Ufer.«

»Ich weiß, aber – Ich hab' natürlich neun Jahre in den Zwillingsstädten gelebt – ich hab' meinen Doktor dort an der Universität gemacht und war als Assistent an einem Krankenhaus in Minneapolis, aber doch, na ja, man lernt die Leute hier nie so kennen wie dort oben bei mir zu Hause. Ich weiß, daß ich in Gopher Prairie was zu sagen habe, aber denken Sie an eine große Stadt von zwei- bis dreihunderttausend Einwohnern, dort bin ich doch nichts weiter als eine Fliege, die einem Hund auf dem Rücken sitzt. Und dann hab' ich die Fahrten über Land gern und das Jagen im Herbst. Kennen Sie Gopher Prairie überhaupt?«

»Nein, aber ich habe gehört, daß es eine hübsche Stadt ist.«

»Hübsch? Sagen Sie ehrlich – Natürlich kann ich ein Vorurteil haben, aber ich hab' schrecklich viele Städte gesehen, ich war einmal in Atlantic City – beim Jahreskongreß der Medizinischen Gesellschaft, und ich war eine Woche wirklich in New York! Aber ich hab' nie eine Stadt gesehen, die so rührige und tüchtige Leute hatwie Gopher Prairie. Bresnahan – Sie wissen, der berühmte Autofabrikant, der stammt aus Gopher Prairie. Dort geboren und aufgewachsen! Und es ist eine verdammt hübsche Stadt. Eine Menge schöne Ahornbäume, und dann sind dort zwei von den hübschesten Seen, die es gibt, ganz in der Nähe der Stadt! Und wir haben auch schon sieben Meilen zementierte Wege und bauen jeden Tag noch mehr! Eine Menge von den Städten haben noch immer ihre Bohlenwege, aber wir nicht, klar!«

»Wirklich?«

(Warum mußte sie an Stewart Snyder denken?)

»Gopher Prairie wird eine große Zukunft haben. Eine von den besten Molkerei- und Weizengegenden im Staat liegt ganz nah – ein Teil davon wird jetzt schon zu Eins fünfzig für den Morgen verkauft, und in zehn Jahren wird's bestimmt auf Zweieinviertel hinaufgehen!«

»Wie – Haben Sie Ihren Beruf gern?«

»Es gibt nichts Schöneres. Man kommt hinaus und kann doch mal zur Abwechslung im Büro bummeln.«

»Ich meine es nicht so. Ich meine – es ist so eine Gelegenheit für Mitgefühl.«

Dr. Kennicott polterte: »Ach, diese Bauern brauchen kein Mitgefühl. Alles, was sie brauchen, ist ein Bad und eine gute Dosis Bittersalz.«

Carola zuckte wohl zusammen, denn er sagte sofort eifrig:

»Was ich meine – ich will nicht, daß Sie denken, ich bin einer von den alten Bittersalz- und Chininverzapfern, aber ich meine: so viele von meinen Patienten sind handfeste Bauern, daß ich wahrscheinlich ein bißchen unempfindlich werd'.«

»Mir scheint, ein Arzt könnte eine ganze Ansiedlung ändern, wenn er wollte – wenn er es sähe. Er ist gewöhnlich der einzige Mann in der ganzen Gegend, der eine wissenschaftliche Erziehung hat, nicht wahr?«

»Ja, das stimmt schon, aber ich glaub', die meisten von uns rosten ein. Es kommt immer auf die alte Leier mit Entbindungen, Typhus und gebrochenen Beinen hinaus.Was wir brauchen, ist eine Frau wie Sie, die uns zusetzen würde.Siekönnten aus der Stadt was machen.«

»Nein, ich könnte nicht. Ich bin zu oberflächlich. Aber komisch, ich hab' früher gerade daran gedacht, jetzt scheine ich aber von der Idee abgekommen zu sein. Ja, ich wäre die richtige, Ihnen Predigten zu halten!«

»Doch! Gerade Sie sind's. Sie können denken und haben trotzdem Ihren weiblichen Reiz nicht verloren. Sagen Sie, meinen Sie nicht, daß eine Menge von den Frauen, die sich für alle diese Bewegungen einsetzen und so weiter, die sich aufopfern –«

Nach seinen Auslassungen über Frauenrechtlerinnen fragte er sie plötzlich nach persönlichen Dingen. Seine Freundlichkeit und Festigkeit nahmen sie gefangen, und sie ließ ihn als Menschen gelten, der ein Recht darauf hatte, zu wissen, was sie zu denken und anzuziehen, zu essen und zu lesen pflegte. Er war etwas Positives. Er war aus einem unbestimmt umrissenen Fremden ein Freund geworden, dessen Geplauder etwas Neues und Wichtiges war. Sie bemerkte, wie gesund und kräftig seine Brust war. Seine Nase, die zuerst unregelmäßig und groß schien, war mit einem Male männlich.

