Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters - Dmitrij Kapitelman - E-Book

Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters E-Book

Dmitrij Kapitelman

4,9

Beschreibung

Bevor Dmitrij Kapitelman und sein Vater nach Israel aufbrechen, beschränkten sich ihre Ausflüge auf das örtliche Kaufland – damals in den Neunzigern, als sie in einem sächsischen Asylbewerberheim wohnten und man die Nazis noch an den Glatzen erkannte. Heute verkauft der Vater Pelmeni und Krimsekt und ist in Deutschland so wenig heimisch wie zuvor in der Ukraine. Vielleicht, denkt sein Sohn, findet er ja im Heiligen Land Klarheit über seine jüdische Identität. Und er selbst – Kontingentflüchtling, halber Jude, ukrainischer Pass – gleich mit. "Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters" ist ein sehnsuchtsvoll-komischer Spaziergang auf einem Minenfeld der Paradoxien. Und die anrührende Liebeserklärung eines Sohnes an seinen Vater.

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Bevor Dmitrij Kapitelman die Idee hat, mit seinem Vater nach Israel zu reisen, waren ihre einzigen gemeinsamen Ausflüge die zum örtlichen Kaufland – das war in den Neunzigern, als sie in einem sächsischen Asylbewerberheim wohnten und man die Nazis noch an den Glatzen erkannte. Inzwischen verkauft der Vater Pelmeni und Krimsekt in einem Russische-Spezialitäten- Laden und ist in Deutschland so wenig heimisch wie zuvor in der Ukraine. Ein Mann mit übervollem Herzen, der behauptet, an nichts zu glauben. Vielleicht, denkt sein Sohn, findet er ja im Heiligen Land eine Heimat – oder ein neues Selbstverständnis in seiner jüdischen Identität. Und was ist mit ihm selbst? Kontingentflüchtling, halber Jude, ukrainischer Pass, in Berlin gelandet. Wohin gehört er eigentlich? Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters ist ein sehnsuchtsvoller und zum Verzweifeln komischer Spaziergang auf einem Minenfeld der Paradoxien. Und die anrührende Liebeserklärung eines Sohnes an seinen Vater.

Hanser Berlin E-Book

Dmitrij Kapitelman

Das Lächeln

meines unsichtbaren

Vaters

Hanser Berlin

Die Veröffentlichung dieses Buches wurde gefördert

durch die Ursula Lachnit-Fixson Stiftung

ISBN 978-3-446-25429-9

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Coverillustration: © Kat Menschik, nach einem

Foto von Alessandra Schellnegger

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm

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Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Mein unsichtbarer Vater und ich

Und plötzlich gibt es keine Frage, die ich meinem Vater dringender stellen möchte. »Papa, warst du eigentlich schon mal in Israel?«

»Nein.«

»Möchtest du denn nach Israel?«

»Ja, das wäre eigentlich gut.«

»Eigentlich gut?«

»Eigentlich gut.«

»Wieso wäre das eigentlich gut?«

»Ich habe dort noch eine Briefmarkensammlung.«

Das Leben meines Vaters ist vom Selbstverständnis geprägt, ein Jude zu sein. So stellt er sich jedenfalls dar. Die entscheidenden Wendungen in seinem Leben führt er darauf zurück. Geht es ihm prächtig, lobt er sein Judenglück. Fängt er sich eine Erkältung ein, beklagt er es. Wenn er Dustin Hoffman als Rain Man (einer von Papas Lieblingsfilmen) brillieren sieht, vergisst er nie mit stolzem Grinsen anzumerken, dass Dustin Hoffman auch ein Jude sei. Mit dem religiösen Judentum hat er dagegen abgeschlossen. Traditionen befolgt er keine. Schweinefleisch isst Papa am liebsten mit Schweinefleischsoße. Allerdings soll sein Begräbnis auf einem jüdischen Friedhof stattfinden.

Was genau es also für meinen nichtreligiösen Vater bedeutet, Jude zu sein, das blieb für mich bis heute unsichtbar.

Die Wahrheit ist: Mein Vater, Leonid Kapitelman, ist unsichtbar. Und deshalb möchte ich nach Israel mit ihm. Weil ich die Vorstellung habe, dass er sich in Israel offenbart.

Und anscheinend hat er dort sogar Besitztümer.

»Eine Briefmarkensammlung?«

»Eine Briefmarkensammlung. Ich habe sie 1993 weggegeben.«

»Es wäre also eigentlich gut, Israel zu besuchen, weil du dort noch eine Briefmarkensammlung hast?«

»Ja.«

»Gibt es denn sonst noch Gründe?«

Mein Vater überlegt.

»Ein Teeservice mit Rubinen habe ich auch noch in Israel.«

»Ein Teeservice mit Rubinen?«

»Es ist ein sehr schönes Service.«

»Ein Teeservice mit Rubinen und eine Briefmarkensammlung. Sonst gibt es keinen Grund für dich, nach Israel zu fahren?«

»Und weil es gut ist, sich mit vielen Juden zu umgeben.«

Zu dem »gut« muss angemerkt werden, dass Papa das Wort polesna verwendet. Wir sprechen russisch miteinander. Die direkte Übersetzung von polesna wäre »heilsam«. Oder »wohltuend«. Es ist also gut/heilsam/wohltuend, sich mit Juden zu umgeben.

»Und wir könnten meine Freunde besuchen. Ich habe sehr viele Freunde in Israel. Sie sind damals aus der Ukraine nach Israel ausgewandert. Ich würde sie sehr gern wiedersehen.«

Beinahe wären wir damals auch nach Israel ausgewandert. Die Visa waren schon bewilligt, die Koffer gepackt. Doch dann kam Deutschland. Die Einreisegenehmigung in die BRD erhielt unsere Familie wiederum nur, weil mein Vater als Jude galt. Wir waren willkommene Wiedergutmachungsjuden. Das war1994, seitdem sind wir hier, dennoch hat Papa Deutschland nie als neue Heimat akzeptiert. Ich glaube, weil er diesem Land den Holocaust nicht verziehen hat. Das sagt er so nicht. Aber wenn ich es ausspreche, verneint er es auch nicht. Oder begnügt sich mit einem säuerlichen »Na ja, das stimmt so nicht unbedingt«. So als würde er versuchen zu versichern, dass ihm das versalzene Essen schmeckt. Während er Löffel um Löffel unter dem Tisch auskippt. Angenommen, ich irre mich und mein Vater hat Deutschland den Holocaust tatsächlich vergeben – vergessen, wie Menschen mit einem Stern unsichtbar gemacht wurden, hat er ganz gewiss nicht. Doch manchmal gibt es Momente, in denen er ganz frei von allem zu sein scheint. Dann erlebe ich plötzlich einen überschwänglichen, irgendwie sozial euphorischen Vater, der jeden Menschen für seinen Freund hält. Aber diese Momente sind sehr selten geworden.

