Das kurze Leben der Sophie Scholl - Hermann Vinke - E-Book

Das kurze Leben der Sophie Scholl E-Book

Hermann Vinke

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Beschreibung

Am 22. Februar 1943 wurde die einundzwanzigjährige Sophie Scholl gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und dem Mitstreiter Christoph Probst im Münchner Gefängnis Stadelheim hingerichtet. Sie war Mitglied der "Weißen Rose", einer Studentengruppe, die mit Flugblättern zum Widerstand gegen Hitler aufgerufen hatte. Hermann Vinke beschreibt ihr Leben vor und während des Widerstands der "Weißen Rose" in Form von Berichten, Dokumenten, Zeugenaussagen, Briefen und Fotos. Ein seltenes und erschütterndes Dokument über ein mutiges Mädchen in einer unheilvollen Zeit:Sophie Scholl interessierte sich kaum für politische Fragen, wurde aber aufgrund ihres nazikritischen Elternhauses trotzdem zur Widerstandskämpferin. In einer menschenfeindlichen Gesellschaft kämpfte sie mit großem Mut und Einsatz für ihre eigenen Ansichten und Ziele. Dadurch wurde sie zu einem unvergessenen Vorbild, auch für Jugendliche der heutigen Zeit.Hermann Vinke beschreibt das Leben dieser außergewöhnlichen jungen Frau, indem er ihre eigenen Aufzeichnungen mit Erinnerungen und Auszügen aus Briefen sowie dem historischen Hintergrund des Nationalsozialismus kombiniert.

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Seitenzahl: 187

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2014Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 1987 Ravensburger Verlag GmbH, D-88194 Ravensburg © Fotos und Zeichnungen: Georg J. Wittenstein und Inge Aicher-SchollUmschlagillustration: Heinrich Paravicini und Jens Schmidt unter Verwendung eines Fotos von Georg J. Wittenstein Zu diesem Titel gibt es Materialien zur Unterrichtspraxis.Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbHISBN 978-3-473-38047-3www.ravensburger.de

Inhalt

Ein Buch nur über Sophie Scholl?

Leben in der Natur, in großen Wohnungen, im Klassenzimmer

Leben unter dem Hakenkreuz

Im Zug, im Hörsaal, im Hinterhof – Leben mit der Angst.

Leben im Gefängnis.

Überleben, Weiterleben.

Gespräch mit der Schriftstellerin Ilse Aichinger über Sophie Scholl

Autoreninformation

Ein Buch nur über Sophie Scholl?

Kann man über Sophie Scholl allein überhaupt schreiben? Gehören die Geschwister Hans und Sophie Scholl nicht zusammen? So fragten einige, als ich Mitte vergangenen Jahres mit der Arbeit an diesem Buch begann. Die Antwort fiel zu Anfang nicht ganz leicht. Sophie Scholl ist mit ihrem Bruder aufgewachsen. Sie liebte ihn, wie man einen Bruder nur lieben kann. Sie studierte mit ihm in München und schloss sich der von ihm gegründeten Widerstandsgruppe, der WEISSENROSE, an. Gemeinsam bekämpften die Geschwister Scholl mit Flugblättern aus dem Untergrund die Hitler-Diktatur, gemeinsam mussten sie im Februar 1943 ihren Widerstand mit dem Leben bezahlen.

Dennoch ist ein Buch allein über Sophie Scholl gerechtfertigt: Sie war trotz aller Zuneigung, die sie für ihren Bruder Hans empfand, ein sehr selbstständiger Mensch. Wenn sie etwas kennzeichnet, dann die Eigenständigkeit im Denken und Handeln, schon in ihren Mädchenjahren. Ihre vielen Briefe und Tagebuchaufzeichnungen* – einige werden in diesem Buch wiedergegeben – belegen dies. Ob es Beschreibungen der Natur oder des eigenen Zustandes sind, sie vermitteln eine Tiefe, die beim Leser Distanz kaum noch zulässt. Wie vertraut mir Sophie Scholl wurde, stellte ich zu meiner eigenen Überraschung daran fest, dass ich gelegentlich – wie ihre Schwester Inge Aicher-Scholl – von »der Sophie« sprach.