Aus dieser beschaulichen Behaglichkeit wurde sie aufgeschreckt, als Marbury auf sie losstürzte und in aller Öffentlichkeit brüllte: »Sagt mal, was denkt ihr beide denn, was macht ihr denn da? Wahrsagen oder Flirten? Lassen Sie sich von mir warnen, Carola, der Doktor ist ein eingeschworener Junggeselle. Kommt jetzt, Herrschaften, bewegt mal die Beine. Wir wollen was hören oder tanzen oder irgend was Nettes machen.«

Sie hatte bis zum Abschied keine Gelegenheit, mit Dr. Kennicott zu sprechen.

»Es ist mir ein großes Vergnügen gewesen, Sie kennenzulernen, Fräulein Milford. Kann ich Sie mal sehen, wenn ich wieder in die Stadt komme? Ich bin ziemlich oft hier – Patienten ins Krankenhaus bringen und so weiter.«

»Ja, aber –«

»Wo wohnen Sie?«

»Sie können Herrn Marbury fragen, wenn Sie wieder hier sind – wenn Sie's wirklich wissen wollen!«

»Wissen wollen? Sie werden schon sehen!«

2

Von der Liebe Carolas und Will Kennicotts ist wenig zu erzählen, was nicht an jedem Sommerabend in jeder dunklen Straße gehört werden könnte.

Sie hatten einander ehrlich gern – sie waren beide ehrliche Menschen. Es enttäuschte sie, daß er so am Geldverdienen hing, sie war aber überzeugt, daß er seine Patienten nicht belüge und mit den medizinischen Zeitschriften Schritt halte. Was mehr als ihre Sympathie erweckte, war seine Jungenhaftigkeit auf ihren Wanderungen.

Sie gingen von St. Paul den Fluß entlang nach Mendota, Kennicott in Mütze und weichem Seidenhemd elastischer aussehend, Carola mit einer Pudelmütze aus weichem Samt, in einem blauen Sergekleid mit einem übertrieben, aber gefällig breiten umgelegten Leinenkragen, mit zierlichen Fesseln über derben Schuhen. Die High Bridge überquert den Mississippi, von einem niedrigen Ufer zu einer Klippenreihe ansteigend. Carola lehnte sich über das Geländer der Brücke; in köstlicher eingebildeter Angst schrie sie, es schwindle ihr vor der Tiefe; und es war eine besonders angenehme Befriedigung, einen starken Mann bei sich zu haben, der sie zurückriß in Sicherheit, und nicht eine logische Lehrerin oder Bibliothekarin, die keifte: »Aber, wenn Sie Angst haben, warum gehen Sie dann nicht vom Geländer weg?«

Von den Felsen auf der anderen Flußseite sahen Carola und Kennicott auf St. Paul und seine Hügel zurück – ein herrlich geschwungener Bogen von der Kuppel der Kathedrale bis zur Kuppel des Staatskapitols.

Die Flußstraße führte an felsigen Abhängen, tiefen Schluchten, an Wäldern, die jetzt im September flammten, vorbei nach Mendota: weiße Mauern und ein Turm zwischen Bäumen, an einem Hügel gelegen, eine alte Weltin stillem Frieden. Und für dieses neue Land ist der Ort auch wirklich alt. Hier steht das trotzige Steinhaus, das General Sibley, der König der Pelzhändler, im Jahre 1835 erbaut hat. Es wirkt, als wäre es Jahrhunderte alt. In seinen ruhigen Zimmern fanden Carola und Kennicott Bilder aus den früheren Tagen, die das Haus gesehen hatte – blaue Schwalbenschwanzröcke, schwerfällige Red-River-Wagen mit kostbaren Pelzladungen, Unionsoldaten mit Backenbärten, mit Käppis und Säbeln.