Ich betrachte Papa, wie er hinter der Wursttheke seines Russische-Spezialitäten-Geschäftes in Leipzig steht und etwas ungeschickt in eine Krakauer beißt, so dass sie ihm fast aus dem Kürbiskernbrötchen plumpst. Grau, beim Kauen krümelnd, unkonzentriert, so steht er vor mir, eingetönt in das teilnahmslose Surren der Kühltruhen. Käufer sind gerade keine zugegen, und ohne Kundschaft wirkt Papas »Magazin« zurückgelassen. So ähnlich wie er selbst in Deutschland.

In der Ukraine war das anders, glaube ich. Ja, er hat dieses Land gehasst, weil es ihn wie schon seine Vorfahren schlecht behandelt hat. Es war sein Zuhause, aber keine Heimat. Die akademische Karriere als Mathematiker blieb ihm dort verwehrt, weil das Sowjetsystem keine Juden an der Spitze sehen wollte. Aber soweit ich mich erinnern kann, lebte mein Vater in Kiew ein selbstbestimmteres und erfüllteres Leben. Er winkte Taxis mit Dollarnoten herbei. (Ein Mann mit einem Dollarbündel in der Hand war im Kiew der frühen neunziger Jahre quasi unübersehbar. Aber Papa und die Dollars, das ist noch mal eine eigene Geschichte.) Er zog mit meiner schönen moldawischen Mutter durch die Theater, Restaurants und Kinos der Stadt. Einmal sah ich ihn auf dem größten rinak der Stadt um ein Kilo salo feilschen. Mit kritischer Miene zutschte Papa am Probefetzen Speck und wechselte dann aus dem Russischen, das wir im östlichen Teil Kiews sprachen, ins Ukrainische, die Sprache der einfachen Händler. Um sie wissen zu lassen, dass ihr Fleisch die fünftausend Griwna nicht wert war, die sie dafür verlangten. Die Händler verzogen ihre goldenen Plombengebisse, klammerten sich hilflos an ihre Metzgermesser und jaulten »Batjko, paimij sche sirdze« (Väterchen, hab doch ein Herz). Aber Papa erhandelte unbeirrt seinen Wunschpreis. Das beindruckte mich sehr.

Wenn meine Eltern Freunde einluden, riss Papa Witz um Witz und genoss es sichtlich, im Mittelpunkt zu stehen. Nicht immer verstand ich seine doppelsinnigen Pointen, aber ich sah, dass alle über sie lachten, und war sehr stolz auf Papa. Mit großem Vergnügen schaute ich in die Gesichter unserer Gäste, die meinen Vater erwartungsfroh, gütig und voller Achtung anstrahlten. Und in sein glückliches Gesicht schaute ich, aus dem silbergrüne Augen funkelten, unter seinen lustigen schwarzen Locken, in die ich immer greifen und in denen ich wuscheln wollte. Ich war sieben Jahre alt und wusste nicht, dass es so etwas wie unsichtbare Väter gibt.

In Deutschland geht Papa nicht mal an Silvester vor die Tür. Und wenn doch, dann ist er eigentlich fortwährend damit befasst, die Verpackungen der Raketen aufzusammeln, die meine Mutter zigarettenrauchend abfeuert. Wohlgemerkt vor dem eigenen Haus, damit die Tür, vor die er getreten ist, nicht zu weit aus dem Sichtfeld gerät und der Fluchtweg nicht zu lang wird. Gebückt und mit einem undefinierbaren Grinsen hastet er mit seinem Abfallbeutel von Häufchen zu Häufchen. Die Augen starr auf den Boden geheftet, blind für die Farbströme, die sich ekstatisch am Himmel ergießen. Sein Leben spielt sich ab zwischen dem Magazin und der Wohnung, im Herbst geht er im Wald Pilze suchen – dort, wo ihn auch keiner sieht. Und seit er weiß, dass jeden Montag Legida gegen alles demonstriert, was nicht nach Sauerkraut riecht, meidet er auch die Innenstadt. Warum dieser Rückzug ins Kleine und Enge? Woher all die Verstörtheit, der Kleinmut?

Der von mir meistgeliebte Mensch ist ein Enigma. Es ist sehr schwer, einem Enigma wirklich nahezukommen. Vielleicht ist mein Vater einfach ein irreführender und widersprüchlicher Charakter, der auch unter anderen Umständen nirgends dazugehören würde. Oder er ist unsichtbar geworden, weil das Leben als Jude in der Ukraine und im Ostdeutschland der Neonazis ganz viel von ihm ausgelöscht hat. Ich weiß es nicht. Ich hege lediglich Vermutungen. Ist mein Vater so, wie er ist, weil er ein Jude ist? Oder hält ihn diese Selbstdefinition davon ab, der übersprudelnd warmherzige Allerweltsfreund zu sein, der er eigentlich gern wäre?

Deshalb Israel. Ich sehne mich nach einem unverstellten Blick auf meinen unsichtbaren Vater und hoffe, ihn dort zu bekommen. Und es eilt. Papa verträgt schon die deutsche Hitze schlecht, wogegen er Blutdruck senkende Tabletten einnimmt. Wie soll es erst mit der nahöstlichen Sonne werden? Ich unterschreibe bald vielleicht einen richtigen Redakteursvertrag. Mit festen Bürozeiten und der ganzen reiseverderbenden Pest. Vielleicht bleibt mir nicht mehr viel Zeit, um meinen unsichtbaren Vater zu Gesicht zu bekommen.

Ich freue mich, dass er die Idee »eigentlich gut« findet, auch wenn ich weiß, dass weder das Teeservice noch die Briefmarkensammlung ausschlaggebend dafür sind. Aber was dann? Wie wird Leonid Kapitelman wohl reagieren, wenn er vor der Klagemauer steht? Wenn er weinen darf? Weinen über die Ukraine, die er dafür hasst, dass er sie nie lieben durfte. Weil sie von ihm nicht geliebt werden wollte. In der er aber dennoch zwei Drittel seines Lebens verbrachte. In deren Dnjepr er so viele Sommer badete. Auf deren Hinterhof-Märkten er verbotene ausländische Briefmarken verhökerte, bis sein Vater, David Kapitelman, sie fand – Papa versteckte die heiße Ware ausgerechnet im Parteibuch der Kommunisten – und konfiszierte. Und weinen über Deutschland, das er nie verstanden hat und das ihn vielleicht nie verstehen wird. Deutschland, wo er aufgehört hat, im Sommer zu baden oder mit meiner Mutter ins Kino zu gehen, und wo er den wilden rinak gegen das öde Kaufland eintauschte.Weinen über das Deutschland, das er nicht lieben will. Und dem auch relativ egal ist, ob Leonid Kapitelman noch auf die Idee kommt, es zu lieben.