Inge Aicher-Scholl – sie und ihre Schwester Elisabeth sind die Überlebenden der fünf Geschwister Scholl – erzählt in diesem Buch wichtige Abschnitte im Leben von Sophie Scholl. Als ältestes von fünf Kindern des Bürgermeisters Robert Scholl hat sie das Schicksal der beiden Geschwister Sophie und Hans aus unmittelbarer Nähe miterlebt und miterlitten. Der jüngste Bruder Werner kehrte im Zweiten Weltkrieg nicht von der Ostfront in Russland zurück.

Inge Aicher-Scholl bewohnt auch nach dem Tod ihres Mannes, dem Grafik-Designer Otl Aicher, die Rotismühle. Rotis liegt im baden-württembergischen Allgäu, in einer landschaftlich schönen und vom Lärm der Straßen und Fabriken noch unberührten Gegend. Dort hat Otl Aicher Anfang der siebziger Jahre die Rotismühle, eine verfallene, ehemalige Getreide- und Sägemühle, um- und ausgebaut und durch etliche Gebäude erweitert, die die ursprüngliche Mühle wie grafische Elemente umgeben.

In der Rotismühle habe ich mit Inge Aicher-Scholl über Sophie Scholl gesprochen. Zunächst war nur ein längeres Interview vorgesehen. Aber das Gespräch zog sich über Stunden hin und dauerte schließlich mit Unterbrechungen alles in allem etwa zweieinhalb Tage. Für Inge Aicher-Scholl, die heute 62 Jahre alt ist, war das Zurückholen der Vergangenheit ein schmerzhafter Prozess. Die Jahre des Dritten Reichs haben für sie nichts von ihren Schrecken verloren, auch wenn sie selber nicht unmittelbar zur WEISSENROSE gehörte. Aber mehr noch als die anderen Geschwister hat sie die Gefahren gespürt, die der ganzen Familie drohten. Um ihre Angst zu erklären, muss man daran erinnern, dass von 1933 bis 1945 viele Menschen in der Situation von Geiseln waren, ohnmächtig der Willkür eines Diktators und seiner Handlanger ausgeliefert. Diese Handlanger kamen meistens frühmorgens in langen schwarzen Ledermänteln, der »Uniform« der Geheimen Staatspolizei. Auch bei der Familie Scholl in Ulm klingelten sie, und Inge Aicher-Scholl wurde dreimal mit abgeführt.

Wir haben unser Gespräch in der Rotismühle an einigen Stellen abgebrochen, um am nächsten Tag einen Neuanfang zu finden. Inge Aicher-Scholl musste die Schatten der eigenen Vergangenheit überwinden, um dieses Buch möglich zu machen. Sie hat jede Phase seiner Entstehung mitvollzogen. Den Satz, dass Handeln Überwindung von Angst bedeutet, habe ich bei ihr immer wieder bestätigt gefunden.

Gemeinsam mit ihrer Schwester Elisabeth hat Inge Aicher-Scholl Kontakte zu Freunden und Freundinnen der hingerichteten Schwester hergestellt. Sie erzählen bisher unbekannte Episoden aus dem Leben von Sophie Scholl. Auch der Freund von Sophie Scholl, Fritz Hartnagel, hat sich – wenn auch zögernd – bereit erklärt, Fragen über seine Beziehung zu ihr zu beantworten. Ihm sind auch die in diesem Buch enthaltenen, bisher unveröffentlichten Briefe von Sophie Scholl an ihn zu verdanken. Fotos und Zeichnungen stammen aus dem Privatbesitz von Inge Aicher-Scholl und werden hier zum größten Teil erstmals veröffentlicht.