Das bedeutete für sie gemeinsame amerikanische Vergangenheit, und es war denkwürdig, weil sie es zusammen entdeckt hatten. Sie sprachen vertraulicher, persönlicher, als sie weiterwanderten. Sie überschritten den Minnesota River in einer Ruderfähre. Sie stiegen den Hügel zu dem runden Steinturm von Fort Snelling hinauf. Sie sahen den Zusammenfluß des Mississippi und des Minnesota und gedachten der Männer, die vor achtzig Jahren hierhergekommen waren – neu-englische Holzfäller, York-Händler, Soldaten von den Maryland-Bergen.

»Es ist ein gutes Land, und ich bin stolz darauf. Machen wir daraus, was diese Alten sich erträumt haben«, sagte der sonst unsentimentale Kennicott.

»Ja!«

»Kommen Sie. Kommen Sie nach Gopher Prairie. Zeigen Sie uns was. Machen Sie die Stadt – also – machen Sie sie künstlerisch. Sie ist kolossal hübsch. Aber ich geb' zu, wir sind nicht gerade künstlerisch. Wahrscheinlich sieht der Holzhof nicht aus wie ein griechischer Tempel. Aber gehen Sie ran. Lassen Sie's uns ändern!«

»Das würde ich gern tun. Später!«

»Jetzt! Gopher Prairie wird Ihnen gefallen. Wir haben in den letzten Jahren alles mögliche mit Rasen und Gärten gemacht, und es ist so gemütlich – die großen Bäume und – und die besten Leute von der Welt. Und tüchtig. Sicher hat Luke Dawson –«

Carola hörte nur halb auf die Namen. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie je wichtig für sie werden sollten.

»Sicher hat Luke Dawson mehr Geld als die meisten von den Protzen in der Summit Avenue; und Fräulein Sherwinvon der Hochschule ist ein richtiges Wunder – die liest Lateinisch, wie ich Englisch; und Sam Clark, der Eisenhändler, der ist blendend – es gibt keinen Menschen im Staat, mit dem man besser jagen könnte; und wenn Sie Bildung haben wollen, da ist außer Vida Sherwin Reverend Warren da, der Kongregationalisten-Prediger, und Professor Mott, der Schulinspektor, und Guy Pollock, der Anwalt – es heißt, der schreibt richtige Gedichte, und – und Raymie Wutherspoon, der ist auch kein Trottel, wenn man ihn mal wirklich kennt, und er singt fabelhaft. Und – und da ist noch eine ganze Menge anderer. Lym Cass. Nur hat natürlich keiner von denen Ihre – Kultur, wie man sagen könnte. Kommen Sie! Wir sind bereit, uns von Ihnen führen zu lassen!«

Sie saßen am Ufer unter der Tablettmauer der alten Festung, ganz unbeobachtet. Er legte seinen Arm um ihre Schulter; müde nach dem Spaziergang, ein wenig fröstelnd, sich seiner Wärme und Kraft bewußt, lehnte sie sich behaglich an ihn.

»Sie wissen, daß ich in Sie verliebt bin, Carola!«

Sie antwortete nicht, aber sie berührte den Rücken seiner Hand mit forschendem Finger.

»Sie sagen, ich bin so lausig materialistisch. Wie kann ich anders werden, wenn ich Sie nicht hab', um aufgerüttelt zu werden?«

Sie antwortete nicht. Sie konnte nicht denken.

»Sie sagen, ein Arzt könnte eine Stadt heilen, wie er einen Menschen heilt. Also, heilen Sie die Stadt von allen Schmerzen, wenn sie überhaupt welche hat, und ich will Ihr medizinisches Besteck sein.«

Sie faßte seine Worte nicht auf, sie hörte nur die Entschlossenheit darin.

Sie war entsetzt, aufgeregt, als er sie auf die Wange küßte und rief: »Es hat keinen Sinn, zu reden und zu reden und zu reden. Sagen Ihnen meine Arme nichts – jetzt?«

»Ach, bitte, bitte!« Sie überlegte, ob sie böse sein sollte, aber der Gedanke huschte vorüber, und sie merkte, daß sie weinte.

Dann saßen sie sechs Zoll voneinander entfernt und taten, als wären sie nie näher aneinander gewesen, während sie versuchte, sachlich zu sein:

»Ich würde gern – ich würde Gopher Prairie gern sehen.«

»Auf mich können Sie sich verlassen! Da ist es! Ich hab' ein paar Aufnahmen mitgebracht, um sie Ihnen zu zeigen.«