Jetzt rede ich hier die ganze Zeit über Unsichtbarkeit und stelle mich selbst nicht mal vor. Verzeihung. Mein Name ist Dmitrij Kapitelman. Oder einfach Dima. Ich nehme an, Sie haben bereits bemerkt, dass ich eine besondere Beziehung zu meinem Vater hege. Zu meiner Mutter, Vera Romashkan, übrigens auch. Wir lieben uns bedingungslos, allerdings ist diese bedingungslose Liebe an viele Bedingungen geknüpft. Meine Mutter ist keine Jüdin. Sie wurde im moldawischen Saroki geboren und verheiratete sich irgendwann nach Kiew. Nach religiöser Auslegung bin ich also kein richtiger Jude, nur ein halber, eine Art Mängelexemplar. Denn die Konzession, sich als Jude zu bezeichnen, wird nach mütterlichen Lieferteilen erteilt. Eine Humaninventur-Methodik, die meine Mutter als akkurat akzeptiert: »Du bist ein Halbblüter, Söhnchen. Allerdings muss man meine fünfzig Prozent genau genommen noch mal in verschiedene Bestandteile splitten. Die jüdische Hälfte ist also das Klarste, was du hast.« Ausschließlich väterlicherseits Jude zu sein ist wie eine exklusive und lebenslange Mitgliedschaft in einem Schwimmbad, dessen Becken nie mit Wasser gefüllt ist. Jeden Sommer muss man sich das unsichtbare Wasser denken, was ebenso zermürbend wie unbefriedigend ist. Deshalb beschließe ich in regelmäßigen Abständen, keine Überlegungen mehr über mein jüdisches Erbe anzustellen. Es gibt so viele interessantere Fragen als die eigene Abstammung. Warum habe ich meine Packung Biokiwis nicht gegessen? Und warum wusste ich schon an der Kasse, dass ich sie nicht essen würde? Bin ich eine aufrichtige Person? Wieso bin ich so schwerfällig beim Verlieben? Was ist meine Politik gegenüber Geld? Warum mögen mich Katzen? So Kram.

Jeder Mensch entscheidet selbst darüber, was er sieht, wenn er in den Spiegel schaut. Das habe ich gelernt in meinen achtundzwanzig Jahren. Ich glaube weder an Gott noch an genetischen Determinismus. Erst recht nicht an den ganzen politischen Gruppenschwachsinn, der aus beidem gestrickt wird. Ich habe das Recht, in diesem Land als Erster auf Partys zu tanzen, auf Mannschaftsbildern der Kreuzberg Tigers aufzutauchen und Legida-Idioten »HAUT AB!« entgegenzubrüllen. Bei der letzten Demo entwarf ich sogar einen eigenen Schlachtruf und brüllte den besorgten Bekloppten entgegen: »Ver-saaaa-ger! Ver-saaaa-ger!« Sorry, aber jeder, der Flüchtlinge beneidet, muss ein Versager sein. Die anderen Gegendemonstranten fanden das witzig und stiegen mit ein. Das Wort zugehörig schreibe ich grundsätzlich lieber so: zu gehörig. Ich bin politisch gebildet, unabhängig und selbstbestimmt. Zugegeben: auch sehr verloren und alleingelassen manchmal. Dann fürchte ich, dass ich nicht mal ein halber Unsichtbarer bin, sondern einfach jemand ohne Gestalt. Nicht wissend, wer ich bin, und nirgendwo zu Hause. Schlimmer noch: Nicht wissend, wer oder wo ich gern wäre. Nur gewiss, einen irreparablen Makel in mir zu tragen. Dann tagt mein Inneres Gericht und beschließt: »Falschjude Dmitrij K., eigentlich mit allem und mehr ausgestattet, um glücklich zu sein, wird aufgrund von Eigenverschulden zu einem kläglichen Leben ohne Selbstverständnis verurteilt!«

Papa und ich, wir fahren nach Israel. Ja, und bei dieser Reise geht es auch um mich, um mein unsichtbares Ich.

Sabbathühnchen zum Sonderpreis

Mein Vater und ich sind nie zu zweit verreist, es sei denn, man zählt unsere wöchentlichen Vater-Sohn-Expeditionen vom Asylheim Meerane zum örtlichen Kaufland. Das war im ersten Jahr nach unserer Ausreise, als Mutter wochenlang bei meiner Schwester Tonja im Krankenhaus war; Tonja war kurz nach unserer Ankunft krank geworden. So kam es, dass Papa und ich plötzlich zu zweit in einer sächsischen Kleinstadt lebten und jeden Samstag reduzierten Apfelsaft, reduzierte Geflügelwurst und reduzierte Cini Minis einkaufen gingen. Zuweilen auch preisgesenktes Hühnchen und Nudeln im Vorteilspack, wichtig war Papa vor allem, dass es Sonderangebote waren. Das ist ihm heute noch wichtig. Was kein rotes Schild trug, wurde nicht Teil unseres Besitzes. In gewisser Weise hatte sich Deutschland mit unserer überdurchschnittlich jüdischen Familie die neuen Rothschilds ins Land geholt.

Wir gingen immer zu Fuß, allein der Hinweg beanspruchte eine Stunde. Jeden Sabbat die gleiche Route, die gleichen Sonderangebote, dennoch habe ich unsere Prozession ins Land des Kaufes nie als lästige Nahrungsbeschaffung empfunden. Auch nicht den Rückweg, wenn die Rothschilds ihre Besitztümer keuchend den Berg hoch zum Asylheim schleppten. Denn nur ein Idiot kauft nur ein Schnäppchenhuhn. Es mussten immer gleich drei sein – mindestens. Was, wenn das Angebot nie wieder kommt? Nein, lieber gleich vier Packungen. Dass der Jüngste Tag, an dem die Fundgruben austrocknen und die Preise zu Stein erstarren, nie kam und die Hühnchen jeden Samstag aufs Neue schlagartig an Wert einbüßten – dieser Zufall beeindruckte meinen Vater nur wenig.

Ich war damals acht Jahre alt und liebte unsere gemeinsamen Ausflüge. Papa ließ mich immer spüren, wie gern er mit mir durch diese für uns neuen Straßen in dieser für uns neuen Welt ging. Meerane war ganz anders als Kiew – statt über breite, blinkende und menschenüberflutete Alleen liefen wir plötzlich an Teichen mit Schwänen und einem Schloss vorbei. Statt in einem roten Ziegelsteinhaus lebten wir von einem Tag auf den anderen in einem weißblauen Baucontainer. Am meisten verwirrten mich die sogenannten Autohäuser. Mein neuer Kumpel Arthur, der schon zwei Monate länger im Heim wohnte und etwas Deutsch sprach, erklärte mir, dass diese Orte, wo Autos sinnlos herumstanden, Autohäuser hießen. Wozu brauchten Autos denn Häuser? Sie waren ja nicht mal im Haus, sie standen draußen rum. Und warum waren die Autos in Deutschland so furchtbar teuer? In Kiew musste Papa nur etwas Geld in die Luft halten, und schon hatten wir ein Auto. Hier standen die Taxis tatenlos nebeneinander aufgereiht, mit einem Preisschild hinter der Windschutzscheibe. Dreitausend, fünftausend, zwölftausend Deutschmark – wer zahlt denn so viel Geld, um einmal Auto zu fahren? Nein, das ergab alles keinen Sinn. Beim besten Willen nicht.