Das, was dabei entstand, ist keine Biografie im herkömmlichen Sinne, sondern eine Beschreibung von Lebensstationen in Form von collagehaft zusammengefügten Berichten, Dokumenten, Briefen, Zeugenaussagen und Fotos.

Hamburg, im April 1980

Hermann Vinke

*  Die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen von Sophie und Hans Scholl wurden in einem Sammelband von Inge Jens herausgegeben.

Leben in der Natur, in großen Wohnungen, im Klassenzimmer

»Ich drücke

mein Gesicht

an seine

dunkle

warme

Rinde …«

»Nur die Bäume waren unsere Zuschauer«

Auf dem Tisch in dem mit hellem Holz getäfelten Wohnraum der Rotismühle liegt ein kleines Fotoalbum mit Bildern von Sophie Scholl und ihren Geschwistern. Es sind Schwarzweißabzüge auf Hochglanzpapier. Die Aufnahmen wollen so wenig zu den Fotos passen, die bislang von Sophie Scholl veröffentlicht wurden. Ein fröhliches, schön geschnittenes, fast jungenhaftes Gesicht. Wir, das sind Inge Aicher-Scholl und ich, sprechen über die Kindheit in Forchtenberg am Kocher. Dort, im heutigen Baden-Württemberg, wurde am 9. Mai 1921 Sophie Scholl geboren. Dort verbrachte sie im Kreis ihrer Geschwister, Inge, geboren 1917, Hans, 1918, Elisabeth, 1920, und Werner, 1922, ihre ersten sieben Lebensjahre. Für einen Augenblick gibt sich Inge Aicher-Scholl, die Schwester, einer bitteren Wehmut hin. »Wer ahnt so etwas, was aus Kindern einmal wird«, sagt sie mit leiser Stimme. Dann berichtet sie über die Kinderjahre in der Kleinstadt im Kochertal. In ihrer Erzählung entsteht fast eine heile Welt. Aber angesichts der heutigen Umweltzerstörung dürfte das Forchtenberg der zwanziger Jahre für Kinder mit einem wohl behüteten Elternhaus tatsächlich ein kleines Paradies gewesen sein.

»Die Umgebung von Forchtenberg war unbeschreiblich schön. Weinberge und dichte Mischwälder mit Buchen und Tannen umgrenzten das Städtchen. In diesen Wäldern verbrachten wir Stunden und manchmal ganze Tage. Wir suchten nach Beeren und Pilzen und machten Schnitzeljagden. An eine Stelle erinnere ich mich noch ganz genau. Einer verwitterten Burgruine schloss sich ein buckliger Pfarrgarten an, der mit seinen vielerlei Bäumen einem Park glich. Ein idealer Platz zum Theaterspielen. Immer wieder fiel uns etwas Neues ein, das wir ausprobierten. Theateraufführungen ohne Publikum. Nur die Bäume waren unsere Zuschauer.

(von links nach rechts) Werner, Sophie und Elisabeth Scholl, um 1932

An den Weinbergen waren Steinriegel angelegt, die wie Bänder von unten nach oben liefen. Wahrscheinlich haben Weinbauern die Steine im Laufe der Jahrhunderte zusammengelesen und damit die Anbauflächen unterteilt. In diesen Steinriegeln wuchs und wucherte alles an Pflanzen und Sträuchern, was zwischen den Rebstöcken nicht wachsen durfte: Holunder und Schlehen, kleine Buchen und Tannen. Wir benutzten die Steinplatten, um uns ganze Wohnungen einzurichten. Je nach Form und Größe benutzten wir die Brocken als Tisch, Stühle und sogar als Klavier. Alles in dieser Umgebung wurde zum Gegenstand. Kleine Steine waren Kirschen, größere bildeten Schüsseln. Und wenn wir ein Jahr später unsere Spielplätze wieder aufsuchten, war alles mit Moos bewachsen. Wir besaßen plötzlich ganze Häuser mit Moosdecken und Moosteppichen, dichtes grünes Moos, das man anfassen konnte.