Papa nahm mich bei unseren Spaziergängen an die Hand und erklärte mir, weshalb meine Zukunft sich durch unseren Umzug nach Deutschland verbessert hatte. Und warum drei Packungen Milch für je sechzig Pfennig das bessere Geschäft sind als zwei Packungen Milch für insgesamt eins fünfzig – obwohl man dreißig Cent mehr ausgibt. Seine Lehren variierten, je nachdem, ob er gerade das Leben als solches oder das Tagesangebot bei Kaufland bewertete.

Und auf die Gefahr hin, prätentiös zu klingen: Ich bin überzeugt davon, dass mein Vater und ich den Gang zum Kaufland in Meeranes Kontingentflüchtlingsgemeinde erst salonfähig gemacht haben. Penny war viel näher, Norma auch, und Lidl grenzte fast lächerlich praktisch ans Heim. Dennoch kopierten immer mehr Bewohner das Kapitelman’sche Wirtschaftsmodell und nahmen den längeren Weg auf sich.

Leonid Kapitelman ist studierter Mathematiker. Ich habe nie einen Menschen erlebt, bei dem der Glaube an Genauigkeit und die Unfehlbarkeit von Zahlen so friedlich mit heillosem Pragmatismus und Nachlässigkeit vermählt sind wie bei meinem Vater. Sich zweimal zu verrechnen, das ist in seinen Augen dramatisch. Zwei Tage lang in einer verkehrt herum angezogenen Hose durch die Gegend zu laufen – das ist ein »kleines Versäumnis«. Sollte Papa nicht glauben, dass sich das Leben durch Zahlen erschöpfend erklären lässt, so ist er zumindest überzeugt, dass sie es am besten beschreiben. Vielleicht kommt daher auch seine Ablehnung der Religion, deren Auswirkungen auf selbiges nicht messbar sind.

Gut möglich, dass meine Eltern sich in letzter Sekunde für Deutschland statt Israel entschieden haben, weil auch das Visum für die BRD wie ein einmaliges Sonderangebot daherkam. Israel, das war auf jeden Fall vorrätig. Das war sicher. So sicher, dass mein Vater es dreimal »versäumte«, die Papiere für die Ausreise in der israelischen Botschaft in Kiew abzuholen. Obwohl seine mathematische Akribie normalerweise keine überflüssig ausgegebene Griwna zuließ. Nicht unbedingt aus Geiz, vielmehr aus Abscheu vor einer nicht hinreichend kalkulierten Handlung. Wie plausibel ist es, dass ausgerechnet dieser Mann es dreimal »versäumt«, die Zukunft seiner Familie in die Hand zu nehmen? Wollte er im Grunde seines Herzens gar nicht in Israel leben? Oder spekulierte er nur auf ein besseres Angebot?

Weil die akademische Karriere politisch blockiert blieb, arbeitete Papa als Planungsingenieur für das ukrainische Bauministerium. Dort lernte er auch Marik Rewsin, seinen besten Freund, kennen. Aber von Marik möchte ich etwas später erzählen. Er ist einer der Gründe, warum Papa mit mir nach Israel kommt.

Ausgerechnet mein Vater also, der das Sowjetsystem hasste, während das System ihm nicht einmal gönnte, ihn persönlich zurückzuhassen, sondern ihn lediglich als Bestandteil einer ethnisch-religiösen Minderheit diffamierte, sollte dabei helfen, den Sozialismus aufzubauen. Nicht ideologisch, ganz praktisch. Indem Leonid Kapitelman das tat, was er am besten beherrscht: rechnen. Indem er kalkulierte, wie viele Granitplatten, Kabeldrähte und Glasscheiben man benötigte, um etwa ein neues Verwaltungsgebäude zu errichten.

Das Einzige, was Papa am Sowjetsystem schätzte, war dessen Schwäche. Die tausend Möglichkeiten, den blinden Riesen zu sabotieren. Die allgegenwärtige ökonomische Dysfunktionalität erlaubte ihm zu »spekulieren«. So nennt Papa es, wenn man mit Briefmarken handelt, Münzen verhökert oder gefälschte Straßenbahntickets in Umlauf bringt.

»Auf Arbeit zahlten sie mir fünfunddreißig Rubel am Tag. Mit meinen eigenen Geschäften habe ich nebenbei täglich hundertfünfzig verdient. Kapitelman hatte immer Geldvorräte.« Nach sechzehn Dienstjahren hörte er auf, als Ingenieur zu arbeiten. Papa begründet diese Entscheidung bis heute damit, dass er von den Bildschirmen im Büro Augenprobleme bekam. Das ist bestimmt wahr. Ebenso wie seine Feststellung, dass es sinnlos war, für wenig Geld arbeiten zu gehen, wenn man für mehr »spekulieren« konnte. Sein Systemhass hatte letztlich wohl nichts mit der Kündigung zu tun. Der war einfach da, so wie Regen einfach da ist. Wegen Regen kündigt man nicht.

Gemäß seiner ökonomischen Theorie suchte sich Papa in der Folge einen noch blinderen Riesen und begann nach China zu fliegen. Um dann den chronisch unterversorgten Ukrainern alles Mögliche von Batterien bis Angorapullovern zu verhökern. Wenn Papa aus Peking zurückkam, glich unsere Zweiraumwohnung einem chinesischen Lagerhaus. Dann besuchten uns Menschen mit großen Taschen, die Waren verschwanden, Dollar blieben. Papa hatte sich mit eigenen Händen ein prosperierendes Schlupfloch gebuddelt und war, glaube ich, sehr zufrieden mit sich in dieser Zeit. Ahnte aber vermutlich, dass dieses Modell nicht auf Ewigkeit funktionieren würde. Hyperlegal war es jedenfalls nicht. Deshalb nahm mich Papa immer wieder sehr ernst beiseite (so mochte ich ihn am allerwenigsten) und mahnte, dass ich niemandem von China und besonders nicht von unseren Umzugsplänen nach Israel erzählen dürfe. Nicht mal Kostja und auch nicht Rostik. Kostja und Rostik waren meine Freunde, und ich konnte ihnen nichts sagen, obwohl Kostjas Eltern dann noch vor uns mit ihm nach Kanada abgehauen sind. So dass ich gar nicht in Versuchung kam, ihm gegenüber mein Schweigegelübde zu brechen.

Mit Rostik war es schwieriger.

Rostik wohnte in der Wohnung gegenüber, und es gab kaum einen Tag, an dem wir nicht im Hof zusammen gespielt haben. Manchmal brachte uns seine Mutter Natascha mit Zucker bestreute Brote. Irgendwann ging Rostik in den Kindergarten. Ich nicht. Weil Papa den ukrainischen Kindergärten misstraute. Ich hörte ihn sagen, dass mit dem ukrainischen Kindergarten die gesellschaftliche Tortur für jüdische Kinder beginne. Also schlich ich tagelang gelangweilt umher und wartete vor dem Zaun des Kindergartens auf Rostik, damit wir endlich spielen konnten.

Am großen Tag unseres Umzugs sah ich nicht ein, warum ich fahren sollte, ohne mich von Rostik verabschiedet zu haben. Als meine Eltern die letzten Koffer ins Taxi luden, nahm ich Rostik, der alles still und mit blassem Gesicht beobachtete, in den Arm und sprach weltmännisch: »Komm, mein lieber Rostik, wir machen noch einen letzten Spaziergang durch den Hof.« Also liefen wir gemeinsam zu unserem grünen Lieblingsklettergerüst. Als ich zurückkam, riss mich Papa wütend zur Seite: »Dima, ich habe dir doch gesagt, dass du niemandem etwas verraten darfst! Warum erzählst du Rostik, dass wir nach Deutschland fahren?« Ich entschuldigte mich bei Papa, und wir sind mit all unseren Sachen zum Busbahnhof aufgebrochen. Am liebsten würde ich mich noch heute bei Rostik dafür entschuldigen, dass ich ihm nicht viel früher gestanden habe, dass ich bald verschwinden und wir uns niemals wiedersehen würden. In solchen Momenten tut es mir besonders weh, nirgendwo richtig dazuzugehören und keinen einzigen Kindheitsfreund zu haben. Ebenso wie ich mir wünsche, dass wir nie aus der Ukraine weggezogen wären. Ich habe dich nicht vergessen, Rostik. Du mich wahrscheinlich schon.

Recht wahrscheinlich ist auch, dass Deutschland zu Beginn der neunziger Jahre so großzügig mit Einreisegenehmigungen für osteuropäische Juden um sich warf, weil sie durch den Zerfall der Sowjetunion so erschwinglich und massenhaft verfügbar waren wie lange nicht mehr. Und das deutsche Semitensortiment war bekanntlich knapp. »Kontingentsflüchtlinge« – mit dieser Artikelbezeichnung machte der ethnopolitische Unternehmer Deutschland eine neue Warengruppe auf. Mein Vater ergatterte sein Existenzschnäppchen, die BRD bekam Rabatte auf ihre Vergangenheit.

Im Bundestag sprach man damals von »historischer Verantwortung« und der Pflicht, den vom neu aufkeimenden Antisemitismus im Osten Europas bedrohten Juden einen Zufluchtsort zu bieten. Und bei einer Staatsobligation dieser Größenordnung sei es natürlich erforderlich, jegliches bürokratische Klein-Klein über Bord zu werfen. Mittlerweile wird die historische Verantwortung übrigens mithilfe eines detaillierten Fragenkatalogs verwirklicht, bei dem Kapital und Arbeitsplatz in Deutschland mehr zählen als die tatsächliche Aktivität in einer jüdischen Gemeinde.

Für alle, auf denen das Prädikat »Jude« prangte, öffneten sich also in den neunziger Jahren die deutschen Pforten. Und Leonid Kapitelmans Semit-Credibility war absolut makellos: Familienangehörige im KZ verloren. Eltern Rachel und David Kapitelman (Letzterer natürlich Buchhalter) fleißige Synagogengänger. Inoffizieller Schönheitsfehler bei der Sache: Rachel ging nur David zuliebe mit und war so gläubig wie die Strommasten auf dem Weg zum Gebetshaus. Aus ihrem Atheismus hat sie dem kleinen Leonid gegenüber nie einen Hehl gemacht. Die wenigen Geschichten, die mir Papa über seine Mutter erzählt hat, legen den Schluss nahe, dass sie einen ähnlichen an Wahnsinn grenzenden Pragmatismus wie er selbst praktiziert haben muss. Wenn David sie nicht zur Synagoge zwang, ging sie manchmal in den Hof und vergiftete Tauben – wegen der Unart dieser Tiere, Krankheitserreger zu übertragen. Bakterien sind beweisbar, göttlicher Wille nicht, und Rachel Kapitelman war Ärztin und somit Naturwissenschaftlerin.

Über David Kapitelman hat Papa mir fast nichts erzählt. Außer, dass er ein sehr frommer und gläubiger Mann war und im Großen Vaterländischen Krieg kämpfte. Ein Umstand, auf den Papa sehr stolz ist. Opas Abzeichen und Verdienstorden hat er trotzdem verscherbelt. Mir scheint, dass Papa eigentlich sehr gern mehr von seinem Vater erzählen würde. Aber er tut’s nicht. Ich habe meine jüdischen Großeltern leider nie kennengelernt. Als ich zur Welt kam, waren sie bereits tot.

Auch für meine reichlich unjüdische Mutter musste Deutschland die Pforten öffnen. Und meine Halbschwester hat nicht mal einen unsichtbaren Vater auf der Habenseite. Bei ihr war ethnopolitisch also gar nix für die BRD zu holen. Aber wer Verantwortung sagt, muss manchmal auch Nichtjude sagen. Wir alle wurden »aufgenommen«, als eine Art Humangepäck des zweifelsfrei jüdischen Herrn Kapitelman. Weil in Papas Pass als Nationalität »Jude« stand, ebenso wie es in meiner Geburtsurkunde steht.

Ob Leonid Kapitelman gläubig ist, das hat kein Beamter wissen wollen.

Kein Feuer von Abraham

Die Zeit im Asylheim war nicht schlecht. Meine Eltern hatten ihr eigenes Containerzimmer und direkt gegenüber teilten Tonja und ich uns einen Raum. Im Saal spielte immer jemand von den Erwachsenen Karten. Die Tage verflossen gesellig und weich. Neben dem Heim war eine Kuhweide, die meine neuen Freunde und ich gern mal unerlaubterweise bekletterten, um die blöden Viecher zu schubsen. Meerane war kein elendes Flüchtlingsheim voller Menschen, die sich zu Tode verzweifelt und mit nichts als ihrem Lebenswillen über das Mittelmeer gepeinigt hatten. Meerane war ein umfunktioniertes Schloss mit angeschlossenem Baucontainercamp voller Osteuropäer, die sich, über Kapital verfügend, für Deutschland als beste Option unter mehreren entschieden hatten. Die auf der Busfahrt in die BRD zwei Mel-Gibson-Filme geglotzt hatten und denen man erklären musste, dass es nicht die beste Idee ist, im Hugo-Boss-Anzug beim Sozialamt vorstellig zu werden. Mit der Bewachung des Heims war ein unterbeschäftigter Dorfpolizist namens Karsten befasst. Manchmal spielte auch Karsten im Aufenthaltsraum mit uns Karten. Die neue Welt mit dem besseren Leben begann sacht und mit einem russisch-jüdischen Wir-Gefühl.