Sophie Scholl, ebenfalls um 1932

In der Gruppe der Geschwister und Freundinnen war ich die Älteste. Sophie gehörte zu den Jüngeren. Sie hatte zu meinem jüngsten Bruder Werner eine besonders enge Beziehung. Beide waren fast wie Zwillinge. Ich sehe sie noch Hand in Hand barfuß da entlangtrippeln. Als wir Älteren, Hans, Elisabeth und ich, schon in die Schule gingen, blieben Sophie und Werner sozusagen übrig.

Der Kocher, in dem man heute kaum noch baden kann, war in den zwanziger Jahren ein völlig sauberer Fluss. In der Nähe von Forchtenberg gab es im Kocher ein Wehr, das uns Kinder besonders anzog. Auf dem Wehr sonnten wir uns und ließen das Wasser an uns vorbeiplätschern. Dort habe ich Sophie das Schwimmen beigebracht. Wir haben gar nicht lange geübt. Eines Tages – Sophie war noch keine sechs Jahre alt – sind wir zum ersten Mal gemeinsam durch den Kocher geschwommen. Das war für sie ein ungeheures Erlebnis und für die damalige Zeit keine Selbstverständlichkeit, denn die Schulen ermöglichten den Kindern keinen Schwimmunterricht.

Sophie genoss das Schwimmen bald sehr. Sie hatte überhaupt einen starken Zug zum Wasser. Wann immer ein Bach oder Tümpel in der Nähe war, zog sie Schuhe und Strümpfe aus und watete barfuß hindurch. Dem konnte sie einfach nicht widerstehen. Und Gelegenheiten, durch Wasser zu waten, gab es genug. Weil es in Forchtenberg mit der Kanalisation schlecht bestellt war, gab es im Frühjahr oft Überschwemmungen. Was den Erwachsenen große Sorgen bereitete, bedeutete für uns Kinder ein unersetzliches Vergnügen.

Mein Vater kaufte uns Stelzen, und auf den Stelzen überquerten wir die überfluteten Straßen – stolz wie kleine Könige, die ein Stück Land hinzugewonnen hatten.«

Die Eltern: Fortschritt und soziales Engagement in konservativer Umgebung

Robert Scholl, der Vater, war in Forchtenberg Bürgermeister, eine Tätigkeit, die er vorher schon in Ingersheim an der Jagst ausgeübt hatte. Er war eine beeindruckende Erscheinung – groß von Statur, Zigarren rauchend und mit Schnurrbart –, eine natürliche Autorität, die von den Kindern geachtet wurde. Auch wenn es gelegentlich wie in jeder Familie Tränen gab, war er alles andere als ein Tyrann. Die Kinder durften ihre eigenen Wege gehen. Zusammen mit seiner Frau, der ehemaligen Diakonissenschwester Magdalene Müller, verstand er es, ihnen in einer von Arbeitslosigkeit, Inflation und politischer Gewalt gekennzeichneten Zeit eine Insel der Geborgenheit zu schaffen. Robert Scholl selber stammte aus dem Mainhardter Wald, einer ärmlichen Gegend in Nord-Württemberg. Wegen seiner Begabung hatte er mit Hilfe eines evangelischen Pfarrers eine höhere Schule besuchen können. Im Ersten Weltkrieg gehörte er zu den wenigen Pazifisten, die die allgemeine Kriegsbegeisterung im kaiserlichen Deutschland nicht mitmachten. Er diente stattdessen in einer Sanitätskompanie. Jahre später, als er dann Bürgermeister von Forchtenberg war, versuchte er, einiges von seinen liberalen und fortschrittlichen Vorstellungen durchzusetzen. Inge Aicher-Scholl, die Tochter, über ihre Eltern:

»Die einzige Verbindung zwischen Forchtenberg und der Außenwelt war eine alte gelbe Postkutsche, die die Bewohner unserer Stadt in langer, rumpelnder Fahrt zur nächsten Bahnstation brachte. Mit dieser Weltabgeschiedenheit wollte sich mein Vater nicht abfinden. Gegen mannigfachen Widerstand setzte er durch, dass die Eisenbahn im Kochertal bis Forchtenberg verlängert wurde. Das war seine große kommunale Leistung. Aber darüber hinaus hat er noch einiges für die Stadt und die Bauern und Handwerker in der Umgebung getan. Er ließ eine Turnhalle sowie ein großes Lagerhaus errichten. Das Lagerhaus war ein landwirtschaftliches Gebäude, in dem die Ernte gesammelt werden konnte. Außerdem sorgte er für den Ausbau der Kanalisation und die Ausbesserung der auch durch Hochwasser schwer beschädigten Straßen.

Manche Leute haben seine Leistungen anerkannt und ihn deshalb geschätzt. Aber unter den Bauern und Handwerkern gab es auch viele, die zum Beispiel sagten: ›Eine Kanalisation haben wir bisher nicht gehabt. Wozu brauchen wir sie jetzt?‹ Liberale Gedanken, auf Fortschritt und Veränderung gerichtete Auffassungen, das war für die konservativen Bauern etwas Schlimmes. Das war ein Dorn im Auge mancher Alteingesessenen. Sogar der Pfarrer fuhr eines Tages meinen Vater einmal an, als er sah, dass dieser die Zeitschrift ›Die Menschheit‹ des Sozialhumanisten Friedrich Wilhelm Förster las. Empört raunzte er: ›So etwas lesen Sie?!‹ Manchmal fühlte sich mein Vater wie ein Fremder. Was er nicht konnte und nicht mochte und was eigentlich ein Bürgermeister in einer solchen Gegend können muss, das war: in der Wirtschaft sitzen und mit den Leuten Viertele trinken, denn das Kochertal ist ja ein Weinanbaugebiet. Das tat er nicht, auch später nicht. Ich spürte als Kind genau – und vielleicht ist es Sophie ähnlich ergangen –, dass bestimmte Gruppen gegen meinen Vater waren, dass sie ihn in seiner aufgeschlossenen Welt nicht verstanden. Dieses im negativen Sinn Mittelalterliche empfanden wir deutlich.

Meine Eltern haben sich im Ersten Weltkrieg in einem Lazarett in Ludwigsburg kennen gelernt. Weil mein Vater den Kriegsdienst mit der Waffe ablehnte, musste er für das Rote Kreuz verwundete Soldaten betreuen. In dem Ludwigsburger Lazarett arbeitete meine Mutter als Krankenschwester. Sie war eine fröhliche, den Menschen und dem Leben zugewandte Frau. Später, als Frau des Bürgermeisters, kümmerte sie sich weiter um soziale Belange – nicht weil das sozusagen dazugehörte, sondern weil sie sich zu den Kranken und sozial Schwachen hingezogen fühlte.

Was uns Kinder angeht, so interessierte sie sich für alles, was uns berührte und was wir erlebten. Sie lebte total mit uns. An einem Beispiel will ich deutlich machen, dass sie in ihrer Erziehung eine gewisse konsequente Art besaß. Eines Tages hatte ich Krach mit einer Mitschülerin und meine Mutter gebeten, mit zur Schule zu kommen und diesem Mädchen gehörig die Meinung zu sagen. Sie willigte zunächst ein, begleitete mich zum Schulhof und ging dann, ohne ein Wort zu sagen, weiter. Ich stand dort also allein und begriff schließlich, was sie mir zu verstehen geben wollte: ›In Streitigkeiten anderer soll man sich nicht einmischen. Du musst selber damit fertig werden!‹«