Dieses Gefühl verflog allerdings schnell, wenn wir uns außerhalb des Heims bewegten. Nach zwei Monaten Sprachkurs wurde ich an eine deutsche Grundschule katapultiert. Als erstes Versuchskaninchen, weil ich mir besonders schnell lustige deutsche Worte wie »so lala« merken konnte.

Den Weg zur deutschen Schule kannte ich bereits sehr gut. Sie lag ungefähr bei der Hälfte der Kauflandstrecke, Papa und ich waren schon oft daran vorbeispaziert. Mit einer gewissen Selbstverständlichkeit begleitete Papa mich also zu meinem ersten deutschen Schultag. Vorbei an dem Teich mit den Schwänen, entlang der völlig widersinnigen Autohäuser, vorbei an den Pennys und Nettos, mit denen Kauflandmänner wie Papa und ich nichts zu tun hatten. Mit der Selbstverständlichkeit war es vorbei, als Papa mir, vor dem Schuleingang stehend, sagte: »Dima, das ist jetzt sehr wichtig. Hör mir ganz genau zu.« Er setzte seine ernste Miene auf. Ich ahnte also schon, dass nun nichts Schönes folgen dürfte.

»Egal, wie es heute läuft. Bilde dir bloß nicht ein, dass die Kinder aus deiner Klasse deine Freunde sind. Das werden sie nie sein. Für die bleibst du immer der Fremde, immer der Ausländer. Genauso wie für deine Lehrer. Von denen brauchst du keine Gerechtigkeit zu erwarten. In diesem Land hasst man die Juden auch, aber man darf es hier nicht so offen zeigen wie in der Ukraine. Du musst doppelt so gut werden wie die anderen. Hörst du? Doppelte Leistung! Das war bei mir auch so. Anders kommen wir nicht voran.«

Ich ging in den Klassenraum und setzte mich an einen Einzeltisch. Bald bekam ich ein Blatt, auf dem Rechenaufgaben standen. Komischerweise in kleine Felder platziert, die zusammengefügt eine Spinne ergaben. Diese Schwarzweiß-Spinne sollte ich scheinbar ausmalen. Ich löste sämtliche Aufgaben innerhalb weniger Minuten und malte anschließend die Spinne aus. Etwas verwundert darüber, was man an deutschen Schulen so alles anstellte. Da ich mir wenig aus Malen machte, saß ich nach fünf Minuten mit korrekt ausgerechneten Matheaufgaben und einem völlig verhunzten Insekt da. Aber Rechnen, das hatte Papa mir längst beigebracht. Er und Lessja Sawelena, meine Privatlehrerin. Papa hatte den ukrainischen Grundschulen misstraut. Jüdische Kinder würden dort ausgegrenzt und unterfordert. Bald kam Frau Hartwig, die Lehrerin, und besah mein korrektes Fehlerwerk, das eigentlich als stundenfüllende Aufgabe gedacht war. Frau Hartwig schaute mich ein wenig entsetzt an und schickte mich anschließend zum Direktor. Der Direktor beschloss, mich am selben Tag in die dritte Klasse zu versetzen. An meinem ersten deutschen Schultag hatte ich Papas Vorgabe also detailgetreu umgesetzt: Ich hatte das Doppelte geleistet und war allein geblieben.

Mit der Zeit gewannen Papas ernste Worte konkrete Gestalt. Die Drittklässler mochten mich auf Anhieb nicht. Alle in der Klasse schwärmten von König der Löwen. Wie lustig Timon und Pumba sind. Mit mir wollte niemand darüber lachen, wie lustig Timon und Pumba sind. Warum nicht? Was war das Ausschlusskriterium der andern Kinder, wenn nicht dieser eine Unterschied? Konnte es wirklich daran liegen, dass ich König der Löwen nicht im einzigen Kino Meeranes, sondern auf einer Raubkopie mit russischer Billigsynchronisation im Asylantenheim geschaut habe? Ich war trotzdem qualifiziert. Ich habe fast jeden Abend König der Löwen geschaut!

Bald liefen meine Mutter und ich zum Elternabend, und sie fragte, ob mir einer meiner Freunde einen Platz freihalte. Ich antwortete wahrheitsgemäß, dass ich keine Freunde in meiner Klasse habe. Sie blieb stehen und schaute mich entsetzt an.

»Du hast keine Freunde in deiner Klasse, Dima?«

»Nein.«

»Nicht einen einzigen?«

»Nein, Mama.«

Ich verstand nicht, was die Fragerei sollte. Meine Freunde waren in der Ukraine. Meine neuen Freunde waren im Heim. In dieser anderen Welt hatte ich keine. Und auch nicht das Gefühl, dass darauf eine realistische Chance bestehe. Im Heim hat man Freunde, in der Schule nicht – so unterteilte ich meine zwei Welten und fand das auch recht plausibel so. Ich war der stinkende Russenjunge, in der Form hatte man mir das mehrmals auf dem Schulhof kommuniziert. Und ehe ich beim Fußballspielen mitmachen dürfe, könne auch gleich eine Kloschüssel mitkicken.

Ich weiß nicht, ob einige der Drittklässler von damals heute in Meerane Busse mit echten Flüchtlingen blockieren und mit Steinen nach Schutzsuchenden werfen. Und ich will auch nicht behaupten, dass sie sich regelmäßig Sachsentickets kaufen und mit der Bahn nach Dresden fahren, um Pegida zu unterstützen. Das wäre unfair. Aber ich werde mir nicht die Lüge abnötigen, dass ich das überraschend fände. Aus Dresden und anderswo weht dieselbe Kälte, die ich schon damals im Meeraner Klassenzimmer spürte.

Nach einem Jahr verließen wir das Heim und zogen in eine Vierraumwohnung im Leipziger Plattenbauviertel Grünau. Papas Euphorie über das neue Leben stieg in ungeahnte Höhen. Wir hatten es geschafft. Ich erinnere mich, wie wir zu Möbel Höffner im Saale-Park fuhren, um uns einzurichten. Papa saß auf dem Beifahrersitz und hielt sich an der Lasche über dem Fenster fest. Im Radio kam ein x-beliebiges Lied, das mit nichts als einer hämmernden Drumkick begann. Boom-Boom-Boom-Boom. Papa wippte mit dem Kopf zu dieser Musik, nahm ihre Energie auf und sah glücklich aus. Ein nickender, wuchernder schwarzer Lockenschopf, aus dem zwei silbergrüne Augen strahlten. So kannte ich Papa aus Kiew. Bereit, bei Möbel Höffner Nachttischlampen für uns alle zu kaufen und ein neues Leben in Deutschland einzurichten. Erst recht, wenn es die Lampen im Sonderangebot gäbe.

Der Grund für Sonderangebote ist bekanntlich selten Nächstenliebe. Wenn man sechs Kilo herabgesetztes Hühnerfleisch kauft, kann es vorkommen, dass die übrig gebliebenen vier Kilo schon am nächsten Tag etwas gammlig riechen. Und so kühlte Papas Begeisterung über unser neues Leben bald spürbar ab. Nun erlebte ich ihn so reizbar wie nie zuvor. Die Ernstmiene, die sein warmes Gesicht so straff und unerkennbar steinig spannte und die ich so ungern an Papa sah, wurde zu seinem Grundausdruck. Trotz Rothschild’schem Lebensstil wurde unsere finanzielle Situation immer prekärer. Doch ich glaube, es war nicht wirklich das Geld oder dessen Mangel, was Papa peinigte. Sondern seine Scham und Abscheu davor, keine Methode kalkulieren zu können, um welches zu verdienen. Kapitelman ohne Vorräte? Ein tiefer Sturz für meinen Vater. Hinter dem finanziellen Engpass fauchte zudem die unbeantwortete Frage, was Papa in Deutschland eigentlich machen sollte. Ihm fehlten Arbeit, Spekulation, wochenlange Streifzüge durch Pekinger Märkte, der süße Geschmack anständiger krummer Geschäfte. Und Unabhängigkeit. Vor allem die. Papa realisierte, dass es leicht ist, ein Land zurückzulassen, eine Existenzform aber nicht.

In den Grünauer Jahren bestanden unsere Vater-Sohn-Ausflüge aus gemeinsamen Runden mit dem Hund. Einmal um die Platte. Nicht so exotisch wie die Kaufland-Kreuzläufe, dafür aber täglich. Nach wie vor nahm Papa mich an die Hand und öffnete den Tresor seiner Überzeugungen. Sie gefielen mir allerdings immer weniger. Doppelte Leistung und »Wir gegen die«-Predigten.

Sobald ich aus der Schule kam, war ich schlagartig mit anderen Sorgen befasst als der Teilnahme an Disneyfilm-Diskursen. Nämlich mit Neonazis. Ich rekapituliere: Die BRD nahm Juden als Zeichen historischer Wiedergutmachung auf, wohlgemerkt unter dem Status »Flüchtlinge«. Fliehen, laut Duden: »sich eilig entfernen, um sich vor einer Gefahr in Sicherheit zu bringen; (vor etwas, jemandem) davonlaufen«. Wir waren also »geflohen«, und zwar in ein ostdeutsches Viertel, in dem jeden Abend Neonazihorden auf Menschenjagd gingen. Das ist keine Übertreibung. Mitte der Neunziger haben die Nazis in Grünau Bürgerkrieg veranstaltet. Reichlich ungestört von der Polizei.

In Kiew hatte ich mit Kostja und Rostik Fangen gespielt. In Grünau floh ich vor Neonazis mit Messern, Neonazis mit Hunden und Neonazis mit Baseballschlägern. Hatte ich es in unser Haus geschafft, fuhr ich hoch zu unserer Wohnung im achten Stock. An der Tür der Nachbarwohnung versprach ein Sticker: »Rudolf Heß – Volksheld. Freitag Party hier.«

Nach einigen Jahren in Grünau, ungefähr zu der Zeit, als wir im Geschichtsunterricht zum ersten Mal über den Holocaust sprachen, verabreichte Papa mir folgenden Rat: »Wenn du keine Probleme haben willst, dann misch dich niemals in fremde Angelegenheiten ein. Wenn dich etwas nicht direkt betrifft, halt dich raus.«

Sich aus allem raushalten. Unsichtbar werden.

»Papa, war nicht der Holocaust überhaupt erst möglich, weil die Nichtjuden sich rausgehalten haben und keiner protestierte?«

»Ja, aber –« Bevor mein Vater aussprechen konnte, fragte uns ein Fascho nach Feuer.

»Ich habe keine Feuer«, antwortete Papa, in einem Akzent, wie er osteuropäischer nicht klingen konnte.

Aus dem Nazi brach es heraus: »Ich will auch kein Scheißfeuer von dir, Abraham.«

Stille.

Papa versuchte, physisch bedrohlich zu wirken. Der zwei Köpfe größere Nazi wirkte tatsächlich physisch bedrohlich. Dann drehte er sich plötzlich um und ging. Mit einem Gesichtsausdruck, als hätte er eine notwendige, aber anstrengende Arbeit für heute verschoben. Er wird den Judenrasen später mähen. Darüber, ob man sich von allem abkapseln und mit nichts als dem eigenen Wohlbefinden beschäftigen sollte, unterhielten wir uns an diesem Tag nicht mehr.

Guter Kopierer, schlechter Jude

Mit Anfang zwanzig verliebte ich mich in eine Berlinerin, und sie verliebte sich in die Idee, mich von ihrer Heimatstadt zu überzeugen. Das gelang ihr aus zweierlei Gründen spielend leicht: Zum einen hätte ich selbst Kabul zur schönsten und romantischsten Stadt der Welt erkoren, solange Kabul mit ihr an meiner Seite stattfand. Zum anderen, weil Berlin mich schlagartig an Kiew erinnerte. Endlich wieder feierlich breite, schillernde Alleen, die mit schneidigen Hauptstädtern gesäumt waren. Endlich wieder der Duft der Metro in den U-Bahn-Schächten, ja sogar über die dumpf vertrauten Stalinbauten am Frankfurter Tor freute ich mich. So erklärte ich mir jedenfalls die pochende Sehnsucht, sofort Teil dieser Stadt sein zu wollen.