»Mein Vater hat immer große Wohnungen gemietet«

An unserem Gespräch in der Rotismühle nimmt zeitweise auch Otl Aicher teil. Er kennt die Familie Scholl seit seiner Jugend. Nach seiner Meinung hat Robert Scholl für die Kinder eine große Bedeutung gehabt, »weil er ein liberaler Mann war, nicht liberal im Sinne des Großbürgertums oder des Deutschnationalen, sondern im Sinne von Fortschritt und Veränderung«. In dem Gegensatz zwischen dem Bürgermeister und den Einwohnern in Forchtenberg spiegelte sich die Weimarer Zeit wider. »Die politische Gesinnung wurde damals deutlich zur Schau getragen. Man äußerte seine Auffassung, und zwar keineswegs mit großer Vorsicht. Im Gegenteil. Und weil Robert Scholl ein Liberaler war, war auch dessen Gesinnung schnell bekannt.« In der Unterhaltung sind sich Otl Aicher und Inge Aicher-Scholl nicht einig, nach welchem Elternteil sich die Geschwister Hans und Sophie entwickelt haben. Inge Aicher-Scholl ist der Ansicht, dass zwischen ihrem Bruder Hans und der Mutter eine enge seelische Verwandtschaft bestanden habe, dass der Bruder von der Veranlagung her ihr sehr nahe gewesen sei. Otl Aicher widerspricht ihr:

»Ich sehe es ganz anders. Von der Ähnlichkeit her, von der Struktur ihrer Person, vom Charakter glich Sophie eher der Mutter. Schon was die äußere Ähnlichkeit angeht: ihre Augen, ihre Körpergröße – sie war kleiner als Hans –, der Körperbau – sie war ein sportlicher Typ mit fast jungenhaften Zügen –, ihr Verhalten – sie war ein stiller Typ und hat, wie die Mutter, eigentlich wenig geredet. Hans dagegen war impulsiver und lebhafter und glich damit mehr seinem Vater. Auch von der Statur her glichen die beiden einander. Hans war so groß wie sein Vater.«

Bis 1930 konnte sich Robert Scholl als Bürgermeister von Forchtenberg halten. Dann wählten ihn die Einwohner ab. Sie fühlten sich in ihrer mittelalterlichen Ruhe zu sehr aufgestört. Die siebenköpfige Familie zog nach Ludwigsburg, wo Robert Scholl ihr ein neues Zuhause einrichtete.

Ludwigsburg war nur eine Zwischenstation für zwei Jahre. 1932 folgte der Umzug nach Ulm, in die Stadt an der Donau, die sich im Vergleich zu Forchtenberg fast großstädtisch und weltoffen zeigte. Dort machte sich der Vater als Steuer- und Wirtschaftsberater selbstständig. Inge Aicher-Scholl hat die häufigen Umzüge nicht als Belastung empfunden:

»In Forchtenberg besaßen wir eine geräumige Wohnung im Rathaus. In Ludwigsburg mietete mein Vater in der Nähe des Bahnhofs die für eine große Familie erforderlichen Zimmer. Das Gebäude stammte aus der Zeit um die Jahrhundertwende, hatte hohe Räume und einen langen Flur, der vor unserem Schlafzimmer endete.

Mein Vater hat immer große Wohnungen gemietet, auch wenn es uns noch so schlecht ging. Er meinte, jeder müsse sich in der Wohnung bewegen und jedem auch einmal aus dem Weg gehen können. Meine Mutter bügelte diese Großzügigkeit gelegentlich finanziell damit aus, dass sie ein Zimmer vermietete.

Die Ludwigsburger Wohnung hatte auch den Vorteil, dass sie ganz in der Nähe des Jagdschlosses Favorite mit dem dazugehörigen Schlosspark lag. Jeder Einwohner konnte sich einen Schlüssel mieten und für einige Stunden das Gefühl genießen, über ein kleines Schloss mit einem Park zu verfügen.

Freundinnen oder Nachbarskinder zum Geburtstag einzuladen oder einfach mitzubringen, war kein Problem. Nie sagte meine Mutter: ›Aber heute möchte ich hier niemanden sehen, ich habe gerade geputzt.‹ Die anderen Mädchen kamen einfach mit. Meistens gab es auch für sie etwas zu essen, und manchmal durften sie sogar über Nacht bleiben.