In den folgenden fünf Jahren pendelte ich regelmäßig nach Berlin und gerierte mich, als hätte ich niemals auch nur eine Sekunde in irgendeiner anderen Stadt verbracht. Just als ich endlich umzog, zog die Berlinerin jedoch weiter – und mir den Boden unter den Füßen weg. Nun wäre ich tatsächlich sogar zu den Taliban abgehauen, nur um nicht von den bekannten Plätzen an diese Frau erinnert zu werden. Aber ich wollte mir selbst und dieser Pute beweisen, dass ich ihre Stadt auch zu meiner formen kann, und deshalb blieb ich. Und verduftete gelegentlich nach Leipzig. Das bedeutete mittlerweile nicht mehr Grünau, sondern Plagwitz, das neue Trendviertel im Westen der Stadt, in dem nun auch die Rothschilds residierten. Sie hatten bei einer Zwangsversteigerung zugeschlagen. Und sich selbstverständlich gleich mehrere Wohnungen gesichert, waren ja im Angebot. Vergangenes Jahr versiegte der sinnstiftende Berliner Verlustschmerz, so dass ich mich plötzlich rational damit auseinandersetzen musste, ob es irgendwas gibt, das mich tatsächlich an diese Stadt bindet. In der mein Einkommen und mein Freundeskreis eher klein und alle Wege weit sind. In der so viele Selbstdarsteller und Narzissten umherstolzieren, dass der Senat vielleicht bald beschließen muss, Spiegel statt Häuser in den Straßen zu bauen, um einer Revolte zuvorzukommen. In der ein Mann mit blutüberströmter Hand am Hermannplatz ignoriert wird und niemand seine Bitte um ein Blutung stillendes Taschentuch erhört. In der derlei Kaltherzigkeiten als hauptstädtische Abgebrühtheit verbucht werden. Von allem abkapseln und sich mit nichts als dem eigenen Wohlbefinden beschäftigen – von Papa wollte ich diese Philosophie nicht annehmen, nun hätte Berlin sie mir beinahe antrainiert.

Dennoch ist diese Drecksstadt nach wie vor unwiderstehlich. Periodisch zumindest. Besonders für solche zum Kosmopolitismus verdammten Grübler wie mich. Heute kannst du ein Zebrakostüm in Friedrichshain anziehen, morgen als Anlageberater durch Mitte hochstapeln und am Sonntag gegen das transatlantische Wirtschaftsabkommen vor dem Kanzleramt protestieren. Was ich alles unterlassen habe, aber die theoretische Möglichkeit bestand. Sie besteht eigentlich immer und für alles in Berlin. Bergida war eine Totgeburt. NPD-Wähler wohnen höchstens in Ostköpenick, Lichtenberg und Hellersdorf. Okay, im Umland sprießen die braunen Wälder. Aber im trügerisch weltoffenen Kernberlin lässt sich das herrlich leicht ausblenden. Eine urbane Fata Morgana der fortschrittlichen Gesellschaft, aber mir ist es im Moment ganz recht so. Sollen sich mal die anderen mit diesen Perversen herumschlagen, ich finde, dass mir Rassistenurlaub zusteht. Die Starken und die Heimatlosen können in Berlin Zuflucht finden. Das Konzept einer deutschen Leitkultur existiert nicht. Das finde ich sehr befreiend. Wie soll deutsche Leitkultur hier auch aussehen, wenn nicht mal die einzelnen Stadtteile irgendeine Form von Homogenität aufweisen? Berlin ist meine Ersatzdroge für Kiew, mein Anti-Meerane und das Gegenteil von Grünau.

In gewisser Weise ist Berlin auch deshalb so reizvoll für mich, weil es nichts mit meiner Familie zu tun hat. Alle Orte zuvor waren ihre Entscheidung, aber Berlin bestimmte ich allein. Immerhin habe ich einen kleinen Zugang zum osteuropäischen Berlin gefunden. Polina verschafft ihn mir gelegentlich. Polina kommt auch aus der Ukraine, ist genealogisch eine waschechte Jüdin und trotzdem ständig bei ihrem Inneren Gericht vorgeladen (ich habe ohnehin das Gefühl, dass das Innere Gericht eine ziemlich jüdische Einrichtung ist).

Neulich nahm sie mich zu einem etwas kruden, von Gazprom Germania finanzierten russischen Filmfest am Alexanderplatz mit. Wir durchlitten ein aus militärischem Heroismus zusammengeklebtes patriotisches Machwerk über den Großen Vaterländischen Krieg, aber Polina hatte Unmengen Gazprom-Getränkegutscheine für die Aftershowparty. Und so standen wir an der Bar und betranken uns auf Kosten irgendwelcher Oligarchen, unschlüssig auf die russische Parallelgesellschaft Berlins starrend, die sich selbstgewiss mit Mayonnaise und Kaviar bestrichene Eier in den Rachen warf. Bis Polina plötzlich beim fünften Wodka Cola, als ich längst selig sediert war und mir keine weiteren Wahrheiten von diesem Abend versprach, sagte: »Weißt du, das Schlimmste daran, Jüdin zu sein, ist, dass es einen von allen anderen Zugehörigkeiten ausgrenzt, ohne einen adäquaten Ersatz zu bieten. Es ist irgendwie substanzlos und vage.«

Polinas Feststellung hat mich in eine Grube voller giftig zischender Frageschlangen gestürzt. Hat sie nicht recht? Ich denke an meinen unsichtbaren Vater, der sich als Jude sieht, obwohl er mit Religion nichts zu tun haben will und am Sabbat im Magazin Wodkakisten umherschleppt. Und daran, dass die deutschen Behörden, ebenso wie zuvor die Ukraine, »jüdisch sein« primär als eine genetisch-nationale Disziplin definiert haben.

Ich bin in Leipzig, entschlossen, meinem Vater mit dem zu konfrontieren, was mich beschäftigt. Ich will einen Moment der Wahrheit zwischen Vater und Sohn, ein Gespräch darüber, wer wir sind, weshalb wir es sind und wie wir das, was wir sind, in Zukunft sein wollen. Es ist übrigens auch nicht so, als wären mein Vater und ich vollkommen ungeübt darin, uns auszutauschen. So richtig meine ich, mit längeren Zuhörphasen und Interesse signalisierenden Zwischensätzen wie »Wenn ich dich richtig verstanden habe«. Mein Vater ruft mich jeden Tag an, das heißt, da ist zwangsläufig auch sehr viel verbaler Leerlauf dabei. Aber die guten Vater-Sohn-Gespräche schlüpfen eben auch mal mit durch.

Papa und ich stehen also an der Wursttheke des Magazin. Die siebzig Quadratmeter große Exklave des Leonid Kapitelman mitten in Leipzig. Krimsekt, Sowjetkartoffelstampfer, Rotgold, Pelmeni, Matrjoschka-Schlüsselanhänger, Matrosenshirts, Wurst. Diese Produkte zu verkaufen sichert meinen Eltern den Lebensunterhalt. Und Papa darf handeln und rechnen. Die Gewinnspanne einer verkauften Sardinendose kalkulieren, die Gewinnspanne von hundertfünfzig verkauften Sardinendosen ausrechnen, den größtmöglichen, aber immer noch profitablen Rabatt taxieren, falls niemand die Sardinen haben will – Ponyreiten auf der Rechenwiese für Papa. Allerdings muss es schon arg um das Verfallsdatum der Sardinen bestellt sein, bevor Papa Rabatt einräumt. Was bedeutet, dass er die Logik der roten Schilder bei Kaufland sehr gut kennt, trotzdem haben sie bis heute nichts von ihrem Magnetismus auf ihn eingebüßt. Meschugge eigentlich.