In Ulm bekamen wir nach einer Übergangszeit eine schöne große Wohnung am Münsterplatz, die im Laufe der Zeit zu einem beliebten Treffpunkt für alle möglichen Freunde und Bekannten wurde. Durch die hohen Fenster konnten wir direkt auf das Ulmer Münster und auf den Münsterplatz sehen, sodass wir immer im Bilde darüber waren, was dort passierte. Und es passierte immer etwas, und wenn es nur die Tauben waren, die sich über den Pferdemist hermachten.

Sophie Scholl (rechts) mit einem Nachbarskind, Ulm 1932 oder 1933

In solch großen Wohnungen hatten wir alle Möglichkeiten, uns zu beschäftigen. Bücher spielten dabei eine große Rolle, und zwar von frühester Kindheit an. Sophies erste Bücher waren ›Die Wurzelkinder‹, der ›Struwwelpeter‹, die Bilderbibel von Schnorr von Carolsfeld, natürlich Grimms und Hauffs Märchen und – ganz wichtig – das Ludwig-Richter-Buch, ein dickes Sammelsurium von Gedichten, Sprüchen, Märchen und Geschichten, illustriert von Ludwig Richter, das wir alle heiß liebten, auch wenn oder gerade weil manches Gedicht uns rätselhaft unverständlich und faszinierend erschien. Gelegentlich hat uns auch ein Lehrer nachmittags im Freien vorgelesen, zum Beispiel ›Robinson Crusoe‹, ›Rulaman‹ und Heimatgeschichten. Später kamen Gedichte und Prosastücke von Rainer Maria Rilke und Hölderlin und vielen anderen Dichtern hinzu.

Sophie spielte auch gern mit Puppen. Da meine Mutter dieses Kinder-Hobby geradezu kultivierte, konnte sie mit Puppen besonders gut umgehen. In jedem Jahr wurden zu Weihnachten die Puppenstuben neu ausgestattet und neue Puppenkleider genäht. Als Sophie schon etwas älter war, wünschte sie sich zu Weihnachten ein großes Puppenbett mit richtigen Rädern. Sie sagte, später, wenn sie selber ein Kind habe, wolle sie es hineinlegen.«

Schläge mit dem Rohrstock oder Beispiele für das Erwachsenwerden

Schulen waren auch in den Jahren der Weimarer Republik mit ihrer ersten demokratischen Verfassung überwiegend noch Anstalten zur Einübung von Untertanengeist. Lehrer besaßen das Recht, Kinder zu züchtigen, das heißt, ihre körperliche Überlegenheit auszuspielen und sie zu schlagen. Und von diesem Recht machten sie reichlich Gebrauch. Sophie Scholl hat das auch einmal gespürt. Da sie im Elternhaus gelernt hatte zu widersprechen, wenn sie anderer Meinung war, mochte sie sich mit den Ungerechtigkeiten im Schulbetrieb nicht abfinden. Das Lernen selbst bereitete ihr keine Schwierigkeiten, und deshalb blieben ihr auch viele Konflikte erspart. In Forchtenberg und Ludwigsburg absolvierte sie die ersten Grundschuljahre. In Ulm trat Sophie Scholl in die Mädchenoberrealschule ein und bestand im März 1940 die Reifeprüfung, die Voraussetzung zum Besuch einer Universität. Inge Aicher-Scholl schildert Begebenheiten aus der Schulzeit ihrer Schwester. Es sind Beispiele für das Erwachsenwerden von Sophie Scholl:

»In der Forchtenberger Schule gab es noch die Strafe der Tatzen. Dabei schlug der Lehrer mit einem Rohrstock dem Schüler in die flache Hand. Solche Schläge schmerzten empfindlich, und nicht selten schwoll die Handfläche anschließend an. Sophie hat, soweit ich weiß, ein einziges Mal eine Tatze bekommen. Ansonsten brauchte sie in der Schule nicht zu leiden, dafür war sie eine zu gute Schülerin. Das gilt besonders für die Grundschule. Der Wechsel in die Mädchenoberrealschule ging reibungslos vonstatten. Dieser Übergang war für sie deshalb wichtig, weil ihre beiden Schwestern, Elisabeth und ich, diesen Aufstieg bereits geschafft hatten. Die Leistungen der Schüler in den Grundschulen wurden damals nicht nur nach Noten gemessen. Sie drückten sich auch in der Platzierung im Klassenzimmer aus. Wer sich hervortat, rückte nach vorn. Wer in seinen Leistungen nachließ, musste nach hinten rücken. Außerdem enthielt das Zeugnis am Ende eines Schuljahres einen Vermerk über den Sitzplatz. Bei diesem ständigen Versetzen passierte es, dass meine Schwester Elisabeth ausgerechnet an ihrem Geburtstag einen Platz heruntergestuft wurde, wahrscheinlich aus einem ziemlich nebensächlichen Grund. Sophie saß im selben Klassenraum – oft wurden zwei oder drei Jahrgänge von einem Lehrer gemeinsam unterrichtet. Das Zurücksetzen meiner Schwester empörte sie derartig und verletzte ihr Gerechtigkeitsgefühl so sehr, dass sie nach vorn zum Lehrer ging und protestierte: ›Meine Schwester Elisabeth hat heute Geburtstag, die setze ich wieder hinauf!‹ Der Lehrer ließ es geschehen.

Sophie Scholl,

etwa 12 Jahre alt

Sophies Empfinden für Gerechtigkeit war stark ausgeprägt. Es fehlte ihr auch nicht an Mut, sich zur Wehr zu setzen und spontanen Protest anzumelden, wenn jemand ihrer Meinung nach ungerecht behandelt wurde. Auf der anderen Seite war sie ein nach innen gekehrter Mensch, nachdenklich und manchmal beinahe schüchtern. Ein Ereignis, das in ihre Schulzeit in Ulm fällt, verdeutlicht das.

Sophie war damals 14 Jahre alt. Sie unternahm mit ihrer Klasse einen Ausflug ins Blautal, einem Nebenflüsschen der Donau, das an einigen Stellen von steilen Kalkfelsen begrenzt wird. Nicht nur Wasser, auch Felsen und Bäume übten auf sie eine fast magische Anziehungskraft aus. Als ihre Lehrerin gerade etwas erklärte, kletterte sie mit beinahe schlafwandlerischer Sicherheit den steilen Felsen hinauf. Oben angekommen, blickte sie fröhlich nach unten auf ihre Klassenkameradinnen und bemerkte dabei, dass alle wie erstarrt zu ihr hinaufschauten. Jemand anders hätte jetzt vielleicht gerufen: ›Kommt doch rauf!‹ Sie drehte sich jedoch sofort um und kletterte ganz still wieder nach unten. Ihrer Lehrerin musste sie das Versprechen geben, nie wieder auf einen so gefährlichen Felsen zu klettern.

Sophie Scholl,

etwa 15 Jahre alt

Die Reaktion auf das Erschrecken der anderen kennzeichnet Sophie. Diese stille, in sich gekehrte Art bewahrte sie sich. Bei allen möglichen Anlässen sofort losreden und losplatzen, das konnte sie nicht. Sie nahm sich Zeit, etwas zu überdenken. Und wenn sie dann etwas sagte oder aufschrieb, spürte man dieses Nachdenken.«

Sophie Scholl,

etwa 15 Jahre alt

Sie war stolz wie eine Königin

Erwachsenwerden, der Übergang von der Kindheit zur Jugend, das ist im Leben der meisten Menschen eine der schwierigsten Phasen. Viele Mädchen empfinden dabei den Beginn ihrer Periode als wichtigen Einschnitt. Inge Aicher-Scholl spricht darüber ganz ungezwungen. Pubertät und Sexualität waren in ihrem Elternhaus keine Tabus. Trotzdem empfindet sie rückblickend diese Zeit als bedrückend, weniger für ihre Schwester Sophie als für sich selbst: